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Die Leser des konservativen «Berner Tagblattes» besassen im Winter 1889 und im folgenden Jahr in Berlin einen R.-Korrespondenten, der sie auf eine angenehme Art und Weise, sachlich und farbig zugleich, mit Neuigkeiten aus dem politischen und gesellschaftlichen Leben der strebsamen deutschen Hauptstadt versorgte. Er berichtete gleich prompt über die Einweihung des neuen Hauses des christlichen Vereins junger Männer wie über die Reichstagswahlen, über das neue Infanteriegewehr der Garde wie über eine Rassehundeausstellung, über den evangelisch-sozialen Kongress wie über die grosse Frühjahrsparade auf dem Tempelhoferfeld, immer knapp und anschaulich, gelegentlich mit kleinen Blitzlichtern über humoristische Situationen, und er vergass nie, die Teilnahme des Kaiserhauses bei diesem und jenem Anlass zu erwähnen. Man merkte aber seinen Artikeln gut an, dass ein Berner sie geschrieben hatte; so, wenn er berichtete, ein Deutscher, dem er vom Setzerstreik in Bern gesprochen habe, sei 134 in Erstaunen geraten und habe gefragt: «Polizei haben Sie wohl keine in der Schweiz?» oder wenn er das Gerücht verzeichnete, der Kaiser wolle die Schweiz besuchen, «wahrscheinlich um sich das grösste Kuriosum der Welt, den bernischen Grossen Rat, anzusehen». Solche Nebenbemerkungen liessen die Leser schmunzeln und weckten wohl in ihnen die Neugier nach dem Namen des gemütvoll witzigen Berliner Korrespondenten.
Von künstlerischen Angelegenheiten war weniger oft die Rede. Das Aufführungsverbot, das allerhöchster Befehl über Ernst von Wildenbruchs Tragödie «Der Generalfeldoberst» gelegt hatte, war mehr ein gesellschaftliches als ein literarisches Ereignis; denn es hatte seinen Grund in dem Missfallen des Kaisers an der Darstellung eines Hohenzollern, des Kurfürsten Georg Wilhelm, der in dem Stück, «wie er eben war, naturgetreu, als Schwächling» geschildert wurde. Immerhin fand es der Korrespondent merkwürdig, dass Wildenbruchs Stück verboten wurde, während gleichzeitig das skandalöse Drama eines gewissen Hauptmann, betitelt «Vor Sonnenaufgang», auf einigen Bühnen ohne Schwierigkeiten zur Aufführung gelangte. Und auch die Beschreibung des Bismarck-Porträts von Lenbach dient mehr der Kennzeichnung der politischen 135 Lage als etwa einem Urteil über zeitgenössische Malerei.
Dabei hatte der Gelegenheitskorrespondent mit seinem Berliner Jahr entschieden journalistisches Glück. Im Januar meldete er den Tod der Kaiserin Augusta und beschrieb darauf in mehreren Aufsätzen die Trauerfeierlichkeiten, wobei er die Uniformen und Kostüme mit spürbarer Freude an dem historischen Detail schilderte. Und einige Wochen später fand die Entlassung des Kanzlers statt, worauf schon anfangs März ein Leitartikel des Berliner Korrespondenten über «Moltke und Bismarck» die Leser vorbereitet hatte. Mit Sachkenntnis beschrieb er wiederum die erste deutsche Pferdeausstellung; doch verkniff er sich die Bemerkung nicht, dass ihm das Galoppfahren der Gardeartillerie nicht mehr imponiert habe als dasjenige der schweizerischen Feldbatterien. Und der historische Festzug des zehnten deutschen Bundesschiessens forderte seine spitze Feder geradezu heraus: «Unter den ersten, die mir auf dem Festplatz begegnen, fällt mir der grosse Kurfürst besonders auf, der sich zu Fuss, in seinem weissen Wams, zu einem recht bescheidenen Einzug in die eben verlassene Hauptstadt anschickt. Durch das Gewühl in der Münchener Kindl-Kneipe schleicht, auch schon müde, Friedrich der 136 Grosse an seinem Krückstock einher. Noch mehr Spass verursachen Goethe und Beethoven, welche mehr als angeheitert zwischen Landsknechten und Marodeuren umhertaumeln. Nicht am wenigsten gaben manche Schützenmeister Anlass zum Lachen. Diese, meist ältere, wohlbeleibte oder auch spindeldürre Herren, bewegten sich mit grosser Würde in ihren glänzenden Uniformen. Die meisten von ihnen trugen Generalsuniformen nach dem Stile der Dreissiger- und Vierzigerjahre, schöne Waffenröcke, weisse Beinkleider, Kanonenstiefel oder moderne Generalshosen mit doppelten roten Streifen und auf dem Kopfe einen Nebelspalter mit wallendem Federbusch. Zahllose Medaillen und ähnliche Ehrenzeichen zeugen von den Taten, welche sie auf dem Schlachtfelde früherer Schützenfeste vollbracht. Mehr noch als sie selber, brüsten sich die mit ihnen Arm in Arm wandelnden Gattinnen und die hinterher torkelnde Kinderschar. Es ist wirklich unglaublich, mit welch kindlicher Freude diese alten Nickel ihre Uniformen tragen! Ein anwesender Schweizer raunte mir zu: So dumm tüe de üsi Schütze doch nid, und ich muss ihm vollständig Recht geben.»
Noch im selben Jahr, da Rudolf von Tavel nach Bern zurückkehrte, trat er in die 137 Redaktion des «Berner Tagblattes» ein und wirkte dort zuerst im lokalen, später im Auslandsteil. «Es war keine leichte Stellung, viel Arbeit und wenig Lohn», bekannte er in einer autobiographischen Skizze. Aber die Arbeit muss dem ehemaligen Berliner R.-Korrespondenten doch zugesagt haben; er wurde, wenn auch nie ein sensationsgieriger Reporter, doch ein neuigkeitenfroher und überzeugungstreuer Journalist. Er wusste sich in den Spuren seines Vaters und durfte wohl von einer Tradition in der Familie sprechen, wenn er selber viel später einem Neffen den Weg zur Publizistik anriet. Die Arbeit in der Presse schätzte er hoch ein, sie war ihm eine Möglichkeit der Volkserziehung, und er liess sich, als er das zweitemal in die Redaktion des «Berner Tagblattes» eintrat, von einem Professor der Theologie zurufen: «Ich gratuliere zu der Kanzel!»
