Guy de Maupassant
Der Tugendpreis
Guy de Maupassant

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Das Modell

Gerundet wie die Sichel des zunehmenden Mondes lag die kleine Stadt Étretat da, mit ihren weißen Klippen, ihrem weißen Strand und ihrem blauen Meer, und brütete unter der Sonne eines hellen Julitages. Als die beiden Hörner dieser Mondsichel streckten die beiden Thore, das kleine rechts, das große links, in das ruhige Gewässer das eine seinen Zwergenfuß, das andere sein Riesenbein vor, und »die Nadel«, die beinah so hoch war wie der Klippenrand, unten breit und scharf zulaufend, reckte ihre Spitzen gen Himmel.

Am Strand, längs der Flut, saß die Menge und sah den Badenden zu. Auf der Terrasse des Kasino saß eine zweite Menschenmenge oder bewegte sich hin und her in dem strahlenden Himmelslicht, ein Blumengarten von Toiletten, in dem große rote und blaue Sonnenschirme mit seidengestickten, riesigen Blumen wuchsen.

Auf der Promenade, am Ende der Terrasse, gingen andere Leute, die ruhigen, einfacheren, von dem eleganten Treiben abgesondert, langsam auf und ab.

Ein junger, bekannter, berühmter Mann, der Maler Hans Summer, schritt mit trauriger Miene neben einem kleinen Krankenwägelchen hin, in dem eine junge Dame, seine Frau, lag. Ein Diener schob langsam diesen rollenden Stuhl, und die Verstümmelte betrachtete mit traurigen Augen den lachenden Himmel, den herrlichen Tag und die freudigen Gesichter der Anderen.

Sie sprachen nicht miteinander. Sie sahen sich nicht an.

– Wir wollen einen Augenblick Halt machen – sagte die Frau.

Sie hielten, und der Maler setzte sich auf einen Klappstuhl, den ihm der Diener gab.

Die Leute, die hinter dem unbeweglich und stumm verweilenden Paar vorübergingen, sahen sie mit mitleidigen Blicken an. Eine Legende war um das Paar gewoben. Er hatte sie trotz ihres Gebrechens geheiratet, durch ihre Liebe zu ihm gerührt, wie man erzählte.

Nicht weit davon entfernt saßen zwei junge Herren auf einer Schiffswinde, schwatzten und blickten in die Ferne hinaus.

– Nein, es ist nicht wahr. Ich sage Dir, ich kenne Hans Summer ganz gut.

– Ja warum hat er sie denn dann geheiratet? Denn sie war doch schon verkrüppelt, als er sie heiratete.

– Ja, allerdings. Er hat sie geheiratet, – er hat sie geheiratet, wie man eben so heiratet, mein Gott, aus Dummheit.

– Ja aber, ja aber . . .

– Ja aber! Ein Aber, lieber Freund, giebt's nicht. Man ist dumm, weil man eben dumm ist. Und dann, weißt Du, bei den Malern sind ja thörichte Heiraten geradezu eine Spezialität. Sie heiraten beinah alle Modelle, frühere Verhältnisse, kurz Frauen, denen unter allen Umständen irgend etwas anhängt. Warum? Ja, wie soll man das wissen. Man sollte denken, daß das ewige Zusammensein mit diesen dummen Puten, die man Modelle nennt, sie von dieser Sorte Weiblichkeit auf ewig kurieren müßte. Keineswegs! Erst malen sie sie, und dann heiraten sie sie. Lies nur einmal das kleine, so wahre, so grausame und so schöne Buch von Alphons Daudet: Künstlerfrauen.

Bei dem Paar, das Du da vor Dir siehst, hat sich das Unglück auf ganz besondere, fürchterliche Weise zugetragen. Die kleine Frau hat eine entsetzliche Komödie oder vielmehr ein Drama gespielt. Sie hat um alles – alles gewagt. War sie aufrichtig dabei? Liebte sie Hans wirklich? Wer wird das je wissen? Wer will uns genau sagen, was bei der Handlungsweise der Frauen wahr, und was gemacht ist. Sie sind bei ewig wechselnden Eindrücken immer aufrichtig. Sie sind leidenschaftlich, verbrecherisch, demütig, bewundernswert, niederträchtig, von unfaßbaren Gemütsbewegungen getrieben: sie lügen ununterbrochen, ohne es zu wollen, ohne es zu wissen, und dabei sind sie trotzdem ganz offen in ihren Gefühlen und Äußerungen, die sie durch plötzliche, unerwartete, unfaßbare verrückte Entschlüsse bezeugen, wodurch sie unsere Überlegungen, all unsere abgezirkelten Gewohnheiten, alle egoistischen Regungen zerstören. Das Unerwartete und Plötzliche ihrer Entschlüsse macht sie uns zu unentwirrbaren Rätseln, wir müssen uns immer fragen: sind sie nun eigentlich aufrichtig oder falsch?

– Aber, lieber Freund, sie sind zu gleicher Zeit echt und falsch, weil es in ihrer Natur liegt, beides bis zum äußersten, und doch weder das eine noch das andere, zu sein.

