Hugo Marti
Rudolf von Tavel - Leben und Werk
Hugo Marti

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231 Mensch unter Menschen

Rudolf von Tavel hatte das Glück, durch seine Werke mit einem grossen und dankbaren Leserkreis in einem anregenden Verhältnis zu stehen, das zwar zu gewissen Zeiten für ihn eine anstrengende Belastung bedeutete, ihm aber doch auch manchen Beweis für den Segen bot, den sein Wirken in das Volk hinaustrug. Wenn ihm ein Farmer, der irgendwo in Südamerika unter fremden Menschen verloren lebte, herzergreifend dafür dankte, dass er ihm die Heimat, das Gürbetal mit den Dörfern und Höfen und dem waldigen Längenberg neu geschenkt habe, so freute ihn solcher Dank wohl mehr als manche fachmännische Anerkennung; vielleicht sogar noch mehr als die Mitteilung eines Zürcher Pfarrherrn, er lasse sich am Samstag stets ein Kapitel Tavel vorlesen, bevor er daran gehe, seine Sonntagspredigt zu schreiben.

Einer Leserin, die ihm gestand, dass sein letztes Buch ihr den Schlaf geraubt habe, erzählte er als Gegengewicht gegen dieses gutgemeinte Lob: «Es isch einisch, dass i mi bsinne, 232 einen ob mym Vorläsen ygschlafe, und i han ihm's nid emal übel gnoh» – es war nämlich ein Deutscher, der die Sprache nicht verstand! Gegengewichte brachte er in sich selber stillschweigend schon an, wenn ihm des Guten zuviel erwiesen wurde, wusste aber auch die Sonnenwärme des Glücks dankbar auszukosten. So schrieb er nach dem grossen Bucherfolg des «Frondeur» an Fräulein E. R.: «In gewissen Kreisen war man um mich besorgt, wurde ich doch gefragt, ob ich die Festtage gut überstanden hätte. Als ich sagte: "Bhüetis ja, i ha mer Zyt gnoh und ha no jitz e Bitz Läbchueche", sagte die Interpellantin: "I meine nid das, i ha nume geng müesse a dä Herr Pfarrer dänke, wo einisch a nere Missionsbrut, wil me so ihres Lob gsunge het, gseit het: das bruucht jitz mängs Unservater, bis wieder alles i der Ornig isch." – Es ist schon dafür gesorgt, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Übrigens meine ich, das immer nur in der Trübsal zitierte Wort: "Denen, die Gott lieben (und ich füge bei, die Gott liebt), müssen alle Dinge zum Besten dienen" dürfte wohl auch einmal in Zeiten des Glücks und der Freude repetiert werden . . .»

Noch nicht in den Himmel gewachsen ist jedenfalls das Apfelbäumchen, das ein dankbarer Leser der Erzählung «Christens Chrigi» 233 dem Dichter in den Garten pflanzte. Der Besitzer einer Baumschule hatte um die Erlaubnis angefragt, einer Apfelsorte, die gute Früchte trage, «frühe saure Äpfel», den Namen Houpme Lombach geben zu dürfen. Die Erlaubnis wurde gewährt, und der Züchter sandte ein Probebäumchen in den Garten, der vor dem Arbeitszimmer des Dichters so verschwiegen schön hinunter zum Egelmöösli führt und zwischen dunklen Tannen und üppigen Rosenbüschen den Blick auf die Berge des Oberlandes freigibt. Das Apfelbäumchen trug seine erste Frucht im Todesjahre Tavels.

Eine Anerkennung, die ihn hingegen nachdenklich, ja sogar ärgerlich stimmen konnte, war die nicht seltene Versicherung eines Lesers: «Mir hei schuderhaft müesse lache!» Tavel verzeichnet diesen Dank in einem Brief ausgerechnet für «Ds verlorne Lied» und fügt bei: «Ich hätte dem Mann am liebsten den Rücken gekehrt.»

Aber wie, Rudolf von Tavel war doch ein Humorist? Seine Werke liegen doch alle im heiteren Glanz einer humorvollen Weltbetrachtung?

Der Mann, der einmal einen gründlichen Vortrag über den Humor gehalten hat, gab sich genaue Rechenschaft über das Wesen und die Wirkung dieser Kraft. «Humor ist die 234 Fähigkeit, über die Torheiten der Menschen mit Liebe zu urteilen . . . Seine Aufgabe also das liebevolle Urteil über die Torheiten der Menschen. Indem der Künstler sich gewissermassen mit dem Humor identifiziert, ihn zur Triebfeder seines Handelns macht, übernimmt er das Richteramt des Humors, und um dieses ausüben zu können, muss er die Voraussetzung für die Existenz des Humors erfüllen: er muss also in allererster Linie fähig sein, das Wichtige vom Nebensächlichen zu unterscheiden.» Es heisst nun aber doch wohl das Nebensächliche mit dem Wichtigen verwechseln, wenn man von einem Tavel-Roman bloss die humoristische Haltung des Urteilenden, aber nicht seinen Urteilsspruch in Erinnerung behält. Solche Erfahrungen gaben dem Dichter immer wieder zu denken.

Er mochte sich dann selber überlegen, wie er seinerzeit von der Tragik des «Söldners» zum Humor des «Jä gäll, so geit's!» fortgeschritten war. Er hatte dabei instinktmässig gehandelt, als er diese Wandlung vollzog. In einem Brief an Fräulein E. R. sagt er rückblickend: «Den Humor hatte ich. Was er seinem Wesen nach ist, lernte ich erst mit der Zeit. Unterdessen musste sich der Konflikt noch einmal erheben. Es geschah mitten in der Arbeit am "Houpme Lombach". Ich war meiner 235 Sache noch nicht ganz gewiss, dass auch der Humor ein Gottesgeschenk sei und seine der Tragik ebenbürtige, wenn nicht sogar überlegene Aufgabe an den Menschen habe. Ich sah wohl, dass ich meine Leser amüsieren konnte, aber mein Gewissen sagte mir, dass es dabei nicht bleiben dürfe. Mein Herzensdrang, Gutes zu geben und von der Liebe Gottes zu zeugen, gab sich nicht zufrieden. Der Konflikt wurde wieder so, dass ich das Manuskript des "Lombach" versiegelte und mir gelobte, die Siegel nicht eher zu brechen, als bis ich zur inneren Klarheit gekommen sei. Es lohnte sich, denn im ruhigen Besinnen ging mir dann das Wesen des Humors auf. Ich erkannte, dass echter Humor nicht in Komik sich ersättigt, sondern im tiefsten Grunde von herzlicher Liebe beseelt ist, die über die Torheit der Menschen in Tränen lächelt. Wie ein feiner Unterton klingt das erhabene Kreuzeswort hindurch: "Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun." Einmal zu dieser Erkenntnis durchgedrungen, konnte ich nun die Siegel brechen. Und mein ganzes seitheriges Schaffen wurzelt nun mehr oder weniger in dieser Formel.»