In einer humorvollen Skizze hat Rudolf von Tavel, als er längst nicht mehr an eine Zeitung gebunden war, seiner Dienstzeit als Redaktor gedacht und dabei ein paar grundsätzliche Bemerkungen zur Ausbildung und Eignung des Journalisten gemacht, die erst recht zeigen, wie stark sein ganzes Können an jenem Berufe beteiligt war, den er doch gern aufgab, sobald ihn sein Schicksal um einen 138 neuen Wegrank des Lebens geführt hatte. Er veröffentlichte 1932 im «Berner Tagblatt» seine Erinnerungen:
Aus meinen Journalistenjahren
Aus meiner Journalistenzeit soll ich etwas erzählen, und dabei weiss ich eigentlich nicht einmal recht, ob es mir zur Ehre gereicht oder nicht, denn von keinem andern Beruf kann mit so viel Recht gesagt werden, es komme nur darauf an, wie man ihn ausübt. Der Theologe, der Advokat, der Mediziner, der Lehrer, alle müssen strenge Prüfungen passieren, bevor sie ihren Beruf ausüben dürfen. Das ist zu Nutz und Frommen des Volkes in allen ordentlich regierten Ländern eingeführt. Dagegen hat sonderbarerweise jeder Mensch ohne weiteres das Recht, den Beruf eines Zeitungsschreibers, den einflussreichsten und gemeingefährlichsten von allen, auszuüben. Ich halte das, offen gestanden, ungeachtet meiner Überzeugung, dass die Pressfreiheit in der Republik unentbehrlich sei, für einen Übelstand. Nicht dass ich mir einbildete, die Welt sähe wesentlich besser aus, wenn die Ausübung des Journalistenberufes von dem Bestehen einer Fachprüfung abhängig gemacht würde. Der gewissenlose Mensch bleibt gewissenlos, und ginge er summa cum laude durch sieben Examina 139 rigorosa. Aber das öffentliche Leben würde doch grossen Gewinn daraus ziehen, wenn nur wahrhaft gebildeten Menschen die Ausübung des Redaktorenberufes gestattet würde. Artikel einsenden soll jedermann dürfen; aber derjenige, der über ihre Publikation entscheidet, sollte unbedingt ein akademisch vielseitig gebildeter Mensch sein. Ist auch von der wissenschaftlichen Bildung nicht alles zu erwarten, so kann doch nicht geleugnet werden, dass sie wenigstens urteilsfähig macht, und darauf kommt es beim verantwortlichen Redaktor hauptsächlich an.
Als mich das Schicksal in die journalistische Laufbahn führte, war ich noch recht weit davon, Anspruch auf die Qualifikation als vielseitig gebildeter Mensch erheben zu dürfen, trotz wohlerworbenem Doktorhut und Studien an vier Universitäten. (Den grösseren Teil meines höchst bescheidenen Wissens erwarb ich dann eben im Zeitungsdienst.) Ich musste froh sein, zunächst – ohne einen Batzen Lohn – den Frühdienst als Stellvertreter besorgen zu dürfen. Bei der nächsten Vakanz wurde ich dann als Redaktor für Lokales und Handlanger für die Sonntagsbeilage angestellt. Eine Feuilletonredaktion hätte man damals für einen unverantwortlichen Luxus gehalten. Es gab viel Arbeit und sehr wenig Lohn, und 140 doch gäbe ich diese schwere Lehrzeit nicht billig. Sie hat mir für vieles die Augen aufgetan.
Der Frühdienst, der immer mehr zu einem Nachtdienst wurde, brachte mancherlei amüsante Erlebnisse mit sich. Den Charme unserer lieben alten Stadt lernte ich nie eigenartiger kennen, als wenn ich so zur Winterszeit die nächtlich stillen Lauben durchwanderte und meine eigenen Schritte an den Gewölben widerhallen hörte. Es gab so eine Stunde, in der es unglaublich still war in den Gassen. Ausser Katzen und Polizeipatrouillen, die auf gleich leisen Sohlen gingen, traf man kein Lebewesen. Da hätte man sich nicht gewundert, eine Gestalt aus dem 18. Jahrhundert vorüberhuschen zu sehen oder eines der von Hedwig Correvon heraufbeschworenen Gespenster.
Einmal, als ich nach getaner Pflicht in stockfinsterer Nacht nachdenklich über die Nydeckbrücke hinauswanderte, war mir plötzlich, als schwebte jemand neben mir in freier Luft. Ich blickte auf und sah einen Mann ausserhalb der Geländermauer stehen, mitten auf dem grossen Bogen. «Was machet Dir da?» fragte ich. «Das isch my Sach», antwortete der Unbekannte. «Chömet übere!» befahl ich. «Das isch kei Platz für bravi Lüt, da usse.» – «I cha dänk sy, wo's mir gfallt.» 141 – «Nüt da! Chömet übere!» Ich packte den Unglücklichen am Kragen. Und nach kurzem, immerhin mir nicht gerade gemütlichem Widerstreben brachte ich ihn herüber. Ich führte ihn mit mir bis zum Bärengraben und redete ihm ins Gewissen. Als ich mich überzeugt hatte, dass er sich dem Aargauerstalden zuwandte, ging ich meines Weges weiter. Ein andermal sah ich, heimkehrend, in der Schosshaldenstrasse ein schwarzes Tier auf mich zukommen. Dass es kein Hund sei, erkannte ich gleich am Gang; aber um diese Zeit ein verirrtes Schaf auf der Strasse anzutreffen, darauf war ich nicht gefasst. Ich liess es seines Weges ziehen und ging heim. Da war mein Arbeitskollege, der Metteur en pages, gewissenhafter. Als er auf dem Weg zum Frühdienst an der Kramgasse einem entlaufenen Schwein begegnete, trieb er es auf die Polizeiwache, wo es zuhanden des glücklichen Besitzers entgegengenommen wurde. Dieser, statt sich dem Finder erkenntlich zu zeigen, machte meinem Kollegen noch Vorwürfe, er habe seine Schweine auf nächtlichen Promenaden nicht zu belästigen.
