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Erstes Kapitel.

Eine Mission

Meine Erzählung beginnt in Sitara, dem in Europa fast gänzlich unbekannten »Land der Sternenblumen«, von dem ich im »Reiche des silbernen Löwen« erzählt habe. Die Sultanin dieses Reiches ist Marah Durimeh, die allen meinen Lesern wohlbekannte Herrscherin aus uraltem Königsgeschlecht. Zu Sitara gehört auch das in meinem Buch »Babel und Bibel« erwähnte, weit ausgestreckte Gebiet von Märdistan mit dem geheimnisvollen Wald von Kulub, in dessen tiefster Schlucht, wie man sich heimlich erzählt, die Geisterschmiede liegt, in der die Seelen durch Schmerz und Qual zu Stahl und Geist geschmiedet werden. Ein späterer, hochinteressanter Ritt wird uns Gelegenheit geben, diesen Wald und diese Schmiede kennenzulernen. Für heut verzichten wir auf diesen Ort der Marter und der Pein und wandeln durch die Gärten von Ikbal, um alles Leid der Erde zu vergessen.

Ikbal – die zweite Silbe des Namens wird betont – ist eine der schönsten Residenzen Marah Durimehs. Ihre fürstliche Wohnung, mehr einem Tempel als einem Schloß gleichend, hebt sich wie die aus weißem Marmor gedichtete Strophe eines salomonischen Psalmes hell, klar, rein und leuchtend von dem dunkeln Hintergrund der himmelanstrebenden Berge ab. Diese liegen im Norden. Nach Süden dehnt sich die blaue, von silbernen Fäden durchzogene See, leise atmend, wie ein schlafendes, glückliches Kind, welches im Traum lächelt. Und wie köstliche, schimmernde Perlen, die von einer reichen, kunstsinnigen Fee aus der Meerestiefe emporgeholt und am Ufer in grünende Gärten gebettet wurden, so haben sich die Häuser der Untergebenen dem Palast der geliebten Gebieterin zu Füßen hingestreckt. Die Seeluft mildert die Glut der strahlenden Sonne. Schattige Wege führen vom Tal zu Berge, vom Berg zu Tal. Goldige Früchte winken aus dunklem Laub. Jede Bewegung der Luft spendet süßen Blumenduft. Ed Din, der Fluß, tritt, unberührt von dem Schmutz des alltäglichen Lebens, wie eine Offenbarung aus höheren Welten aus dem Gebirge hervor, schließt Ikbal in zwei schwellende Arme ein und tritt dann in die See, um ihre Flut zu läutern und zu klären.

Der kleine Hafen von Ikbal ist mit der Außenwelt nur durch einen einzigen größeren Segler verbunden, welcher »Wilahde« heißt und immer segelfertig gerichtet ist. Dies Schiff gleicht einer Arche. Sein Bau ist uralt. Es hat die Formen und die Linien vergangener Jahrtausende. Sein Tau- und Segelwerk mag im ältesten Babylonien oder Ägypten erfunden worden sein. Aber man hat trotzdem keinen Grund, irgend etwas daran zu tadeln, denn alles, was man sieht, ist genau dem Zweck, dem es dienen soll, entsprechend eingerichtet. Wir werden diesem Fahrzeug in meinen späteren Erzählungen noch oft begegnen; darum verzichte ich jetzt darauf, es genau zu beschreiben. Ebenso wird es Sache meiner künftigen Berichte sein, das Land Sitara und die Stadt Ikbal eingehender zu schildern. Für heute habe ich sie beide nur kurz zu erwähnen, weil sie den Ausgangspunkt der vorliegenden Erzählung bilden.

Ich war mit meinem Hadschi Halef Omar, dem obersten Scheich der Haddedihn vom Stamm der Schammar, zu Marah Durimeh gekommen, um für einige Zeit ihr Gast zu sein und bei dieser Gelegenheit das »Land der Sternenblumen« noch besser kennenzulernen, als es mir bisher möglich gewesen war. Sie hatte mich in einer Weise aufgenommen, als ob ich ein naher Verwandter, ja, als ob ich ein Sohn von ihr sei. Wir wohnten nicht in der Stadt, sondern bei ihr im Palast, ich in demselben Stockwerk mit ihr, Halef aber im Erdgeschoß bei den dienenden Geistern. Sie liebte auch ihn. Sie war von seiner fast beispiellosen Liebe und Treue gerührt. Sie beglückwünschte mich, ihn gefunden und mir zum Begleiter erzogen zu haben. Aber sie tadelte an ihm, daß er sich keine Mühe gab, seine Seele in Geist umzusetzen, und sie hielt gerade das, was andere an ihm lobten, nämlich seine Liebenswürdigkeit, für seine größte Schwäche. Sie, die unvergleichliche Menschenkennerin, konnte keinen Menschen für entwickelt halten, der nicht die Kraft besaß, über die Forderungen seiner körperlichen Anima hinauszukommen.

Alle diejenigen, welche die vier Bände »Im Reiche des silbernen Löwen« gelesen haben, werden sich gerne an Schakara, die »Seele«, erinnern, welche Marah Durimeh damals zu uns sandte, um uns gegen unsere Feinde beizustehen. Diese Schakara, die mich vom beinahe sicheren Tode errettete, war ein besonderer Liebling ihrer Herrin, die sie nur dann verlassen durfte, wenn es sich um sehr wichtige Dinge handelte. Sie war auch jetzt bei ihr in Ikbal und sorgte für mich in genau derselben schwesterlich aufopfernden Weise wie damals, als ich krank am Boden lag.

Unsere Abreise war auf morgen festgesetzt. Am Nachmittag waren wir, nämlich Marah Durimeh, Schakara und ich, noch einmal durch die Stadt und ihre Umgebung gewandelt, um die mir liebgewordenen Plätze aufzusuchen. Dann gingen wir nach der hinter dem Palast liegenden, üppigen Weide, wo unsere beiden Pferde grasten, bei deren Namen sich jeder meiner Leser herzlich freuen wird, ihnen wieder zu begegnen. Es waren die beiden Rappen Assil Ben Rih und Syrr, der erstere für Halef und der letztere für mich. Wer diese beiden edelsten der Pferde, die es gegeben hat, noch nicht kennt, der wird sie im Verlauf unserer Erzählung kennenlernen. Sie hatten uns aus fernem Land bis hierher getragen und sollten uns auf demselben Weg wieder zurückbringen. So dachten wir. Aber es sollte anders kommen, als wir uns vorgenommen hatten.

Später, einige Zeit nach Sonnenuntergang, saßen wir drei auf dem hohen Söller beim Abendessen, welches nicht aus Fleisch, sondern nur aus Brot und Früchten bestand. Unter uns im Hof saß Halef bei einer Anzahl von Dienern und Dienerinnen. Er erzählte von seinen Abenteuern. Er tat das in seiner wohlbekannten, bombastischen, nach Beifall hungrigen Weise. Aber der Erfolg, den er an jedem anderen Ort einzuheimsen verstanden hatte, hier fiel er aus. Man hörte ihm ruhig zu; kein Lob erscholl; kein Beifall ließ sich hören. Ein nachsichtiges Kopfnicken oder gar ein ironisches Lächeln, weiter gab es keinen Dank. Da stand er von seinem Platz auf, warf die Arme verächtlich in die Luft, ließ die Zuhörer sitzen und ging zum Tor hinaus.

Wir achteten nicht auf ihn und diese seine wohlverdiente Niederlage. Wir hatten nur Augen, nur Sinne für die vor uns liegende, köstliche Gotteswelt, die im Glanz der untergehenden Sonne fast überirdisch leuchtete und glühte. Ganz draußen im äußersten Süden, da, wo das Meer sich mit dem Himmel einte, gab es einen kleinen, sich aber vergrößernden, weil immer näher kommenden Punkt, der bald wie ein Blitz aufzuckte, bald goldig schimmerte, bald silbern funkelte, bald in einer oder in mehreren der sieben Regenbogenfarben flackerte.

»Ein Bote kommt«, sagte Schakara, indem sie mit ausgestrecktem Arm nach diesem Punkt deutete.

Marah Durimeh richtete den Blick nach der bezeichneten Richtung, ließ ihn dort nur einen Augenblick lang ruhen und sagte dann, näher bestimmend:

»Ja, ein Bote, aber kein fremder, sondern der unserige.«

»Welcher?« fragte Schakara.

»Der mir die Antwort bringt vom Mir von Dschinnistan.«

Was für Augen hatte diese Frau, deren Alter so groß war, daß man es kaum mehr bestimmen konnte! So sehr ich die meinigen anstrengte, ich konnte doch nur ahnen, aber nicht deutlich bemerken, daß dieser in der Sonne schillernde Punkt eigentlich ein weißes Segel war. Sie aber sah das Boot und sah wohl auch den Mann, der es regierte! Und ebenso wie die Schärfe ihres Auges verblüffte auch der Name, den sie nannte. Der Mir von Dschinnistan! Welcher von meinen Lesern hat schon einmal von diesem berühmten Mann, von diesem Beherrscher eines großen, hochwichtigen Reiches gehört? Wohl keiner! Auch ich war ohne Ahnung von seiner Existenz, bis ich Marah Durimeh kennenlernte, und aus ihrem eigenen Mund nach und nach die Namen der zahlreichen Gebiete erfuhr, über welche sich ihr persönlicher Einfluß erstreckte. Der Mir von Dschinnistan stand unter ihrem ganz besonderen Schutz. Der Bote, der sich jetzt sehr schnell dem Hafen näherte, weil günstiger Wind ihn trieb, war bei ihm gewesen. Die Kunde, die sie von ihm erwartete, schien von großer Wichtigkeit für sie zu sein, denn sie stand von ihrem Sitz auf, beschattete mit der Hand ihre Augen, bog sich über die Brüstung des Söllers hinaus und verfolgte das schwimmende Boot wohl eine ganze Minute lang mit gespannter Aufmerksamkeit. Dann sagte sie:

»Ja, er ist es!« Und mit einem langen, tiefen Atemzug fügte sie hinzu: »Nun wird es sich entscheiden!«

Dann setzte sie sich wieder auf ihren Platz zurück, sah tief nachdenklich vor sich nieder, hob dann den Blick zu mir empor und fragte:

»Mußt du heim, Sihdi, oder mußt du nicht heim?«

»Ich muß nie«, antwortete ich.

»Das weiß ich«, nickte sie mir freundlich zu. »Vielleicht ist es gut, daß du noch bei uns bist, daß du uns noch nicht verlassen hast.«

»Gut? Für wen?« fragte ich.

»Für dich, für mich und besonders auch für den Mir von Dschinnistan.«

Da war ich es nun, der von seinem Sitz aufsprang und überrascht ausrief:

»Für uns und auch für ihn? Wieso? Das ist ein Rätsel. Ich bitte, es zu lösen!«

Sie richtete ihre Augen groß und voll auf mich, als ob sie mit diesem Blick mein ganzes, inneres Wesen durchdringe, und antwortete dann:

»Das größte aller Rätsel bist du selbst. Indem du dieses löst, löst du auch das des Mir von Dschinnistan. Setz dich! Und warte, bis ich mit dem Boten gesprochen habe!«

Das war so ihre Art, Problem mit Problem zu beantworten. Ihr größtes Glück bestand darin, menschheitsinnerliche Werte zu verschenken; aber sie warf sie nicht billig hin, sondern man hatte sie durch eigenes Nachdenken zu finden und sich anzueignen. Daß ich ein Rätsel bin, versteht sich ganz von selbst. Jeder Mensch ist eines. Wer das erkennt, hat schon mit der Lösung begonnen. Die Antwort auf die Menschheitsfrage suchen, heißt leben. Wer da stirbt, ohne gesucht zu haben, der hat nicht gelebt, sondern nur vegetiert und wird Kompost, weiter nichts!

Das, was zunächst ein Punkt gewesen war, hatte sich inzwischen vergrößert. Es erschien als weißes Segel. Dann sah man, daß es drei Segel waren. Später bemerkte ich, daß das Boot nicht einen, sondern zwei Masten hatte, an welche die Segel kreuzweise gezogen waren. Eine solche Stellung der Leinwand hatte ich noch nie gesehen; aber sie war außerordentlich praktisch. Das Vordersegel schraubte sich als Luftbohrer in die Ferne, und die beiden Hinterbootsegel standen wie ein Pflug mit scharfer Schneide nach vorn, nach hinten aber breit offen, so daß nicht der geringste Teil des Luftdruckes verloren gehen konnte. Bemannt war das Boot mit nur zwei Hilfspersonen, welche die Leinen und das Steuer führten; ihr Gebieter aber stand ganz vorn am äußersten Bug. Hochaufgerichtet, weiß gekleidet, den einen Arm stolz in die Hüfte gestemmt, mit nachflatterndem Turbantuch, glich er in der gegenwärtigen Beleuchtung weniger einem gewöhnlichen, irdischen Boten, sondern vielmehr einem jener überirdischen Wesen, von denen die uralte, orientalische Sage erzählt, daß sie mit ihren Fahrzeugen ganz plötzlich aus der Tiefe des Meeres auftauchen und an den Wohnorten der Menschen landen, um ihnen den Gruß der Ewigkeit und den Segen des Himmels zu bringen.