Humor war ihm ein Element seines Schaffens. Als er sich einmal gegen die Vermutung verwahren musste, er arbeite nach Modellen, 236 schrieb er den bedeutsamen Satz: «Ich hätte ja Modelle genug in meiner Umgebung, aber so darf man's eben nicht treiben. Es ist besser, die verschiedenen Farben einzusammeln und dann auf der Palette nach eigenem Ermessen zu mischen, wie es die Harmonie des Bildes erheischt. Die Untermalung bin überall ich selber, ob ich's will oder nicht, und der liebe Gott gibt aus seinem hellen blauen Himmel den Humor als Bindemittel.»

Man darf sein Wort von der «Untermalung», die er überall selber sei, nicht allzu pedantisch auslegen; welcher Dichter könnte von sich nicht das gleiche behaupten, wenn er es ehrlich meint? Rudolf von Tavel verstand es sehr wohl, sich selber und sein persönliches Gefühl aus dem Spiele zu lassen, wenn er Menschen schuf. Hier habe der Dichter nur nach klarer Überlegung die Geschicke seiner Figuren zu lenken, auch wenn er sich damit in Gegensatz zu den Sympathien begebe, die etwa der Leser für den Helden des Romans empfinde. «Sie werden sagen», schreibt er der Leserin E. R., «so gehe es in der Welt nicht, sondern Gott lasse Gnade für Recht ergehn, sonst sähe es schlimm aus. Sie haben recht, aber der Dichter darf nicht auf der göttlichen Weltregierung spielen wie auf einem Klavier . . .»

Trotzdem kann einer in seinen Büchern 237 wie in einem grossen, immer klareren Selbstbekenntnis lesen: «Die beabsichtigte Ablegung einer Lebensbeichte unterblieb; vielleicht werde ich überhaupt nie einen Roman zu solcher Beichte benützen, die eigentlich niemanden nichts angeht. Bekenntnis findet sich für den, der zu lesen weiss, in allen meinen Erzählungen genug. Freilich bin ich mir bewusst, dass es ein wunderliches Compositum von einem Menschen gäbe, wenn man sich aus diesen Eindrücken ein Bild von mir zusammenstellen wollte. Aber so bin ich eben, so sind wir alle. Das Zusammenstellen lohnt sich nicht einmal. Ich will mich zufrieden geben, wenn ich in jedem meiner Bücher nur irgendeine kleine Offenbarung von der Herrlichkeit Gottes andeuten darf . . .»

Der Dichter, der sein künstlerisches Werk als einen Gottesdienst auffasste und auch von andern aufgefasst wissen wollte, entzog sich nicht dem Rufe, der von der bernischen Landeskirche an ihn erging: mit unermüdlichem Eifer, dem auch seine in den letzten Lebensjahren zunehmende Schwerhörigkeit keinen Abbruch tat, stellte er seine Kraft in ihren Dienst. Auch darin folgte er einer guten Tradition seiner Familie, und es mochte für den 34jährigen Mann eine feierliche Selbstverständlichkeit sein, als ihm nach dem Tode 238 seines Vaters dessen Sitz im Kirchgemeinderat der Nydeck angeboten wurde; er präsidierte ihn später während mehr als zwanzig Jahren. Ebensolange wirkte er in der kantonalen Kirchensynode, in den letzten Jahren auch in ihrem Rat. Die grösste Beanspruchung seiner Kräfte und seiner Zeit bedeutete wohl das Amt, das er in der Verwaltung der stadtbernischen Kirchen betreute; dieser Kommission stand er in den letzten Jahren als Präsident vor.

Sein ruhiges, wohlüberlegtes Wort wog schwer in jeder Diskussion. Dabei bezeugte man seiner Anschauung auch dort Achtung, wo man sie nicht teilte; es fiel niemandem leicht, ihm widersprechen zu müssen. Denn man spürte aus seinem Wort immer den Ernst, die Vornehmheit der Gesinnung und das feine Mass der Gerechtigkeit, das er an alles Menschliche legte.

Ein wertvolles Dokument für seine Weltbetrachtung vom christlichen Standpunkt aus ist sein Bericht über das religiöse, kirchliche und sittliche Leben der bernischen Landeskirche in den Jahren 1920 bis 1930; er gab ihn im Auftrag des Synodalrates heraus unter dem Titel «Volk heran, zur Arbeit!». Eine Unsumme von Fleiss steckt in der Schrift; galt es doch, mehr als zweihundert Einzelberichte von Pfarrern und Kirchgemeinderäten 239 aus dem ganzen Kanton zu lesen und auf einen Generalnenner zu bringen, der doch – das war bei Tavel selbstverständlich – der verantwortlichen Prägung durch den Verfasser nicht ermangeln durfte. Die Arbeit fand als ein «Meisterwerk nach Inhalt und Form» Anerkennung auch ausserhalb des Kantons, sogar der Schweiz, und man rechnete ihrem Verfasser hoch an, dass er sich getraute, allerlei auszusprechen, was man sonst zu verschweigen vorzieht. Die Sache beim rechten Namen nennen: das ist Tavel letzten Endes nicht nur seiner ethischen Überzeugung, sondern auch seinem dichterischen Sprachgefühl schuldig, und bei einem solchen Anlass offenbart sich die innige Verbundenheit beider aufs schönste. Sie erhellt seine Kunst nicht minder als seinen tapfern Glauben.

Dabei hatte Rudolf von Tavel aus einem unerschöpflichen Vorrat an gesundem Menschenverstand beizusteuern, der sich auch in den schlichtesten und nachdrücklichsten Wendungen auszusprechen verstand. So wenn er von der Beziehung der Kirche zu Jugend und Sport schreibt: «Die in dunklem Drange sich vorwärts tastende Jugend empfindet die Kirche vielfach nur als Hemmung. Hemmung aber duldet sie nicht; sie stürmt deshalb an der Kirche vorbei auf den Sportplatz, um 240 ihren Kräften Luft zu machen. Soll nun die Kirche hinter ihr dreinlaufen, auf den Sportplatz hinaus, und ihr dort im Sportdress das Evangelium anpreisen? Ich sage nicht rundweg nein. Ich fürchte nur, sie wird dort recht unwillkommen sein. Es war seit Christi Erdenleben schon immer so, dass die à la mode-Leute kein Verlangen trugen nach dem Evangelium, und wir wollen uns nicht einbilden, dass wir daran etwas ändern können. Lasst sie turnen, schuten, schwimmen, stüpfen, bis ihnen die Knochen wehtun – es ist schon immer besser als Wirtshaushocken – dann wird ihre innere Sehnsucht sich melden und sagen: "Alles recht, aber so meinte ich es nicht. Mit alledem ist die Welt um keinen Zoll vorwärts gekommen." Vielleicht hilft dann die gesunde Müdigkeit dieser Generation zur Einkehr, und dann kann ein stärkeres Geschlecht die Sache an die Hand nehmen.»

