Guy de Maupassant
Nutzlose Schönheit
Guy de Maupassant

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Wer weiß!

I

Mein Gott! Mein Gott! Ich will also endlich zu Papier bringen, was mir widerfahren ist. Aber werde ich es können, werde ich es wagen? Es ist so seltsam, so unerklärlich, so unfaßlich, so verrückt!

Wenn ich nicht dessen gewiß wäre, was ich gesehen habe, bestimmt wüßte, daß in meiner Gedankenkette kein Fehler ist, kein Irrtum in meinen Feststellungen, kein Selbstbelügen in der unbeugsamen Folge meiner Beobachtungen, würde ich glauben, daß ich einfach das Opfer einer Sinnestäuschung geworden bin, der Spielball einer seltsamen Vision. Aber, wer weiß?

Ich befinde mich heute in einer Nervenheilanstalt. Ich habe mich freiwillig, aus Vorsicht, aus Angst dorthin begeben. Ein einziger Mensch nur kennt meine Geschichte: der Anstaltsarzt. Ich werde sie zu Papier bringen. Ich weiß nicht recht, warum. Vielleicht, um mich davon zu entlasten, denn ich fühle sie wie ein Alpdrücken auf mir. –

Ich bin immer ein einsamer Mensch gewesen, ein Träumer, so eine Art alleinstehender Philosoph, ein guter Kerl, der mit wenig zufrieden ist, keine Bitterkeit gegen andere Menschen im Herzen trägt und keinen Haß gegen die Vorsehung. Ich habe immer allein gelebt, wegen einer Art Befangenheit, die mich überkommt in Gegenwart anderer Menschen. Wie soll ich das erklären? Ich kann's nicht. Nicht, daß ich andere Leute nicht sehen möchte, nicht gern einmal schwatzte, mit ein paar Freunden äße. Aber wenn ich sie lange an meiner Seite fühle, sogar meine besten Freunde, dann langweilen sie mich, ermüden mich, machen mich nervös, und ich fühle ein immer steigendes, quälendes Bedürfnis, sie gehen zu sehn oder selbst zu gehen, damit ich allein wäre.

Diese Lust ist mehr, als ein Bedürfnis, ist eine unwiderstehliche Notwendigkeit. Und wenn ich noch länger in Gegenwart dieser Menschen bliebe, wenn ich noch länger ihre Unterhaltung hören müßte, würde ohne Zweifel irgend ein Unglück mit mir geschehen. Was für ein Unglück? Wer weiß? Vielleicht nur eine Ohnmacht. Jawohl, wahrscheinlich.

Ich liebe es so sehr, allein zu sein, daß ich es sogar nicht ertragen kann, andere Menschen in meiner Nähe, unter meinem Dach schlafen zu wissen. Ich kann in Paris nicht wohnen, weil ich unzweifelhaft dort zu Grunde gehen müßte. Ich stürbe moralisch. Und diese riesige Menschenmenge, die um mich herumwimmelt, um mich lebt, verursacht mir, sogar wenn sie schläft, in Körper und Nerven fürchterliche Qualen. Ach, der Schlaf der anderen ist mir noch schrecklicher als ihre Gespräche! Und ich kann nie Ruhe finden, wenn ich hinter irgend einer Mauer ein Leben ahne und fühle, das durch dieses regelmäßige Aussetzen der Gehirnthätigkeit unterbrochen wird.

Warum bin ich so? Wer weiß? Vielleicht hat es eine ganz einfache Ursache. Mich ermüdet sehr schnell alles, was nicht in mir selbst vorgeht. Und vielen Leuten geht es genau so wie mir.

Es giebt zwei Rassen von Menschen auf der Erde: solche, die andere Leute brauchen, die andere zerstreuen, beschäftigen, ausruhen, und die Einsamkeit erschöpft, müde macht, wie das Erklimmen eines fürchterlichen Gletschers oder ein Zug durch die Wüste. Und dann solche, die durch andere Menschen im Gegenteil müde gemacht, gelangweilt, gestört, gequält werden, während die Einsamkeit sie beruhigt, sie in Frieden lullt bei der Unabhängigkeit und dem freien Spiel ihrer Gedanken.