Die Aufgabe des Nachtredaktors bestand darin, die letzten Nachrichten zu redigieren, zu ordnen, im Bürstenabzug zu lesen und einen letzten Blick auf das fertige Blatt zu 142 werfen. Die Arbeit war nicht so einfach, wie der verehrte Leser es sich vielleicht vorstellt. Es galt immerhin zu entscheiden, was wichtig und unwichtig sei, und die manchmal in bedenklicher Verstümmelung einlaufenden Depeschen mussten in verständliches Deutsch gebracht werden. Sie kamen von einem Bureau der Havas. Erhielt man sie in der französischen Fassung, war's gut; kamen sie jedoch in verdächtig lautender Übersetzung, so war guter Rat teuer, und es gehörte mitunter schon etwas journalistisches Flair dazu, ihnen die richtige Wendung zu geben. Ich erinnere mich einer Depesche, die zur Zeit von Kaiser Wilhelms Aufenthalt in Rom bei uns einlief. Die lautete: «Kaiser Wilhelm konferierte mit Rampolla im Schwarzen Adler.» Auf gut Glück redigierte ich: «Kaiser Wilhelm hat Rampolla den Schwarzen Adler-Orden verliehen», was sich dann auch als zutreffend herausstellte. Schon rätselhafter klang jene andere Depesche, welche meldete, ein mit Krokodilen beladener Dampfer sei vor Belgrad an einen Brückenpfeiler gestossen und gesunken. Es hätte heissen sollen, der Dampfer «Krokodil» sei angestossen und gesunken. Dieses Entziffern in stiller Nachtstunde, wo jedes Fragen und um Rat telephonieren ausgeschlossen blieb, war für einen jungen Mann 143 eine recht gesunde Übung und zwang einen, sich tüchtig auf dem Laufenden zu halten.
Der Nachtdienst an einer Zeitung ist anstrengend und kann bei zunehmender Müdigkeit qualvoll werden; aber er ist, wie man sieht, nicht ohne Reiz, und anderseits ist der Tagesdienst mitunter noch schwerer. Wehe dem Redaktor, der nicht mit Humor gewappnet an seine Arbeit geht! Solange man ungestört arbeiten kann, ist es eine Lust; wenn einmal das Telephon zu funktionieren beginnt, hört die Behaglichkeit auf. Aber der schrecklichste der Schrecken ist das liebe Publikum. Es wird um so furchtbarer, je mehr Respekt man ihm schuldet, wie folgendes Exempel beweist.
Der Zwölfiherr war eine Respektsperson erster Güte, ein Mann, dem man übrigens nicht nur pflichtschuldigst, sondern ganz von Herzen die höchste Achtung zollte; aber – er gehörte zur «Redaktionsphyloxera», indem er immer um 12 Uhr erschien, wenn man schon den Hut in der Hand hielt, und dann mit erbarmungsloser Ausdauer seine Anliegen vorbrachte. Da halfen die höflichsten und dringendsten Formen des Hinausdrängens nichts, und grob werden – das gab's ihm gegenüber nicht. Also, der Zwölfiherr kam. Er trat in die Haustür. Es war absolut unmöglich, 144 die dringende Arbeit zu bewältigen, wenn man sich mit ihm einliess. Was tun? – In meiner Verzweiflung raffe ich meine Papiere und das Schreibzeug zusammen, entwische in das hinter der Redaktionsstube liegende Papiermagazin und richte mir einen Ballen als Schreibtisch ein.
Es klopft an der Korridortüre – klopft wieder – klopft zum drittenmal. Leise Schritte gehen zum Redaktionszimmer. Es pöpperlet – poppelt – poltert. Ich verhalte den Atem. Jetzt nur nicht niesen müssen! Die Türe zum Redaktionszimmer geht auf. Schritte, ein Stuhl wird gerückt. Dann bleibt es still. Unten hört man die Setzmaschinen rasseln, die Schnellpresse surren. Ich schreibe, schreibe, bis mir irgend etwas fehlt, das ich zur Arbeit brauche. Ich horche auf. Totenstille. Jetzt ist er doch wohl fort. Vorsichtig trete ich an die Tür und lausche. Es regt sich nichts. Hinein! Da sitzt der Zwölfiherr an meinem Platz. – Gott im Himmel! Das geht über mein Vermögen. Aber was will ich? Man lernt alles, wenn man muss. Und so gelingt es mir, auch da alle schuldige Höflichkeit aufzubringen. Und das Blatt ist doch fertig geworden, zur rechten Zeit, und war gewiss nicht die schlechteste Nummer. Man kann alles, wenn's sein muss.
Wir hatten noch andere gleichartige 145 Kunden, die an unserer menschlichen Vervollkommnung arbeiteten, so zum Beispiel einen sehr scharfsinnigen Juristen, der keinen Artikel ablieferte, ohne dann mindestens noch dreimal vorzusprechen, um das Manuskript abzuändern, einen Lehrer, der einem stundenlang Vortrag hielt, böse wurde, wenn man abbrechen wollte, und bis in die Wohnung nachlief, wenn man ihm zu entrinnen suchte. Und dann die vielen, die einem mit ihrer schandbaren Handschrift das Leben sauer machten und noch die Beleidigten spielten, wenn ein Wort falsch entziffert wurde!
Für seine Mühsal findet der Lokalredaktor Entschädigung in manchem nicht alltäglichen Besuch. Was da für Käuze auftauchen! Ein amüsantes Kontingent stellen die Globetrotter, Akrobaten, Riesen und Zwerge. Kam doch einmal ein Zirkusbesitzer mit einem hübschen Pferdchen von mehr als meterhohem Widerrist in den zweiten Stock hinauf. Es stellte die Tragkraft des Zimmerbodens nicht schwerer auf die Probe als der Riese Pisiak, der unsern Ausläufer wie einen Liliputen auf der einen Hand schaukelte. Eines Tages erschien ein bekannter Komiker mit einem gewaltigen Paket und machte uns Enthüllungen über die Geheimnisse einer Dame, die sich als Riesin in einer Wirtschaft produzierte. Sie war wirklich 146 sehr gross, auch ohne den griechischen Götterhelm, den sie auf dem Haupte trug, um den Eindruck ihres Übermasses zu verstärken. «Aber ein Schwindel ist doch dabei», sagte der Komiker, «schauen Sie nur her!» Damit schlug er die Hüllen des Pakets auseinander und legte einen ungeheuren Schuh auf den Tisch, in dessen Schaft ein Damenschuh von gar nicht so abnormen Dimensionen eingebaut war. «Den habe ich der Riesin unterm Bett weggenommen», erklärte der Komiker. Wir waren aber gar nicht geneigt, auf die Enthüllungen einzutreten, denn einen Krawall auch mit der reduzierten Riesin zu bestehen, hatte niemand Lust.