Und jetzt, da sich das Boot dem Hafen näherte, kam der Augenblick, an dem die Sonne versank. Durch all das Licht, welches auf den Meeresfluten lag, zuckte ein durchsichtiger, leicht violetter Schatten. Die Heiterkeit des goldenen Tages verwandelte sich mit einem Schlag in den Ernst des nahenden Abends. Von der nahen Moschee erscholl der Ruf des Muezzins:

»Hai alas sallah! Hai alal felah! Auf zum Gebet! Auf zum Heil! Die Sonne hat sich in das Meer getaucht! Die Zeit des Unterganges ist da, und mit ihr die Stunde des Gebetes. Gott ist groß! Gott ist groß! Gott ist groß!«

Von dem freien Platz herauf ertönte die Stimme des Vorbeters:

»Im Namen des allbarmherzigen Gottes! Lob und Preis sei Gott, dem Weltenherrn, dem Allerbarmer, der da herrschet am Tage des Gerichts! Dir wollen wir dienen, und zu dir wollen wir flehen, auf daß du uns führest den rechten Weg, den Weg derer, die deiner Gnade sich freuen ...«

Weiter konnten wir hiervon nichts mehr hören, denn nun fielen die ehernen Stimmen der christlichen Glocken ein und zogen jeden anders schwingenden und anders klingenden Ton in ihr herrliches Abendgeläut. Da stand Marah Durimeh auf und wir mit ihr. Wir falteten die Hände. Sie aber deutete nach dem Turm, wo man läutete, und sprach:

»Dies ist der Ton, der durch das Weltall klingt,
Der einz'ge Ton, der Glück und Frieden bringt.
In ihm verschwindet aller Erdenstreit;
Gepriesen sei der Herr in Ewigkeit!«

In diesem Augenblick hatte das Boot den Hafen erreicht. Der Bote sah seine Herrin auf dem Söller stehen. Er grüßte mit beiden Armen zu ihr herauf. Dann kniete er da, wo er gestanden hatte, nieder und faltete die Hände, um ebenso, wie alle Welt, zu beten. Der Eindruck, den dies machte, läßt sich gar nicht beschreiben. Diese ganze, unvergleichliche, erdenferne Örtlichkeit! Diese am Himmel und über die Erde hinzuckenden, mehr und mehr ersterbenden Tinten! Die dunkle Mauer des hinter uns drohenden Gebirges! Die immer magischer und mystischer werdende Färbung der See! Dieses Glockengeläute, und zwar an einem Ort, den außer mir gewiß noch kein europäischer Christ betreten hatte! Vor allen Dingen aber die hochaufgerichtete Gestalt unserer Gebieterin! Diese Stirne, dieser Nacken, diese Augen! Wie oft hatte Hadschi Halef, wenn er ernstlich über sie nachdachte, zu mir gesagt: »Sie ist kein gewöhnliches Weib; sie ist auch keine Königin. Sie ist ein Dschinni, eine Seele, ein Geist. Ja noch mehr: sie ist nicht nur Seele oder Geist, sondern sie ist die Herrin und die Gebieterin aller Seelen und aller Geister, die es gibt. Allah segne sie!«

Er versuchte, sich in dieser ihm eigentümlichen Weise über sie klarzuwerden, und ich muß gestehen, daß ich ihm niemals widersprochen habe, so oft er es auch tat. Und gerade jetzt, in diesem Augenblick, überkam auch mich ein Etwas, was mehr als eine Ahnung war, daß in dieser unvergleichlichen Frau Gedanken, Gesinnungen und Kräfte lebten, die meine Schulpsychologie unmöglich zu fassen vermochte. Es war mir zumute wie einem unbefangenen, gläubigen Kind, welches zum erstenmal in seinem Leben in das Theater kommt und nicht im geringsten daran zweifelt, daß die Zauberwelt, die sich vor seinen Augen entrollt, in Wirklichkeit vorhanden ist. Die Menschheitsseele ist in jedem Menschen tätig, in vielen einzelnen sogar in ganz besonderer Weise, in Marah Durimeh aber so, wie sonst wohl niemals wieder. Und der Mann, der da unten an der Spitze seines Bootes im Gebet kniete, kam mir vor wie ein Abgesandter der Menschheit, die nach ihrer Seele sucht und nach Rettung aus Leibesgefahr.

Nun verstummten die Glocken. Das Gebet war vorüber; die Dämmerung stieg von den Bergen. Der betende Mann im Boot erhob sich und lenkte sein Fahrzeug an das Ufer. Dort stieg er aus und verschwand zwischen den Häusern, auf dem Weg, der zu uns führte. Nach kurzer Zeit wurde gemeldet, daß er da sei und darum bitte, die Herrin sprechen zu dürfen. Sie entfernte sich, um seinen Wunsch zu erfüllen. Ich blieb mit Schakara allein. Diese hatte in ihrer schwesterlich fürsorglichen Weise den Wunsch, mich vorzubereiten. Sie sagte:

»Vielleicht wäre es besser, du hättest uns schon verlassen. Ich befürchte, die Herrin gibt dir Schweres zu tun!«

»Wohl gar Unmögliches?« fragte ich lächelnd.

»Nein; das tut sie nicht.«

»So sorge dich nicht, o Schakara! Seit sie den Mir von Dschinnistan genannt hat, hoffe und wünsche ich sogar, daß ich noch nicht abzureisen brauche.«

»Reisen wirst du auf jeden Fall!«

»Aber wohin, wenn nicht heim?«

»Zum Mir.«

»Zu ihm?« fragte ich, ebensosehr erfreut wie erstaunt.

»Ja, zu ihm. Du warst noch nie in Dschinnistan. Aber du weißt, wo es liegt?«

»Ja.«

»Und wie außerordentlich unzugänglich es ist?«

»Auch das. Es gibt nur zwei Wege: entweder vom Madarisee aus, und der ist entsetzlich weit; oder man reitet durch das ganze Reich von Ardistan, und der ist wohl kürzer, aber gefährlicher.«

»Viel, viel gefährlicher! Kennst du den Mir von Ardistan?«

»Nein. Aber gehört habe ich von ihm.«

»Was?«

»Er ist ein Gewaltmensch, ein Tyrann ...«

»Ein Freund des Krieges, ein Hasser des Friedens«, fiel sie lebhaft ein. »Jeder gesunde Mann seines Landes ist Soldat. Für die Werke des Friedens hat er nur Kranke und Krüppel übrig.«

»Das ist zwar traurig, aber was geht das mich an? Ich will doch nicht zu ihm, sondern zum Mir von Dschinnistan. Und selbst wenn ich zu ihm wollte, würden seine kriegerischen Neigungen doch wohl kein Grund für mich sein, auf die Reise zu ihm zu verzichten. Ich glaube sogar, daß sie mir eher Nutzen als Schaden brächten.«

»Unter gewöhnlichen Verhältnissen vielleicht. Aber auch da ist es für jeden Europäer in hohem Grade gefährlich, sein Land zu betreten. Er haßt alles, was aus dem Westen kommt; besonders aber haßt er die Menschen, die dort wohnen. Wenn er erführe, daß du ein Europäer bist, so ...«

Sie konnte den angefangenen Satz nicht vollenden; sie wurde unterbrochen. Marah Durimeh kehrte zurück. Sie besaß eine beispiellose Selbstbeherrschung. Trotzdem aber bemerkte ich, als sie zu sprechen begann, an dem nicht ganz zu unterdrückenden Zittern ihrer Stimme, daß sie innerlich erregt war.

»Die Audienz ist nur für einstweilen unterbrochen«, sagte sie. »Der Bote hat mir noch viel zu berichten. Er wird wiederkommen. Für jetzt mußte ich vor allen Dingen zu euch zurück, um euch zu sagen, daß das entsetzliche Unglück, welches ich verhüten wollte, nicht abzuwenden ist.«

Da schlug Schakara erschrocken die Hände zusammen und fragte:

»Es gibt – Krieg?«

»Ja – Krieg!« nickte Marah Durimeh.

»Zwischen wem?« fragte ich.

»Zwischen Ardistan und Dschinnistan.«

»Ist er schon erklärt?«

»Erklärt? Welch ein Wort! Eine vorherige Erklärung gibt es nur zwischen zivilisierten Herrschern. Der Mir von Ardistan aber ist Barbar. Er schlägt los, sobald es ihm beliebt, ohne vorher zu fragen und ohne vorher etwas zu melden. Ich kann auf deine Frage also nur die Antwort erteilen, daß es Krieg geben wird, daß er aber noch nicht begonnen hat. Ich habe ihn verhüten wollen und der Mir von Dschinnistan ebenso; aber alle unsere Mühe ist vergeblich gewesen. Nun müssen wir schnell handeln, er und ich. Ich brauche einen Mann, auf den ich mich verlassen kann; ich brauche ihn sofort, sofort! Einen Mann, der nicht pfiffig, nicht hinterlistig, nicht verschlagen ist, sondern ehrlich klug, nur klug, aber so klug, daß ihn selbst der abgefeimteste Pfiffikus weder täuschen noch betören kann!«

Nach diesen Worten wendete sie sich mir zu und fragte:

»Kennst du einen solchen Mann, Sihdi?«

»Nein«, antwortete ich.

»Wirklich nicht?« lächelte sie.

»Wirklich nicht!« antwortete ich ernst und überzeugt.

Da fiel Schakara ein: »O doch, es gibt einen. Und der bist du selbst!«

»Du irrst, Liebling, du irrst!« wies ich sie zurück. »Einen Menschen, der so klug ist, daß ihn selbst der abgefeimteste Pfiffikus weder täuschen noch betören kann, habe ich noch nie gesehen, weder wohl auch niemals einen zu sehen bekommen. Aber es gibt einen, der sich Mühe geben will, so bedachtsam, so klug und so mutig wie möglich zu handeln, und der bin allerdings ich. Wenn du, o Herrin, in diesem Augenblick zufällig keinen Besseren hast, so bitte ich dich, mich zu schicken!«

Die letzteren Worte waren an Marah Durimeh gerichtet. Sie antwortete nicht sogleich. Sie trat an die Brüstung des Söllers und schaute hinaus über die See und hinauf zum sich dunkler färbenden Himmelsblau, an dem die ersten Sterne zu glänzen begannen. Schakara ergriff meine Hand, drückte sie leise und flüsterte mir zu:

»Ich danke dir! So war es recht. Nun ist sie gerührt und spricht, ohne daß du es ahnst, mit deiner Seele. Das nennen die Menschen Liebe.«

Nach einiger Zeit drehte sich die Gebieterin uns wieder zu und gab mir den Bescheid:

»Ja, du sollst gehen, Sihdi, du! Ich hoffte, daß du dich mir anbieten würdest, freiwillig, ohne von mir aufgefordert worden zu sein. Es ist geschehen. Das freut mich so, wie ich mich selten freue. Den Dank, den ich dir schulde, kann ich nicht geben, so von Hand zu Hand, wie ich es wohl wünschte. Du hast ihn daselbst zu holen, in Ardistan und Dschinnistan, wo er dir blühen wird auf allen Wegen, die du zu gehen hast. Aber doch eine Art von Dank soll es sein, daß ich dir heute schon sage, warum du es bist, dem ich diese meine Mission am liebsten anvertraue. Komm her zu mir!«

Ich trat zu ihr hin. Sie ergriff mit der Rechten meine Hand, deutete mit der Linken zum Himmel empor und fuhr fort:

»Als ich hier stand, ohne dir zu antworten, sprach ich mit den Sternen. Schau hinauf zum Firmament! Nicht deine heimischen Sterne leuchten, sondern die Sterne des Südens. Du siehst die Jungfrau, den Raben, den Becher und den Kelch. Hier das Herz, den Kompaß, das Schiff; dort Antares, den Wolf, den Zirkel und das Kreuz. Aber nicht diese Sterne waren es, mit denen ich sprach. Meine Astrologie ist eine andere. Ich schöpfe sie nicht aus dem sichtbaren Firmament, welches hier über uns flammt und glüht. Aber indem ich meinen irdischen Blick an die Gestirne, die ich dir nannte, hefte, mache ich mein inneres Auge für seelische und für geistige Firmamente frei, und da werden mir Sterne sichtbar, die andere nie erschauen. Auch den deinen habe ich gesehen, den deinen. Soll ich ihn dir zeigen?«

Es war ein sonderbarer, doch nein, ein wunderbarer Augenblick! Sie stand vor mir wie eine der berühmten Wahrsagerinnen aus der Zeit, in welcher die Menschen den Turm von Babel bauten. Ihre geisterhaften Züge waren wie aus leicht angedunkeltem Alabaster gemeißelt. Ihre Augen schienen im Glanz der Sterne von einer unergründlichen, nie auszuschöpfenden Tiefe zu sein. Die beiden langen, starken, silberweißen Zöpfe ihres Haares hingen rechts und links bis nahe zum Boden herab. Ihre Stimme klang wie nicht von dieser Welt. Und um ihre ganze Gestalt wehte ein leise duftender Hauch, eine ganz eigenartige, geheimnisvolle Atmosphäre, für welche in keiner der vielen Sprachen, die es gibt, das richtige, das bezeichnende Wort zu finden ist. Was sie sagte, das verstand ich nicht ganz, aber ich ahnte von ungefähr, wie sie es meinte. Darum bat ich: »Ja, zeige ihn mir!«