Im ganzen ist das ein normales, seelisches Phänomen. Die einen sind geschaffen, um draußen zu leben, die anderen um drin zu leben. Meine Fähigkeit, die Außendinge aufzufassen, ist nur von kurzer Dauer und schnell erschöpft. Sobald sie an ihre Grenzen kommt, empfinde ich im ganzen Körper, in meinem ganzen Wesen ein unerträgliches Unbehagen.

Die Folge davon ist, daß ich allerlei leblose Dinge liebe oder liebte. Dinge, die für mich die Bedeutung von lebenden Wesen annehmen, und daß mein Haus für mich eine Welt geworden ist oder geworden war, in der ich einsam, unthätig lebte mitten unter meinen Besitztümern, Möbeln, kleinen mir gewohnten Gegenständen, die mir so sympathisch sind wie Gesichter. Ich hatte das Haus allmählich damit gefüllt, geschmückt und fühlte mich da zufrieden, glücklich, wie im Arm einer lieben Frau, deren gewohnte Zärtlichkeit süße, stille Notwendigkeit geworden ist.

Ich hatte dieses Haus mitten in einem schönen Garten errichten lassen, ganz abgeschlossen von den Straßen, in der Nähe einer Stadt, in der ich bei Gelegenheit Geselligkeit, die ich manchmal begehrte, zu finden vermocht. Meine Dienerschaft schlief in einem, ein Stück davon entfernten, Gebäude mitten im Gemüsegarten, den eine hohe Mauer umzog. Der tiefe Frieden der Nacht, im Schweigen meines Hauses, das ganz versteckt war unter den Blättern der großen Bäume, beruhigte mich so, war mir so lieb, daß ich jeden Abend stundenlang zögerte, mich zu Bett zu legen, um den Genuß zu verlängern.

Eines Tages hatte man in der Stadt in der Oper Sigurd gespielt. Ich hatte dieses wundervolle feenhafte Musikdrama zum ersten Male gehört, und es hatte mir überaus gefallen. Zu Fuß, schnellen Schrittes kehrte ich heim, Melodien, Gedanken im Kopf, schöne Bilder vor Augen. Die Nacht war schwarz, schwarz – so schwarz, daß ich kaum die Landstraße erkennen konnte und mehrmals fast in den Graben gefallen wäre. Vom städtischen Steueramt bis zu mir ist es ungefähr ein Kilometer weit, vielleicht etwas mehr, kurz, etwa zwanzig Minuten zu gehen. Es war ein Uhr morgens, ein Uhr oder halb zwei. Der Himmel vor mir ward etwas heller, der Mond erschien, die traurige Sichel des letzten Viertels. Der Mond im ersten Viertel, der um vier oder fünf Uhr abends aufgeht, ist klar, heiter, silbrig blinkend; aber der, der nach Mitternacht kommt, rötlich, traurig, beunruhigend: es ist der richtige Sabbath-Mond. Alle Nachtwandler müssen diese Beobachtung schon gemacht haben. Das erste Viertel, wenn es schmal ist, nur wie ein Strich, wirft ein freundliches Licht, das das Herz erheitert, und scharfe Schatten auf die Erde; das letzte Viertel aber strahlt einen kaum merklichen Schein aus, so matt, daß es beinahe keinen Schatten wirft.

In der Ferne erblickte ich die dunkle Masse meines Gartens, und ich weiß nicht, woher mir etwas wie ein unangenehmes Gefühl aufstieg beim Gedanken, dort hinein zu müssen. Ich schritt langsam. Die Luft war mild. Die großen Baummassen sahen wie ein Grabmal aus, unter dem mein Haus begraben lag.

Ich öffnete das Thor, trat in die lange Allee von Sykomoren ein, die nach dem Hause führte, gewölbt wie ein großer Tunnel, schritt durch dunkle Baumgruppen, um Rasenplätze herum, auf denen Blumenbeete eingebettet lagen unter bleichen Schatten, in der fahlen Finsternis ovale Flecken in unbestimmten Farben.