Von den politischen Katzbalgereien und Verärgerungen fange ich hier gar nicht an; sie gehören zu den Selbstverständlichkeiten des Berufes. Ich habe auch darin viel Bitteres erlebt, Schnödigkeiten, die schwer zu vergessen sind. Und trotz alledem sage ich: Journalist sein ist ein schöner, ein innerlich so bereichernder Beruf, dass er es verdiente, ein wenig schwerer zugänglich gemacht zu werden. Kein anderer Beruf bietet so viel Gelegenheit, mit bedeutenden Persönlichkeiten aller Fächer und Richtungen in Verkehr zu treten wie das Amt eines Redaktors. Staatsmänner, Gelehrte, Künstler gehen da ein und aus und vertrauen 147 einem ihre besondern Sorgen an. Und wenn man neunundneunzigmal seine Zeit mit ihnen verlieren würde, so hat man den unschätzbaren Vorzug, am hundertsten Mal einer grossen, der Menschheit nützlichen Sache Vorspann leisten zu dürfen. Das entschädigt reichlich genug.
*
Falsch wäre es aber, zu glauben, Rudolf von Tavel hätte in den Anfängen seiner journalistischen Laufbahn keine Zeit übrig gehabt für Nebenarbeiten, die ihm gewiss näher am Herzen lagen als die Lokalspalte.
Als er aus Heidelberg zurückkehrte, war sein Sinn erfüllt von den eben vollendeten Dramen. Sollte man sie in Bern nicht aufführen können? Besass nicht die Philadelphia, ein Verein junger Männer für Geselligkeit und Bildung auf christlicher Grundlage, den man 1885 zu gründen mitgeholfen hatte, eine Anzahl spielfreudiger Talente in ihren Reihen? Das Stadttheater, dem man den «Major Davel» auch vorgelegt hatte, lobte zwar das Stück, lehnte aber eine Aufführung als zu kostspielig ab; vielleicht war dieser übliche Bescheid, der am Anfang fast jeder Dramatikerlaufbahn steht, in Tavels Fall wirklich gerechtfertigt, denn das Werk forderte die Besetzung von mindestens zwanzig Sprechrollen und 148 verlangte für seine fünf Aufzüge nicht wenig Bühnenaufwand. Die 46 Spieler in der Philadelphia und unter Freunden und Bekannten aufzubringen, ihnen die passenden Rollen zuzuweisen, Absagende zu ersetzen und Missvergnügte zu beschwichtigen: dies alles war eine äusserst mühselige Arbeit für den Autor, der sich am Ende noch entschliessen musste, die Hauptrolle selber zu übernehmen. Eine besondere Schwierigkeit bot die Besetzung der Frauenrollen. Zuerst wollten sich keine Damen bereit finden; als man sie endlich gewonnen hatte, erhob sich Widerspruch im Verein; um Taktlosigkeiten zu vermeiden, übertrug man die beiden Frauenrollen zwei jungen Männern, wogegen nun wieder einige Mitwirkende protestierten! Aber es blieb dabei, und die Kritik lobte dann ganz besonders Spiel und Darstellung der Katharina . . .
Am 3. Februar 1892 fand im grossen Saal des alten Casino vor dicht besetzten Bänken die Aufführung des «Major Davel» statt. Der Erfolg war stark, am 11. musste die Aufführung wiederholt werden. Eine gewisse Sensation lag für das Berner Publikum in dem Umstand, dass in einer Zeit nervöser politischer Spannung zwischen Bern und der Waadt ein Trauerspiel um die Person des unglücklichen einstigen Waadtländer Rebellen durch 149 einen Berner Patrizier geschrieben und in Szene gesetzt wurde. Auch Tavels Vater fühlte sich von dieser Tatsache schwer betroffen. Die Waadtländer Presse richtete gegen die Dilettantenaufführung in Bern scharfe Ausfälle, nur die «Gazette de Lausanne» wurde dem Charakter des Stückes gerecht, das ja gerade in dem tragischen Helden dem Märtyrer der waadtländischen Freiheit ein Denkmal setzte, allerdings ohne die bernische Herrschaft zu schmähen.
Rudolf von Tavel hat in seiner gewissenhaften Art die Umstände, unter denen «Major Davel» gespielt, und die Urteile, mit denen er von der Öffentlichkeit aufgenommen wurde, in einem dauerhaften Heft verzeichnet und die Pressekritiken mit seinen eigenen Bemerkungen kommentiert. In diesen Aufzeichnungen verwahrte er nicht nur sich selber gegen die Missdeutungen, die sein Werk erfahren hatte, und setzte er sich nicht bloss mit seinem Vater auseinander, dessen Widerstand bewirkt hatte, dass Tavel «die Bühne mit blutendem Herzen betrat»; er wollte vielmehr, nicht ohne jenen schalkhaften Gleichmut, der ihn schon damals standhaft machte, nach den Mühsalen des Kampfes und dem Rausch des Sieges «nachrechnen, was ihn der erste Lorbeer gekostet hatte». Dass er bei der zweiten 150 Aufführung unter den Zuschauern auch den wieder ausgesöhnten Vater bemerken durfte, wog für ihn wohl schwerer als alle Erfolge.
Eine ganze Reihe von dramatischen Dichtungen folgte in den nächsten Jahren diesem verheissungsvollen, wenn auch widerspruchsvoll beurteilten Anfang. «Der Sandwirt von Passeyer» wurde aufgeführt, dann in Prosa umgearbeitet und wieder aufgeführt. Grossen Erfolg erzielte im Stadttheater das Lustspiel «Die Weiber von Schorndorf», womit er in Konkurrenz zu einer Heyseschen Bearbeitung des gleichen Stoffes trat. Das Versdrama «Johannes Steiger oder Der Gattin Vermächtnis» schöpfte aus dem Quell bernischer Geschichte und war, nach den Erfahrungen mit dem «Major Davel», ausdrücklich den Vätern und ihrem ruhmvollen Gedächtnis geweiht. Aber als der Schauspieler Weigel die Premiere des Stückes, in dem er als Schultheiss Nägeli auftrat, am 1. Februar 1895 zu seinem Benefizabend wählte, hatte er sich doch verrechnet: die guten Berner blieben der Aufführung fern, es wurde vor fast leeren Bänken gespielt, und der betrübte Autor legte dem betrübten Benefizianten aus der eigenen Tasche zu. Der «Bund» tadelte die Altberner, die ihren Tavel im Stich gelassen hatten: «Diese Leute, man 151 muss es sagen, halten auf die Überlieferung der Rasse, die dahin geht, einen Poeten aus ihrer eigenen Mitte, heisse er nun Haller oder Muralt oder Tavel, nur ja nicht zu ermutigen.» Und Rudolf von Tavel selber rächte sich elegant, indem er am Tage nach der verunglückten Premiere ein keckes Liedchen schrieb und es auch in der Sonntagsbeilage seines Blattes veröffentlichte mit der deutlichen Adresse: «Denen, die mich am 1. Februar im Stich gelassen, ins Stammbuch.» Das Gedicht lautet:
Finkenschlag | |
Auf kahlem Baume sitzt ein Fink Und jubiliert drauf los. Er fliegt und hüpft so frisch und flink Und preist sein lieblich Los. Er achtet nicht des Winters Schnee, Er denkt: «Ich singe halt wie's kommt, 152 Und wer mein Lied nicht hören will, Der Fink, der hat mir's angetan, Was kümmert's mich, ob man mich hört; Doch wölbt sich einmal über mir |
Gute Aufnahme fand «Der Twingherrenstreit», der zugunsten des Lerbergymnasiums von Dilettanten gespielt wurde, und auch das soziale Schauspiel «Die Walzgesellen», das die Philadelphia auf die Bretter brachte, während das Schauspiel «Amor und Psyche» vom Dichter selber als ein verfehlter Versuch bezeichnet wurde.