»Du sollst und wirst ihn sehen«, antwortete sie. »Aber nicht, indem ich mit dem Finger auf ihn deute und dir sage, ›da oben ist er, dort‹, sondern indem ich dir zeige, wo und wie er zu suchen ist. Denn nur derjenige Stern kann der deinige sein, den du selbst zu finden verstehst. Wenn Gott, der Herr, es will, wirst du ihn in Dschinnistan erblicken, sobald er dort über deinem Haupt steht. Du kennst dies Land noch nicht. Auch in Ardistan bist du noch nicht gewesen. Ich werde dich in die Bibliothek führen, um dir die Bücher, Karten und Pläne vorzulegen, aus denen du dich unterrichten kannst. Vorher aber habe ich dir ein unendlich Wichtiges zu sagen, was du unbedingt wissen mußt, wenn deine Sendung nach Dschinnistan gelingen soll. Setzen wir uns!«

Wir nahmen wieder Platz. Marah Durimeh begann:

»Im Abendland würde man über das, was ich dir sagen werde, höchstwahrscheinlich lachen. Mir ist es aber ernst, ja bitter ernst. Man würde höhnen: ›Ein altes Kurdenweib spricht über hohe Politik und über die Gesetze der Zivilisation!‹ Ich aber stehe auf dem von Gott gegebenen Standpunkt, von welchem aus auf dem Feld von Bethlehem die Weissagung der himmlischen Heerscharen erklang: ›Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Erden!‹ Daß man ihm, dem Weltenherrn, die Ehre zollt, die ihm gebührt, dafür sorgt er in seiner Allmacht und Weisheit am allerbesten selbst. Aber daß hier auf Erden Frieden werde, das ist zwar sein Gebot, muß aber unsere Sorge sein, der wir gehorchen müssen.«

»Wann wird er kommen, dieser Friede?« fragte Schakara. »Es scheint fast, nie!«

»Er kommt!« antwortete die Herrin mit schwerer Betonung. »Er muß kommen, denn Gort will es.«

»Es vergingen Tausende von Jahren, ohne daß er kam!«

»Aber es werden nicht mehr Tausende vergehen!«

»Im Abendland regt es sich bereits«, fiel ich ein. »Die edelsten der Männer und der Frauen vereinen sich, ihm freie Bahn zu brechen.«

»Freie Bahn?« fragte Marah Durimeh. »Im Abendland? Ich weiß, ich weiß! Aber was können die Vorschläge selbst der edelsten Menschen fruchten, wenn man die großen, die deutlichen, die riesenhaft in die Augen fallenden Winke nicht beachtet, welche das Leben selbst erteilt? Und wenn sich hundert Kaiserinnen und tausend Königinnen vereinen, um ihre Stimmen für den sogenannten ewigen Frieden zu erheben, was wäre der Chor dieser Stimmen gegen den fürchterlichen, ununterbrochenen Schrei des Blutes, welches von Anfang an bis heute vergossen worden ist, ohne daß auch nur ein einziges Jahr erschien, von dem man sagen könnte, daß es Friede auf Erden gab.«

»Die Herrscher und Fürsten beschickten Friedenskonferenzen«, sagte ich, »auf denen ...«

»Auf denen man den Krieg, nicht aber den Frieden organisiert!« unterbrach mich Marah Durimeh.

»Man humanisiert den Krieg!«

»Das heißt, man tötet schneller und schmerzloser, aber – man tötet! Ich sage dir, mein Freund, der stolze Krieg steigt nie zum Frieden herab, um ihm die Hand zu reichen, sondern der Friede muß zu ihm empor, um ihn, der ewig widerstreben wird, herabzuschmettern. Hat der Krieg eine eiserne Hand, so habe der Friede eine stählerne Faust! Nur die Macht imponiert, die wirkliche Macht. Will der Friede imponieren, so suche er nach Macht, so sammle er Macht, so schaffe er sich Macht. Du siehst, daß der Friede niemals wirklich Friede sein kann. Er ist es nur so lange, als er die Macht besitzt, es zu sein. Er hat stets auf Vorposten zu stehen. Sobald er sich beschleichen und überfallen läßt, tritt der Feind an seine Stelle. Alle Rüstung der Erde und alle Rüstung ihrer Völker war bisher auf den Krieg gerichtet. Als ob es unmöglich wäre, in eben derselben und noch viel nachdrücklicherer Weise auf den Frieden zu rüsten! Begreifst du, was ich meine?«

»Ich verstehe dich«, antwortete ich. »Krieg oder Friede. Wer von beiden die größere Macht besitzt, der wird herrschen. Woher aber bezieht der Krieg seine Macht?«

»Das wirst du in Ardistan sehen.«

»Und woher der Frieden die seinige?«

»Das sollst du in Dschinnistan erfahren. Heute, in diesem Augenblick, ist nicht die Zeit, über diese Fragen viele Worte zu machen. Worte tun es überhaupt nicht, sondern Taten müssen geschehen. Ihr habt Kriegswissenschaften, theoretische und praktische. Und ihr habt Friedenswissenschaften, theoretische, aber keine praktischen. Wie man den Krieg führt, das weiß jedermann; wie man den Frieden führt, das weiß kein Mensch. Ihr habt stehende Heere für den Krieg, die jährlich viele Milliarden kosten. Wo habt ihr eure stehenden Heere für den Frieden, die keinen einzigen Para kosten, sondern Milliarden einbringen würden? Wo sind eure Friedensfestungen, eure Friedensmarschälle, eure Friedensstrategen, eure Friedensoffiziere? Mehr will ich jetzt nicht fragen. Denn alle, alle diese Fragen werden sich in Ardistan vor dir erheben, und die Antworten werden dir in Dschinnistan erscheinen, doch nur dann, wenn du die Augen offenhältst. Dein Ritt nach diesen beiden Ländern ist ein Studien- und ein Übungsritt, und was du dir da geistig aneignest, das betrachte als meinen Dank für die Bereitwilligkeit, mit der du meinen Auftrag übernimmst. Diese beiden Länder werden dir ein ziemlich treues Bild der Erde bieten, der Erde, ihrer Bewohner und aller möglichen Verhältnisse, in denen die Völker zueinander stehen. Und wenn dir da Rätsel begegnen, die du nicht lösen kannst, so denke an das Bild, welches ich dir jetzt entwerfe.«

Sie machte eine langsame, andeutende Armbewegung nach dem Osten und fuhr dann fort:

»Da hinten ist die gelbe Rasse aus einem langen, tiefen Schlaf erwacht. Sie regt nur erst die Glieder. Sie beginnt erst, frei zu atmen. Wehe, wenn sie, ihre Kräfte fühlend, vom Lager aufspringt, um zu zeigen, daß sie genau so wie andere berechtigt ist zu leben!«

Hierauf zeigt sie nach dem Westen und sprach weiter:

»Da drüben liegt Amerika, das ihr so falsch als ›Neue Welt‹ bezeichnet. Dort lebt der rote Mann, von dem ihr meint, daß er dem Untergang geweiht sei. Ihr irrt. Dieser rote Mann stirbt nicht. Kein Portugiese, kein Spanier, kein Englischmann, kein Yankee hat die Macht, ihn auszurotten. Und der Deutsche geht nicht hinüber, um des Indianers Feind zu sein. Sie haben beide das, was wohl kein anderer hat, nämlich Gemüt, und das wird sie vereinen. Der sogenannte ›sterbende‹ Indianer wird wieder aufstehen. Es gibt ein übermächtiges, weltgeschichtliches Gesetz, welches befiehlt, daß der mit dem Schwert Besiegte mit dem Spaten dann der Sieger sei. Der gegenwärtige Yankee wird verschwinden, damit sich an seiner Stelle ein neuer Mensch bilde, dessen Seele germanisch-indianisch ist. Diese neue amerikanische Rasse wird eine geistig und körperlich hochbegabte sein und ihren Einfluß nicht auf die westliche Erdhälfte allein beschränken. Sie wird sich aller geistigen Triebkräfte des Abendlandes bemächtigen, und wehe dem alten Europa, wenn es dem nichts anderes entgegenzusetzen hat, als nur die alten Vorurteile, die alte Selbstüberhebung, die alten Kultursünden und – die alten Kanonen! Denn auch der Orient beginnt schon, sich zu regen. Er streckt die Glieder; er prüft die Muskeln, die Gelenke. Er glaubt, was Japan konnte, das könne er auch! Der Riese Islam, dessen mächtige Gestalt auf europäischer, asiatischer und afrikanischer Erde ruht, fürchtet sich nicht vor der scheinbaren Übermacht des Abendlandes. Das Kismet, an welches er glaubt, ist unwiderstehlich im Angriff und von unendlicher Ausdauer. Es wiegt die Übermacht der europäischen Waffen auf. Gebt dem Morgenland gute Führer, so wird es siegen. Und siegt es nicht, so wird sein Untergang zugleich der eure sein. Die gelbe Rasse wird sich dann mit der germanisch-indianischen in die Herrschaft über die Erde teilen. Und warum? Weil das Abendland nicht groß, gerecht und edel genug war, seine angeblichen ›Interessensphären‹ einer humanen Nachprüfung zu unterwerfen und sich mit dem Morgenland auszusöhnen!«

»Sich mit dem Morgenland auszusöhnen?« fragte ich. »Das ist falsch. Es muß heißen, das Morgenland mit sich auszusöhnen, denn nicht das Abend- sondern das Morgenland ist der beleidigte, der schwer gekränkte, der unterdrückte Teil. Fast alles, was das Abendland besitzt, hat es vom Morgenland. Seine Religion, seine Kunst, seine Wissenschaft, seine ganze Bildung und Gesittung, seine Zerealien, seine Früchte. Den ganzen Grund und Boden seines äußeren und inneren Lebens. Und was es nicht unmittelbar von ihm hat, dazu ist doch wenigstens der Anstoß von ihm ausgegangen. Wie unendlich groß ist der Dank, den wir ihm schuldig sind! Und wie haben wir ihn gelohnt? Wie und womit?«

»Du fragst sehr richtig, sehr richtig!« antwortete Schakara. »Wie habt ihr uns gelohnt, und womit? Nachdem wir euch alles gaben, was wir besaßen, nur unsere Erde nicht, denn die gehört nicht uns, sondern Gott, kommt ihr mit allerlei Listen und Waffen, uns auch noch diese wegzunehmen! Hätte euch der Orient weiter nichts, weiter gar nichts, als nur das eine, einzige Wort gegeben, ›Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott und Gott in ihm›, so könntet ihr ihm diese eine Gabe nicht mit allen Sonnen, Monden und Sternen belohnen, so viele ihrer auch am Himmel stehen. Ihr aber habt nicht nur hierfür, sondern überhaupt für alles, was ihr bekamt, keine einzige Tat des Dankes, sondern nur Blut und Krieg und Neid und Haß gegeben.«

»Wenn du das im Abendland sagtest, würde man darüber lachen, o Schakara«, warf ich ihr zu. »Man behauptet dort das gerade Gegenteil von dem, was du behauptest. Man glaubt, dem Morgenland Wohltat über Wohltat zu erweisen, indem man zu ihm geht, um ...«

»... um ihm die Liebe aufzudringen, die es nicht mag, weil sie die falsche ist«, fiel Marah Durimeh ein. »Ich spreche nicht von der Mission, ich spreche von der Nächstenliebe der europäischen Politik. Man zeige mir ein Herz, welches durch sie gewonnen worden wäre! Es gibt keines, kein einziges! Und doch ist es die größte, die wichtigste, ja die heiligste Aufgabe des Abendlandes, das Herz des Orients zu gewinnen, wenn es zukünftige Kämpfe vermeiden will, aus denen es wohl kaum als Sieger hervorzugehen vermag. Und nicht nur nach der Liebe des Orients hat es zu trachten, sondern auch nach seiner Achtung, seinem Vertrauen!«

»Aber wie?« erkundigte ich mich.

»Das fragst du, der du doch schon längst auf dem rechten Weg bist, dir alles zu gewinnen? In allen Büchern, die du schreibst, lehrst du die Liebe zu dem Morgenland! Aus allen deinen Schriften lächelt die Seele des Orients – sehnsüchtig, wehmutsvoll! Es ist ein Lächeln durch Tränen! Wärst du das Abendland, du hättest den Orient wohl schnell gewonnen, denn du liebst ihn, und du kommst nicht, um ihn auszunützen. Aber du bist nur ein einzelner Mensch, und es müßten außer dir und denen, die dich lesen, noch viele, viele Tausende kommen, um in demselben Sinne zu wirken und zu leben. Man schicke, so wie du, die deutsche Kunst ins Morgenland! Da lernt man es am besten kennen und lieben! Man sende auch die Wissenschaft, doch nicht nur, um in Babylon nach alten Steinen zu graben, sondern um überhaupt nach dem ruhenden Geist des Orients zu suchen. Die Wege, welche vom Abendland zum Morgenland führen, sollen nicht mehr Wege des Krieges, sondern Pfade des Friedens sein! Laßt Waffen- und Soldatentransporte verschwinden! Der Handel blühe! Die Wohlfahrt eile freudig hin und her, um Zwiste auszugleichen, Schäden zu heilen und Segen zu verbreiten! Dann wird der Mensch des Menschen würdig sein. Und wenn die große, schwere Stunde kommt, in der im fernen Westen wie im fernen Osten die Schicksalsfrage, ob Krieg oder Friede, klingt, dann werden beide, der Orient und das Abendland, als unüberwindliche, weltgebietende Freunde beieinanderstehen und die Völker der Erde zwingen, ihre Schwerter verrosten zu lassen!«

»Wann wird dies sein?« fragte ich. »Wie bald, wie spät?«

»Geh nach Dschinnistan; dort wird die Stunde schlagen«, antwortete sie. »Jetzt bin ich mit der Vorrede zu Ende, und nun will ich dir meinen Auftrag geben, kurz und bündig, indem ich dir sage, daß wir Menschen den Frieden, der uns nur von oben gegeben werden kann, nicht unverdient geschenkt erhalten. Wir haben uns seiner würdig zu zeigen und ihm, wenn er sich dann zu uns herniederneigt, in treuer Sorge und fleißiger Arbeit entgegenzugehen, um ihn zu fassen und festzuhalten für immer. Und jetzt, in dem uns vorliegenden Fall, sollst du es sein, der ihm entgegengeht.«

»Dem Frieden? Entgegengehen? Ich? Du sprichst in Bildern?« fragte ich.