Als ich mich dem Haus näherte, überkam mich eine seltsame Bewegung. Ich blieb stehen. Man hörte nichts, kein Windhauch regte sich in den Blättern. Was habe ich denn? dachte ich. Seit zehn Jahren kehrte ich so heim, ohne daß ich je die geringste Unruhe empfunden. Ich hatte keine Angst. Ich habe nie nachts Angst gehabt. Der Anblick eines Menschen, eines Landstreichers, eines Einbrechers, eines Diebes hätte mich nur wütend gemacht, und ich hätte ihn ohne Zögern angegriffen. Übrigens war ich bewaffnet. Ich hatte meinen Revolver bei mir. Aber ich berührte ihn nicht, ich wollte diese beginnende Furcht, die in mir wuchs, bekämpfen.

Was war es? Nur ein Vorgefühl? Das seltsame Vorgefühl, das sich der Sinne des Menschen bemächtigt, wenn etwas Unerklärliches bevorsteht. Vielleicht. Wer weiß es?

Je weiter ich vorwärts schritt, desto mehr überlief es mich. Und als ich an der Mauer meiner weitläufigen Behausung stand mit den geschlossenen Läden, fühlte ich, daß ich ein paar Minuten warten mußte, ehe ich die Thür öffnete und eintrat. Da setzte ich mich auf eine Bank unter den Fenstern meines Wohnzimmers. Leicht erregt; den Kopf gegen die Wand gelehnt, mit offenen Augen in das Dunkel der Blätter starrend, blieb ich sitzen. Während dieser ersten Augenblicke gewahrte ich nichts Außergewöhnliches um mich herum. Ich hörte in den Ohren etwas sausen, aber das habe ich öfters. Manchmal ist es mir, als führen Züge vorbei, oder ich höre Glocken läuten oder eine Menge hin- und herfluten.

Aber bald wurde dieses Sausen vernehmlicher, erkennbarer, deutlicher. Ich hatte mich geirrt. Es war nicht das gewöhnliche Pulsieren der Arterien, das dieses Geräusch im Ohr verursachte, sondern ein sehr eigentümlicher Lärm, ganz unbestimmt jedoch, der, darüber gab es keinen Zweifel, aus dem Innern meines Hauses kam.

Ich hörte durch die Mauer dieses unausgesetzte Geräusch, mehr irgend eine Bewegung als einen Lärm, das unaufhörliche Hin- und Herschieben einer Menge Dinge, als ob man leise alle meine Möbel hin- und herschleppte und an andere Stellen trüge.

Lange Zeit hindurch zweifelte ich, ob mein Ohr richtig gehört. Aber als ich es gegen einen der Läden legte, um das seltsame Geräusch in meinem Hause besser zu erkennen, ward ich meiner Sache gewiß, daß da drin bei mir etwas Anormales, Unfaßliches vorging. Ich hatte keine Angst, aber ich war, wie soll ich das ausdrücken, ganz verstört vor Erstaunen. Ich spannte meinen Revolver nicht, ich wußte ja genau, daß ich seiner nicht bedurfte. Ich wartete ab.

Ich wartete lange Zeit, konnte keinen Entschluß fassen, sah ganz klar, aber war ängstlich bis zur Tollheit. Ich wartete stehend, lauschte immer auf den stets wechselnden Lärm, der in einzelnen Augenblicken zum Getöse wuchs, das einem ungeduldigen Toben von Wut, von seltsamer Empörung glich.

Dann nahm ich plötzlich, in Scham vor mir selbst wegen meiner Feigheit, meinen Schlüsselbund, suchte den Schlüssel heraus, den ich brauchte, steckte ihn ins Schlüsselloch, schloß zweimal herum, öffnete die Thür mit aller Kraft, daß der Flügel gegen die Wand flog.

Es klang wie ein Gewehrschuß, und auf diesen Knall antwortete in meiner ganzen Wohnung von oben bis unten ein riesiger Lärm. Er kam so plötzlich, war so schrecklich, so ohrenbetäubend, daß ich ein paar Schritte zurückwich und den Revolver zog, obgleich ich ihn noch immer unnötig wußte.