Das Heim des Dichters in der Schosshalde

In der aktiven Politik hatte sich Rudolf von Tavel mit einer kurzen Gastrolle als Berner Stadtrat begnügt. Seine Gedanken zur Politik stecken in seinen erzählenden Werken, wo sie meistens am praktischen Beispiel in einem Lebensschicksal demonstriert werden; niemand kann sie dort übersehen, und sie sind durchaus ethisch orientiert. Trotzdem lehnte er die Behandlung politischer Tagesfragen auf der 241 Kanzel ab, da die Kirche mit den politischen Körperschaften nicht in Konkurrenz treten, sondern ihrem Schaffen den Herzschlag geben solle. Er mahnte nachdrücklich: «Die führenden Männer der Kirche sollten, um Irrwege desto sicherer zu vermeiden, immer eine gewisse Distanz behalten von der Arena des politischen Lebens, in den oberen Rängen verbleiben und nicht im Parterre sitzen wollen, wo der leidenschaftliche Hauch der Anteilnahme die Köpfe umnebelt und das "Blut der Gladiatoren" sie bespritzt. Die Behauptung, es komme Leben in die Kirche erst wenn die Wortverkündigung politische Tagesfragen streife, hat den Anschein einer gewissen Berechtigung, führt aber auf eine trügerische Eisfläche, unter deren brüchiger Bahn das jämmerliche Ertrinken in den Dingen dieser Welt droht. Das "Anziehen" der politischen Tagesfragen auf der Kanzel bringt allerdings das Blut der Gemeinde in Wallung; aber was sich da regt, ist nie und nimmer religiöses Leben, wie es die Gemeinde braucht; es ist Unruhe, aber nicht die Beunruhigung, die uns nötigt, in uns aufzuräumen und auszuscheiden, was uns im Aufstieg zur fruchtbaren, lebenwirkenden "Ruhe" des Volkes Gottes hemmt. Vergessen wir doch bei der Stellungnahme zu den politischen und volkswirtschaftlichen Fragen das eine nicht: 242 es ist in unserer Demokratie erstaunlich viel guter, sogar bewusst oder unbewusst dem Reiche Gottes zudrängender Wille vorhanden, und nur ein Tor kann leugnen, dass eine religiöse Klärung und Befruchtung dieses Willens möglich sei; nur verwerflicher Pessimismus verharrt in der Verachtung dieses Willens; aber was er schafft, bleibt Kompromiss. Wir werden das durch Gesetzgebung Geschaffene niemals als Reinkultur der Wohlfahrtspflege erleben. Jede Mitwirkung am Kompromiss ist ein Stück Parteileben, und je unmittelbarer wir in das Zustandebringen des Kompromisses eingreifen, desto tiefer verwickeln wir uns ins Parteigetriebe. Darum Distanz behalten! Beschränkung auf Klärung und Befruchtung des politisch schaffenden Volkswillens durch Einwirkung auf das religiöse Gewissen. Das Wort Gottes reden lassen und selber dahinter zurückbleiben! Der Pfarrer hüte sich davor, beim Studieren der Predigt politische – oder auch theologisch-richtungspolitische – Schrotschüsse zu laden. Einmal geladen, gehen sie dem diszipliniertesten Redner los, und wo Schrot niedergeht, halten es die Hörer vernünftigerweise mit den Spatzen. Wir sind nun einmal Demokraten. Der Demokrat aber will nicht als Schulbub angesprochen sein, und darin hat er recht.»

243 Man spürt berechtigterweise aus solchen Äusserungen eine gewisse innere Autorität heraus, die Rudolf von Tavel offenbar in sich selber empfand und welcher Ausdruck zu geben ihn Pflicht und Aufgabe dünkte. Diese Autorität, zu sagen, was sein Verantwortungsgefühl nach reiflicher Überlegung als richtig erkannt hatte, gab auch den Aufrufen, die er zu Bundesfeiern oder vor wichtigen Abstimmungen oder vor Sammlungen zu wohltätigen Zwecken an die Öffentlichkeit richtete, ihre schlichte Kraft; da sie nie des volkstümlichen Tones entbehrten, wenn er angemessen war, und sogar sein erzählerisches Geschick gelegentlich in den Dienst der guten Sache stellten, trafen sie stets ins Schwarze. Noch in seinen letzten Lebensjahren benützte er gern die Tageszeitung, um zu aktuellen Fragen Stellung zu nehmen; es geschah immer aus dem Geiste des gegenseitigen Dienens und des Opferbringens heraus. Welch ernster aber gläubiger Wille sprach aus ihm, wenn er schrieb: «Man lächle nicht über den vaterländischen Idealismus! Der redliche Versuch, die reale Welt nach seinem Rat einzurichten, hat sich noch immer gelohnt; denn, so wahr Gott lebt, das Sehnen nach Heil und Frieden in unserer Brust ist kein Wahn, sondern eine lebendige Kraft, der man Raum geben muss, sich 244 auszuwirken.» Dass er ein unverbesserlicher Optimist sei, gab er noch in seinem Todesjahr einem welschen Kritiker zu, der diese Eigenschaft liebenswürdig als Tavels einzigen Fehler bezeichnet hatte: «Es ist zwar sicher nicht mein einziger Fehler, aber es muss etwas daran sein, an meinem Optimismus, denn vor rund fünfzig Jahren hielt unser Mathematikprofessor mir, seinem schlechtesten Schüler, eine gewaltige Strafpredigt und schloss: "Sie sind ein heilloser, unverbesserlicher Optimist und werden deshalb im Examen durchfallen." Letzteres ist wiederholt geschehen. Mein Lehrer hatte somit richtig geurteilt, aber Optimist bin ich geblieben . . .»

Dieser Optimismus gab ihm, so seltsam es klingen mag, die unbeirrbare Sicherheit in gewissen Entscheidungen oder Anordnungen, deren kluge, ja diplomatische Form uns auffällt. Auch hier lag ihm Überlieferung im Blute. Ob er zwei streitbare Pfarrherren, die sich wegen einer Divergenz in der religiösen Überzeugung bekämpften, zum Frieden mahnte oder einem etwas schwer zugänglichen Gemeindehirten den Wunsch seiner Gemeinde vortrug: immer tat er es mit der verbindlichen Gebärde dessen, der sich im Rechte weiss und es dem andern zutraut, das Rechte auch tun zu wollen. Seinem eigenen Temperament lag 245 eine fast unbegrenzte Langmut mit andern Menschen nahe, und seine Geduld überwand oft in schwierigen und unlösbar scheinenden Konflikten Widerstände, vor denen hitzigere Naturen längst die Waffen gestreckt hätten.

Nie konnte Rudolf von Tavel diese diplomatischen Fähigkeiten, die sich mit seiner weltmännischen Art verbanden und in einer andern Generation aus ihm vielleicht einen erfolgreichen Staatsmann gemacht hätten, besser verwenden als in den Kriegs- und Nachkriegsjahren, die für ihn ein Lebenskapitel voll besonderer Aufgaben bedeuteten.

