Hugo Marti
Eine Kindheit
Hugo Marti

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31 Die Brüder

Die ersten Schuljahre, für andere Kinder ein unvergeßliches Erlebnis, blieben mir offenbar recht gleichgültig; ich habe nie im Leben an die Schule als an einen freundlichen Garten der entschwundenen Jugend zurückgedacht noch von ihr als von einem bedrückenden Alp geträumt. So sonderbar es klingt – von meinen ersten Schuljahren in St. Johann sind mir eigentlich bloß die Stunden in Erinnerung, die ich nicht auf der Schulbank verbrachte. Daß ich die Stadt früh und gründlich kennen lernte, das war die abseits gewachsene schmackhafte Frucht meiner sonderbaren Erziehung.

Mein Lehrer, ein stämmiger Bündner, dem das Schulhalten offensichtlich Spaß machte und der auch 32 gelegentlich mit nicht verhehltem Vergnügen Standrecht übte, Strafen erteilte, sogar mit kantigem Lineal auf die kindlichen Finger klopfte – ach ja, und der von uns verlangte, daß wir jeden Montag ein noch unentfaltetes Taschentuch und einen blütenweißen Tintenwischlappen vor uns auf dem Tisch liegen hatten, links und rechts davon aber unsere sauber gewaschenen und geriebenen Hände, die während seiner Inspektion rasch umgeklappt werden mußten, damit er sie oben und unten sah – dieser Lehrer schickte mich häufig, unglaublich häufig vom Unterricht weg, nicht zur Strafe, sondern weil ich ihm Besorgungen machen mußte. Hatte er herausgefunden, daß ich mich anstellig erwies, seine Befehle zur Zufriedenheit erledigte, mich bald in der Stadt auskannte? Ich denke es, und ich wage beizufügen, daß er wohl auch bald einmal der beruhigenden Meinung war, meine Spaziergänge täten meiner jungen Bildung keinen Abbruch. Mein Vater unterschrieb, ohne meine Leistungen eines Lobes oder überhaupt einer Bemerkung zu würdigen, die eintönigen Einerkolonnen meiner 33 Schulzeugnisse mit seiner klaren, kräftigen Handschrift, und sonst war ja niemand da, dem meine mühelos gepflückten Lorbeeren hätten Eindruck machen können. Als ein Bekannter meinem Vater einmal in meiner Anwesenheit – es war auf dem Liestaler Kasernenhof, die beiden Männer staken in Uniformen, ich trieb mich ohne Scheu im militärischen Lagerleben herum – als er ihm mein verständiges und aufgewecktes Wesen lobte, wurde mir sehr unbehaglich zumut, ich empfand beinahe Ekel vor mir selber und der Mann jedenfalls verlor meine Achtung ganz: wie, aufgeweckt hatte er gesagt? Wenn etwas nicht stimmte, war es dies! Meine älteren Brüder mußten tagtäglich aufgeweckt werden, ich nicht, ich verwünschte den Schlaf in der Morgenfrühe, ich war wach, bevor sich jemand im Hause regte – nein, aufgeweckt – und überhaupt, was meinte der Mann damit? Es ging ihn ja gar nichts an.

Schickte mich mein Lehrer aus nach Schulutensilien wie Griffeln, Bleistiften, Stahlfedern, aber auch nach Kragenknöpfchen, Schuhriemen und Rauchwaren, so mußte ich für die ältern Brüder 34 Besorgungen ausführen, gegen die sich mein Stolz oft auflehnte. Hätten sie nicht ihre durchlöcherten Schuhe selber zum Schuster tragen und ihre geborgten Fastnachtskostüme eigenhändig zurückschleppen können? Oh, es gab Schlimmeres noch! Was sie da oder dort aus Geschäften zur Auswahl kommen ließen, Kleider, Bücher, Malgeräte, durfte ich wieder hinbefördern, auch wenn mir die Last oft fast zu schwer, das Bündel für meine kurzen Arme wirklich zu umfangreich war. Ich war der Ausläufer, ich trabte auf meinen Beinchen, im grauen Kittelmantel, bei Regenwetter unter der Pelerine die lange Hebelstraße hinein stadtwärts, in die Spalenvorstadt, auf den Marktplatz hinunter, ja über die Brücken nach Kleinbasel hinüber, was immer schon eine Reise in eine andere Welt war. Langsam lernte ich so die halbe Stadt gründlich kennen, und je freier und frecher ich fern von Schule oder Elternhaus in den steilen Gassen, die zum Münster hinaufklommen, oder an den verwegenen Rheinufern umherstreunte, umso stärker wurde auch mein Gefühl für Unabhängigkeit und mein Sinn für das 35 völlig Fessellose, Ungezügelte, Selbständige: es war eine gefährliche, schöne Erziehung in der Freiheit und durch sie.