Mit dem Dichternamen Rudolf von Tavel 153 werden alle diese dramatischen Werke nicht verbunden bleiben; sie haben ihre Wirkung getan, haben Erfolg oder Misserfolg geerntet, aber keine Spuren in der Entwicklung des schweizerischen Dramas hinterlassen. War der Griff nach dem Lorbeer des Dramatikers ein Fehlgriff? Er war wohl eher eine Gebärde im Sinne jener Zeit, die mit dem Ästhetiker Friedrich Theodor Vischer das Drama als die absolut höchste Form der Dichtkunst betrachtete und die ihr Streben mehr nach ästhetischen Paragraphen als nach innerer Veranlagung regeln zu können glaubte. Die Erkenntnis, dass er kein Dramatiker von Geblüt war, trat Rudolf von Tavel erst ins Bewusstsein, als er ein grosses Problem, das er aus seiner eigenen Seele und nicht aus dem Anekdotenschatz der Geschichte geschöpft hatte, in dramatischer Form gestalten wollte; es auch unter Aufbietung aller Kräfte gestaltete, aber einsehen musste, dass es die dramatische Form gesprengt und aufgehoben hatte. Dies war der Fall mit dem nie veröffentlichten und nie aufgeführten Drama «Der Söldner», das einen Wendepunkt in Tavels dichterischer Entwicklung bezeichnet.
In seiner schon damals klaren, beherrschten Handschrift geschrieben, liegt das Werk in seiner ersten Fassung mit sieben Aufzügen 154 und einem Epilog vor uns. Das Titelblatt zeigt eine Federzeichnung des Dichters: rechts eine ferne, kahle Meeresküste, links eine Alphütte vor heimatlichem Tannenwald, zu der ein Kriegsmann auf dem Wiesenpfad zwischen den Steinblöcken emporsteigt. Er kehrt aus der Fremde heim, und das symbolische Stück behandelt denn auch «den Gedanken von der Rückkehr des in fremde Gebiete ausschweifenden Menschen in seine Heimat». Zugrunde lag diesem symbolischen Geschehen die religiöse Vorstellung, «dass die Schöpfung dem Schöpfer entwendet, alles Ideale und Schöne, das zur Verherrlichung Gottes bestimmt, von den Menschen zu ihrer eigenen Verherrlichung entrissen worden sei. Alles muss Gott wieder dargebracht, alles seiner ursprünglichen Bestimmung zurückgegeben werden. Der Mensch selber, in die Irre gegangen, muss heimkehren. Von diesem Gedanken war ich in jener Zeit aufs tiefste ergriffen, ja vollkommen beherrscht», fügt Tavel später einer kurzen Umschreibung des Stückes bei und erklärt geradeheraus: «Die Heimkehr des Söldners ist meine Heimkehr zum inneren Frieden, in die Freiheit der Kinder Gottes.»
Es ist tief bedeutungsvoll, dass der von solchen Gedanken erfüllte Dichter sich in Bern ausgerechnet an den Freigeist J. V. Widmann 155 im entgegengesetzten politischen Lager wenden musste, um Verständnis und Anerkennung für sein Werk zu finden. Er stand, seitdem er den älteren, angesehenen Kollegen persönlich kennen gelernt hatte, mit ihm in einem respektvollen Verhältnis offenen Gedankenaustausches. Widmann, der Tavels Entwicklung mit fördernder Anteilnahme verfolgte, hatte des jungen Dichters Werke mehrmals mit brieflichen Kritiken beantwortet, die wesentlicher und wertvoller waren als die gedruckten. Er hatte ihn, wie früher schon Wildenbruch, auf die Erzählung hingewiesen, die seinem Talent angemessener zu sein scheine, und er hatte ihm bei der Aufführung des «Twingherrenstreits» seine Begabung für echten Humor attestiert. Nun schrieb er ihm am 12. Februar 1899 nach der Lektüre des «Söldners» einen ausführlichen Brief, der Gesamtheit wie Einzelheiten des Stückes liebevoll, doch ohne Floskeln und Flausen unter die kritische Lupe nahm, der lobte und rügte und dem Verfasser wie ein vielstimmiges Echo auf sein Werk vorkommen musste. «Gehen wir auch», schrieb Widmann, «mit unsern religiös-philosophischen Anschauungen und Gedanken wohl sehr weit auseinander, so habe ich mich unter dem Phantasie- und Gefühlseindruck Ihres Werkes doch ganz auf Ihren 156 Standpunkt stellen können und darf sagen, dass ich dieses mit herzlicher Rührung gelesen habe.» Der Brief schloss mit der Versicherung, dass der «Söldner» bei all seinen Mängeln in viel höherem Grade als alles, was Widmann bisher von Tavel gelesen, ein dichterisch empfundenes Werk sei, und mit der Mahnung: «Bevor Sie nun aber in eine Dichtung, die Ihr intimstes Seelenleben aufschliesst, die ganze Welt hineinblicken lassen, in der es nicht an kalten spottsüchtigen Gemütern fehlt, überlegen Sie recht, wie Sie Ihr Werk möglichst unanfechtbar gestalten können.»
