Hugo Marti
Eine Kindheit
Hugo Marti

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78 Der Vater

In der neuen Schule saß ein untersetztes Bürschchen, ärmlich gekleidet, mit rechtschaffener Stirn, mit verwegenen Augen: das beherrschte die Klasse. Ich kam aus der Stadt, ich war gewohnt, daß man mir gehorchte und sogar Tribut zahlte; nun traf ich mit einemmal auf einen entschlossenen Gegner, der Unterwerfung forderte. Wäre meine Bubenkraft ungebrochen gewesen, so hätten sich die Aussichten im Kampfe, der sich entspann, wohl die Waage gehalten. Doch ich war geschwächt und von vornherein in einem Nachteil, den mein Widersacher grausam und geschickt auszunutzen verstand: ich war lächerlich, weil ich nicht war wie die andern. Ich erschien in meinen farbigen Schottenstrümpfchen, in meinen 79 Gummigaloschen, mit meinem »Judenhut« unter den derber gekleideten Schulkameraden, als käme ich aus einer andern Welt, von einem bessern Himmel herunter. Eine Weile mochte die Erscheinung Eindruck machen; doch daß ich mich selber durchaus nicht zu ihr bekannte, ja sie verabscheute, spürten mein Gegner und seine Spießgesellen sofort heraus und so kannten sie meine Wunde (sie wucherte, ach, beinahe über den ganzen Körper hin und verbrannte mir die Haut.) Durch träfe, spottvolle Hinweise auf meine aufgeputzte Eigenart hetzte Köbi Glur, wann es ihm gefiel, seine Schar zu einer Verfolgungsjagd gegen mich auf; ich war wehrlos, ich floh vor meiner eigenen Lächerlichkeit, und ich fand daheim nicht einmal eine Zuflucht. Denn die Mutter war es ja gerade, die mich Tag für Tag meinem unbarmherzigen Gegner aufs neue auslieferte.

Bis ich mich mit ihm verbündete. Bis ich sein Vertrauter wurde, bis er mit meiner intimen Freundschaft zu prahlen und sie auszubeuten anfing.

Ein wenig Geld, ein Fünfer hier, ein Zehner dort, kam etwa in meine Hände; das wußte Köbi Glur 80 und er verstand es, mich davon zu entlasten, ja mich in Kreditschulden zu stürzen und so noch fester in die Faust zu bekommen. Bei einem gedunsenen, käsebleichen Kleinbäcker trafen wir uns an langen freien Nachmittagen, in der kleinen, vom Backofen überheizten Kammer hinter dem Verkaufsladen. Kam ein Käufer, so schrillte die Klingel, träge erhob sich der Bäcker und verschwand nach vorne; aber das geschah selten genug, der Laden hatte keinen Zuspruch, und dem Bäcker schien sein Gewerbe vollkommen gleichgültig. Er saß mit uns Buben am mehlbestaubten Tischchen und lehrte uns Karten spielen. Wir begriffen das Gröbste im Handumdrehen; die Feinheiten mußten wir ihm abgucken. Wir spielten um Geld, nicht um Summen, sondern um gespaltene Rappen, aber sie türmten sich, bis es Abend wurde, zu runden Vermögen, die wir verloren. Gewannen wir gegen den Bäcker, so zahlte er uns mit Kuchen und Schnitten aus, mit den mißratenen Stückchen aus der Abfallschachtel, mit den Ladenhütern aus dem Schaufenster, die zäh waren und etwas säuerlich schmeckten. Er verkaufte uns 81 auch simples Rauchzeug, billige Zigaretten, die wir qualmten, solange der Magen es aushielt. Was wir nicht bar bezahlen konnten, schrieb er uns großherzig auf. Ich weiß nicht, wie es kam, aber der bettelarme Köbi Glur hielt sein Konto stets in Ordnung, während ich bald einmal in regelrechten Spielschulden steckte.

Ich haßte den qualligen Teigaffen, ich haßte den frechen, untersetzten Köbi Glur, ich haßte den muffigen Spielklub und ich haßte meine eigene Schwäche, die mich immer wieder dorthin führte. Ich mußte meinen Haß herunterfressen, er schmeckte schlecht wie die Kuchen, die wir gelegentlich gewannen, und wie das Kraut, das wir schmokten. Aber ich war in das Verhängnis verstrickt, ich konnte mich nicht daraus lösen, es wuchs mir dunkel und stickig über den Kopf. Während ich in unserm saubern Heim, das mich besser haben wollte als meinesgleichen, notdürftig die Haltung wahrte, war es mir im gepreßten Herzen zumute, als ertränke ich im Schlamm. Und einmal mußte die Schande ja an den Tag kommen; fast wünschte ich es in meiner Qual.