Ich wartete noch einen Augenblick. Und jetzt unterschied ich ein seltsames Hin- und Hertrippeln auf den Stufen der Treppe, auf dem Fußboden, auf den Teppichen, ein Getrampel nicht von Stiefeln, von menschlichem Schuhwerk, sondern von Krücken, von Holz- und Metallkrücken, die wie Cymbals klangen. Und plötzlich gewahrte ich auf der Schwelle meiner Thür einen Stuhl, meinen großen Lehnstuhl, der hin- und herschwankend herankam. Er ging hinaus in den Garten, andere folgten: die Stühle meines Salons, dann die niedrigen Sofas, die sich wie Krokodile auf ihren kleinen Füßen hinschleppten, endlich alle meine Stühle mit Sätzen wie Ziegen und die kleinen Sessel in Sprüngen wie Kaninchen.

O welches Entsetzen! Ich glitt ins Gebüsch, blieb dort niedergekauert, indem ich den Auszug meiner Möbel beobachtete. Denn sie gingen alle fort, eines nach dem anderen, schnell oder langsam je nach Größe und Gewicht. Mein Klavier, der große Flügel, kam im Galopp wie ein durchgehendes Pferd vorüber, während die Saiten in seinem Leibe klirrten. Die kleinen Gegenstände glitten auf dem Sand wie Ameisen hin, die Bürsten, die Gläser, die Schalen, die das Mondlicht wie Leuchtkäfer phosphorescierend machte. Die Stoffe krochen, breit sich hinwälzend wie Quallen im Meer. Mein Schreibtisch erschien, ein seltenes Kunstwerk aus dem vorigen Jahrhundert, der alle Briefe enthielt, die ich je bekommen. Die ganze Geschichte meines Herzens, eine alte Geschichte, mit vielem, vielem Leid. Und auch alle meine Photographien waren darin.

Plötzlich hatte ich keine Angst mehr. Ich stürzte mich auf ihn, packte ihn wie man einen Dieb packt oder eine Frau, die entflieht. Aber er ging in unwiderstehlicher Fahrt weiter. Trotz meiner Bemühungen, trotz meiner Wut konnte ich nicht einmal seinen Gang verlangsamen. Während ich wie ein Verzweifelter mit jener entsetzlichen Kraft rang, fiel ich zu Boden und schlug auf ihn drein. Da zog er mich mit, schleifte mich auf dem Sande und schon begannen die Möbel, die ihm folgten, über mich hinwegzuschreiten, traten mir auf die Beine und verletzten mich. Als ich ihn dann losgelassen, gingen die anderen über mich weg wie eine Kavallerieattaque über den gestürzten Reiter.

Endlich konnte ich mich, halb toll vor Entsetzen, aus der großen Allee retten und mich wieder unter den Bäumen verstecken. Und ich sah, wie die kleinsten meiner Besitztümer, die intimsten, bescheidensten, an die ich am wenigsten dachte, verschwanden.

Dann hörte ich in der Ferne in meiner Wohnung, in der es schallte wie in einem leeren Haus, ein gewaltiges Zuschlagen von Thüren. Sie fielen in der Behausung ins Schloß von oben bis unten, bis herab zu der Eingangsthür, die ich verrückterweise selbst geöffnet. Sie klappte als letzte zu.

Da entfloh ich und lief zur Stadt. Erst als ich mich in den Straßen befand und noch ein paar Verspäteten begegnete, kehrte meine Kaltblütigkeit wieder. Ich klingelte an einem Hotel, wo ich bekannt war. Ich klopfte mit den Händen auf meine Kleider, daß der Staub herausflog, und erzählte nur, daß ich meinen Schlüsselbund verloren, der auch den Schlüssel zum Gemüsegarten enthielt, wo in einem Haus für sich die Dienerschaft schlief, hinter der verschlossenen Mauer, die meine Früchte und meine Gemüse vor dem Besuch von Dieben schützte.

Bis zu den Augen zog ich die Bettdecke über mich, aber ich konnte nicht schlafen und erwartete den Tagesanbruch, indem ich auf das Klopfen meines Herzens lauschte. Ich hatte Befehl gegeben, sobald es Tag würde, meine Leute zu benachrichtigen. Mein Diener pochte um sieben Uhr früh.

Er sah ganz verstört aus:

– Diese Nacht ist ein großes Unglück geschehen, – sagte er.