Es gab für Tavel in dieser Richtung nicht mehr viel zu überlegen. Der Konflikt, in dem er sich befand, hatte religiöse Untergründe; der Eintritt seines Bruders in die Heilsarmee, damals ein Ereignis von aufregender gesellschaftlicher Bedeutung, stellte die landeskirchlich gesinnte Familie vor ernsthafte Auseinandersetzungen und den Dichter vor die Gewissensfrage, ob er «als aufrichtiger Christ fernerhin für das seiner ursprünglichen Bestimmung entwendete Theater arbeiten solle. Nach meiner Überzeugung soll alle Kunst zur Verherrlichung Gottes, der sie den Menschen geschenkt, dienen, auch wenn das Religiöse darin nicht unmittelbar zum Ausdruck kommt. Da ich zu keinem sicheren Schluss gelangen 157 konnte, wandte ich mich, trotzdem ich mein Carnet noch voll Ideen für dramatische Arbeiten hatte, der Novelle zu.»
Mit dieser Überlegung, die gewiss noch ganz andere, in seiner schöpferischen Veranlagung ruhende Beweggründe hatte, kehrte um die Jahrhundertwende Rudolf von Tavel einer bisher recht eifrig betriebenen dramatischen Tätigkeit den Rücken. Was er in Zukunft auf diesem Gebiet noch schaffen sollte, waren reizende historische Miniaturen wie «Im Char à banc» (1910) oder Dramatisierungen von Novellen wie «Di gfreutischti Frou» (1922, nach «Bim Wort gnoh») und «Par respect de l'amour» (1925, nach «E Häxechuchi») oder bestellte Gelegenheitsarbeiten wie «Der Sterkscht isch Meischter» (1919, zugunsten des Fürsorgevereins für tuberkulöse Kranke der Stadt Bern) und «Zwöierlei Schatzig» (1926, zur Hundertjahrfeier der Mobiliarversicherungsgesellschaft) und endlich «Der Heimat einen ganzen Mann», ein Bubenberg-Stück, das 1930 als Festspiel zum 25jährigen Jubiläum der Berner Vereinigung für Heimatschutz im Schlosshof von Spiez, also vor historisch echten Kulissen uraufgeführt wurde. Eine Ausnahme vom äusserlich bedingten Anlass zum dramatischen Schaffen, der seit dem «Söldner» die Regel war, machte nur 158 noch das Spätwerk «Caravaggio», das den Konflikt eines Künstlers in seiner Umwelt zu gestalten sucht und in dem Tavel Probleme verdichten wollte, die ihm damals, inmitten grosser epischer Arbeiten und auf der Höhe seiner Erfolge als Erzähler, besonders am Herzen lagen. Das Werk entstand sehr rasch im Spätherbst 1928; es bedeutet jedoch keine nachträgliche Widerlegung des vor dreissig Jahren gefassten Entschlusses, «es mit dem Erzählen zu versuchen». Das Drama vom heimkehrenden Söldner kennzeichnet auch für seinen Dichter die Heimkehr in eine künstlerische Heimat, die er auf Umwegen erwandern musste, ehe er sie betreten und sein eigen nennen durfte.
Einen Weggefährten nicht nur für sein Leben, sondern auch in seiner künstlerischen Entwicklung hatte er in Frau Adele geb. Stettler gefunden, mit der er sich am 10. Mai 1894 verheiratete. Feinhörige Leser seiner Feuilletons im «Tagblatt» mochten den Unterton einer Plauderei im September des vorhergehenden Jahres als Wetterzeichen dafür deuten, dass für sein Junggesellentum Gefahr im Verzug sei.
Er hatte dem Baugerüst auf dem Münsterturm einen Frühmorgenbesuch abgestattet, um der Jungfrau, «welche zeitlebens am 159 Trümmelbach sitzt und ins schöne Bernerland hinausschaut, ohne ein Wort zu reden», seine Aufwartung zu machen. «Der Jungfrau am Trümmelbach ist es ganz egal, ob ein edler Jüngling im Schweisse seines Angesichts und beinahe mit Lebensgefahr auf den Münsterturm klimmt, um sie zu betrachten. Ein Kind der Zeit, verlangt sie von ihren Anbetern, dass sie sich ihr mit teuren Wengernalpbahnbillets in der Tasche nähern. Wer das nicht tut, riskiert eben, dass die Holde im entscheidenden Moment das Umhängli zieht, und dann hat er sie gesehen.
Also auch die bernischen Jungfrauen! Ja, loset jitz nume! Ob ein Anbeter den Kampf der Tugend kämpft, ob er noch so sehr sich abmüht, aus sich selber etwas Rechtes zu machen, sich in allen Dingen zu vervollkommnen und die höchsten Höhen der Menschheit zu erklimmen, das ist den verehrtesten Angehörigen des allein guten Geschlechts würster denn wurst. Da heisst es einfach: Hast du soundsoviel teure Eisenbahnaktien oder gleichwertige Billets in der Tasche, so bin ich zu haben; sonst aber nicht. – Was ist die Folge? Dass Hunderte von ihnen am Trümmel oder sonst einem Bach sitzen bleiben, weil bei dem grässlichen Zudrang an den Papierschaltern die bescheidenen und tugendhaften Jünglinge 160 neben hinausgedrückt werden und den grünen Zweig nicht erwischen können. Ja, so ist's. Wär's nid gloubt, cha's sälber gseh.
Nun wird mir's kein Leser verargen, wenn ich konstatiere, dass es immerhin Fälle gibt, wo meine Vergleichung nicht stimmt. Vor allen edlen Jungfrauen, die sich durch dieselbe nicht betroffen fühlen, ziehe ich hiemit den Hut ab bis a Bode und sage feierlich: Nüt für unguet; dir söllet hoch läbe!»
In seiner Gattin besass der Dichter eine getreue Helferin bei seinem Schaffen und die verständnisvollste Beurteilerin seiner Werke. Ihr gesundes, nüchternes Urteil rühmte er schon früh. So sah der Maler Wilhelm Balmer das Paar: ihn auf der Gartenterrasse im grünen Schatten der blühenden Apfelzweige stehend, sie am Tische sitzend, mit der Feder in der Hand seinem Gedankengang folgend. Vier Jahrzehnte einer glücklichen Ehe verbanden die beiden, tiefer noch die Kraft einer gemeinsamen Welt- und Lebensanschauung. Die Liebe ihrer Herzen, der eigene Kinder versagt blieben, nährte sein Lebenswerk, nicht nur das künstlerische, und machte ihr Heim für viele, nicht am wenigsten für die heranwachsende Schar der Neffen und Nichten, zu einem Ort, an dem das Vertrauen gedieh und die Hilfe sich aus unerschöpflichem Vorrat 161 verschenkte und wo die wärmende Herdglut menschlicher Güte jeden Gast wohlig umfing.