82 Es vergingen Wochen und Monate, es verging wohl ein Jahr und nichts geschah. Eines Tages, als der Vater von der Bank zum Mittagessen heimkam, stieß er vor unserm Haus auf Köbi Glur und einen ältern Burschen, die im kühlen Torgang auf mich warteten. Der sonderbare Umgang zu dieser ungewöhnlichen Zeit erweckte sein Mißtrauen, er knüpfte ein Gespräch mit den Gesellen an, ein Wort gab das andere, der ältere Bursche schien seiner Sache allzu sicher zu sein, während Köbi Glur verschwand. Mit hartem Gesicht und traurigen Augen trat der Vater auf mich zu und fragte mich: »Hast du einem lumpigen Kerl, der drunten vor dem Haus auf dich wartet, deine Markensammlung versprochen?« Ich brach zusammen, denn was nützte es, nein zu sagen, wenn die Wahrheit auf jeden Fall ein Geständnis sein mußte?

Wie meine Schulden geregelt wurden, erfuhr ich nie. Meine Mutter kam entrüstet zum Lehrer, dieser holte Köbi Glur aus dem Klassenzimmer, alle Kameraden aber blickten verstohlen auf mich und die Mädchen tuschelten. In der Folge ließ mich Köbi 83 Glur in Frieden, er sah immer gleich ärmlich und rechtschaffen aus, und in der Weihnachtszeit hieß mich die Mutter mitgehen, als sie ein Paket mit Kleidern und Nahrungsmitteln in das armselige Häuschen trug, wo er, das jüngste von vielen Kindern wohnte. Eine gebrechliche Frau, seine Mutter, dankte der meinen mit schleimigen Worten und lächelte mir aus feuchten Augen zu. Ich betete damals in stiller Verzweiflung zum lieben Gott, er möge Köbi Glur sterben lassen. Ich begriff nicht, warum er in der Welt und gerade in meiner Welt leben müsse.

Die Erlösung von ihm geschah auf eine andere Weise, auf einem Weg, der mich selber nahe am Tod vorbeiführte. Ich war bei den Soldaten der Rekrutenschule draußen auf dem Exerzierplatz vom Regen überrascht worden, hatte mich im nassen Gras erkältet, ging am nächsten Morgen mit heftigen Stichen in der Magengegend gebückt herum und lag am Nachmittag mit hohem Fieber an einer Blinddarmentzündung im Bett. Eine abwartende Behandlung verschlimmerte die Sache; am dritten 84 Tag war mein Unterleib angeschwollen und hart gespannt wie eine Negertrommel, ich litt schlimme Schmerzen. Da war es, daß der Vater sich an mein Bett setzte und mir seine Hand reichte: die sollte ich drücken, wenn mir die Schmerzen wie feurige Schwerter durchs Fleisch fuhren. Es wurde erträglicher. Die Hand beruhigte mich. Seitlich sah ich das ernste, gerechte Gesicht meines Vaters – er stand mir bei. Am nächsten Morgen, einem Sonntag, trugen mich fremde Männer auf einer Bahre ins Krankenhaus, man schläferte mich sofort ein, aber da sich der Fall als recht verwickelt erwies, dauerte die Operation länger, als vorgesehen war, und im Städtchen ging unter Bekannten von Mund zu Mund die Nachricht, ich sei gestorben.