– Was denn?

– Man hat das ganze Mobiliar des gnädigen Herrn, alles, alles gestohlen, sogar die kleinsten Gegenstände.

Diese Nachricht freute mich. Warum? Wer weiß? Ich war ganz Herr meiner selbst, sicher, mir nichts merken zu lassen, niemandem etwas von dem zu sagen, was ich gesehen hatte, es zu verbergen, es zu begraben in meinem Gewissen, wie ein fürchterliches Geheimnis. Ich antwortete:

– Dann sind's dieselben Leute, die mir meine Schlüssel gestohlen haben. Sofort muß die Polizei in Kenntnis gesetzt werden. Ich stehe auf. In ein paar Augenblicken komme ich nach.

Die Untersuchung dauerte fünf Monate. Man entdeckte nichts; nicht das kleinste Stück meines Hausrates fand man wieder und nicht die geringste Spur von den Dieben. Weiß Gott, wenn ich gesagt hätte, was ich wußte, wenn ich das wirklich gesagt haben würde, hätte man mich eingesperrt, nicht die Diebe, sondern mich, den Mann, der so etwas hatte beobachten können.

O, ich wußte zu schweigen. Aber ich habe mein Haus nicht wieder eingerichtet. Es war ganz unnütz, die Geschichte hätte doch immer wieder angefangen. Ich wollte dahin nicht zurückkehren, und ich that es auch nicht. Ich habe es nicht wiedergesehen.

Ich ging nach Paris in ein Hotel. Und ich konsultierte Ärzte über meinen Nervenzustand, der mich seit jener entsetzlichen Nacht sehr beunruhigte.

Sie rieten mir, auf Reisen zu gehen, und ich befolgte ihren Rat.

II

Zuerst machte ich einen Ausflug nach Italien. Die Sonne that mir wohl. Ein halbes Jahr lang irrte ich von Genua nach Venedig, von Venedig nach Florenz, von Florenz nach Rom, von Rom nach Neapel. Dann durchstreifte ich Sicilien, ein Land gleich wunderbar durch Natur wie durch Werke von Menschenhand, Überreste aus der Griechen- und Normannenzeit. Ich fuhr nach Afrika hinüber, durchstreifte ruhig jene große, gelbe, stille Wüste, wo Kamele, Gazellen, nomadisierende Araber umherirren, wo in der ruhigen, durchsichtigen Luft nichts Übernatürliches liegt weder bei Nacht noch am Tage.

Über Marseille kehrte ich nach Frankreich zurück. Und trotz der Heiterkeit der Provence machte mich der weniger helle Himmel schon traurig. Ich fühlte, als ich den Continent wieder betrat, den seltsamen Eindruck eines Kranken, der sich geheilt glaubt und den ein dumpfer Schmerz daran mahnt, daß der Herd des Übels noch nicht verschwunden ist.

Dann kehrte ich nach Paris zurück. Nach vier Wochen langweilte ich mich. Es war im Herbst, und ich wollte, ehe es Winter wurde, einen Streifzug durch die Normandie unternehmen, die ich noch nicht kannte.

Ich begann mit Rouen. Acht Tage lang irrte ich aufgekratzt, begeistert, zerstreut durch diese mittelalterliche Stadt, durch dieses erstaunliche Museum von wunderbaren, gothischen Bauwerken.

Da, als ich eines Nachmittags gegen vier Uhr in eine seltsame Straße einbog, die ein tintenschwarzer Bach, Eau de Robec geheißen, durchfloß, ward meine Aufmerksamkeit, die ganz dem altertümlichen Aussehen der Häuser galt, plötzlich abgezogen durch den Anblick einer Reihe von Trödlerbuden, die Thür an Thür nebeneinander lagen.

Jene alten Antiquare hatten ihren Platz wohl gewählt, in der phantastischen Gasse über dem dunklen Wasserlauf, unter den spitzen Ziegel- und Schieferdächern, auf denen noch die Windfahnen der Vergangenheit stöhnten.