Der Krieg holte ihn am 1. August 1914 aus der Redaktionsstube und stellte ihn an die Spitze des stadtbernischen Landsturmbataillons, das er als Hauptmann kommandierte. Mit zwei Kompagnien zog er zur Bewachung der Anlagen des Kanderwerkes an den Thunersee, nach Spiez, Wimmis und Kandersteg. Der Dienst war harmlos, bot aber allerlei interessante Beobachtungen und auch jene Landsturmidyllen, die nach den ersten Schreckenstagen die Aufregung des friedlichen Schweizerbürgers abgelöst hatten. Der Jugendfreund und Dienstkamerad Paul von Greyerz überliefert die Geschichte, wie Hauptmann von Tavel einen bestandenen Landsturmsoldaten aufforderte: «Dir da, bringet dä Brief da zum 246 Oberscht ga Spiez, aber es pressiert de e chly.» Der Landstürmer erwidert treuherzig: «O, Herr Houpme, i bi neue nümme so chlupfige!» Tavel darauf: «E nu, so ganget jitz glych.» – Der Dienst war nach wenigen Wochen zu Ende, und Tavel kehrte in die Redaktion zurück.

Aus dieser Stellung, die ihm längst nicht mehr zusagte, riss ihn im Juni 1915 eine Anfrage aus dem Generalstab, ob er bereit wäre, die Leitung der Berner Filiale der Genfer internationalen Kriegsgefangenen-Agentur zu übernehmen. Tavel sagte zu, ohne zu ahnen, dass ihn diese und daraus erwachsende Arbeiten während vollen sechs Jahren in Anspruch nehmen und dauernd aus der Redaktion lösen sollten. Er wurde zum Armeestab versetzt und leitete ein Bureau, das an festangestellten und freiwilligen Arbeitskräften in seiner grössten Tätigkeit 350 Personen beschäftigte. Als schon im Herbst 1915 die Berner Agentur für die Ermittlung der Vermissten und Gefangenen aufgelöst und ihr Material an Genf übergeben wurde, gründeten Tavel und seine Berner Helfer und Helferinnen eine Hilfsstelle für Kriegsgefangene, die unter dem Namen Pro Captivis dem schweizerischen Roten Kreuz unterstellt wurde und vorerst hauptsächlich die Fürsorge deutscher Kriegsgefangener an 247 die Hand nahm. Die segensreiche Arbeit, die hier geleistet wurde, veranlasste den Bundesrat, dieser Stelle auch die Betreuung der österreichischen, bulgarischen, rumänischen, türkischen und jüdischen Kriegsgefangenen zu übertragen und ihre Tätigkeit auf die Zivilinternierten auszudehnen.

Schon im ersten Winter wurde die Fürsorgestelle mit einer Aufgabe betraut, die an ihre organisatorische Kraft hohe Ansprüche stellte: sie sollte die Herstellung und den Versand von 100,000 Weihnachtspaketen im Wert von einer halben Million Franken für deutsche Kriegsgefangene in Frankreich übernehmen. Kein Kaufmann hatte auf die Angelegenheit eintreten wollen, so mussten Rudolf von Tavel und sein arbeitsfreudiger Stab von Hilfskräften die Aufgabe allein bewältigen. Engroseinkäufe von Schokolade, Basler Leckerli, Notizkalendern, Stumpen und Zigarren und Dauerwürsten mussten besorgt, Schachteln bestellt, gepackt und mit Widmungskarten und Empfangsbestätigungen versehen und die Kisten bis zum Zeitpunkt der Absendung magaziniert werden. Aber die grössere Schwierigkeit bestand darin, von der französischen Heeresleitung die Gefangenenlager und ihre Belegziffern zu erfahren und einen Verteilungsplan nach Armeeregionen, Bahnlinien 248 und Tragkraft der französischen Bahnwagen aufzustellen. Das grosse Unternehmen glückte in allen Teilen, innerhalb elf Tagen war der ganze Vorrat in den weiträumigen Gängen des Burgerspitals fix und fertig verpackt und wurde vom 16. Dezember an zur Grenze geführt und den französischen Bahnbehörden übergeben; an den Weihnachtstagen empfing der Gefangene sein Paket mit einem Tannenzweiglein aus den bernischen Forsten.

Nunmehr, nach diesem geglückten Versuch, nahm der Liebesgabendienst einen riesigen Umfang an; mit bloss freiwilligen Hilfskräften war er fortan nicht mehr zu bewältigen. In Fräulein Sophie Loos, einer durch den Krieg nach Bern verschlagenen Österreicherin, besass Tavel die fleissige, zuverlässige und taktvolle Mitarbeiterin, die ohne Entgelt dem Werk bis zum Ende treu blieb. Eine Bibliothekabteilung, die Hermann Hesse besorgte, wurde 1916 angeschlossen, eine Zweigstelle in Barcelona angegliedert. Später kam das nicht weniger grosse Unternehmen der Arbeitsbeschaffung für die in der Schweiz internierten Kriegsgefangenen hinzu. Und als 1920 das Liebeswerk für die Kriegsgefangenen abgeschlossen und liquidiert wurde, hatte schon die Hilfe für die notleidenden Wienerkinder eingesetzt und Rudolf von Tavel an die Spitze 249 des schweizerischen Zentralkomitees für notleidende Kinder aus allen Kriegsländern geführt. Das war nun so recht eine Tätigkeit nach dem Sinn und Herzen des kinderlosen Kinderfreundes und seiner Gattin, die ihn auf allen Reisen zu den zahlreichen Verhandlungen, Kongressen und Besichtigungen begleitete. Mehr als 125,000 fremde Kinder fanden in der Schweiz vorübergehend Unterkunft und Erholung, manche hier ihre zweite Heimat, alle in Rudolf von Tavel ihren Freund, der für ihr Wohl seine Zeit und Kraft hingab, ohne zu rechnen und zu kargen. Selten sind in jenen Jahren die Eintragungen im Tagebuch, die von künstlerischem Arbeiten berichten. Dafür sind mühsame Reisen nach den vom Krieg ausgehungerten Ländern verzeichnet, zu einer Ausstellung von Kriegsinternierten-Arbeiten in Frankfurt, in das monoton ernste Berlin des letzten Kriegssommers, in das aufgewühlte Wien nach dem Umsturz, dessen kaiserlicher Glanz verblichen war, wo neue Männer die schweizerischen Kinderfreunde in der Hofburg empfingen, wo in den Salons unverhohlen Lebensmittelpreise und Verpflegungsmöglichkeiten diskutiert wurden, wo man am gleichen Tag die Elendsquartiere und Schönbrunn besuchte und eine Menge internationaler Persönlichkeiten kennenlernte.

250 Tavel bewegte sich auf dem Parkett wie in den «Hungerlöchern» mit der gleichen angeborenen Ruhe und Würde; er erweiterte seinen Kreis an Menschenbekanntschaften und Menschenerfahrung bis zu der deutschen Kaiserin und bis zu zahllosen invaliden Gefangenen, die, namenlos, fortan in seinem Herzen und seiner Erinnerung lebten. Und dann die Kinder, die lieben Kinder! Kaum mochte man sich von ihnen wieder trennen, die so zutraulich sich in die Schweizer Bergluft oder gar in die Gartenstille der Schosshalde eingelebt hatten. Sie trugen durch das grosse Weltunglück das zarte Glück ihrer reinen Unschuld, und der Dichter hatte teil daran.