Ich war es nicht; aber als ich mich in langen dreizehn Wochen mühsam erholte, war es wie ein Erwachen zu neuem Leben, zu neuem Mut und Wollen. Ich lag in einem großen Saal mit andern Kranken, mit älteren Männern, deren müde Gespräche ich kaum verstand, auf deren Nachbarschaft im Leiden ich irgendwie stolz war. Kam der Arzt, so 85 ging er von einem Bett zum andern; wir waren ihm alle gleich wichtig und er stellte an uns alle die gleichen Fragen. Die Schwester Maria strich uns allen unter freundlichen Worten die Betten glatt; bei mir weilte sie wohl ein wenig länger, erzählte mir Geschichten, die nicht für die Männer waren, und versuchte mich lebendig zu kitzeln, denn ich rührte mich vor Mattigkeit kaum mehr. An den lauen Abenden sangen die Schwestern draußen auf der Terrasse vor den Sälen fromme Lieder und der Assistenzarzt begleitete sie auf der Geige; ich fühlte ergriffen, daß auch ich einer Gemeinschaft angehörte, die nicht dasselbe war wie die Familie, wo das Alter nicht zählte und die Herkunft nichts galt, die eine Mauer schied von aller übrigen Welt, von Schule, Lärm, Lüge und Zank. Wenn die Mutter kam, das Schwesterchen, der Vater, so hörte ich ihren Schritt ferneher über die steinernen Fliesen hallen; traten sie in den Saal, so wurden sie aus allen Betten gegrüßt, als ob sie nicht zu mir allein gekommen wären, sondern zu unserer Gemeinschaft; es geschah aber oft, daß ich mich zur Wand drehte und so tat, 86 als ob ich schliefe, weil ich ihr teilnahmevolles Reden nicht ertrug und froh war, wenn sie wieder auf den Zehenspitzen den Saal verließen.

Später, als ich nach einigen Rückfällen endlich erstarkte, schob man mein Bett auf die Terrasse hinaus, ja die Schwester trug mich auf ihren kräftigen Armen – ihr leichtgestärktes blaugraues Gewand knisterte um mich – in den Garten unter die großen Bäume, die Luft war morgenfeucht; Blumen zündeten rot und gelb herüber, der Kies schimmerte blank, die große Stille sang in mir.

Eines Abends, als wir schon alle wieder im Saal lagen und auf die Hafersuppe warteten, tönte auf den Fliesen ein Schritt, den ich nicht erkannte. In der Tür erschien ein junges Mädchen, ein Mädchen aus meiner Klasse, das ich von ferne und ganz heimlich als unnahbare Lichtgestalt verehrte; es trug einen Arm voll frischgeschnittener Rosen, sah sich scheu und verlegen um, trat rasch an mein Bett und warf mir die Rosen wie einen bunten Segen des Himmels auf das Linnen. Es war schon wieder verschwunden, als die grauen Stoppelbärte aus den 87 Nachbarbetten auftauchten und mit Hoho und Haha das Wunder begafften, das sich begeben hatte. Merkwürdigerweise schämte ich mich vor ihnen des Besuches nicht; er hatte eben, schien es mir, allen ein wenig gegolten und mir auch nur, weil ich einer von ihnen, weil ich krank war.

Als ich endlich entlassen wurde und auf noch schwachen Beinen wieder in die Schule zurückkehrte, war ich nicht mehr ganz der gleiche wie früher; meine Krankheit und das Erlebnis der weißen Spitalwelt waren wie eine zarte Luftschicht um mich herum; ich fühlte es so und ich fühlte, daß auch die andern die unsichtbare Wolke, die uns trennte, verspürten und anerkannten. Köbi Glur war aus der Schule ausgetreten und Lehrling bei einem Schlosser geworden, hieß es; ich verlor ihn ganz aus den Augen.

Es war, als ob ich nach dieser Erschütterung in ein neues Verhältnis zu meinem Vater getreten sei. Hatte ich ehedem den schlanken Mann am liebsten in seiner dunkeln Uniform gesehen: auf einem weiten Exerzierplatz, leicht mit beiden Händen auf den Säbel gestützt, den lebhaften Blick unter dem tief 88 herabgezogenen Mützenrand über die marschierende Truppe schweifen lassend – so trieb mich nun, seitdem er so bekümmert an meinem Bett gesessen hatte, ein warmes und noch unklares Gefühl der Zusammengehörigkeit zu ihm hin, auf seinen kurzen Gängen zur Bank, auf kleinen Wanderungen über Land; immer dann, wenn die Mutter nicht dabei war. Sie hatte soviel an mir auszusetzen, und ich fühlte, daß dies auch den Vater ärgerte und plötzlich verschlossen und unzugänglich machen konnte; waren wir beide aber allein, so verstanden wir uns vortrefflich: er ging auf meine Fragen und Bemerkungen ein, zu Marschliedern, die ich sang, dichtete er im Spazieren drollige neue Verse hinzu, die auf mich gemünzt waren und meine Tugenden und Fehler gleich fröhlich verulkten, er behandelte mich kameradschaftlich und ohne Umschweife und Abstand.