Daß ich dabei regiererisch und herrschsüchtig wurde, wundert mich heute nicht so sehr, obwohl ich mich zweier Beweise dafür mit nicht ganz beifälligen Gefühlen erinnere:

In unserm schattigen Garten hatte mein Bruder Mili eine kleine Schildkrötenfarm angelegt. Meine Spielkameraden von der Gasse waren nicht mehr aus der Ecke wegzubringen, wo unter Tannen die gepanzerten Tiere herumkrochen. Um ihnen zu imponieren, hatte ich eins der Biester aus der Umzäunung herausgehoben und auf seine Rückenschale gelegt; da lag es nun und zappelte und schaukelte hin und her. Mir graute davor, es nochmals anzurühren, und um meine Genossen zur Tat anzuspornen, deklamierte ich, scheinbar ganz ruhig, überlegen und ein wenig spöttisch (weil ich sie so in meiner Macht wußte): »Es gibt ein Sprichwort, dem müßt ihr gehorchen, und das lautet: Wer es herausgenommen, muß es nicht wieder hineintun!« 36 Sprichwort? Und einem Sprichwort gehorchen? Wer hatte mir diese Gewalt der öffentlichen Meinung und der Sitte in die Hand gegeben? Ich war ein Knirps und ich machte davon einen unbarmherzigen Gebrauch. Ich wiederholte vor den entsetzten Kameraden gebieterisch den Spruch – ich höre ja noch, wie ich die Regel ins Hochdeutsche hinein erfunden hatte; ich sagte: » . . . wieder einentun« – und langsam griff einer zu, überwand seine Furcht und gehorchte mir, dem in mir Wort gewordenen Gesetz, und führte den Befehl aus.

Ein anderes: in den schattigen Anlagen vor dem Schulhaus lief ich mit den Klassengenossen um die Wette. Fast immer gewann ich den Lauf, und wer es mit mir aufgenommen hatte und verlor, der zahlte mir eine Abgabe. Eine blanke, beharrlich eingeforderte Abgabe, ich kann es nicht beschönigen: einen roten Rappen, sogar einen Batzen, und natürlich die ewigen Tausch- und Geldwerte des Bubenalters: Marmeln (die man in Basel Glugger nannte), ein Bleistück, ein Trillerpfeifchen, eine Patronenhülse. Was immer es war, die Abgabe 37 mußte her, ich bestand darauf. Warum, wozu? Weil ich es fühlen wollte, daß ich herrschte. Sonderbar dünkt mich heute nur, daß die andern – gehorchen wollten. Aber ich vermute, daß sie daran ebenso sehr eine Art von Gefallen fanden wie ich am Herrschen. Kinder sind auch Menschen.

Den Vater sah ich mittags und abends. Die übrige Zeit des Tages war ich der Schule und mir selber überlassen. Ging es hoch her, nahmen die Brüder sich meiner an. Dies geschah etwa so:

Sie zogen an klaren Herbsttagen mit mir aus auf die weiten Felder, die abgemäht und sonnverbrannt gegen die elsässische Grenze sich dehnten. Fritz ging mit langen Schritten voran; Mili schob den Kinderwagen, in dem das Schwesterchen still vergnügt saß; ich hielt mich seitlich am Wagenkorb fest und hopste halb gehend halb springend mit, denn die Fahrt hatte Tempo, wenn Mili sie leitete. Irgendwo weit draußen kampierte man: der Inhalt des Wagens wurde auf den stoppligen Boden gebettet, eine Feuergrube ausgehoben, die kilometerlange Schnur, an der man den Drachen steigen ließ, in der 38 Astgabel sicher befestigt und diese in die Erde gerammt. Es war ein herrliches Leben in Luft und Licht und in der immer ein wenig gruseligen Spannung, die das Unternehmen umwitterte. Um mich, soweit ich sah, wogte das gelbliche Feld, fern aufgehalten durch die blaue Mauer der Vogesen; da und dort ein Baum, ein einsames Gehöft; seitlich schnurgerade der Eisenbahndamm; über allem die Savannenluft, die zu jenem Rheinkniewinkel gehörte wie der Dschungel unten am Strom und die alten Lachsfallen und wie der Bannwart und die Grenzwächter, mit denen man unschuldige Grüße tauschte. Während der Drache stieg, je nach den Luftschichten und Windströmungen, die er durchzog, rascher oder langsamer, wurde ich auf Kundschaft und Beute ausgeschickt: ich schlenderte dem Bahndamm zu, kroch an seinem sandigen Hang hinauf, bis ich die glühwarmen Schienen mit der Hand ergreifen konnte, und spähte dann links und rechts den schimmernden Eisenbändern entlang nach dem Streckenwärter aus. War er nicht zu sehen, schob ich mich auf die Schienen selber 39 hinauf, nicht ohne – wie mir das von Mili beigebracht worden war – das Ohr zuerst an sie zu legen, um zu hören, ob ein Zug auf der Strecke fahre. Dann schnellte ich auf Knien und Ellbogen darüber hin und glitt den jenseitigen Hang hinab in das Kartoffelfeld, grub einige der besten Stauden aus und stopfte mir die Knollen, von denen sich die trockene Erde leicht abschütteln ließ, vorne und um den Leib herum in die blauweiße Matrosenbluse. Den Rückzug beschleunigte die Angst, aber stolz lieferte ich den Raub den Brüdern ab, die unterdessen ein möglichst rauchloses Feuer entfacht hatten, in dessen aschenhelle Glut nun die Feldfrüchte zum Braten gelegt wurden. Zog man sie – es dauerte ewig lange – endlich hervor, so verbrannte man sich querst die Finger, dann die Lippen an den stark duftenden Knollen, aber sie schmeckten besser als ein Sonntagsmahl zu Hause.

Nicht jedesmal ließ sich der Aufbruch aus dem Feldlager in Ruhe und ungestört abwickeln. Ging alles nach der Regel, so wurde der Drache langsam heruntergehaspelt, das Feuer in der Grube 40 ausgetreten, wurden die Kartoffelschalen verscharrt und die Kissen und Decken sorgfältig im Kinderwagen verstaut, dann lud man das Schwesterchen auf und zog wieder der Stadt zu – es war schwermütig und feierlich wie die Fahrt von Landsiedlern durch die abendliche Prärie im amerikanischen Westen. Anders jedoch, wenn einer der Brüder etwa auf dem Bahndamm die verdächtige Gestalt eines Bauers auftauchen sah oder wenn der Bannwart zur Unzeit über unser Lager kam und der Kartoffelduft weitherum uns verriet. Dann fuhr die Eile der höchsten Not in unsere Schar: das Schwesterchen flog im Bogen in den leeren Wagen, Mili raffte die Decken und Kissen zusammen und stopfte sie, schon auf der Fahrt, dem schreienden Kind unter Arme und Leib und schob quer über das Feld mit dem Karren ab. Mich ergriff Fritz am Oberarm und setzte mit mir in langen Sprüngen davon; meine Füße schleiften mehr über den Boden, als daß sie ihn traten. Vor mir holperte der Kinderwagen über die Schollen, über aufstäubende Ackerfurchen hinweg, seine Räder drehten sich in der Luft mehr als auf 41 der Erde; mit der einen Hand stieß Mili das Kind, das herauszuhüpfen drohte, in die Kissen hinein, mit der andern lenkte er die tolle Fahrt. Hinter uns flackerte das Feuerchen, schmorten die mühsam erbeuteten Kartoffeln, und wenn wir im Schutz der ersten Vorstadthäuser anhielten und Atem schöpften, konnten wir hoch in blasser Herbstluft den Drachen schweben sehn, unbekümmert um all unsere irdische Hast, in himmlischem Frieden sich leise wiegend. Die Brüder knirschten mit den Zähnen, aber bei einbrechender Nacht holten sie ihn doch noch herunter und retteten die Schnur, ihren stolzen Besitz und eine ganz respektable Kapitalanlage.