Überlege Dir einmal die Mittel, die die ehrlichsten unter ihnen anwenden, um von uns zu erhalten, was sie wünschen. Diese Mittel sind kompliziert und doch einfach, so kompliziert, daß wir sie im Voraus nie erraten, und so einfach, daß, wenn wir ihnen zum Opfer gefallen sind, wir uns des Staunens nicht enthalten können, und sagen:

Was? damit hat sie mich reingelegt!

Und es glückt ihnen immer, lieber Freund, vor allen Dingen, wenn es sich um die Ehe handelt. Aber nun will ich Dir einmal die Geschichte Summers erzählen.

Die kleine Frau war Modell. Sein Modell. Und sie war hübsch, vor allem elegant, und besaß, wie es scheint, eine prachtvolle Figur. Er verliebte sich in sie, wie man in jede etwas verführerische Frau sich verliebt, wenn man sie oft sieht. Er bildete sich ein, sie aus tiefster Seele zu lieben. Es ist eine eigentümliche Erscheinung, sobald man eine Frau begehrt, glaubt man ganz bestimmt, daß man während seines ganzen übrigen Lebens sie nicht wird missen können; man weiß sehr gut, daß einem das schon einmal passiert ist, daß der Ekel dem Besitz immer gefolgt ist, daß man, um sein Dasein neben einem anderen Wesen genießen zu können, nicht nur brutale, physische Wünsche haben muß, die bald erlöschen, sondern einer Übereinstimmung der Seelen, der Charaktere und der Temperamente bedarf. Man muß bei der Anziehung, die eine Frau auf uns ausübt, zu unterscheiden wissen, ob sie von der körperlichen Form kommt, von einer gewissen sinnlichen Trunkenheit oder von einem tiefen geistigen Reiz.

Kurz, er meinte, daß er sie liebte, und leistete ihr einen Treuschwur und lebte ganz mit ihr zusammen.

Sie war wirklich nett, von jener eleganten, nichtssagenden Art, wie sie viele Pariserinnen haben. Sie scherzte, sie plauderte, sie redete Unsinn, der geistreich schien durch die komische Art, wie sie ihn herausbrachte. Sie hatte graziöse Bewegungen, die ein Malerauge entzücken mußten. Wenn sie den Arm hob, wenn sie sich nach der Seite beugte, wenn sie in den Wagen stieg, wenn sie die Hand gab, so waren all ihre Bewegungen voll Anmut und Grazie.

Drei Monate lang merkte Hans nicht, daß sie eigentlich genau so war, wie alle anderen Modelle auch.

Sie mieteten sich für den Sommer in Andressy ein kleines Haus.

Ich war eines Abends dort, als meinem Freunde die ersten Zweifel kamen.

Da es eine prachtvolle Nacht war, wollten wir zusammen einen Spaziergang am Fluß machen. Der Mond spiegelte sich im leichtbewegten Wasser, warf seinen gelben Schein in die Strömung, über den großen, langsam dahinfließenden Fluß.

Wir gingen, etwas träumerisch gestimmt durch den wunderbaren Abend, längs des Wassers. Wir hätten irgend etwas Übermenschliches vornehmen, unbekannte, wundersam poetische Wesen lieben mögen, wir fühlten in uns Wünsche, Erregungen, seltsame Begierden, und wir schwiegen, durch die reine Abendfrische der prachtvollen Nacht befangen, durch den klaren Mondschein, der den Körper zu durchdringen scheint, den Geist weitet, ihn mit Glück sättigt und tränkt.

Plötzlich rief Josephine (sie heißt Josephine): – O, hast Du den großen Fisch gesehen, der da im Wasser schnappt.

Er antwortete, ohne hinzublicken, ganz unbewußt:

– Ja, liebes Kind.

Sie ward böse: – Nein, Du hast ihn nicht gesehen, denn Du drehtest ihm den Rücken.

Er lächelte: – Ja, das ist wahr. Es ist so schön heute abend, daß ich an so was nicht denke.

Sie schwieg, aber nach einer Minute packte sie das Bedürfnis, zu sprechen, und sie fragte:

– Fährst Du morgen nach Paris?

Er sagte: – Ich weiß nicht.

Das erregte sie von neuem:

– Glaubst Du, daß es amüsant ist, so hier stumm spazieren zu gehen. Wer nicht dumm ist, spricht.

Er antwortete nicht. Wohlwissend in ihrem perversen Fraueninstinkt, daß sie ihn wütend machen würde, begann sie nun einen häßlichen Gassenhauer zu singen, dessen Melodie uns seit zwei Jahren ermüdend in den Ohren klang:

»Ich bin der Hans – Guck – in – die Luft –«

Er brummte:

– Bitte, schweige doch.

Sie sagte wütend:

– Warum soll ich denn schweigen?

Er antwortete:

– Du verdirbst uns die ganze Stimmung.