In mir selber lebte unverblaßt die Erinnerung an ein Geschehnis, das einige Jahre zurücklag und das, obwohl es mich damals beinahe erschreckt hatte, mehr und mehr das Vertrauen zu meinem Vater stärkte. Hatte ich nicht einst erlebt, daß auch er in einer 89 Sache unterlegen war? Ich behielt das Wissen um seine Schwäche als ein Geheimnis tief in mir; wir sprachen nie ein Wort darüber. Das Geschehnis spielte sich in Basel ab, in einem stillen Hinterhof, den hohe blinde Hausmauern einschlossen; dort war ein Geleise auf einem Gerüst in halber Mannshöhe errichtet, leicht geneigt, so daß ein Wagengestell darauf ins Rollen geriet. An diesem eisernen Gerippe wurde eine selbsttätige Bremse ausprobiert, eine Erfindung, für die sich mein Vater interessierte und in die er Geld steckte. Für die Bremse reiste er häufig im Lande herum, hatte Besprechungen da und dort, auch in Paris: er war von der Sache überzeugt und hatte sich in den Kopf gesetzt, auch andere davon zu überzeugen. Er nahm mich oft mit, wenn er in den stillen Hinterhof ging, den Wagen rollen und im Lauf die Bremse wirken ließ; es glückte oft und oft glückte es nicht, dann wurden Verbesserungen vorgenommen, wozu ein Mechaniker in einer nahen Holzbude besonders angestellt war. Eines Abends nun, als wieder eine Neuerung angebracht war, versuchte der Vater die Bremswirkung auszulösen, 90 indem er seinen braunen Spazierstock mit dem Horngriff, den er viele Jahre schon besessen hatte, vor das herabrollende Wagengestell quer über die Schienen legte; doch statt daß der Stock den Bremshebel einschnappen ließ, wurde er von diesem geknickt und gebrochen. Der Wagen rollte mit höhnischem Lärm über die Unfallstelle hinweg und am Boden unter den Schienen lagen die zwei zersplitterten Bruchstücke des treuen, starken Stockes. Mein Vater war sehr erstaunt und mißmutig, ich sah es ihm an und hätte mich am liebsten vor Scham verborgen, aber ich war nun einmal dabei und Zeuge des Unglücks gewesen, dessen Bedeutung für den hartnäckigen Mann ich mehr spürte als begriff. Immerhin, auch mir war der Stock mit dem rauhen Handgriff lieb gewesen, er hatte zum Vater gehört, soweit meine Gedanken zurückreichten, und ich hatte oft mit ihm spielen dürfen. Eine Weile hoffte ich, daß mir der Horngriff wenigstens nun zufallen würde, aber als ich sah, mit welcher schmerzlichen Wut der Vater die Splitter in einen Winkel des Hofes schmiß, wagte ich nicht mehr daran zu rühren. Nun, die neue 91 Mutter schenkte dem Vater sofort einen neuen Stock, schwarz, glatt und vornehm; verstand ich sie recht, so hoffte sie, der Untergang des alten Stockes habe den Vater auch von seinem verbohrten Eifer für die Bremse geheilt, dafür schien ihr das Opfer nicht zu groß. Diese Hoffnung war falsch, der Vater zuckte ärgerlich die Achseln. Immer wieder, auch während den Liestaler Jahren, mußte er zu Unterredungen verreisen, immer wieder kamen Telegramme, fremde Namen wurden bei Tisch laut, zu denen die Mutter den Kopf schüttelte; sie fürchtete Schlimmes von dieser Erfindung, die keinen Käufer fand.

Dann aber überstrahlte ein Ereignis alle Schatten: eine schweizerische Nationalbank war gegründet und mein Vater zum Direktor der Berner Abteilung gewählt worden. O ja, die neue Mutter hatte wieder einmal einen Ruck am Fädchen getan, einen entscheidenden Ruck, der die Familie nach Bern schnellte. Als der Traum Wirklichkeit wurde, schwarz auf weiß in der Zeitung des Städtchens stand, glaubten wir Kinder noch immer nicht recht daran, aber die Mutter weinte vor Glück. Es war, als 92 ob sie ein Schiff, das nicht mehr besonders seetüchtig gewesen war, kühn und erfolgreich in den Hafen gesteuert hätte; nun sah sie nur den festlichen Strand vor sich, farbige Wimpel, winkende Freunde, Wohlbehagen und Sicherheit.