Zuerst bezog das junge Paar eine kleine Wohnung am Waisenhausplatz, einige Jahre darauf siedelte es ins väterliche Haus in der Schosshalde über, die für Rudolf von Tavel die eigentliche irdische Heimat war und blieb. Beide Male gab ein Feueralarm dem Wohnungsbezug die höhere Weihe. Denn Tavel tat in jenen Jahren mit Leib und Seele Dienst in der Feuerwehr; er war zwei Jahre lang noch einfacher Löschmann, als er im Militär schon den Rang eines Oberleutnants und Regimentsadjutanten bekleidete, später während vielen Jahren Offizier. Er gestand, von Kindsbeinen an eine besondere Liebhaberei für Feuersbrünste und ihre Bekämpfung besessen zu haben. Als Offizier stand er zu gewissen Zeiten «auf Pikett» und musste Tag und Nacht des dringlichen Appells durch den «Haspel», die Feuerglocke auf dem Münsterturm, gewärtig sein. So auch an dem Tage, da er vom Waisenhausplatz in die Schosshalde übersiedelte. Er legte deshalb, während der Hausrat verpackt und weggetragen wurde, der Frau die «Montur» mit Helm und Beil besonders ans Herz: nicht dass man lange nach ihr suchen müsse! «Es wird de hütt nid grad brönne», dachte die Frau optimistisch bei sich und legte die 162 Uniform beiseite. Abends spät zog man beim Schein von Kerzen und Petroleumlämpchen in der Schosshalde ein und sank müde in die Kissen. Plötzlich Feueralarm, der Quartierpolizist stand unter dem Fenster und schrie Fürio. Auf! Die Uniform war rasch gefunden, aber wo blieben der Helm mit dem schönen weissen Busch und das blinkende Beil? Grosse Aufregung. Die ganze Familie suchte in der finstern Nacht, alles wurde durcheinander gebracht, Kisten und Kasten geöffnet und ihres Inhalts entleert. Kein Helm, kein Beil war zu fassen. Schliesslich musste der Brand im Altenberg auch ohne diese Wehr und Waffen bekämpft werden. Tags darauf fand sich beides wieder in einem zurückgebliebenen Kleiderschrank in der alten verlassenen Wohnung . . .
An jene Zeiten erinnert ein launiger Aufsatz, den Rudolf von Tavel 1931 im «Berner Tagblatt» veröffentlichte:
Im alten Berner Stadttheater
In drei verschiedenen Eigenschaften hatte ich Gelegenheit, dem alten Musentempel im Hotel de Musique hinter die Kulissen zu schauen: als Journalist und Theaterreferent, als dramatischer Autor und als Feuerwehroffizier. Und in allen drei Eigenschaften 163 erlebte ich Heiteres und Ernstes mit dem alten, während langer Jahre den bernischen Verhältnissen vorzüglich angepassten Kasten und seinen Künstlern.
Was ich als Theaterreferent erlebte, dürfte wenig von dem abweichen, was andere Leute in dieser Eigenschaft auch hörten und sahen. Das Erfreulichste dabei war, dass man mit originellen Leuten, mitunter bedeutenden Künstlern, in Verkehr kam, und ich muss sagen, dass mir aus diesem Verkehr eine grosse Liebenswürdigkeit in Erinnerung geblieben ist, hinter welcher das Absonderliche weit zurückbleibt. Kam es auch etwa vor, dass ein Schauspieler, der sich durch die Kritik ungerechterweise betupft fühlte, auf der Redaktionsstube erschien und sich beschwerte, so brachten die Besuche liebenswürdiger junger Damen von der Bühne ein höchst willkommenes Gegengewicht in den grauen Alltag des Redaktionsbetriebes. In noch engeren Verkehr mit dem Personal kam ich als Autor. Doch war da die Berührung mit den Darstellern in der Regel nur sehr vorübergehend, während ich mit denjenigen Leuten, welche während langer Jahre an unserem Stadttheater in Stellung blieben, schon näher vertraut wurde, so mit dem höchst originellen Direktor Julius Nicolini. Welcher Direktor unseres heutigen Theaters 164 würde sich mit einem Bureau zufrieden geben wie dem Raum, in welchem Nicolini unter Assistenz einer alten Schauspielerin, die als Sekretärin funktionierte, und des Souffleurs seines schwierigen Amtes waltete? Dieses Bureau befand sich im nördlichen Flügel der an die Französische Kirche angebauten Kaserne und diente nebenbei noch als Atelier für das Flicken und Zusammenkleistern von allerhand Requisiten. Als Heizung diente ein offenes Kohlenbecken unter dem Schreibtisch. Ich muss heute noch den göttlichen Humor bewundern, mit welchem Nicolini hier seine Besucher empfing.
Die eigenartigsten Theatererlebnisse sind mir aber doch in meiner Eigenschaft als Feuerwehroffizier zuteil geworden. Man kam oft an die Reihe und lernte so nicht nur das seltsame Theatergebäude gründlich kennen, sondern auch das Personal mit seinen Gewohnheiten und Schrullen, die ganze Garderobe und den Dekorationsapparat. Es gab da Kleidungsstücke, die nachgerade in jedem Stück irgendwie Verwendung fanden, sofern die Handlung in die Vergangenheit wies. Ein gewisser mit Pelz verbrämter Samtmantel diente in allem, was im Zeitraum von der Ritterzeit bis nahe an die Gegenwart sich abspielte. Wie bescheiden war der Reichtum an 165 Dekorationen! Dennoch tat der Apparat seinen Dienst und versetzte die nüchternen Berner in eine romantische Vorstellungswelt. Es gab freilich dank der Enge des Raumes auch Situationen, in denen das Erhabene und das Zwerchfellerschütternde unheimlich nahe beieinander waren. Es ist heute beinahe nicht mehr zu verstehen, wie man in einem so engen Rahmen Szenerien zuwege brachte, wie sie etwa «Der fliegende Holländer» oder die Wolfsschlucht mit ihren Ungeheuern im «Freischütz» erfordern. Die Kulissenschieber hatten ihre ganz besondere Nomenklatur, die man erst nach und nach verstehen lernte. Wie oft hörte ich den Theatermeister in den Schnürboden hinaufrufen: «Churzgotisch abe!» oder auch «Halbgotisch!» Wundervoll in ihrer Volkstümlichkeit, aber leider hier nicht wiederzugeben, waren die Glossen, mit welchen Bühnenarbeiter und «Brandkörpsler» gelegentlich die Vorgänge auf der Bühne bedachten.