Da kam die Scene, die entsetzliche, dumme Scene mit unerwarteten Vorwürfen, wütenden Beschuldigungen, und dann kamen Thränen.

Alles war vorbei. Sie kehrten heim, er ohne zu antworten. Er hatte sie reden lassen, überwältigt von der Wunderpracht dieses Abends und angeekelt durch diesen Strom von Schimpfworten.

Drei Monate später wehrte er sich verzweifelt gegen die unsichtbaren und unüberwindbaren Bande, in die unser Leben die Gewohnheit schlägt. Sie hielt ihn fest, sie unterdrückte ihn, sie quälte ihn. Sie zankten sich von früh bis abends, schimpften sich und schlugen sich.

Endlich wollte er ein Ende machen und sich von ihr trennen um jeden Preis. Er verkaufte alle Bilder, borgte Geld von seinen Freunden und brachte so zwanzigtausend Franken zusammen – er war noch wenig bekannt – und ließ sie eines Morgens auf dem Kamin zurück ohne Abschiedsbrief.

Er flüchtete sich zu mir.

Gegen drei Uhr nachmittags wurde geklingelt, ich öffnete, eine Frau sprang mir entgegen und drang in mein Atelier. Sie war es.

Er hatte sich erhoben, als er sie eintreten sah.

Sie warf ihm das Briefkouvert, das die Bankbillets enthielt, zu Füßen mit wirklich großartiger Gebärde und sagte kurz:

– Da ist Dein Geld. Ich danke dafür.

Sie war totenbleich, zitterte und schien zu allem bereit. Ich aber sah auch ihn erbleichen vor Wut und Verzweiflung, zu jeder Gewaltthat fähig.

Er fragte:

– Was willst Du?

Sie antwortete: – Ich will nicht wie eine Dirne behandelt sein. Du hast mir alles mögliche vorgeredet, Du hast mich verführt, ich habe nichts von Dir verlangt, behalte mich.

Er stieß mit dem Fuß auf den Boden:

– Nein, das ist zu stark, wenn Du glaubst, daß Du . . .

Ich hatte ihn beim Arm genommen:

– Schweig doch, Hans. Laß mich mal machen.

Ich ging auf sie zu, und langsam, ganz leise, allmählich redete ich ihr Vernunft ein und setzte ihr all die Gründe auseinander, die man in solchen Lagen hat. Sie hörte unbeweglich, starren Auges, verstockt und stumm zu.

Als ich endlich nicht mehr wußte, was ich sagen sollte, und sah, daß die Geschichte schief gehen würde, griff ich endlich zu einem letzten Mittel und sagte:

– Er liebt Dich ja immer noch, Kleine, aber seine Familie will ihn gern verheiraten, verstehst Du?

– Ach so, ach so, nun verstehe ich allerdings!

Und sie wendete sich zu ihm:

– Du willst . . . heiraten?

Er antwortete ruhig:

– Jawohl.

Sie trat einen Schritt auf ihn zu:

– Wenn Du heiratest, töte ich mich. Hörst Du?

Er sagte, indem er die Achseln zuckte:

– Gut, töte Dich.

Sie stammelte etwas, zwei, drei Mal mit zusammengeschnürter Kehle in furchtbarer Verzweiflung:

– Was sagst Du, was sagst Du, was sagst Du? Wiederhole das.

Er sagte: – Nun so töte Dich, wenn es Dir Spaß macht.

Sie antwortete, schrecklich bleich: – Reize mich nicht, sonst stürze ich mich aus dem Fenster.

Er begann zu lachen, ging ans Fenster, öffnete es, machte eine Verbeugung, als ließe er jemanden zuerst zur Thür hinaustreten:

– Bitte, hier, geh' nur immer voraus.

Eine Sekunde blickte sie ihn verzweifelt mit starren, fürchterlichen Augen an, dann nahm sie einen Anlauf, als wollte sie über eine Hecke auf dem Felde setzen, lief an mir und an ihm vorbei, trat auf die Brüstung und war verschwunden.

Ich werde niemals den Eindruck vergessen, den mir dieses offene Fenster hinterließ, nachdem ich den Körper der Hinuntergestürzten hatte hindurchfliegen sehen. Es erschien mir einen Augenblick groß wie der Himmel und leer wie der ganze Horizont. Unwillkürlich wich ich zurück, ich wagte nicht hinzublicken, als könnte ich selbst hinabstürzen.

Hans stand verzweifelt da und rührte sich nicht.

Man brachte das arme Mädchen herauf. Sie hatte beide Beine gebrochen, sie hat nie wieder gehen können. Ihr Geliebter hat sie, toll vor Gewissensbissen und vielleicht auch in dankbarer Rührung, geheiratet.

So, lieber Freund, das ist die Geschichte. – Es wurde Abend, der jungen Frau schien es zu kalt zu sein, sie wollte fort, und der Diener schob den kleinen Krankenwagen dem Dorf zu. Der Maler schritt an der Seite seiner Frau hin, ohne daß sie seit einer Stunde ein Wort gewechselt.

 


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