In den dunklen Läden gewahrte man geschnitzte Truhen, Fayencen aus Rouen, Nevers, Moustiers, bemalte Bildsäulen, eichengeschnitzte Christusfiguren, heilige Jungfrauen, Heilige, Kirchenschmuck, Meßgewänder, Chorröcke, sogar gottesdienstliche Gefäße, ein altes Tabernakel aus vergoldetem Holz, das Gott verlassen hatte. O, diese seltsamen Höhlen in diesen hohen Häusern, in diesen großen Häusern, voll vom Keller bis zum Boden hinauf, angefüllt mit allerlei Gegenständen, deren Dasein beendigt schien, die ihre natürlichen Besitzer überlebten, ihre Jahrhunderte, ihre Zeiten, ihre Moden, um durch neue Generationen aus Neugierde gekauft zu werden.

Meine Vorliebe für solche Gegenstände erwachte wieder in dieser Antiquitätenstraße. Ich ging von Bude zu Bude, übertrat mit zwei Schritten die Brücke aus vier verfaulten Brettern, die man über das übelriechende Wasser von Robec gelegt.

Da – Herr Gott! Herr Gott! Welch furchtbarer Schreck. In einer Wölbung, vollgestellt mit tausenderlei Gegenständen, die der Eingang zu sein schien zu den Katakomben eines Kirchhofs alter Möbel, erblickte ich einen meiner schönsten Schränke. An allen Gliedern zitternd trat ich heran. Ich bebte so, daß ich nicht wagte, ihn anzurühren. Ich streckte die Hände aus, ich zögerte, – aber er war es. Ein ganz einziger Schrank aus der Zeit Ludwig XIII., für jeden wiederzuerkennen, der ihn nur einmal erblickt. Und indem ich plötzlich meine Augen weiterwandern ließ in die dunkle Tiefe dieser Gallerie, sah ich drei meiner Lehnstühle, mit alter Stickerei überzogen, und dann weiter entfernt noch meine beiden Tische aus der Zeit Heinrich II., die so selten waren, daß Leute aus Paris angereist gekommen, um sie zu sehen.

Man denke sich, denke sich, wie mich das packte.

Zitternd trat ich heran, zu Tode getroffen vor innerer Erschütterung. Aber ich näherte mich doch, denn ich bin tapfer. Ich trat näher, wie ein Ritter in mystischen Sagenzeiten sich einem Zauber näherte. Und Schritt auf Schritt fand ich alles, was mir gehörte: meine Kronleuchter, meine Bücher, meine Bilder, meine Stoffe, meine Waffen, alles, bis auf den Schreibtisch mit meinen Briefen, den ich nicht sah.

Ich stieg in niedrige Kellerräume hinab, darauf in höhere Etagen. Ich war allein. Ich rief. Niemand antwortete. Ich war allein, kein Mensch befand sich in diesen weiten, wie ein Irrgarten verschlungenen Gängen des Hauses.

Es ward Nacht. Ich mußte mich setzen in der Dunkelheit auf einen meiner Stühle, denn ich wollte nicht fort. Ab und zu rief ich: – Heh Hollah! Ist niemand da? –

Ich mochte gewiß eine Stunde so dagesessen haben, da hörte ich Schritte, leichte, langsame Schritte, ich weiß nicht woher. Ich wollte entfliehen. Aber ich nahm mich zusammen, und da gewahrte ich im Nachbarzimmer einen Lichtschein.

– Wer ist da? – fragte eine Stimme.

Ich antwortete:

– Ein Käufer.

Es klang zurück:

– Ist schon recht spät, um so in den Laden einzudringen.

Ich antwortete:

– Ich warte auf Sie seit einer Stunde.

– Sie könnten morgen wiederkommen.

– Morgen werde ich Rouen verlassen haben.

Ich wagte nicht, ihm entgegen zu gehen, und er kam nicht. Ich sah nur immer den Schein seines Lichtes, das auf eine Stickerei fiel, auf der zwei Engel über den Leichen eines Schlachtfeldes hinflogen. Sie hatte mir auch gehört.

Ich fragte:

– Nun kommen Sie?

Er antwortete:

– Ich erwarte Sie hier.

Ich erhob mich und ging zu ihm.

Mitten in einem großen Raum stand ein kleiner Mann, ganz klein und dick, dick wie ein Wunder, ein grausiges Wunder.