Uns Feuerwehrmännern war ganz gehörig eingeschärft, welche Verantwortung wir trugen. Hätte man es mit dem Dienst nicht ernst genommen, so wäre das alte Haus und mit ihm das ganze schöne Hotel de Musique schon vor Jahrzehnten ein Raub der Flammen geworden. Während meiner Dienstzeit fing es mehrmals Feuer; aber man wurde seiner immer 166 rechtzeitig Herr. Einmal in der Mittagszeit brach das Feuer aus dem unter den Sperrsitzen befindlichen Ofen durch den Boden, und die Stichflamme loderte bis an die Decke des Zuschauerraumes auf. Vor Beginn der Vorstellung wurde jeweilen die zum Theaterdienst kommandierte Mannschaft im nahen Polizeigebäude inspiziert. Dann marschierte man mit vergitterten Laternen, die an bestimmten Stellen aufgehängt werden mussten, und anderem Material ins Theater, kontrollierte den Signalapparat und die Wasserleitungen. Ein Mann wurde auf den Estrich über den Zuschauerraum kommandiert, der sich zu überzeugen hatte, ob die nach der vorhergehenden Vorstellung behufs Entleerung der Röhrenleitungen geöffneten Hahnen geschlossen seien. Auf sein Zeichen hin wurde unten im Souterrain der Haupthahn geöffnet und damit das ganze Röhrensystem unter Druck gesetzt. Wehe nun, wenn nicht richtig signalisiert wurde! Es kam einmal vor, dass das Wasser vorzeitig in den Dachraum aufstieg, in den Schlauch des dortigen Hydranten schoss und ihn in einen wild sich ringelnden Lindwurm verwandelte, der durch die Kehle des Wendrohrs den vollen Strahl ausgerechnet in die Bassgeigenecke des Orchesters hinunterjagte. Zum Glück war solches schon vor meiner Zeit 167 vorgekommen; man war dadurch gewarnt und nahm es um so genauer mit den vorgeschriebenen Funktionen.
Mit dem Dienst während der Vorstellungen war die Feuerwehrpflicht aber noch nicht erfüllt. Der Rondeoffizier hatte in später Nachtstunde das ganze Theater vom Keller bis in den Estrich noch einmal zu begehen. Da stiess man denn manchmal auf gespensterhafte Erscheinungen, je nach der Ordnung, in welcher die Darsteller ihre Garderoben zurückgelassen hatten. Nach einer Wallenstein-Aufführung fand ich mich einmal bei düsterem Laternenschein in einer feierlichen Versammlung von den Wänden entlang aufgestellten Harnischen, deren Helme alle auf einen Punkt in der Mitte des Raumes zu blicken schienen. Auf diesem Punkt aber stand – ein bis an den Rand gefülltes . . . Auch eine Illustration zu der Beschränktheit des Raumes im alten Musentempel!
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Im Jahre 1896 verliess Rudolf von Tavel die Redaktion und trat, «um seine pekuniäre Lage zu verbessern», die Stelle eines Direktionssekretärs bei der Schweizerischen Mobiliarversicherung an. Widmann sprach sein Bedauern aus, «dass die stadtbernische Presse 168 einen mir so werten Kollegen verliert; zugleich freue ich mich aber auch für Sie, dass Sie künftig in einem Ihnen besser zusagenden Berufe wirken können». Das war wohl ein liebenswürdiger Irrtum: der neue Beruf befriedigte Tavel keineswegs, aber er liess ihm etwas mehr freie Zeit, gab ihm die Abende und Feiertage zurück, schenkte ihm neben der materiellen Sicherstellung die Möglichkeit, sein künstlerisches Werk zu schaffen. Den Verdacht, er hätte die Bureaustunden zum Dichten missbraucht, wies Tavel stets in drolliger Entrüstung zurück; aber er bestritt nicht, dass es ihm schwer gefallen sei, sie abzusitzen und dass er oft den Abend herbeigesehnt habe, der ihn an sein Manuskript zurückkehren liess.
Die Jahre hatten den gereiften Sohn nun wieder an die Seite des Vaters geführt. Wie tief war das Verständnis, das er ihm jetzt entgegenzubringen wusste, wie tief auch das dankbare Gefühl, Bestes in seiner eigenen Art von ihm geerbt zu haben! «Wir waren in allen wichtigen Dingen ein Herz und eine Seele», bezeugte der Sohn lange nach dem Tode des Vaters, der am 10. September 1900 starb; von ihm leitete er die Lust am Theater her, die ihn selber beseelte, von ihm, der ein überaus klarer und gründlicher Denker war, sein 169 literarisches Darstellungsvermögen und seine Empfänglichkeit für den Geist der vaterländischen Geschichte. Abgeklärte Gerechtigkeit liess ihn jetzt urteilen: «Wenn er meinen Neigungen nicht nachgegeben hat, so geschah es aus Sorge um meine zukünftige materielle Existenz und vor allem, um mich vor sittlicher Versumpfung zu bewahren. Geniale Liederlichkeit war ihm ein Greuel. Dass mein Vater die erfolgreichere Zeit meines Schaffens nicht mehr erleben durfte, schmerzt mich noch heute, denn ich habe dem guten Mann in meinen Schuljahren viel Sorgen bereitet.»
Dieses schmerzliche Gefühl wich nie mehr aus Rudolf von Tavels Leben. «Erfolge hatte ich erst, als er nicht mehr da war», schrieb er noch zwanzig Jahre später seinem ältesten Bruder. Und dabei trennte eine so geringe Spanne Zeit den Tod des Vaters von dem grossen Durchbruch des Sohnes zu seinem schriftstellerischen Erfolg. Denn im Herbst 1901 lag auf den bernischen Büchertischen ein Werk, das endlich wieder einmal zum literarischen Stadtgespräch wurde, über dem man den Kopf schüttelte, aus vollem Herzen lachte und Tränen der Rührung vergoss.
Wie, einer hatte es gewagt und eine historische Novelle, «e luschtigi Gschicht us 170 truuriger Zyt», folgerichtig von Anfang bis zu Ende berndeutsch geschrieben, so wie er eben sprach und wie alle sprachen? – und nun sprachen alle davon und von dem wagemutigen Verfasser, Rudolf von Tavel.
Jä gäll, so geit's!