Kinder: auch im engsten Kreise der Familiengemeinschaft waren sie seinem Herzen nahe. In der Vorrede zum Novellenband «Am Kaminfüür» versammelt er seine Patenkinder um sich und erzählt ihnen Geschichten aus alter und neuer Zeit, und dem Göttibuben Rudi Stettler schrieb er am Tag der Taufe zur Wegleitung fürs Leben den Spruch:

Möcht wohl die Hand dir geben,
                        du kleiner Wandersmann.
Dein Weg ist weit und dornicht
                        vielleicht auch dann und wann.
Wenn ich zur Ruh mich lege
                        dereinst am Wegesrand,
251 Wirst du noch wandern müssen
                        in Frost und Sonnenbrand,
Gefährten kennenlernen,
                        die schwer zu lieben sind,
Weil sie für deine Sorgen
                        dir scheinen taub und blind.
Dann denke nur des Einen,
                        der alle hat geliebt,
Am Kreuze gottverlassen
                        noch Liebe hat geübt.
Dem haben wir dich heute
                        ans treue Herz gelegt,
Das, ohne müd zu werden,
                        für alle Müden schlägt.
Der keinen noch vergessen
                        und alle lieben kann,
Wird an der Hand dich führen,
                        du kleiner Wandersmann.

Solche literarischen Gunstbezeugungen mussten aber immer freiwillig erfolgen, sie konnten nicht erschlichen noch erbettelt werden. Der Wunsch: «Unggle, mach es Gedicht!» hatte schon beim jungen Mann taube Ohren gefunden, und das Alter machte ihn in diesem Punkt nicht nachgiebiger. Die wenigen Gedichte, die er geschrieben hat, verdanken ihr Entstehen meistens irgendeinem äusserlichen Anlass, sind also im schönsten Sinn Gelegenheitsgedichte. Aber anderseits liess er sich 252 durch den Anlass nicht zwingen, wenn ihm die Reife der Form nicht geschenkt wurde. So schrieb er wohl einmal einer Dame, die ihn für einen wohltätigen Zweck um ein Gedicht gebeten hatte: «Wenn Sie Verse wollen, so müssen Sie sich an einen Lyriker wenden. Schlechte Verse will ich nicht machen, und gute kann ich nicht machen – jedenfalls jetzt nicht und vielleicht nie mehr, denn mein Frühling liegt schon weit hinter mir.» Durfte er im Jahre 1914, unter dem Eindruck der ersten Kriegsmonate schreiben, der lyrische Frühling sei verblüht, so ahnte er allerdings nicht, wie reich sein epischer Herbst sein würde!

Rudolf von Tavel war, als das Hilfswerk nach dem Krieg ihn wieder frei gab, ein unabhängiger Schriftsteller, der nur noch seinem dichterischen Werk leben wollte. Eine feste Anstellung ging er in der Folge nicht mehr ein. Neben seinen kirchlichen Ämtern legten aber auch der Vorsitz in der Direktion der Neuen Mädchenschule während mehr als zwanzig Jahren und die Arbeit im Vorstand und als Präsident der Taubstummenanstalt in Wabern bei Bern Beschlag auf seine Zeit und Kraft; beides Werke, denen seine Umsicht und Zuverlässigkeit in hohem Masse von Nutzen waren. Den Verein der Freunde des 253 Berner Kunstmuseums hatte er ins Leben gerufen und ihm bei der Gründung vorgestanden. Seine Liebe zur bildenden Kunst und sein Verständnis für Malerei machten nicht halt vor den Schranken der neueren Darstellungsweisen; wohl galt seine tiefe Verehrung den klassischen Meistern, und ein Albert Anker besass unter den Älteren seiner Generation die Zuneigung des leidenschaftlichen ehemaligen Zeichnungsschülers, aber auch dem Schaffen Cuno Amiets brachte er die Offenheit seiner künstlerischen und einfühlsamen Natur entgegen; gerade als er den Meister von der Oschwand an seinem 60. Geburtstag feierte, sprach er das frohe Wort, indem er auf Hodlers «Elu», Karl Stauffers «Gekreuzigten» und Amiets «Orchesterdirigenten», alle im gleichen Museumssaal vereinigt, hinwies: «Stolzer kann der Florentiner in der Tribuna, der Römer im Cortile del Belvedere nicht sein als wir Berner vor diesen drei Bernern» – wobei er den Solothurner vom Aarestrand auch gleich ein wenig geistig annektierte!

Reisen gehörten zeitlebens zu Tavels weltfreudigsten Erlebnissen. In der Jugend und in den ersten Mannesjahren waren Wanderungen und Bergbesteigungen seine Leidenschaft; manches frohe Blatt im Tagebuch und mancher Aufsatz in Zeitung und Zeitschrift zeugen 254 davon. Zäh und kräftig, wagte er sich an anstrengende Touren; Rekorde lagen dem Berggänger damals fern. Später suchte er gern fremde Länder und Städte auf. Seine Studienjahre machten ihn mit deutschen Bildungszentren, aber auch mit den verschiedensten Landschaften des Reichs bekannt. Im Jahr 1905 sah er das seit seinem Studienaufenthalt stark veränderte Berlin wieder, traf dort die «gnädige Frau» in der «lustigen Acht» noch am Leben und besuchte den ehemaligen Seelenfreund Grafen Stosch auf seinem Landgut in Polnisch Kessel. Noch vor dem Krieg, 1913, besah er sich im Anschluss an eine Kur in Bad Wildungen die Städte Kassel, München und Nürnberg. Die Arbeit für die Kriegsgefangenen und Internierten führte ihn dann noch mehrmals nach Deutschland. Paris schenkte ihm 1910 das Erlebnis der grossen Stadt und ihrer Vergangenheit, mit der er seit Knabenjahren auf romantische Art vertraut war; gestand er nicht, dass er versucht gewesen sei, den Theosophen mit ihrem Glauben an die Reinkarnation Recht zu geben? «Meinst du nicht auch, es wäre möglich, dass ich vor hundert Jahren als Offizier im Heere des grossen Napoleon gedient habe? Mir kommt's manchmal so vor. Nur denke ich, ich müsste in den Tugenden und Untugenden 255 friedlicher Bürgerlichkeit von einer Erdenwallfahrt zur andern unglaubliche Fortschritte gemacht haben. Item, gestern war mir, als hätte der Geist Napoleons zum Lohn für das grosse Interesse, das ich noch in diesem meinem gegenwärtigen Leben seiner Armee entgegenbringe, mir an klassischer Stätte eine Extraparade angereiset . . . Äusserlich galt sie dem König von Bulgarien . . .» An die Tage in Paris schloss sich ein Ausflug nach Saint-Malo, in die Heimat Chateaubriands, und ein Aufenthalt auf der Insel Jersey, später eine genussvolle Reise durch die Kunststätten von Holland und ein längeres Verweilen auf der Insel Walcheren, wo Rudolf von Tavel und seine Frau bei Domburg eine kleine Fischerhütte am Strand hinter den Dünen ganz allein bewohnten und dem Rauschen des Meeres Tag und Nacht lauschten.