Ach nein, es war keine Anleitung zu stillem, häuslichem Leben, die ich von den Brüdern empfing. Ihr eigenes Leben war, so schien es mir, täglicher Kampf, ihr Schulweg ein Kriegspfad. Sie gingen mit Schlagringen im Hosensack und mit Gummischläuchen in der Wachstuchmappe unterm Arm. Sie nahmen an jenen heroischen Feldzügen teil, die zwischen verschiedenen Schulen und Stadtvierteln ausgefochten wurden. Sie kamen mit 42 Wunden und Striemen heim, aber sie erzählten auch von Beulen und Schrammen, die sie andern zugefügt hatten. Ihr kriegerisches Dasein blieb offenbar dem Vater so lange verborgen, bis Mili eines späten Abends richtig angeschossen nach Hause hinkte; seine Feinde hatten ihm, der sicher einer der Gefürchtetsten war, in der Dämmerung aufgelauert, als er von einer Geigenstunde zurückkam. Am schwarzen Holzkasten, der sein Instrument barg, waren die Spuren des Schrothagels zu sehen, und er selber blutete am Oberschenkel. Ob der Einspruch des Vaters dem Treiben ein Ende zu setzen vermochte, weiß ich nicht.

Wohl war eine Haushälterin da, die uns Kinder notdürftig bei Kleidung und Gesundheit hielt. Aber ihr Hauptzweck im Familienkreis schien doch der zu sein, von den Brüdern aufs Korn genommen und geplagt zu werden. Ich selber war ihren Befehlen natürlich gefügiger, aber mein Respekt vor ihr war doch lächerlich gering, wenn ich das Auftreten der bewunderten Brüder mit verständnisvollen Augen verfolgte. Fritz hatte die Interessen und den Umgang eines Gymnasiasten; einige studentische 43 Allüren, die er sich frühzeitig beilegte und die wir andern nachäfften, brachten ihn gelegentlich in Konflikt mit der Hausordnung; aber er war schön und würdevoll mit seinen violetten Bändern und Mützen und umgeben von seinen bemalten und bezirkelten Aschenbechern, Humpen und Gesangbüchern, Milis Freuden waren einfältiger und naturgemäßer, aber seine Liebhabereien entbehrten durchaus nicht eines ungewöhnlichen und überraschenden Reizes. Sein gutes und wehmütiges Herz ließ ihn die Tiere lieben und gelegentlich mit Erfolg zähmen. Ein Rabe mit gestutzten Flügeln spazierte im Garten herum, krächzte jeden Besuch mißtrauisch an, hüpfte aber seinem Herrn mit drolligem Eifer und sehr zutraulich um die Beine. Waren die Schildkröten nicht in ihrer Umzäunung zu finden, so hatte sie Mili wohl in sein Zimmer verpflanzt, wo man auch Feuersalamander und anderes ähnliches Getier im Stubenarrest antreffen konnte. Wenn Mili einmal unverhältnismäßig lange schweigend verharrte und auf Fragen nur mit den Händen Antwort gab, hatte dies mit Stummheit nichts zu tun; er übte sich bloß in dem 44 Kunststück der Geduld, zwei Regenmolche eine geraume Weile in der feuchten Höhle seines Mundes zu beherbergen. Tat er endlich die Zähne voneinander, spazierten ihm die Tiere ganz manierlich und vielleicht etwas benommen aus dem Schlund. Am Mittagstisch geschah es nicht so selten, daß ihm ein Geschwader Maikäfer, das er auf dem Heimweg rasch gesammelt und im nächstliegenden Käfig verstaut hatte, aus der Bluse kroch und über seinen Nacken und Hals die Freiheit wiederum zu gewinnen trachtete. Ihr Kribbeln brachte ihn nicht aus der Fassung und Ruhe; solange ihm keiner in die Suppe torkelte, duldete er ihre Freizügigkeit, der er nach Tisch erst ein Ende bereitete.