»O nein«, antwortete sie. »Es soll sich hier nicht um Bilder, sondern um Wirklichkeiten handeln. Es wurde beschlossen, daß der jetzt beginnende Krieg der letzte sei, der zwischen Ardistan und Dschinnistan zum Ausbruch kommen darf. Ich habe alles getan, ihn zu verhüten, es ist mir nicht gelungen. Dieser Mir von Ardistan setzt seinen Willen durch. So wappne ich nun auch den meinen! Zwingt er Dschinnistan zum Krieg, so zwingt er auch mich dazu; ich nehme die Fehde an. Aber meine Strategie und Taktik ist anders als die seine. Er will Blut vergießen, ich aber will es nicht. Ich werde diesem Mann trotz aller seiner Heere zeigen, daß wir ihn niederwerfen, ohne daß von unserer Seite ein einziger Schuß zu fallen braucht. Wäre es nicht Torheit, das Leben auch nur eines einzigen Edelmenschen gegen das Leben eines blutgierigen Gewaltmenschen einzusetzen? Soll ich die, welche mich lieben und die ich wiederliebe, gegen Tiger hetzen? Nein! Nie! Mein Feldzugsplan lautet: Raubtier gegen Raubtier, Panther gegen Panther. Ja, ich wiederhole es: Panther gegen Panther! Du kannst das jetzt nicht begreifen, wirst aber bald erfahren, was und wen ich dabei meine. Ich weiß, du kennst keine Furcht, Effendi. Dennoch frage ich dich in diesem Fall: Könnte dir auch der Mir von Ardistan nicht das Gefühl der Bangigkeit erwecken?«

»Nein«, antwortete ich.

»Würdest du den Mut haben, ihn als dein erklärter Gegner in seiner Hauptstadt Ard aufzusuchen, um mit ihm Auge in Auge zu verkehren?«

»Wenn meine Sache eine gerechte ist, gewiß!«

»Sie ist gerecht. Du sollst dort, in Ard, mit dem Mir von Dschinnistan zusammentreffen!«

»Mit ihm?« fragte ich erstaunt. »Wir beide als Gegner des Mir von Ardistan?«

»Ja.«

»In der Hauptstadt unsers Feindes?«

»Ja.«

»Wohl am Schluß des Krieges als Sieger?«

»Nein! Mitten im Krieg! Vollständig unbeschützt! Ohne alle Waffen, du nur mit Hadschi Halef und er mit nur zwei oder drei Begleitern! In der Höhle des Tigers, die zugleich auch die Höhle des Panthers ist, von dem ich soeben sprach.«

»Dein Wille trifft stets das Richtige und das Beste; ich bin bereit dazu.«

»Ich danke dir! Der Mir von Dschinnistan wird von seinen Bergen herniedersteigen, um Ardistan den Frieden zu bringen, indem er es ohne einen einzigen Schwertstreich besiegt. Und du sollst ihm von den tiefgelegenen Sümpfen der Ussul aus entgegensteigen, um Ardistan und seinen Herrscher auf ihn vorzubereiten. Erschrick nicht, mein Freund! Es wird nichts Unmögliches von dir verlangt. Ja, du sollst zwar Seltsames erfahren, sollst Seltsames sehen und sollst auch Seltsames tun; aber das Seltsame ist hier endlich einmal als das Natürliche erkannt, während das, was man bisher für natürlich gehalten hat, zur Seltsamkeit, zur Schrulle und zum Hirngespinst wird. Also du bist bereit, diesen Weg für mich zu tun, Effendi?«

»Von ganzem Herzen gern«, versicherte ich der Wahrheit gemäß und tief innerlich erfreut.

»So komm mit mir zur Bibliothek, um dort ausführlichere Anweisungen zu empfangen und die Bücher, Karten und Pläne zu sehen, aus denen du dir dann Vorbereitung holst.«

Ich folgte ihr vom Söller nach der Bücherei, wo sie mich über die Aufgabe, die ich lösen sollte, des Näheren instruierte und mir aus den vorhandenen Werken diejenigen heraussuchte, mit deren Hilfe ich mich über die geplante Reise instruieren konnte. Dann gab sie den Befehl, »Wilahde«, das Segelschiff, zu meiner Abreise für morgen klarzumachen. Hierauf brachte sie mir den heute von Dschinnistan zurückgekehrten Boten, mit dem es eine längere Besprechung gab, die mir für späterhin von großem Nutzen war. Dann, gegen Mitternacht, war ich allein und ging, wie ich es täglich tat, bevor ich mich niederlegte, noch einmal hinunter zu den Pferden. Sie waren das so gewohnt, daß sie gewiß nicht eingeschlafen wären, wenn ich es einmal vergessen hätte, ihnen diesen Besuch zu machen.

Sie waren nicht allein. Halef befand sich bei ihnen. Er saß im Gras. Ich grüßte ihn; er antwortete nicht. Ich grüßte abermals; er schwieg noch immer. Ich grüßte zum dritten Male; auch da war er still. Da sagte ich:

»Gute Nacht, Halef!« und tat, als wollte ich gehen. Das wirkte. Er rief sehr schnell:

»Gute Nacht, Sihdi! Aber denke ja nicht etwa, daß du mich hierdurch zum Sprechen bringst! Ich schweige!«

»Warum?«

»Weil ich schmolle.«

»Mit wem?«

»Mit dir! Oder meinst du mit den Pferden? Die besitzen mehr Bildung des Herzens und bessere Formen des persönlichen Umganges als du! Wärst du mein Weib, so würde ich dreimal zu dir sagen: ›Wir sind geschieden!‹ Dann müßtest du meinen Harem verlassen und könntest meinetwegen bei jedem anderen Mann unterkommen, aber ja nicht wieder bei mir!«

»So schlimm steht es?«

»Ja, sehr, sehr schlimm! Ich rede nicht mehr mit dir!«

»Aber ich höre doch, daß du sprichst!«

»Ich rede nicht für dich, sondern nur für mich, weil du sonst gleich wieder davonläufst und ich dann gar keinen Bescheid bekomme. Oder soll ich gar nichts wissen und gar nichts hören und gar nichts erfahren? Ganz und gar nichts mehr?«

Er sprang aus dem Gras auf, trat nahe an mich heran und fuhr fort:

»Sihdi, du weißt, wie ich dich liebe. Ich stelle dich dreimal, fünfmal, ja zehnmal höher als das schönste Reitkamel vom Stamm der Bischaren. Meine Achtung für dich reicht höher, als der allerlängste Pfahl meines Zeltes. Und meine Treue zu dir ist grenzenloser als ein Krug, der keinen Boden hat. Ich bin mit dir geritten, gelaufen und gefahren durch alle Länder, die auf Erden sind, nur einige wenige abgerechnet, die nicht in der Nähe lagen. Ich habe mit dir gehungert und gedürstet, gefroren und geschwitzt. Ich habe dich geärgert, und du hast mich geärgert. Dadurch sind unsere Seelen eng miteinander verbunden, fast noch enger als zwei Maultiere, denen man eine Sänfte aufgeladen hat. Und diesen schönen Bund des Herzen willst du zerreißen, willst du entzweien, willst du behandeln wie eine kurdische Hose, deren zwei Beine du vom Bauch bis zum Rücken mitten auseinanderschneidest! Was habe ich dir getan, daß du von unserer unendlichen Zusammengehörigkeit so plötzlich nichts mehr wissen willst? Ich fordere Antwort, sofortige Antwort. Du kannst sie mir nicht verweigern. Du hast keinen gewöhnlichen Mann vor dir. Ich bin Hadschi Halef Omar, der oberste Scheich der Haddedihn vom großen, berühmten Stamm der Schammar. Weißt du das?«

»Das weiß ich wohl. Aber warum du mir in so gar entsetzlicher Weise zürnst, das weiß ich nicht.«

»Nicht? Wirklich nicht? Sollte mir falsch berichtet worden sein? Sihdi, sei so gut und schau hinunter nach dem Hafen. Siehst du das Schiff im Schein des Mondes liegen?«

»Ja.«

»Und siehst du die Lichter, die sich auf dem Verdeck und im Innern bewegen?«

»Ja. Die Luken sind alle erleuchtet.«

»Das sind Menschen, Menschen, die das Fahrzeug vorzubereiten haben, den Hafen zu verlassen. Weißt du, wohin es fährt?«

»Nach Ardistan.«

»Und wer es ist, den es dorthin zu bringen hat?«

»Warum soll ich es nicht wissen, da du es auch schon weißt.«

Der kleine, leicht zornige Mann wollte mir die Leviten lesen. Er besaß ein großes, leicht erregbares Ehrgefühl. Er hatte erfahren, daß wir morgen nach Ardistan fahren würden, anstatt in die Heimat zurückzukehren, und daß ich nicht sofort und direkt zu ihm gelaufen war, um ihm dies mitzuteilen, das hatte ihn beleidigt. Daß ich gewiß noch nach den Pferden sehen würde, das wußte er bestimmt. Darum hatte er sich hierhergesetzt, um mir aufzulauern und mir die wohlverdiente Strafpredigt zu halten. Dergleichen Szenen waren nicht allzuselten. Sein Ärger war in allen solchen Fällen in hohem Grade ernst gemeint; ich aber pflegte der Sache so viel wie möglich eine humoristische oder für ihn überhaupt unerwartete Wendung zu geben, die ihn verblüffte. So auch hier.

»Ja, auch ich weiß es, auch ich weiß es«, rief er in seinem vorwurfsvollsten Ton. »Aber nicht von dir, sondern von fremden Menschen!«

»Genau so wie ich! Auch ich habe es von fremden Menschen erfahren, nicht aber von dir!«

Da stutzte er. Er ahnte, daß ich jetzt wieder einmal im Begriff stand, den gegen mich gerichteten Spieß herumzudrehen. Dann fuhr er fort:

»Um es von dir zu erfahren, mußte ich erst hierher zu den Pferden!«

»Ich ebenso! Und doch wäre es deine Pflicht gewesen, sofort zu mir zu kommen, sobald du es erfahren hattest. Aber anstatt dies zu tun, hast du mir zugemutet, dir nachzulaufen, bis ich dich hier traf! Das muß ich mir verbitten, hörst du, Halef, verbitten!«

Da trat er einige Schritte zurück und wiederholte in höchst erstauntem Ton den Gedankengang meiner Rede:

»Meine Pflicht –! Sofort zu dir –! Zugemutet –! Nachzulaufen –! Verbitten –! Effendi, ich bin starr! Ja, bitte, erlaube mir, starr zu sein, vollständig starr! Ich bin hierhergekommen, um dir die niederschmetternde Gewalt meiner Vorwürfe in das Gesicht zu schleudern, und der nun schleudert, der bin nicht ich, sondern der bist du! Und das schlimmste dabei ist, daß es mir so vorkommt, als hättest du ebenso recht wie ich.«

»Ebenso wie du? Was fällt dir ein! Wenn überhaupt nachgelaufen werden muß, wer ist es da, der nachzulaufen hat? Ich dir oder du mir?«

»Nicht du, sondern ich!« gestand er ehrlich ein.