Italien war auf der Hochzeitsreise 1894 in den Gesichtskreis des Dichters getreten: Genua, Venedig und Verona. Diese Stadt hatte er allerdings im Jahr vorher schon von dem damals österreichischen Rovereto aus besucht, wo er bei einem Vetter zu Gaste war und in dem Festungskommandanten von Trient einen waschechten Berner kennenlernte, dem der lange Dienst in der österreichischen Armee und das Avancement bis zum 256 Feldmarschall-Lieutenant die Liebe zur Vaterstadt nicht erstickt hatten. Venedig besuchte er später nochmals, als vor seinem Geist die lombardischen Heerstrassen und die Galeeren in den Lagunen auftauchten, auf denen junge Berner freiwillig, oder gezwungen als verschickte Täufer, harten Kriegsdienst leisteten: da stand der Dichter in der Vorarbeit zum «Frondeur». Ach, diese Spuren bernischen Söldnertums in allen Winden: in Österreich und Russland, in Potsdam und Paris und auch in Italien! Oft waren sie blutgetränkt, noch öfter mündeten sie in namenlose Massengräber. Einer solchen, vom Lavastaub des Vesuvs verwehten Spur ging er im Herbst 1926 nach, als ihn eine Seereise von Genua nach Neapel geführt hatte. In einem halbzerfallenen, längst nicht mehr benutzten Friedhof fand er die Grabmäler der Soldaten und den Denkstein für die Offiziere, die am 15. Mai 1848 vor den Barrikaden in der Strasse Santa Brigida gefallen waren. In einem Briefe schrieb er: «Da ich mit diesen historischen Vorgängen so vertraut bin und noch mit Augenzeugen der Kämpfe gesprochen habe, machte mir der Friedhof in seiner Vergessenheit einen tiefen Eindruck.» In der «Veteranezyt» liess er die Napolitaner dann wieder auferstehen.

                                Zeichnung von F. Traffelet

Gratulation des Burgerrats der Stadt Bern beim 60. Geburtstag des Dichters

Rom bildete den Abschluss jener Reise. An 257 der Spanischen Treppe wohnten der Dichter und seine Frau im Spätherbst «bis zum letztmöglichen Termin» und genossen das «unbeschattete Glück» wie selten zuvor. «Was ist es denn nur, das uns, die wir zu Rom gar keine historischen Beziehungen haben, nach der ewigen Stadt hinzieht?», fragte sich Rudolf von Tavel. «Seine Kunstschätze? Nun ja, Rom ist unendlich reich an Kunstwerken aus fünfundzwanzig Jahrhunderten, und je absonderlicher die Wege sind, welche die moderne einheimische Kunst uns führt, desto lebhafter regt sich in uns die Sehnsucht, wieder einmal an den erquickenden Schöpfungen einer vergangenen, künstlerisch gewaltig produktiven Zeit sich satt zu schauen. Satt werden wir ja dabei nie, und darum müssen und müssen wir immer wieder den Weg nach den klassischen Stätten der Kunst antreten. Aber die Kunstschätze allein sind es doch nicht, welche den unwiderstehlichen Zauber Roms ausmachen. Sind es die grossen historischen Erinnerungen? Damit kommen wir einer einleuchtenden Erklärung schon näher. Aber wie viele sind es unter den unzählbaren Rompilgern, die so viel Verständnis für die Weltgeschichte haben, dass das Übereinander und Durcheinander der Trümmer aus allen Kulturperioden sie bewöge, eine so weite Reise zu unternehmen? Es 258 bedarf schon sehr reicher Kenntnisse, eines sichern Stilgefühls und einer geschulten Phantasie, um sich das Bild der Tempel und Paläste einer bestimmten Zeit wieder herzustellen. Es gibt viele Reisende, denen die Steine des Forums gar nichts sagen, und ihrer noch mehr, die gar nichts damit anzufangen wissen, sich dessen aber schämen und deshalb tun und reden, als wären sie vom Anblick der Säulen, der Statuen ohne Kopf und Hände erschüttert.

Von Rompilgern sprachen wir soeben. Ist es nicht der Petersdom, der den Hauptanziehungspunkt bildet, und der Sitz des Hauptes einer weltumfassenden Kirche? Für Millionen von Katholiken gewiss und mit gutem Grund. Wenn man beobachtet, mit welcher Ergriffenheit viele Rompilger den Dom betreten, mit welcher heiligen Begeisterung der Papst von den Wallfahrern begrüsst wird, kommt manchem, der sonst kein Verständnis dafür hatte, die gewaltige Bedeutung auch des Äusserlichen der katholischen Kirche zum Bewusstsein, mag er sich noch so sehr stossen an Einzelheiten dieses Äusserlichen.

Und die Protestanten? Ich wage zu behaupten, dass auch für den gläubigen Protestanten das Kirchengeschichtliche bewusst oder unbewusst den wahren Anziehungspunkt der ewigen Stadt bildet, und darin kommen wir 259 einander sehr nahe, Katholiken und Protestanten. Zu dem denkenden, über das Werden des Seienden nachsinnenden Menschen redet Rom, auch wenn er für die Stimme der Kunst unempfänglich sein sollte, eine gewaltige Sprache.

Der 1926 in Forte dei Marmi auf der Heimreise von Rom zum tiefen Schmerz seiner grossen Berner Gemeinde ertrunkene Pfarrer Hermann Amsler, eine Franziskus-Seele von ungewöhnlich tiefer Religiosität, fuhr nicht, wie die meisten andern, im Schnellzug nach Rom hinein. Er verliess irgendwo vorher den Zug, um als Wanderer auf den Höhen des Monte Mario die Stadt vor seinen Augen auftauchen zu sehen. Er wollte diesen Augenblick in Sammlung und ohne Störung geniessen. Wer verstünde das nicht? Aber wenigen ist es vergönnt, in dieser Weise sich der ewigen Stadt zu nähern. Wir andern müssen uns dafür entschädigen durch die Betrachtung der Stadt in stiller Stunde von einem dazu geeigneten Punkt. Nicht der Pincio mit seinem wundervollen Blick auf die St. Peterskuppel und nicht die Piazza Garibaldi mit ihrem herrlichen Überblick über die ganze Stadt ist der Punkt, nach dem mich immer wieder verlangen wird, sondern das nun leichter zugängliche Belvedere im Südwestwinkel des Palatin, besonders zur Zeit des Sonnenuntergangs. 260 Selig, wer sich dort ungestört einer Träumerei hingeben darf!»

Die «Träumerei auf dem Palatin», die Rudolf von Tavel in seinem Todesjahr für das Jahrbuch «Die Ernte» schrieb, mündete in eine ehrfürchtige Betrachtung der steinernen Zeugen für den Sieg des Christentums, die aber durch die unsichtbare Kirche überdauert werden, wenn auch das letzte Kunstwerk dieses Äons in Staub aufgelöst sei.