Mit den Jahren wuchs sich die Verschiedenheit der Brüder sichtbarlich aus; auch ich empfand sie staunend, und unserm Vater mochte sie zu den vielen andern beunruhigenden Zeichen der Verwilderung als ein bedenkliches Hindernis für die Erziehung vorkommen. An einem jener mutterlosen Weihnachtstage überreichte Fritz dem Vater einen Offizierssäbel, zu dem beide Brüder Erspartes und 45 Erworbenes beigesteuert hatten; und zwar trat er mit der ihm eigenen Unbefangenheit in einer kleinen Szene auf, schlug einen malerischen Radmantel mit weitem Schwung zurück auf die Schultern, trug einige Verse vor, die er nicht selber gedichtet hatte, schnallte sich den Degen von den Lenden, streckte ihn dem Vater dar und hüllte sich wieder tief in seinen romantischen Umhang – der Vater war gerührt, Mili und ich klatschten Beifall und das flinke Theater verdiente ihn auch. Nun kam die Reihe an Mili: er griff behende und doch verlegen unter das Kanapee, auf dem er saß, und holte eine Holzschachtel hervor, ein Werk seiner Laubsägekunst, in der er sehr tüchtig und erfinderisch war; was aber die Handschuhschachtel auszeichnete, war ihre Bemalung, eine dick aufgetragene, fast lackartige Schicht schönsten Rotes, das sich, als man mit erstaunten Fragen in den schmunzelnden Handwerker drang, als sein währschaftes und unverfälschtes Herzblut erwies – er litt häufig an lästigem Nasenbluten, hatte aus dieser Not eine Tugend gemacht und seit Wochen mit dem billigen 46 Färbstoff den einen Anstrich auf den andern gefügt. Neben solchen Geschenken fiel natürlich mein Lesezeichen erbärmlich ab; es war ein Zelluloidblättchen, in dessen vorgelochtes Muster ich mit Seidenfaden die Bitte »Gedenke mein!« eingestickt hatte. War es eine Vorahnung der für mich erdrückenden Konkurrenz oder überhaupt meine stark entwickelte Selbstsucht, die mich das zweite Wort des Ausrufs mit doppeltem Faden hatte sticken lassen? Jedenfalls war kein Zweifel über Sinn und Betonung des Notschreis möglich.

Was mir die Brüder beibrachten, war weniger Sitte und Anstand, als einige schlimme Kunststücke, die auf meiner Anlage zur Nachäffung fremder Stärken oder Schwächen beruhten. Eine Glanzvorstellung, an der sich die beiden Regisseure immer wieder schief lachten, war mein Auftritt als Kramladenverkäuferin; das Original, an dem ich meine Rolle täglich zu studieren Gelegenheit hatte, wirkte wenige Häuser von uns entfernt und war mir gegenüber von einer rührenden Güte: nie verließ ich den Allerweltsladen ohne ein Zuckerplätzchen auf der 47 Zunge. Trotzdem ahmte ich die zimperliche Art der alten Jungfer boshaft und undankbar nach und hatte darin durch immer wiederholte Uebung eine Meisterschaft erlangt, die auch den Vater zum Lächeln brachte und sogar bei fernen Verwandten in Bern noch jahrelang beliebt war. Ich riß den Mund zu sauersüßem Grinsen auseinander, rollte die Augen und verdrehte sie, bis sie seitlich aufwärts zum Himmel schielten, und krähte mit gequetschter Stimme: »Was hettsch du gern?« Das war alles; es war gewiß weder schön noch witzig, aber es hatte durchschlagenden Erfolg – wohl weil es mein rechtes Bubengesicht mit einem Schlag zum Verschwinden brachte und eine Maske an seine Stelle zauberte.

Ach, Maske und Zauber und unvergessene Lust der Basler Fastnacht! Ich war dabei, ich hatte teil an ihr, und unausrottbar spukt noch im Manne ihr Rauschgift. Der aufreizende Klang der Trommeln, der schrille Gesang der Querpfeifen, die gespenstige Farbenglut des Morgenstreichs – allem war ich verfallen als einem mächtigen und 48 geheimen Bann, der nur auf Eingeweihte richtig und dauernd wirkt.

Und Maskenzauber, Trachtenfreude erhöhte auch die sommerliche Feier zur Erinnerung an Basels Eintritt in den Schweizerbund, dieses Fest, von dessen Proben und Aufführungen ich in dauernder Verzückung fast keine versäumte – mein Vater war als Chef des Ordnungswesens Abend für Abend draußen auf der Spielbühne – und an dem auch mein Bruder Fritz als lockiger Rosentänzer seine zwar untergeordnete, aber doch so beneidenswerte Rolle spielte. Mili war nicht im Festspiel tätig; dennoch brachte er von einem der Bankette, das unter freiem Himmel am Kleinbasler Rheinufer alle Mitwirkenden des historischen Spiels vereinigt hatte, das prunkvolle Szepter des Mailänder Gesandten Galeazzo Visconti zurück unter unser bürgerliches Dach. Wie er es erbeutet hatte, blieb sein Geheimnis. Das Schicksal schien nie so freigebig gegen ihn wie gegen seinen Bruder zu sein; er mußte eben sehen, wie er zu seinem Teil am allgemeinen Menschenglück kam.


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