»Und doch bist du nicht zu mir gekommen, sondern ich habe zu dir gemußt! Halef, Halef, das war früher nicht! Da warst du pflichtgetreu! Da wärst du mir rund um die Erde nachgelaufen, um mir mitzuteilen, daß etwas Wichtiges geschehen sei. Heut aber setzt du dich faul in das Gras und wartest, bis ich komme!«

Da trat er noch um einen Schritt weiter zurück, schlug die Hände erschrocken zusammen und stöhnte:

»Faul in das Gras! Faul, faul! Ist so etwas möglich! Das geht mir über alle meine Begriffe. Ich und faul! Aber ich bin wirklich hierhergelaufen, anstatt zu dir! Ich habe wirklich hier im Gras gesessen! Und ich habe wirklich gewartet, bis du kamst! Das ist nicht abzuleugnen, obwohl du vor mir stehst wie einer, der es darauf abgesehen hat, mich auf den Turban meiner Gedanken zu setzen, anstatt ihn mir auf den Kopf zu tun! Ich fühle mich ganz wirr hinter der Stirn und bitte dich, mir zu verzeihen, daß ich nichts von dir erfahren habe!«

Ich mußte mir Mühe geben, ernst zu bleiben, und fragte ihn:

»Wer war es, der es dir sagte?«

»Der Oberste des Schiffes, der an mir vorüberging, als er sich an Bord begab. Ich habe mit ihm gesprochen. Wir werden über drei Tage lang auf dem Wasser sein, ehe wir die Küste von Ardistan zu sehen bekommen. Weißt du, wie lange wir dort zu bleiben haben?«

»Nein. Es kann Monate dauern, aber auch Jahre.«

»Allah, Allah! Auch Jahre?«

»Ja. Ich weiß, du freust dich, die Heimat nun bald wiederzusehen ...«

»Nicht nur die Heimat«, fiel er ein, »sondern auch Hanneh, mein Weib, die schönste und lieblichste Blume unter allen Blumen, die es auf Erden gibt. Und Kara Ben Halef, den Sohn meines Herzens, den ich erzogen habe zum klügsten und besten der Menschen, die unter der Sonne wohnen.«

»Und nun sollst du nicht heim, sondern mit nach Ardistan und Dschinnistan. Das tut mir leid!«

»Leid? Nein! Ich will dir zwar ehrlich gestehen, daß ich lieber zu Weib und Kind zurückgekehrt wäre; aber es gibt zwei Punkte, die wohl zu erwägen sind. Der eine Punkt bist du. Es ist mir unmöglich, dich zu verlassen. Ich reite mit dir, bis die Erde unter den Hufen unserer Pferde aufhört, und auch dann noch immer weiter und weiter! Und der zweite Punkt ist die Freude an der Gefahr. Und Gefahren wird es geben, mehr als du denkst und ahnst. Das sage ich dir im voraus!«

»Wirklich?«

»Ja. Ich war zwar noch niemals dort, und es gibt überhaupt nur sehr wenige Menschen, die einmal dort gewesen sind, aber man hat mir viel davon erzählt, und was ich da gehört und erfahren habe, das könnte mir nicht nur Furcht und Angst, sondern gar Schrecken und Entsetzen einjagen, wenn ich nicht Hadschi Halef Omar wäre, der oberste Scheich der Haddedihn vom großen und berühmten Stamm der Schammar. Du weißt, Effendi, daß es für einen Haddedihn unmöglich ist, sich zu fürchten. Auch du kennst keine Furcht. Darum kann ich dir erzählen, was ich über Ardistan und Dschinnistan erfahren habe. Einem anderen müßte ich es verschweigen, sonst zöge es ihm die Haut vom Rücken los. Darf ich?«

»Ja.«

»So höre!«

Unsere Pferde lagen vor uns, um die allabendliche Liebkosung zu erwarten. Wir setzten uns zu ihnen nieder, Halef zu Assil Ben Rih und ich zu Syrr, der mir die Hände zärtlich leckte und mich hierdurch bat, ihm Hals und Mähne zu krauen.

»Ardistan und Dschinnistan liegen nebeneinander«, begann Halef seinen Bericht, »oder vielmehr übereinander. Denn Ardistan liegt an der See und wird nur von einigen, nicht sehr bedeutenden Höhen durchzogen; Dschinnistan aber steigt bis zu den höchsten Bergen auf, die es auf Erden gibt. Die eigentliche Grenze zwischen den beiden Ländern kennt niemand; sie ist unbestimmt. In Ardistan herrscht ein Mir, und in Dschinnistan herrscht ein Mir. Dieses Wort ist die Abkürzung von Emir, was so viel wie Fürst bedeutet. Der Mir von Ardistan ist ein Teufel, und der Mir von Dschinnistan ist ein Engel.«

»Können Menschen Engel oder Teufel sein?« fragte ich.

»Jawohl«, antwortete er. »Denn Hanneh, mein Weib, die kostbarste Perle unter den Perlen des Meeres und der Flüsse, ist ein Engel. Das weiß ich, und das beschwöre ich. Und auf der anderen Seite weißt du ebensogut, daß es auch Frauen gibt, welche Teufel sind. Und was die Weiber können, das können wir Männer wohl auch. Wenn du der Wahrheit die Ehre geben willst, so mußt du sagen, daß ich ein Engel bin, und aus Dankbarkeit leiste ich dir dann denselben Dienst. Übrigens erzähle ich nur das, was ich gehört habe, und ob du es glaubst, das ist nicht meine Sache, sondern deine. Ich aber glaube es!«

»Und fürchtest dich nicht?«

»Fürchten? Vor wem? Etwa vor dem Mir von Dschinnistan? Der ist ja ein Engel, und vor Engeln hat man doch keine Angst! Oder vor dem Mir von Ardistan? Der ist ja ein Teufel, und ich habe, solange ich lebe, stets den Wunsch gehabt, den Satan kennenzulernen. Und nun, da mir dieser Herzenswunsch endlich, endlich in Erfüllung geht, soll ich mich vor ihm fürchten? Im Gegenteil, ich freue mich auf ihn! Übrigens, ob Engel oder Teufel ist ganz gleich; es kann uns weder der eine noch der andere etwas schaden, denn alles, was mit uns geschieht, ist im Buch des Lebens vorgezeichnet, und nur Allah allein kann etwas daran ändern; dem aber fällt es ganz und gar nicht ein, gerade deinet- oder meinetwegen eine Änderung vorzunehmen. Du hast von diesen beiden Gegenden wohl überhaupt noch nie etwas gehört und noch nie etwas gelesen?«

»Etwas Bestimmtes nicht. Doch vorhin gab mir Marah Durimeh Karten und Bücher, aus denen ich mich unterrichten kann. Ich nehme sie mit auf das Schiff, um sie während unserer mehrtägigen Fahrt zu studieren.«

»Und dann etwa mitzuschleppen?«

»O nein. Das wäre Torheit.«

»Ich gebe überhaupt auf solche Dinge nichts. Solche Karten sind doch nur mit Tinte gezeichnet, und die Tinte läuft bekanntlich, wohin sie will. Und mit den Büchern steht es noch schlimmer. Bücher zu schreiben ist eine saure Arbeit. Nur dumme Menschen können so töricht sein, solche Arbeit zu verrichten. Wer klug ist, der sagt, was er weiß, der gibt sich nicht die ungeheure Mühe, es erst niederzuschreiben, dann wieder abzudrucken und es schließlich vorzulesen. Darum dient mir jedes Buch, welches ich in die Hand bekomme, als sicherer Beweis, daß der, welcher es schrieb, ein Esel ist. Und mit den Produkten solcher armer, beklagenswerter Geschöpfe solltest du dich auch auf dem Schiff nicht schleppen! Ich bin sehr begierig auf die Narrheiten, die in diesen Büchern stehen werden. Wenn du klug bist, so hörst du nicht auf sie, sondern auf mich. Hast du denn schon hineingeschaut?«

»Ja.«

»Und auch gelesen?«

»Ja.«

»Stand etwas drin von fliegenden Menschen?«

»Nein.«

»Von Menschen mit Krokodilsköpfen?«

»Nein.«

»So taugen diese Bücher nichts! Es gibt in Ardistan Menschen, welche Krokodilstränen weinen. Hieraus folgt, daß sie Krokodilsköpfe haben müssen. Die Krokodilstränen sind Stück für Stück genau so groß wie ein Straußenei und werden ...«

»... von Elefanten ausgebrütet, nicht wahr?« fiel ich laut lachend ein.

»Du lachst?« zürnte er. »Bei so ernsten Dingen? Effendi, Effendi, nimm dich in acht! Die Bücher haben schon manches menschliche Gehirn verschoben und verschroben. Wie ungeheuer schädlich sie sind, kannst du schon daraus ersehen, daß ein jeder, der in ein Buch vernarrt ist, sich auf das Sofa legt, um es zu lesen, und gerade das Sofa ist doch jedenfalls nur dazu da, daß man entweder nichts tue oder um einzuschlafen. Ich bitte dich nochmals, laß dich warnen! Vielleicht steht auch das nicht in den Büchern, daß Ardistan das Land der Flöhe, der Läuse, der Wanzen und der Soldaten ist?«

»Allerdings nicht.«

»So wirf sie weg, Effendi, wirf sie weg, denn Bücher über Ardistan, in denen nichts von diesen Dingen steht, haben keinen Wert. Nimm alle deine Gedanken in eine Hand zusammen, und merke auf, was ich dir sage! Ich werde dir nicht nur die beiden Länder beschreiben, sondern auch die Menschen, die Tiere, die Pflanzen und dazu auch noch alles andere, was du wissen mußt und doch jetzt noch nicht weißt. Höre mir zu! Du wirst hören, daß das, was ich in meinem Kopf habe, tausendmal mehr wert ist als alle Bücher, alle Karten und alle Pläne, die sich nicht darin befinden. Merke also auf!«

Halef begann nun einen Vortrag von so ungeheuerlichem Inhalt, als ob er alle Unmöglichkeiten der Geographie, Geschichte und Naturgeschichte extra für diese Mitternachtsstunde zusammengesucht habe, um mich um den Verstand zu bringen. Und das tat er mit einem Ernst und mit einer Überzeugung, als gälte es zum mindesten die Seligkeit oder irgend einen andern der höchsten Geistespunkte unseres Lebens. Ich habe viel Phantastisches gelesen und viel Phantastisches gehört, so etwas aber doch noch nicht. Darum verhielt ich mich zunächst ganz still, als er fertig war, denn ich fand nicht die rechten Worte, mein Erstaunen über den Unsinn auszudrücken, den er mich glauben machen wollte. Er aber legte diesem Schweigen ganz andere Gründe unter.

»Nicht wahr, du bist ganz weg, Sihdi?« fragte er. »Meine Kenntnisse haben dich übermannt! Die Schönheit meiner Sprache, die Erhabenheit meiner Bilder, die Unbesiegbarkeit der Wahrheiten, die ich dir vorgetragen habe! Ja, so etwas findest du in keinem Buch, mag es nun gedruckt oder mag es geschrieben sein! Aber ich bin müd geworden von diesem vielen und anhaltenden Sprechen. Du nicht auch?«

»Nein, denn ich war still.«

»So kannst du noch bleiben, ich aber muß schlafen gehen.«

»Allah sei Dank!«

Er hatte schon aufstehen wollen, ließ sich aber bei diesen meinen Worten wieder niederfallen und fragte:

»Wie meintest du das? Was wolltest du jetzt sagen?«

»Daß du dir die Ruhe verdient hast, welche der Schlaf zu bringen pflegt.«

»So! Das ist etwas anderes! Man weiß bei dir nicht immer gleich, wie du es meinst. Du hast zuweilen Ausdrücke, die etwas ganz anderes ausdrücken, als was durch sie ausgedrückt wird. So dachte ich auch hier; nun aber bin ich beruhigt. Leletak mubaraka – deine Nacht sei gesegnet!«

Nun stand er auf.

»Die deine auch«, antwortete ich.

Er ging drei oder vier Schritt fort, blieb überlegend stehen, wendete sich dann wieder nach mir um und sagte:

»Effendi, ich bin froh, daß es morgen fortgeht, daß wir nicht länger hierbleiben.«

»Warum?«

»Es gefällt mir nicht!«

»Höre, Halef, das ist undankbar! Eine Gastfreundschaft wie hier, haben wir noch nie gefunden!«

»Das ist wahr. Aber was nützt mir die Gastfreundschaft, wenn sie mir grad das nicht bietet, was mir das liebste ist.«

»Was meinst du da?«

»Den Ernst.«

»Den Ernst? Wieso? Ich meine doch, daß wir uns bei sehr ernsten Personen befinden!«

»Das dachte ich auch, aber es stellte sich sehr bald heraus, daß es ein Irrtum war. Es gibt hier keinen Ernst!«

»Wirklich?«

»Ja. Sie lachen alle, alle!«

Ah, jetzt wußte ich, was er meinte. Er ärgerte sich darüber, daß man seine Übertreibungen für das nahm, was sie waren, und sich auch gar keine Mühe gab, ihm dies zu verbergen.

»Sie lachen?« fragte ich. »Über was? Über wen? Doch nicht etwa über mich?«

»Über dich? Sihdi, das wollte ich ihnen nicht raten; da haute ich einfach zu! O nein, über mich lachen sie, über mich! Da solltest eigentlich du zuhauen!«

»Sehr gern, sehr gern, nämlich, wenn ich es sehe!«

»Das ist es eben, was mich ärgert. Du bekommst es gar nicht zu sehen, sondern nur ich. Vor dir haben sie Achtung; vor dir verbergen sie es; vor mir aber nicht! Je größer, je schöner und je wunderbarer die Sachen sind, die ich ihnen erzähle, um ihr Staunen zu erregen, desto deutlicher wird ihr Lachen und desto weniger glauben sie mir. Das ist beleidigend, das ist niederträchtig; das holt meinen Zorn aus mir heraus und steckt ihn doch immer wieder in mich hinein, weil es mir als Gast verboten ist, grob zu werden. Dieser ewig hin- und hergehetzte Zorn macht mich krank. Er verdirbt mir den Appetit. Ich verliere das Fleisch. Ich fühle mehr und mehr, daß ich nicht hierhergehöre und daß ich zu vornehm bin für die Personen, bei denen ich hier wohne. Warum wohne ich nicht auch, wie du, bei Marah Durimeh und Schakara? Die lachen nicht! So bin ich also froh, daß wir nicht länger bleiben; Leletak sa'ide – deine Nacht sei glücklich!«

Er ging.

»Die deine ebenso«, antwortete ich.

Da blieb er noch einmal stehen.