Dem Menschenwerk, das dauert bis seine Zeit sich erfüllet hat, widmete der Schriftsteller Rudolf von Tavel zu mehreren Malen Darstellungen, die eigentliche Auftragsarbeiten waren, so zwei Schilderungen der Vaterstadt Bern (1914 und 1922), eine Denkschrift zur Feier des hundertjährigen Bestandes der Deposito-Cassa der Stadt Bern (1925), eine Geschichte des «Regiments von Erlach in französischen Diensten», wozu der Uniformenkenner Adolf Pochon die kostümgetreuen Bilder und einen Text hinterlassen hatte, den Tavel ergänzte und auf den doppelten Umfang erweiterte (1933) und endlich die Schrift, die unter dem Titel «Kraft und Herrlichkeit» zum neunzigjährigen Bestehen des Diakonissen-Mutterhauses in Bern erschien. Es war das letzte Buch, das die Hand des Dichters schrieb; auch das ein Zeugnis eines aus bescheidensten 261 Anfängen grossartig aufgeblühten Liebeswerkes, das von bernischem Herzblut Nahrung empfangen hatte. Wie war Tavel glücklich, den «lieben Hauben» ihre Festschrift abzufassen. Sie lag Ende Juli 1934 in ihren Händen, ein Vierteljahr vor seinem Tode.

Frohen Sinnes, schaffenslustig, mitten in den Plänen zu einem neuen Werk, fuhr er mit seiner Gattin in den goldenen Herbst des Genfersees. Die Notizenhefte füllten sich, wie reife Frucht brachte er die Ernte der Gedanken ein, er arbeitete im Wandern durch die Landschaft, auf sonnigen Ruhebänken, im stillen Hotelzimmer. Auf der Rückfahrt von Glion am 18. Oktober hörte sein Herz nach ganz kurzem Unwohlsein zu schlagen auf, im Eisenbahnzug zwischen den beiden Zähringerstädten Freiburg und Bern. Der Herbst stand mit flammenden Fahnen an der Heimfahrt und um die Totenfeier des Dichters, dessen Leib von der geliebten Nydeckkirche auf dem ältesten Boden der Stadt zum Friedhof geführt wurde, der nach der Schosshalde benannt ist.

Rudolf von Tavel als Mensch unter Menschen: welcher Art die Kraft gewesen ist, die sein Leben bewegt hat, verspüren wir aus seinem Werk. Die mit ihm lebten, fühlten sie im Umgang mit ihm. Er bildete sich wenig 262 darauf ein, sie war ihm als Gabe und aus Gnade verliehen, und er quälte sich oft mit der Frage, ob er den rechten Gebrauch von ihr mache. Er besass eine schlichte, fast bescheidene Formel, nach der er leben – und sterben wollte; er hatte sie in einem seiner Notizbücher aufgezeichnet, von Jugenderinnerungen überglänzt, vom Bergwind umspielt; sie lautet:

Ds Glück wytergä!

Änet dem grosse Chamme, wo men übere gseht uf d'Walliser Schneebärgen und abe i ds tiefe, heisse Rhonetal, isch a menen Ort, zwüsche de Gletscherzungen und dem fyschtere wilde Tannewald es hilbs Plätzli, so still und verwachse, dass es ein dunkt, es chönni no nie e Möntsch dert düre cho sy. Hert ob de letschte Tanne, wo us mängem Rindeschranz ihres gääle Harz i ds düre Gras leu la tropfe, stande di graue Flüeh bis a Buuch i de hundertjährige Risete. Ds Rägewasser het schwarzi Striemen über se-n-abe zeichnet, dass si usgseh, wie wenn ne ds nasse Haar über ds Gsicht abehiengi. D'Riseten isch ydeckt mit mene dicke Mantel vo grossbletterigem Chrut, und um di verfulete Stämm ume stande chneuhöch di blaue Vergissmeinnicht und derzwüsche di gääle Chnöpf vo den Ankebälli im 263 glahrige guldige Sunneschyn. Zwüsche de Tannescht gseht me wyter äne no ne Schneeplätz düreschyne. Aber ds Schönschte vo allem lyt zwüsche de Fluehsätzen inne. Dert hangen i mächtige glänzige Tschuppe ganzi Meje vo Alperosen über die vermieschete Mutten abe. Wie-n-e grossi Kuppele Feriechinder chöme si dür di schattigi Tüelen ab und blybe doch geng geduldig am glychen Ort, bis d'Sunnen über d'Flüeh yne ma. Und so still isch es – so andächtig still, me ghört gar nüt als es ewig glychligs Ruusche, wo ganz hübscheli dür d'Tannen uuf düüsselet, wyt unden ufe vom Tal. Fascht möchti me, wenn me so i di wyti blaui Bärglandschaft use luegt, säge, es sygi ds Ruusche vo der Zyt, wo geit - geit - geit und doch geng no da isch. Isch es öppe nid e so? Isch es nid ds grosse Heer vo de lutere Tröpfli, wo us tuused blaue Gletscherschründen abe louft – dem Meer zue – Tag und Nacht und ohni Änd? – O, du liebs schöns Ruusche, wie tuesch du wohl, wenn me gnue het vom Wältlärme!

Das Ruusche het o a mene Mannli gruusam wohl ta, wo fascht so guet versteckt wie-n-e Gueg under mene Blatt im warme Schatte vo nere Wattertanne ghöcklet isch und über d'Alpmatten und d'Waldchräche wäg i ds breite brüetige Tal abe gstuunet het. Der 264 Panamahuet het er näbe sech uf mene Felsblock gha und de Sunnestrahle nid gwehrt, wo hie und da zwüsche de Chriseschtli düre-n-über syni churzgschnittene graue Haar gfloge sy. Di brave magere bruune Händ het er über em Haaggestäcken inenandere gleit gha. Di schöni grossi Stirne het glänzt wie-n-es polierts Chupferchessi. Der Underchifel isch e chly wyt vüregstanden und het ein, wenn me scharf vo der Syte gluegt het, es bitzli a ne Schublade gmahnet, wo nid ganz im Schloss isch; aber e churze borschtige schwarzgraue Schnouz het ein das nid so la merke. Wie bi de meischte Möntschen isch d'Nase nid ganz loträcht im Gsicht gstande. Me hätt's nid g'achtet, hätte's nid di regelmässige Fält z'beidne Syte verrate. Zwüsche denen inne het d'Nase so öppis Tannewürzemässigs gha. So isch äben o der Ma gsi, so eine, wo sech treu und zäj a sym Tütschi het, gäb welewäg der Luft blaset. Und über zfriden oder nid zfride het me nid lang bruuche z'frage. Us de dunkelbruunen Ouge het me chönne läse, dass dä Ma ds Läben ärnscht gnoh und der Rank gfunde het. Ärnscht, aber sicher yghänkt und guet im Greis.