Er hatte einen spärlichen Bart, ungleich, gelblichweiß gesprenkelt, und kein Haar auf dem Kopf. Kein Haar. Wie er sein Licht mit dem ausgestreckten Arm vorhielt, um mich zu erkennen, sah sein Kopf aus, wie ein kleiner Mond in diesem weiten Raum, der von alten Möbeln erfüllt war. Das Gesicht war runzlig und gedunsen, die Augen nicht zu erkennen.

Ich handelte sogleich um drei Stühle, die mir gehört hatten, und bezahlte sie sofort sehr teuer, indem ich einfach meine Zimmernummer aus dem Hotel angab. Am anderen Tage vor neun sollten sie da sein.

Dann ging ich fort. Er geleitete mich sehr höflich bis zur Thür.

Darauf ging ich zum Polizeikommissar, erzählte ihm den Diebstahl meines Mobiliars und die Entdeckung, die ich eben gemacht. Er fragte telegraphisch bei dem Gericht an, das die Diebstahlsache verhandelt hatte und bat, die Antwort abzuwarten. Eine Stunde später kam sie. Sie lautete sehr befriedigend für mich.

– Ich werde den Mann festnehmen lassen und ihn sofort verhören, denn er könnte Verdacht geschöpft, und das, was Ihnen gehört, bei Seite gebracht haben. Essen Sie erst und kommen Sie in zwei Stunden wieder, dann wird er hier sein und in Ihrer Gegenwart werde ich ihn von neuem verhören.

– Sehr gern. Ich danke Ihnen tausendmal.

Ich ging ins Hotel und aß mit mehr Appetit, als ich gedacht hätte. Ich war ganz zufrieden. Man hatte ihn festgenommen!

Zwei Stunden später kehrte ich zur Polizei zurück, wo der Beamte mich erwartete.

– Ja, – sagte er, als er mich erblickte, – man hat den Mann nicht gefunden. Er hat nicht verhaftet werden können.

– O! – Ich sank fast in die Kniee.

– Aber Sie haben doch das Haus gefunden? – fragte ich.

– Gewiß. Es wird sogar überwacht werden, bis er zurückkehrt. Er ist nämlich verschwunden.

– Verschwunden?

– Verschwunden. Er bringt den Abend gewöhnlich bei seiner Nachbarin, gleichfalls einer Althändlerin, einer Art Wunderhexe, der Witwe Ridon, zu. Sie hat ihn heute abend nicht gesehen und kann nicht sagen, wo er steckt. Wir müssen bis morgen warten.

Ich ging fort. O Gott, wie traurig verwirrend erschienen mir die Straßen von Rouen.

Ich schlief schlecht, mit Alpdrücken jedesmal, wenn ich aufwachte.

Aber da ich nicht zu große Eile zeigen wollte und nicht zu unruhig erscheinen, wartete ich, bis es am nächsten Tage zehn Uhr war, ehe ich zur Polizei ging.

Der Händler war nicht wieder erschienen, sein Laden noch geschlossen.

Der Kommissar sagte zu mir:

– Ich habe alle erforderlichen Schritte gethan. Das Gericht ist in Kenntnis gesetzt. Wir werden zusammen zu dem Laden gehen, ihn öffnen lassen, und Sie können mir alles bezeichnen, was Ihnen gehört.

Wir fuhren in einer Droschke hin. Ein paar Polizeibeamte standen schon mit einem Schlosser vor der Thür der Bude, die geöffnet wurde.

Als ich eintrat, sah ich weder meinen Schrank noch meine Stühle, noch meine Tische, nichts, nichts von all den Möbeln meines Hauses, nicht ein Stück, während ich am Tage vorher nicht einen Schritt hatte gehen können, ohne auf eines zu stoßen.

Der Polizeikommissar war erstaunt und sah mich von der Seite an.

– Mein Gott, Herr Kommissar, – sagte ich, – das Verschwinden der Möbel fällt auf seltsame Weise mit dem des Händlers zusammen.

Er lächelte:

– Das ist richtig. Es war falsch von Ihnen, die Gegenstände, die Ihnen gehörten, zu kaufen und gestern zu bezahlen. Das hat ihn wahrscheinlich stutzig gemacht.