»Effendi, erlaubst du mir eine Frage?«

»Ja, aber nur unter der Bedingung, daß du dann wirklich gehst.«

»Ich gehe dann, gewiß!«

»So sprich!«

»Früher erlaubtest du mir, meine Nilpferdpeitsche in den Gürtel zu stecken. Das war eine Lust. Wenn niemand mehr Verstand haben wollte, meine Kurbatsch, die hatte ihn. Dann wurdest du plötzlich gebildet und human. Du verbotest mir die Peitsche. Das tat mir weh. Denn je weher man dem Feind tut, desto wohler tut man dem Freund. Seit ich die Kurbatsch wegstecken mußte, haben wir kein wirkliches, kein großes Abenteuer mehr erlebt. Hierzu kam, daß du auch auf den Gebrauch deiner Gewehre verzichtetest. Der schwere, sicher treffende Bärentöter, der fünfundzwanzigschüssige Henrystutzen, mit denen du uns aus so vielen Gefahren rettetest, sie wurden weggepackt. Du wolltest dich nicht mehr auf die Waffen, sondern auf die Liebe, auf die Humanität verlassen. Aber weißt du, was dann kam? Was die Folge war?«

»Ich weiß es wohl«, gestand ich ein.

»Nun, was?«

»Die Vorsicht trat an Stelle des Mutes. Wir erlebten nichts mehr.«

»Ja, so ist es! Die Humanität brachte uns um die Abenteuer. Wir erlebten nichts mehr. Und nun kommt meine Frage: Soll das in Ardistan und Dschinnistan auch so sein? Willst du auch dort den Waffen Schweigen gebieten?«

»Nein«, antwortete ich trotz der gegenteiligen Instruktion, die ich von Marah Durimeh erhalten hatte. Es gab Gründe, die mich hierzu veranlaßten.

Da kam er mit einem großen Freudensprung auf mich zu, faßte meine Hand und rief:

»Nicht, wirklich nicht, Effendi?«

»Ich sage nein.«

»Warum?«

»Weil es Wahnsinn wäre, in einem Land, wie Ardistan ist, auf sie zu verzichten. Ich bin überzeugt, es wäre unser sicherer Tod.«

»Hamdulillah, Hamdulillah! Es wird wieder geschossen! Es wird wieder gestochen! Und es wird wieder gehauen!«

Er drehte sich fünf-, sechsmal um sich selbst und machte dabei die Armbewegung, als ob er eine Peitsche in der Hand habe.

»Gehauen? Wieso?« fragte ich, indem ich mich stellte, als ob ich ihn nicht begreife.

Er antwortete:

»Du meinst doch, daß ich den Bärentöter, den Henrystutzen, das Jagdmesser und die Revolver wieder auspacken darf?«

»Allerdings.«

»Und meine alte, gute, arabische Flinte auch, und das Doppelgewehr, welches dein Geschenk ist, auch, und die beiden Pistolen auch?«

»Ja. Wir schleppen dann wieder ein ganzes Arsenal mit uns herum!«

»Und weißt du, was zu diesem Arsenal gehört, ganz unbedingt, ganz unbedingt zu ihm gehört?«

»Was?«

»Die Kurbatsch, die Peitsche, die Nilhautpeitsche!«

»Oho!«

»Ja, die Peitsche!« jubelte er. »Du weißt doch ebenso wie ich, was ich alles mit ihr erreicht habe! Sie macht den Ungehorsamen gehorsam, den Stolzen demütig, den Untreuen treu, den Zweifler gläubig, den Geizigen wohltätig, den Groben höflich, den Langsamen schnell, den Zornigen sanft und, wenn es sein muß, sogar den Toten lebendig! Sihdi, sag, darf ich sie mit auspacken?«

Er beugte sich zu mir nieder, strich mir mit der Hand liebkosend über die Wange und bat im liebevollsten seiner Töne:

»Sihdi, wenn du mich nur noch ein ganz, ganz klein wenig liebhast, so erlaube mir, daß ich die Peitsche wieder tragen darf! Ich bitte dich, ich bitte!«

Wer meinen kleinen, lieben Hadschi Halef kennt, der wundert sich gewiß nicht über diese seine Bitte; sie entsprang gewiß aus keiner schlechten Quelle und stützte sich auf die Eigenheiten der orientalischen Verhältnisse. Und wer mich kennt, der weiß, daß auch ich mich nur aus guten Gründen zu der Antwort entschloß, die ich ihm gab:

»So trag sie wieder, Halef; trage sie!«

»Ich darf?« fragte er in einem Ton, der vor Freude beinahe überschnappte.

»Du darfst. Doch stelle ich die Bedingung, daß du dich ihrer nur dann bedienen darfst, wenn ich es dir gestatte.«

»Sehr gern, sehr gern! Ich danke dir, Sihdi, ich danke dir! Wie mich das freut! Es ist die größte Freude, die ich mir hier denken kann, wo ich nichts erlebt habe als nur Ärger! Ich darf die Schurken niederhauen, die Schufte, die Spitzbuben, die Scheusale, die Auswürfe! Ich bin entzückt! Ich muß jubeln! Ich muß tanzen und springen! Und du, Effendi, du springst mit! Komm, komm!«

Er faßte mich und zog mich von meinem Sitz empor. Er wollte sich mit mir im Kreis drehen. Ich wehrte mich. Das gab Lärm. Die Pferde sprangen auf. Mein Syrr besah sich die Sache ohne Aufregung; Assil Ben Rih aber wieherte laut auf, als er seinen Herrn in einer so seltenen, freudigen Erregung sah. Das befreite mich von Halef. Er ließ mich los und wendete sich zu dem Rappen:

»Recht so, Assil, recht so! Wenn der Effendi nicht mit mir tanzen will, so tanze ich mit dir. Du hast mehr Verstand als er. Paß auf! Es geht los!«

Er schwang sich mit einem federkräftigen Satz auf den Rücken des Pferdes, jagte es einige Male im Kreis herum und galoppierte dann fort, hinaus in die mondhelle Nacht. Syrr legte sich wieder nieder. Ich verabschiedete mich von ihm und kehrte nach der Wohnung zurück. Ich bitte, nicht darüber zu lächeln, daß ich sage, ich habe mich von meinem Pferd verabschiedet. Ein so hochedles Roß wie Syrr ist ein ganz anderes Wesen als ein gewöhnlicher Gaul unseres heimischen Schlages, hat ganz andere Regungen, ganz andere Neigungen, und muß darum auch ganz anders behandelt werden. Wir werden auf dieses ganz eigenartige und hochinteressante Gebiet noch oft zu sprechen kommen.

Es war mir unmöglich, schlafen zu gehen. Der Gedanke, die beiden geheimnisvollsten Gegenden der Erde besuchen zu dürfen, wäre mir zu jeder Zeit von höchstem Interesse gewesen. Hier aber handelte es sich um mehr, als nur um einen gewöhnlichen, zwecklosen Besuch. Ich hatte einen hochwichtigen Auftrag auszuführen. Dieser Auftrag war von Marah Durimeh als eine Mission bezeichnet worden, und zwar mit vollem Recht. Das erweckte in mir das Gefühl einer ungewöhnlichen Verpflichtung, einer außerordentlichen Verantwortlichkeit, welches mich unruhig machte und nach der Bibliothek trieb, wo ich bis zum frühern Morgen über den Büchern und Karten saß, um mir später sagen zu können, daß ich nichts versäumt habe, was nötig gewesen sei, den an mich gestellten Anforderungen zu genügen.

Auch Marah Durimeh war schon früh munter, ebenso Schakara. Sie fanden mich in der Bibliothek. Von da gingen wir zum Frühstück auf den Söller. Dort erfuhr ich, daß die »Wilahde« genau mittags die Anker lichten werde. Schakara sollte mich über die See hinweg bis zur Stunde unserer Ausschiffung begleiten, um mir bis dahin auf meine Fragen alle ihr mögliche Auskunft zu erteilen. Dann hatte sie direkt nach Ikbal zurückzukehren.

Als unsere Utensilien für die Fahrt verpackt werden sollten, legte Marah Durimeh einige Gegenstände bei, von denen sie sich Nutzen für uns versprach. Es befand sich ein blank polierter Brustschild dabei, kein ganzer Panzer für den Oberleib, sondern nur ein Schild, leicht und dünn, der nur bestimmt war, das Herz und die Lunge zu schützen. Er war aus einem mir unbekannten Metall oder einer Metallegierung und so außerordentlich gefügig, daß man ihn unter einem ganz dünnen Gewandstoff tragen konnte, ohne daß er auffiel.

»Diesen Schutz legst du an, noch ehe du Ardistan betrittst«, sagte Marah Durimeh.

»Glaubst du, daß uns dort so große Gefahren drohen?« fragte ich.

»Gefahren wird es geben, nicht wenige und nicht leichte«, antwortete sie. »Aber ich habe keine Sorge um euch; ihr werdet sie bestehen. Zwar ist dieser Schild wohl auch zu deinem Schutz bestimmt, und er hat Achselriemen, um auf der Brust getragen zu werden; zugleich aber ist er auch ein Erkennungszeichen zwischen dir und gewissen Personen, denen du begegnen wirst.«

»Darf ich schon jetzt erfahren, wer sie sind?«

»Nein. Du sollst frei sein. Kein Name darf dich binden.«

»Aber wenn sie mich an dem Schild erkennen, woran erkenne ich sie?«

»An genau demselben Schild. Es ist der Schild der Schwarzgewappneten und der Lanzenreiter von Dschinnistan. Trage ihn, aber sprich nicht von ihm. Doch, triffst du auf jemand, der dir sagt, daß er einen solchen Schild besitze, so teile ihm mit, daß auch du einen bekommen habest, und zwar direkt von Marah Durimeh. Ihr könnt euch beide trauen, euch aufeinander verlassen in jeder Not und Gefahr.«

Als die Zeit der Abreise gekommen war, brachten wir unsere Pferde selbst an Bord, denn sie waren so wertvoll, daß wir sie keiner anderen Person anvertrauten. Auch Schakara war dabei, und Marah Durimeh begleitete uns, einfach, bescheiden, wie ein gewöhnliches Weib, von allen, die uns unterwegs sahen, mit Ehrerbietung und Liebe gegrüßt, doch unauffällig, in selbstverständlicher und ungekünstelter Weise. So war der Abschied auch. Sie stand am Ufer und grüßte mit der Hand, als das Schiff den Anker hob. Hierauf ging sie. Kurze Zeit später sahen wir sie auf dem Söller erscheinen. Da stand sie, bis wir sie nicht mehr sehen konnten. Dann verschwand auch der Palast, die Stadt, das dunkle Gebirge, das ganze, uns bekannt gewordene Sitara, und wir sahen nichts mehr, als nur die unendlich weite See, der wir auf Treu und Glauben überliefert worden waren.

Zu jeder andern Zeit hätte ich mich um das Schiff, seine Bemannung und seine Einrichtung gewiß sehr eingehend bekümmert; jetzt aber hatte ich keine Zeit dazu. Ich mußte jede Minute ausnutzen, um mich zu unterrichten. Die Bücher, welche ich mitgenommen hatte, mußten mit Schakara wieder zurückgehen. Ich hatte sie also bis dahin durchzunehmen und las und las und schrieb und schrieb, um alles, was ich für wichtig hielt, zu notieren. Schakara half mir dabei. Als drei Tage vorüber waren, hatte ich einen ganzen, dicken Stoß von Notizen, deren Wert gar nicht abzumessen war. Mit ihrer Hilfe war es mir möglich, mich in jeder Lage und an jedem Ort zu orientieren.

Es war uns während dieser drei Tage kein anderes Fahrzeug begegnet. Nun näherten wir uns dem Ziel unserer Fahrt. Wir durften erwarten, am Mittag des vierten Tages die Küste von Ardistan zu erreichen, aber auch da bekamen wir kein Schiff, nicht einmal einen Kahn, ein Boot zu sehen. Der Grund hiervon war, daß wir es vermieden, uns einem Hafen zu nähern. Unsere Landung mußte in der größten Heimlichkeit geschehen, und darum wählten wir einen ganz einsamen Teil der Küste, die da völlig unzugänglich zu sein schien, doch gab es eine Stelle, wo eine kleine, schmale Bucht zwar nicht erlaubte, den Anker zu werfen, aber doch Gelegenheit zum Ausbooten gab. Das Land fiel hier überall so schroff und so tief in die See hinab, daß kein Ankertau lang genug war, den Boden zu erreichen.

Kurz nach Mittag tauchte eine dunkle Linie vor uns auf, der wir uns bei gutem Wind näherten. Das war Ardistan, eine niedrige, aus Sumpf und Moor bestehende Küste.

Die Segel wurden so gestellt, daß sich die Schnelligkeit des Schiffes verminderte. Wir gingen bis auf eine halbe Seemeile an die Küste heran; dann wurde beigedreht, das heißt, die Segel bekamen eine solche Stellung, daß die Wirkung des Windes aufgehoben wurde. Wir lagen wie vor Anker. Nun ging das große Boot zu Wasser mit den beiden, darin angebundenen Pferden. Sie verhielten sich ruhig. Übrigens saßen auch die Ruderer bei ihnen. Dann wurde das Fallreep niedergelassen; da stiegen wir nach, Halef und ich, auch Schakara, die das Steuer führen wollte.