Dem Herr isch es gange, wie's öppe fascht allne Lüte geit, gäb wie guet si's im Läbe hei. Wenn men einisch a nes rächt schöns und 265 fridlechs Plätzli chunnt und's eim en Ougeblick e so gruusam wohl isch, so chunnt eim undereinisch der Gedanke, hie möcht men einisch begrabe sy – einisch – begryfet dr? Das isch ds Luschtigen a däm Yfall. Wenn me no dänkti: jitz grad, jitz isch's mer wohl, i bi zfride mit Gott und mit der Wält, ha niemerem nüt meh nachez'trage, i wär jitz e so suber um ds Gmüet ume, bruuchti mi nid z'hert z'geniere, wenn i vor d'Himmelstüre chäm; es wär schad, wenn i jitz wieder i Dräck yne müesst – nu, das hätti no ne Sinn. Aber ds Gspässigen isch, dass men i settigen Ougeblicke geng dänkt – einisch – einisch möchti me de da begrabe sy. Prezys wie wenn einen im Toteboum no chönnti d'Ussicht luege. Oder isch es öppe wäge der Uferstehung? I dänke, da git's de ander Sache z'luege, und für d'Stimmung isch de o gsorget, ohni Alpeglüeje. – Villicht dänkt men ehnder a die, wo de dahäre chöme cho spaziere. Wenn si de der Namen uf em Grabstei läse, währeddäm si ergriffe sy vo der Schönheit vom Ort, so bhalte si de bsunders es agnähms Adänken a eim.

Item – der Herr het emel jitz o dänkt, hie wett er einisch begrabe sy, und zwar isch es ihm bsunders drum z'tue gsi, dass er de grad so i nere fründleche Gmüetsverfassung chönnti verschwinde, still, fridlech und ohni alles 266 Wäse. – Sowyt isch dä Ma gsi i sym Sinnen und Dänke. Aber halt! het's du gheissen i syne Gedankegänge. So wyt sy mer äbe juscht no nid. – Der Herr het nid emal öppe bsunders a sy Stieftochter, ds Marie dänkt, was de die nachhär sötti vürnäh. Nei, es isch ihm undereinisch wieder schwär uf ds Härz gfalle, was ne scho alli di Jahr geng plaget het: dass, wenn er jitz stürb, sys Läbe zum Änd chäm, bevor es e Frucht treit hätti. Nid dass er öppe nüt Guets ta hätti! Bhüetis, dä Ma het mit sym irdische Hab und Guet brav huusgha und het nid bruuche z'sorge, dass ihm niemer e Träne nachebrieggeti. Aber er het tiefer dänkt. Ihm isch es Möntscheläben es Wäse gsi, wo ewig het sölle furtduure. Niemer, so het er dänkt, emel kei Chrischt, sötti vo der Wält furt müesse oder er heig en andere Möntsch zum glückleche Läbe gweckt.

Scho wo-n-er als Chind i d'Sunntigschuel gangen isch z'Bärn, «uf em Saal» i der Nydeggloube, hein ihm di guldige Sprüch a der Wand so ne bsunderen Ydruck gmacht. Da het's gheisse: «Die Lehrer aber werden leuchten wie des Himmels Glanz und die, so viele zur Gerechtigkeit gewiesen haben, wie die Sterne immer und ewiglich.» Das wäge de Lehrer het ihm lang nid rächt yne welle. Als Schuelbueb het er nid viel anders a ne gseh 267 glänzen als d'Brüllegleser und di abgfieggete Hose. Erscht lang nachhär, wo-n-er e so i ds Juged- und i ds Schuelläbe het chönne zrückluege, wie men öppe no einisch i sys Heimettäli zrückluegt, wen men uf em Wäg isch für z'grächtem furt, oder wie eine, wo änet dem Meer a sy Heimat dänkt und nid weiss, wo-n-er ds Gäld härnähm für ume hei, isch er's du gwahr worde, dass es Lehrer und Lehrer git, und dass äbe so im Hindertsiluege grad die am schönschte dastande, wo me villicht am längschte nid begriffe het. Es isch ihm gsi, wie wenn vo settigen öppis Guets an ihm ebhanget wär, und undereinisch het's nen afah duure, für so ne braven alte Schuelmeischter, wo Brosmen um Brosme vo sym Härz a d'Chinder furt git und zueluege muess, wie si dermit furtloufe, 's gschänden und nume niemeh ne dankbare Blick zrücktüe. Aber settigi Lehrer stande doch in Ehre da! So eine, het's ne dunkt, müess mit mene ganz bsundere Friden im Härz chönne d'Ouge zuetue. Und de z'vollem, wenn so eine sech dörfi säge, er heigi däm und disem uf e Wag zum Himmel ghulfe. Da isch ihm de albe das Lied wieder im Chopf ume gange, wo si einisch für ds grosse Singexame hei müessen ypouke: «Die Ihm lebten, die Ihm starben, bringen jauchzend ihre Garben.»

268 Schaluus isch der Herr nid gsi, aber wenn ihm de albe z'Sinn cho isch, wie sy Fründ, der Pfarrer Forsch, Sunntig für Sunntig d'Chilche gstacket graglet voll gha het und du, wo-n-er grad i de beschte Jahre gstorben isch, so mänge gseit het, es dunk ne, das chönni nid sy und mi mögi schier nid wyter ohni dä Füehrer, da het's ne de möge, dass är e so in aller Wält niemerem uf di rächti Spur chönni hälfen und dass är de einisch übere müessi und ga säge, zu allem heig er Sorg gha und gwüss niemerem z'leid gwärchet, aber änen ume bracht heig er halt wäger kei Chatz. Ob settige Gedanken isch ihm de allimal e Schatten über d'Wält cho und grad am allermeischten a de schönschten Orte. Grad dert het's ne de albe dunkt – und jitz grad under syr Wättertannen o – er müessi eifach dem liebe Gott der Dank abstatte für di schöni Wält und alles Guete, wo-n-er heig. Ja, di schöni Wält, wo di meischte Lüt drin umeloufen und enandere plagen und ds Glück nid finde. Rächtschaffe g'ergeret het's ne. Scho mängs Jahr het ne das plaget und je länger descht meh. Und jitz het's einisch müesse sy. So het's nümme länger sölle gah. Und wil er's scho so mängisch sech het vorgnoh gha und 's doch nie z'stand bracht, so het er sech hütt gschwore: Jitz hingäge! Und i chume niemeh a das herrleche Plätzli, i 269 mym ganze Läbe, oder i heig es Möntschechind änen ume bracht. Heilig het er sech versproche, er welli sys eigete Glück wyter gä, gäb es z'spät syg.

Liecht en andere wär jitz a Bode gchneuet und hätti villicht no d'Händ zum Himmel ufgstreckt, für dem liebe Gott ds Verspräche z'gä. Aber der Herr isch äben e Stockbärner gsi, het sech vor sich sälber und allne Blüemli geniert, da so ne Gschicht z'mache. Aber er het der Stäcke härzhaft i d'Hand gnoh, der Blick graduus grichtet und sys Glübd fescht und hert ta, ohni nume ne Ton vo sech z'gä. Aber d'Läfzge hei's doch vo sech gä, und 's isch abgmacht gsi.


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