Im Taumel unserer Freude verlor ich das Bewußtsein für den Abschied von Liestal, von dem alten Haus, von der Gartenwildnis und dem Frieden der Wälder, die allenthalben das Tal umstanden. Nun waren mit einemmal die grauen Häuser um mich, Türme und die schattigen Arkaden; Brücken waren da hoch über dem grünen Aarewasser und das Münster, und unter den Kuppeln in den Bundeshäusern saßen Männer, die man vom Hörensagen und aus dem Schülerkalender kannte und von denen die Mutter wie von guten Freunden sprach; das alles war erstaunlich und unfaßbar wie das weiße Gezack am fernen Horizont, dem man doch so nahe gekommen war, daß man es zu den Dingen des täglichen Lebens zählte, jedenfalls an guten Tagen.

Und gut und leichtfüßig stiegen jetzt so viele Tage über den Rand meines Lebens empor. Ich wanderte 93 in eine neue Schule. Hatte mein Vater es nicht beharrlich durchgesetzt, daß ich in die meinem Alter entsprechende Klasse aufgenommen wurde, obwohl mein Latein bei der Prüfung bald einmal zu Ende und der ängstliche Rektor voller Vorbehalte gegenüber dem Kleinstädter gewesen war? Eine dunkelblaue Mütze mit rotem Streifen bezeugte vor aller Welt die Zugehörigkeit zu einer neuen Gemeinschaft, die ihre eigenen Gesetze zu haben schien. Gesetze der Kameradschaft, Grundsätze einer bubenhaften Weltanschauung bergen immer einen mächtigen Zwang in sich; ich hatte mich ihm zu beugen. Was mich am meisten überwältigte: daß von den Berner Buben Heim und Eltern offenbar nicht verleugnet oder als Bagatelle verschwiegen wurden, daß man sich zu Hause aufsuchte und traf, nicht bloß auf abgelegenen Spielplätzen und in heimlichen Schlupfwinkeln. Das war neu, bundesstädtisch, gesittet; ich begann am eigenen Leib die Luft zu spüren, die den erzieherischen Reformen der Berner Mutter ihre sieghafte Kraft gegeben hatte, und da ich die Luft nun selber atmete, gab es kein Sträuben mehr gegen sie – in ihr galt es zu leben, und man lebte ja ganz gut in ihr.

94 Im Mai waren wir nach Bern gezogen, unsere Wohnung war noch nicht ganz eingerichtet und die Sommerferien standen schon im Tastbereich ungeduldiger Erwartungen – da wurde ich an einem Vormittag aus der Schule heimgerufen. Es war in der Geschichtsstunde, bei einem Lehrer, der wegen seiner sehr lässigen Güte bekannt und beliebt war. Er trug seine Geschichte fesselnd und in amüsanten Wendungen vor, schien es aber nicht übelzunehmen, wenn man ihm trotzdem nicht zuhörte. Ich war nicht bei der Sache, mir waren die Gedanken plötzlich am frühen Morgen wie verwirrt und der Sinn wie vor Angst ergriffen worden: ich dachte an etwas Fernes, aber ich wußte nicht, woran ich dachte. Mit einemmale fragte mich der Lehrer – was sonst gar nicht seine Gewohnheit war – nach dem, was er eben erzählt habe; ich verstand kaum seine Frage und fand keine Antwort. Er schalt mich, warf mir meine Unaufmerksamkeit vor, da pochte es an der Tür. Er ging hin, trat in den Gang hinaus, zog die Tür nach einer Weile hinter sich ins Schloß. Dann kam er zurück, ganz nahe zu mir, legte mir eine Hand auf 95 die Schulter und sagte leise: »Du mußt jetzt heimgehen«. Ich packte meine Schulmappe zusammen und verließ das Zimmer ohne Gruß; ich war so verwirrt und so angsterfüllt, daß man mir alles hätte befehlen können, ich würde es gedankenlos ausgeführt haben.

Mein Vater war in der ersten Morgenstunde, kaum hatte sein Arbeitstag begonnen, plötzlich gestorben. In dieser Stunde brach auch meine Kindheit jäh und ohne Gnade ab.


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