Es war kein leichtes Manöver, der Pferde wegen; aber es gelang. An der Bucht standen einzelne Bäume, ganz nahe am Ufer. Das gab uns die Möglichkeit, das Boot derart zu befestigen, daß die Pferde ganz bequem und ohne Gefahr gelandet werden konnten. Sie waren gesattelt. Wir brauchten nur aufzusteigen. Hadschi Halef verabschiedete sich mit großem Redeschwall von Schakara. Dann reichte ich ihr die Hand. Sie sagte nichts, aber ihre Lippen zitterten, und ihre Augen waren feucht. Dann gab sie das Zeichen, das Boot vom Land zu stoßen. Da legte sich nun das Wasser zwischen uns, die tiefe, die geheimnisvolle See! Als ob diese meine Gedanken auch die ihren seien, rief sie uns nun doch noch zu:

»Effendi, wenn dir eine Gefahr naht, welche dir unbezwinglich erscheint, oder wenn die Tränen des Erdenleidens über dir zusammenfluten, so verliere nicht den Mut, sondern glaube mir, daß Marah Durimeh und Schakara dir immer nahe sind. Auf Wiedersehn!«

»Auf Wiedersehn!« antwortete ich.

»Nasuf wussak – auf Wiedersehn!« rief auch Halef.

Dann schoß das Boot von der Küste ab, dem Schiff wieder zu. Wir beide standen am Land und schauten hinterdrein. Wir sahen das Boot anlegen; wir sahen, daß es aufgewunden wurde. Die »Wilahde« stellte die Segel wieder voll und drehte sich dann unter dem Druck des wieder festgenommenen Windes von uns ab. Ein weißer Wimpel stieg bis zur Spitze des Hauptmastes empor. Das war der letzte Gruß. Neben mir erklang ein nicht ganz unterdrücktes Schluchzen. Halef weinte.

»Lach mich nicht aus, Sihdi!« sagte er. »Ich mag von dem Land Sitara nichts wissen, weil man da über mich lacht, aber heulen muß ich doch. Wozu hat man die Tränen? Doch nicht etwa, um sie immer drin steckenzulassen? Die müssen heraus! Ich schelte zwar zuweilen auf die Bewohner dieses Landes, aber lieb sind sie mir doch! Besonders Marah Durimeh und Schakara! Da fährt das Schiff nun hin! Ich setze mich! Und ich sehe ihm nach, bis es verschwunden ist! Eher stehe ich nicht wieder auf!«

Er sprach diese Sätze sehr einzeln und sehr stoßweise aus, im weinerlichen Ton. Ich wußte gar wohl, wie tief er Schakara, unsere junge, edle Freundin, in sein Herz geschlossen hatte. Der Abschied von ihr ging ihm innerlich nahe. Er setzte sich wirklich auf den Boden nieder, obwohl dieser sehr feucht war, und schaute dem Schiff so lange nach, bis es am fernen Horizont verschwand. Da stand er wieder auf und sagte:

»Nun ist es vorüber! Der Abschied tut zwar weh, aber wir sind doch keine Kinder, sondern Männer. Und vor allen Dingen wissen wir, daß ein unbekanntes Land und ein Leben voll reicher Abenteuer vor uns liegt. Da müssen wir uns zusammennehmen und tapfer vorwärts schauen, anstatt zurück auf das, was hinter uns liegt. Hast du alle deine Sachen beisammen, Sihdi?«

»Ja«, antwortete ich.

»Nichts vergessen?«

»Nein.«

»Ja, allerdings, diese Erkundigung war im höchsten Grade überflüssig, denn vergeßlich bist du nie gewesen, niemals! Aber erlaube mir die Frage nach deinem Panzer! Du solltest ihn anlegen, noch ehe du hier dieses Land betrittst. Hast du das getan?«

»Ja.«

»Und die Abschriften von den Landkarten, Plänen und viel tausend Namen, die du angefertigt hast? Die hast du doch nicht etwas vergessen?«

»Nein.«

»Wo hast du sie?«

»Hier in der Brusttasche. Ich hatte mir den Panzer gerade auf die Brust gebunden und zog die Jacke über die Weste. Die Abschriften lagen neben mir. Ich steckte sie eben ein, als Schakara kam, und da – und – und – doch nein, ich irre mich! Ich steckte sie nicht ein, ich wollte sie einstecken; da kam Schakara und unterbrach mich. Ich ließ die Abschriften liegen, und ...«

»... und da liegen sie noch?« fiel Halef schnell ein.

»Ja – nein – nein – ja – unmöglich! Es ist nicht denkbar! Sie sind zu wichtig, viel, viel zu wichtig! Ich kann und kann und kann sie nicht vergessen haben!«

Ich griff in die Brusttasche; da waren sie nicht. Ich suchte in allen anderen Taschen, vergeblich. Ich hatte sie liegenlassen, gewiß und wirklich liegenlassen! Diese Abschriften, die ich mir mit so großer Mühe gemacht hatte und die ich so unendlich notwendig brauchte! So etwas war mir noch nie im Leben passiert! Eine solche Gedankenlosigkeit hatte ich bisher für unmöglich gehalten! Mir wurde ganz schlimm. Ich setzte mich nun auch nieder, trotz der Feuchtigkeit des Bodens. Ohne diese Notizen war ich vielleicht ganz außerstande, mich in diesem fremden Land und seinen Verhältnissen selbständig zu bewegen! Jeder Zufall könnte mir zum Meister und Gebieter werden! Soeben hatte Halef uns »Männer« genannt; aber nun ich diese Aufzeichnungen nicht bei mir hatte, glichen wir Kindern, die nur Fehler begehen können, wenn es ihnen einmal einfallen sollte, einen eigenen Entschluß zu wagen! Ich war im höchsten Grade zornig auf mich selbst und zugleich auch so verstimmt, wie wohl noch nie in meinem ganzen Leben. Dazu stellte sich Halef mit weit auseinandergespreizten Beinen grad vor mich hin und sagte:

»So! Da sitzest du nun! Grad wie vorhin ich! Es fehlt nur noch, daß dir die Tropfen ebenso über die Backen laufen wie mir! Du hast sie also vergessen – doch vergessen?«

»Leider! Ja!« gestand ich ein.

»Das dachte ich mir!« fuhr er fort, »denn du bist stets vergeßlich gewesen! Fürchterlich vergeßlich, solange ich dich kenne!«

»Oho!« widersprach ich ihm.

»Ja, ja!« behauptete er. »Du hast zwar auch noch einige andere Fehler, mein lieber Sihdi, aber der größte unter ihnen war doch stets die Vegeßlichkeit; sie wird es wohl auch bleiben! Du weißt es ebensogut wie ich, daß ich mir alle Mühe gegeben habe, dich von dieser Gedankenlosigkeit zu befreien; aber einen Erfolg habe ich leider nicht gehabt. Dies ist zwar für einen so verständigen Mann, wie ich bin, kein Grund, dir zu zürnen oder dich etwa gar zu mißachten, denn Fehler, die angeboren sind, können nicht geheilt werden; aber betrübend ist es doch jedenfalls für mich, daß grad ich dazu berufen zu sein scheine, immer neue derartige Mängel an dir zu entdecken. Daß du diese Notizen auf dem Schiff liegenlassen konntest, ist für mich geradezu unbegreiflich. Ich suche nach den Gründen dieser deiner innerlichen Fehlerhaftigkeit. Du würdest sie wohl nicht finden; bei meinem bekannten Scharfsinn aber ist es für mich eine Kleinigkeit, sie schleunigst zu entdecken. Darf ich sie dir nennen, Effendi?«

»Ja«, antwortete ich.

Wer mich und meinen Hadschi Halef kennt, der weiß, warum ich zuweilen stillschweigend darauf einging, mir von ihm derartige Predigten halten zu lassen. Er liebte und verehrte mich aufrichtig und wahr; aber immerwährend und immerwährend nur Verehrung, das erschien ihm langweilig; er mußte zuweilen fünf Minuten haben, in denen er seine ganze Entrüstung über mich ausschütten konnte, das lag so in seiner Natur, und dann war er sofort wieder der liebe, treue, aufopfernde Mensch, von dem ich verlangen konnte, was mir beliebte, sogar den Tod. Übrigens hatte ich jetzt grad eine strenge Strafpredigt verdient, und darum ließ ich dem, was er sagte, freien Lauf.

»Es sind zwei«, fuhr er fort. »Ist es dir vielleicht möglich, sie zu erraten?«

»Nein.«

»So will ich sie dir nennen, ohne deinen Verstand unnötig zu belästigen. Es ist nämlich entweder die Dummheit oder die Altersschwäche. Begreifst du das?«

»Noch nicht.«

»So ist es nicht die Altersschwäche, sondern die Dummheit allein. Für alle Fehler, die der Mensch macht, gibt es nämlich nur einen von diesen beiden Gründen. Sie genügen für alles, was geschieht, nach noch anderen brauchen wir also nicht zu suchen. Du bist genauso alt wie ich. Darum weiß ich ganz genau, daß Altersschwäche bei dir ausgeschlossen ist. Also kann es sich, wenn ich nach dem Grund deiner Fehlerhaftigkeit forsche, nur um die Dummheit handeln. Und weil dir diese Fehler angeboren sind, muß dir auch die Dummheit angeboren sein. Hast du mich verstanden?«

»Ja.«

»Das wundert mich! Wer von Geburt dumm ist, der pflegt sonst nicht so schnell zu begreifen, wie du mich jetzt, in diesem Augenblick, begreifst. Aber ich freue mich darüber. Denn da darf ich hoffen, daß du auch das begreifen wirst, was ich dir noch weiter zu sagen habe.«

Er stellte den Kolben seiner Flinte auf die Erde, stützte sich mit den Händen auf den Lauf und fuhr dann fort:

»Du weißt, Effendi, daß wir nach Ardistan und Dschinnistan gesandt worden sind, um gewaltige Abenteuer zu erleben und jene Art von großen Taten zu verrichten, die keinem andern Geschöpf, als nur uns beiden möglich sind. Wenn du deine Pläne und Karten bei dir hättest, so würde es dir wohl nicht ganz unmöglich sein, das Vertrauen zu rechtfertigen, welches Marah Durimeh in dich setzt. Nun du sie aber vergessen hast, gibst du ganz gewiß ohne weiteres zu, daß du bei deinen angeborenen Mängeln unfähig bist zu tun, was sie von dir verlangt. Hieraus folgt mit unbestreitbarer Sicherheit, daß nun ich es bin, auf den ihr beide euch verlassen müßt. Die großen Taten habe ich auszuführen, nicht du! Und die berühmten Abenteuer habe ich zu erleben, nicht du! Früher warst du die Hauptsache, und ich, ich war die Nebensache. Jetzt aber ist es grad umgekehrt: Jetzt bin ich die Hauptperson, und die Nebenperson bist du! Gibst du das zu, Effendi?«

»Sehr gern«, antwortete ich.

»Sehr gern?« fragte er, indem er einen ungewissen Blick auf mich warf. »Der Ton, in dem du das sagst, gefällt mir nicht! Ich hoffe, du meinst es ehrlich!«

»Im höchsten Grade ehrlich!« versicherte ich. »Es ist mir geradezu eine Wonne, zu erfahren, daß du von jetzt an die Hauptperson bist.«

»Eine Wonne? Wieso?«

»Weil ich jetzt nichts mehr zu bedenken, zu überlegen und zu verantworten habe. Ich tue nur, was du befiehlst.«

»Hm!« brummte er. »Nicht mehr denken willst du? Gar nicht mehr?«

»Gar nicht mehr!« versicherte ich. »Bei meiner angeborenen Dummheit ist es mir sehr lieb, daß nun du an meiner Stelle denkst!«

»Und verantworten soll ich alles?«

»Natürlich. Ich bin nur Nebensache!«

»Hm! Wenn ich nur wüßte, wie du das meinst, ob ehrlich oder hinterlistig! Du bist nämlich in Beziehung auf die angeborene Dummheit ein höchst gefährlicher Mensch. Es ist möglich, daß du mich damit nur in Versuchung führst. Aber da es nicht abzuleugnen ist, daß du deine Karten und Pläne vergessen hast, so bleibt es bei dem, was ich gesagt habe: die Hauptperson bin ich! Ich werde also während dieser ganzen Reise befehlen, und du hast zu gehorchen. Nicht?«

»Ja.«

»So erhebe dich jetzt vom Boden, und steig aufs Pferd. Wir brechen auf!«

Ich stand auf. Wir hatten uns beide durch das Sitzen auf dem feuchten Boden beschmutzt. Das erzürnte Halef, der ungemein auf Sauberkeit hielt.

»Allah 'l Allah! Nun klebt der ganze Sumpf an unsern Kleidern!« rief er zornig aus. »Das ist Ardistan! Genau so, wie man es mir beschrieben hat! Bei uns daheim ist auch die Wüste so rein, daß sogar der Gläubige, bevor er betet, sich mit Sand anstatt mit Wasser wäscht, wenn ihm das letztere fehlt. Wer aber den Boden von Ardistan betritt, der versinkt in Schmutz schon gleich beim ersten Schritt und kann sich nicht eher von ihm befreien, als bis er die Grenze von Dschinnistan erreicht! Beeilen wir uns, diesem Dreck und Schlamm zu entweichen!«

Er stieg in den Sattel. Ich tat das auch. Nun wartete er, daß ich voranreiten werde. Ich aber machte eine abwehrende Handbewegung und forderte ihn auf:

»Zeig du den Weg; ich bin nur Nebensache!«

»Gut, das werde ich!« antwortete er in scheinbar zuversichtlichem Ton. Aber schon weniger zuversichtlich fügte er hinzu: »Du brauchst aber trotzdem nicht hinter mir zu reiten, sondern kannst dich getrost an meiner Seite halten. Du kennst mich doch. Du weißt, daß ich auch als Hauptperson sehr leutselig bin!«

Der kleine Schlaue wollte mich neben sich haben, um sich nach der Fühlung mit mir richten zu können. Ich ging aber nicht darauf ein, sondern blieb hinter ihm. Das brachte ihn in keine geringe Verlegenheit. Er wußte von meinen Absichten, wie man sich ländlich auszudrücken pflegt, weder Kix noch Kax und war also vollständig unfähig, auch nur die Richtung unseres Rittes zu bestimmen. Darum wendete er sich schon nach kurzer Zeit mit der Bitte an mich zurück:

»Effendi, sag mir doch wenigstens, ob ich so richtig reite!«

»Es ist richtig«, antwortete ich. »Immer geradeaus.«

»Wenn aber ein Sumpf kommt?«

»So biegen wir um ihn herum.«

»Es scheint hier überhaupt alles Sumpf zu sein. Ich finde das schrecklich. Die Pferde versinken bis in die Knie!«

»Um über die morastige Ebene zu kommen, brauchen wir drei Tage.