Ich antwortete:

– Ich verstehe nur nicht, daß an der Stelle, wo meine Möbel standen, jetzt lauter andere sind.

– O, – antwortete der Kommissar, – er hat die ganze Nacht Zeit gehabt und wahrscheinlich noch Helfershelfer. Dies Haus hängt wohl mit den Nachbarhäusern zusammen. Haben Sie keine Angst, ich werde die Sache energisch in die Hand nehmen. Der Räuber soll uns schon nicht entgehen. Wir beobachten den Fuchsbau . . .

O Gott, o Gott! Wie mein Herz, mein armes Herz schlug . . . . Vierzehn Tage lang wohnte ich in Rouen. Der Mann kam nicht wieder. Weiß Gott.

Da bekam ich am sechzehnten Tage morgens von meinem Gärtner, der mein geplündertes und seitdem leeres Haus bewachte, folgenden seltsamen Brief:

Gnädiger Herr!

Ich habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, daß vorige Nacht etwas geschehen ist, das kein Mensch begreift, weder die Polizei noch wir. Alle Möbel ohne Ausnahme, alle bis auf die kleinsten Gegenstände sind zurückgekehrt. Das Haus ist jetzt ganz genau so, wie am Abend vor dem Diebstahl. Man könnte den Kopf verlieren. In der Nacht von Freitag auf Sonnabend ist es geschehen. Die Wege weisen Spuren auf, als ob man alles vom Thor bis an das Haus geschleppt hatte. So war es auch, als sie verschwanden.

Wir erwarten den gnädigen Herrn, und ich bin dero ergebenster Diener

Philipp Raudin.

Aber ich? Ich? Nein, nein, auf keinen Fall. Ich kehre nicht zurück.

Ich brachte den Brief dem Polizeikommissar in Rouen.

– Das ist fein gesponnen, alles wieder an Ort und Stelle zu schaffen. Stellen wir uns einfach tot. Wir werden den Kerl schon an einem dieser Tage erwischen . . . .

Aber man hat ihn nicht erwischt. Nein, sie haben ihn nicht erwischt. Und jetzt habe ich Angst vor ihm, als ob er ein wildes Tier wäre, das auf mich losgelassen ist.

Er ist nicht aufzufinden. Nicht aufzufinden dieses Monstrum mit dem Mondscheinkopf. Und man wird ihn nie erwischen, er wird nie heimkehren. Was liegt ihm daran? Nur ich kann ihn ja treffen, und das will ich nicht.

Ich will's nicht. Ich will's nicht. Ich will's nicht.

Und wenn er nun heimkehrt, wenn er wieder in seinen Laden kommt, wer soll ihm denn beweisen, daß die Möbel bei ihm waren? Nur meine Aussage steht gegen ihn, und ich fühle wohl, daß sie verdächtig ist.

O Gott, nein, nein, diese Existenz halte ich nicht mehr aus. Und ich konnte das Geheimnis, dessen Zeuge ich gewesen, nicht mehr verheimlichen. Ich konnte nicht weiterleben, immer in der Angst, daß all die Geschichten noch einmal beginnen möchten.

Ich habe den Arzt aufgesucht, der diese Nervenheilanstalt leitet und habe ihm alles erzählt.

Nachdem er lange hin- und her gefragt hatte, sagte er endlich:

– Würden Sie wohl einige Zeit hier Aufenthalt nehmen wollen?

– Sehr gern.

– Sie sind doch vermögend?

– Jawohl.

– Wünschen Sie eine Wohnung allein?

– Jawohl.

– Wollen Sie Besuch bekommen?

– Nein, nein, keinen Menschen. Der Mann aus Rouen könnte es wagen, um sich zu rächen, auch hier einzudringen . . . . .

Und seit drei Monaten bin ich allein, allein, ganz allein. Ich bin so ziemlich ruhig geworden. Nur noch eine Furcht habe ich . . . . . . . Wenn der Antiquar etwa verrückt würde . . . und man ihn hierher brächte in mein Asyl . . . . . . .Nicht einmal die Gefängnisse sind mehr sicher.

 


 


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