»Drei Tage? Allah erbarme sich! Was gibt es da für Menschen?«

»Keine. Auf menschliche Wesen treffen wir erst jenseits dieser Niederung.«

»Welchem Volk gehören sie an?«

»Dem Stamm der Ussul.«

»Der Ussul? Weißt du das genau?«

»Ja.«

»Ich denke, du hast deine Notizen vergessen? Da kannst du doch nichts wissen!«

»Warum nicht? Ich habe mir doch sehr viel von dem gemerkt, was ich in den Büchern von Marah Durimeh gelesen und nach ihren Karten mir ausgerechnet habe.«

»Gemerkt?« fragte er. »Sihdi, das ist nicht wahr; das glaube ich nicht!«

»Warum nicht?«

»Weil ich es besser weiß! Ich habe dir schon gesagt, daß ich Ardistan kenne, und zwar sehr genau. Darum bin ich ja die Hauptperson und reite jetzt voran. Ein jeder, der in diesem Land gewesen ist, der weiß, daß es das Land des Vergessens ist.«

»Wieso?«

»Wer es betritt, der vergißt alles, was und wo und wie und wer er vorher gewesen ist.«

»Wer hat dir das weisgemacht?«

»Weisgemacht? Ich bitte dich, mich nicht zu beleidigen! Ich habe mit sehr, sehr viel Leuten über Ardistan gesprochen. Der klügste von ihnen war ein alter, gelehrter und vielgereister Derwisch, der sich über zehn Jahre lang dort aufgehalten hatte und es also sehr genau kannte. Er sagte, daß es mit Ardistan ganz entschieden dieselbe Bewandtnis habe, wie mit dem Menschenleben überhaupt.«

»Wie meinst du das?« fragte ich ihn.

»Das will ich dir sofort erklären«, antwortete er. »Du gibst doch zu, daß wir beide nicht aus Ardistan stammen, obwohl wir uns jetzt hier befinden?«

»Ja.«

»Ebenso gibst du auch zu, daß wir nicht von der Erde stammen, obgleich wir uns auf ihr befinden?«

»Einverstanden!«

»Aber weißt du, wo du gewesen bist, bevor du hier geboren wurdest?«

»Nein.«

»Damals aber, wo du dich dort befandest, hast du es gewußt?«

»Höchstwahrscheinlich!«

»So hast du es also in dem Augenblick, an dem du geboren wurdest, vergessen. Der alte, kluge Derwisch behauptete, daß die Erde eine Strafanstalt für Geschöpfe sei, die Allah nicht gehorchen wollten. Sobald sie durch das Tor der Geburt in das diesseitige Leben treten, vergessen sie alles Frühere. Sie wissen nicht mehr, wer und was und wo sie gewesen sind, und können sich nur durch unbedingten Gehorsam und unerschütterlichen Glauben, durch treue, ehrliche Arbeit und gute Werke nach dort zurückfinden, woher sie gekommen sind. Glaubst du das, Effendi?«

»Die Ansicht dieses alten Derwisches ist interessant; man muß über sie nachdenken.«

»So denke nach! Er sagte, daß es im Leben eines jeden Menschen Augenblicke gebe, an denen ihm die Erinnerung an das vergangene Leben aufleuchte wie ein Blitz, der ebensoschnell verschwindet, wie er kommt.«

»Und so oder ähnlich ist es auch mit Ardistan?«

»Ja. Es ist ein Land des Vergessens, wie die Erde. Man behauptet sogar, daß das Leben in Ardistan ein ganz genaues Bild des Erdenlebens sei. Du lächelst, Effendi? Ist das, was ich sage, nicht wert, geglaubt zu werden?«

»Ob wert oder nicht, das kommt hier nicht in Betracht. Weißt du, wer du bist?«

»Ja. Wozu diese Frage?«

»Und weißt du, wo wir gestern waren?«

»Ja.«

»Und vorgestern und alle die Tage, Wochen und Monate vorher.«

»Ja.«

»Du hast es also nicht vergessen?«

»Nein.«

»Wie kann da Ardistan das Land des Vergessens sein?«

Da hielt er sein Pferd an, blickte nachdenklich vor sich hin und brummte:

»Ja! Deine Frage ist nicht dumm, auch nicht angeboren dumm. Vielleicht verwechsele ich das eine mit dem andern. Oder ich drücke mich nicht richtig aus. Oder die Vergeßlichkeit tritt nicht mit einem Male ein, sondern langsam, nach und nach. Bei dir ist sie ja schon da, denn du mußt doch zugeben, daß du deine Karten und Schreibereien liegengelassen hast. Streiten wir uns nicht, sondern warten wir es ab, ob uns das Gedächtnis schwindet oder nicht. Kommen wir lieber auf den Stamm der Ussul zurück, von dem wir sprachen. Kennst du ihn?«

»Nein«, antwortete ich, indem wir weiterritten.

»So sei froh, daß ich jetzt die Hauptperson bin! Ohne mich wärest du vollständig verloren, wenn du zu ihnen kommst. Ich weiß nämlich, woran ich mit ihnen bin. Ich habe von ihnen gehört. Nimm dich in acht, Effendi! Die Ussul sind nämlich ein Volk von lauter Riesen. Sie haben Beine wie die Elefanten. Ihre Arme sind so lang und so stark wie zwanzigjährige Baumstämme. Ihre Haare gleichen der Mähne eines Löwen. Ihre Augen glühen wie Laternen. Ihre Stimmen machen den Lärm des Donners, und wenn sie zornig sind, zittert die Erde, auf der sie stehen. Sie wohnen in starken Burgen, die sie nur in das Wasser bauen. Sie leben vom Mord und vom Raub. Sie glauben nicht an Allah und auch nicht an den Teufel, und wer mit ihnen in Streit gerät, ist unbedingt verloren!«

»Das klingt ja außerordentlich beruhigend! Von wem hast du das gehört? Wohl von demselben Derwisch?«

»Nein, sondern von anderen Personen, die aber nicht weniger glaubhaft und zuverlässig sind. Es ist ganz unmöglich, einen Mann vom Stamm der Ussul im Kampf zu besiegen. Darum besteht die Leibgarde des Mir von Ardistan nur aus solchen Kriegern, von denen es jeder gut und gern mit dreißig bis vierzig Feinden aufnehmen kann.«

»So ist es gut, daß wir nicht vierzig sind, sondern nur zwei!«

»Warum?«

»Weil sie es da gar nicht versuchen werden, es mit uns aufzunehmen!«

»Hohnlächle nicht, Sihdi! Was ich weiß, das weiß ich genau, und was ich erzähle, das ist wahr! Als Nebenperson steht es dir überhaupt nicht gut, über das zu lächeln, was die Hauptperson erzählt – was ist? Was gibt es?«

Diese beiden Fragen sprach er unwillkürlich aus, denn sein Pferd war plötzlich stehengeblieben und ließ ein warnendes Schnauben hören. Auch Syrr, mein Hengst, hielt die Schritte ein, doch ohne ein Zeichen von Angst; er stampfte vielmehr mit den beiden Vorderfüßen, als ob er die Absicht habe, einen Feind mit den Hufen zu zermalmen. Die Augen beider Pferde waren nach der linken Seite gerichtet. Wir sahen nicht gleich, um was es sich handelte. Es war ein sumpfiger Rhizophorenwald, durch den wir ritten, nicht so dicht, wie Mangrove- und Manglewälder gewöhnlich zu sein pflegen. Die Stämme, welche der Art Konjugata angehörten, standen ziemlich weit auseinander, schickten aber doch eine solche Menge von Luftwurzeln von oben herab, daß die Aussicht sehr behindert war. In die angegebene Richtung schauend, bemerkte ich erst nach ziemlich beträchtlicher Zeit, daß eine dieser Luftwurzeln sich ganz eigenartig bewegte. Halef sah es zu derselben Zeit. Er erschrak, streckte den Arm aus und rief:

»Eine Schlange! Eine Riesenschlange! Wenigstens zehn Meter lang! Siehst du sie, Effendi?«

»Ja«, antwortete ich. »Es ist eine Peddapoda – Tigerschlange –.«

»Ich werde sie sofort niederschießen, sonst verschlingt sie uns mitsamt den beiden Pferden!«

Er nahm sein Gewehr zur Hand, um seinen Entschluß auszuführen. Der gute Halef übertrieb auch hier, wie so oft. Man behauptet zwar, daß die Tigerschlange sechs Meter und noch länger werde, diese war aber ganz sicher noch nicht einmal vier Meter lang. Daß sie uns beide mitsamt den Pferden verschlingen werde, war eine jener Vergrößerungen, die der kleine Hadschi liebte. Die Riesenschlange hing mit dem Schwanz oben an einem Baum und bewegte mit nach unten gerichtetem Kopf den Körper in einer Weise, als ob sie irgend einen Gegenstand in der Luft zu fangen habe. Sie tat das jedenfalls in der Aufregung über unser Erscheinen. Wir konnten zwar nicht sehen, wohin ihr Auge blickte, aber daß sie uns bemerkt hatte, verstand sich ganz von selbst. Ich nahm den Henrystutzen vom Rücken, um nachzuhelfen, falls Halefs Kugel nicht treffen sollte. Es war kein leichtes Zielen, denn der Kopf der Peddapoda blieb keinen Augenblick an derselben Stelle. Darum ging der Schuß des Hadschis fehl, und auch ich traf erst beim zweiten Male. Die durch den Kopf geschossene Schlange schlug mit dem Vorderkörper einen konvulsivisch zuckenden Kreis, hing dann eine halbe Minute lang in gerader Linie vom Baum und fiel hierauf, indem die Ringel des Schwanzes sich lösten, von ihm zur Erde nieder. Wurmen hin und stiegen von den Pferden.

»Heil uns!« rief Halef. »Das erste Abenteuer im Lande Ardistan ist überstanden, ohne daß es uns das Leben gekostet hat! Das Ungetüm ist tot! Sein Leben ging dahin, sobald wir kamen! Es wollte uns fressen, nun aber wird es von uns gefressen! O Glück, o Heil, daß es keine Beine hat, sonst wäre es aus Angst vor unserer Tapferkeit im Galopp davongelaufen! Schau es dir an, Sihdi, dieses Ungeheuer, diesen Drachen, dieses Scheusal, dieses Ungetüm, diese Ausgeburt der Hölle, diesen Racker, diesen Hundesohn, diesen Abschaum, Schuft und Menschenfresser! Siehst du das Maul, und siehst du die Zähne? Weißt du, daß so eine Schlange einen Ochsen verschlingt ...«

»Das wohl nicht, mein lieber Halef«, unterbrach ich lachend seine Rede.

»Wenn nicht einen Ochsen, so doch wenigstens eine Kuh!« behauptete er.

»Nein!«

»Ein Kalb!«

»Auch nicht!«

»Einen Hammel!«

»Selbst diesen nicht! Und an einen Menschen wagt sie sich höchstens aus Versehen.«

»Wirklich?«

»Ja.«

Da machte er ein sehr enttäuschtes Gesicht und klagte:

»Aber so ist es ja gar keine Heldentat, die wir ausgeführt haben!«

»Leider nicht.«

»Wie schade, jammerschade! Konnte das Vieh nicht zwanzigmal länger sein und zehnmal dicker, als es ist?! Dann würde auch unser Ruhm zwanzigmal länger und zehnmal dicker sein! Wozu haben wir sie nun erschossen? Kann man sie essen?«

»Ja. Die Neger essen Schlangen gern.«

»Allah behüte mich! Ich bin kein Neger!«

»So nehmen wir die Haut.«

»Wozu?«

»Man macht Schuhe und Taschen daraus, auch Satteldecken.«

»Satteldecken? Das ist mir recht! Bei uns daheim gibt es keine Riesenschlangen. Wenn ich da mit einer solchen Satteldecke komme, preisen mich alle Völker, und mein Lob erschallt über alle Länder der Erde. Das Fell will ich haben, das Fell!«

Wir zogen der Schlange mit Hilfe unserer Messer die rötlich braun gefleckte Haut vom Leibe und setzten dann den unterbrochenen Ritt fort. Die Haut hatte Halef an sich genommen; er betrachtete sie als seine Beute, obgleich die Schlange durch meine Kugel erlegt worden war. Ich hatte nichts dagegen. Das Zusammentreffen mit der Peddapoda hatte mir mehr gebracht als nur eine Schlangenhaut, nämlich die Freude über meinen Syrr, der beim Anblick des Reptils keine Spur von Angst gezeigt hatte, obgleich er einem solchen Tier noch nie begegnet war. Diese Furchtlosigkeit war für mich von hohem Wert.


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