Hugo Marti
Rumänisches Intermezzo
Hugo Marti

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117 Fluchten

In den frühen Stunden des Herbstmorgens, während mit großem Wirrwarr und Lärm die Soldaten aus Ställen und Scheunen zusammengetrieben, notdürftigerweise in Marschkolonnen eingestellt und südwärts auf der breiten Landstraße abgeführt wurden, hatten wir die Kinder in ein Automobil verpackt, ihm an Kisten und Koffern aufgeladen, was es zu tragen vermochte, und die Last durch das Getümmel abfahren sehen. Die Kinder waren guter Laune; da sie im klaren Licht dieses heiteren Herbsttages zum letztenmal das niedere Haus umtollten, sich noch einmal im dunkeln Park, zwischen den verwilderten Bäumen verloren, klang ihr Schreien und Lachen lauter als je vom See über die ungemähten Wiesen herauf, und als sie hergerufen wurden, schleppte jedes aus seinem Zimmer, was ihm das Liebste war, herbei: unnützes Spielzeug, ein frisch angelegtes Herbarium, den Tennisschläger, ein Blumenglas; und erst da man ihnen die Dinge abnahm und wieder auf die Stapel der zurückgelassenen Inhalte von Schränken und Kommoden warf, die unordentlich in jedem Raum sich häuften, wurden ihre Gesichter ängstlich, trotzig und zum Weinen bereit. Nach kurzem Abschied 119 zog ihr Wagen fauchend um die Ecke und verschwand hinter dem dichten Geäst und Gebüsch der Allee. Nun war es plötzlich still auf dem weißen Kiesplatz, im schattig kühlen Haus, und wir Erwachsenen, die noch zurückgeblieben waren, sahen uns verlegen in die lächelnden Gesichter.

Wir schnürten auch unser Gepäck; nach vielem Wägen und Erwägen, Liebkosen und Verwerfen der Habe, die sich bei der amerikanischen und französischen Erzieherin während langen Jahren, bei mir in kleinerem Umfang während den Monaten meiner Anwesenheit im Lande aufgehäuft hatte, mußten wir uns doch am Ende auf das beschränken, was jedes selber ohne allzu große Anstrengung tragen und auf kleinstem Raum unterbringen konnte, denn mit Hilfe war auf der Reise, die wir im Strom der Fliehenden nach der nördlichen Moldau hin vorhatten, gewiß nicht zu rechnen. Ich beschränkte mich darauf, ein Handköfferchen prallvoll mit dem nötigsten Reisebedarf zu stopfen, da ich der leisen Stimme in mir nicht ungern lauschte, die mir weissagte, ich würde die Stunden des endgültigen Abschieds von diesem Land, dessen herbstlich reife Weite ich so sehr 120 liebte, bis zur letzten Nötigung hinauszögern und dann noch froh sein, meine Eile nicht überflüssig behindert zu sehen. Was ich zurückließ, ordnete ich mit trotziger Pedanterie in meinem Zimmer, so, daß es dem später davon Besitz Ergreifenden gerade durch seinen nicht ungefähren, nicht etwa gar fluchtartigen Zustand in die Augen fallen müsse und ihm über die Grausamkeit eines Schicksals, dem der Eindringling ebenso stark wie der Weichende unterstellt sei, Gedanken errege. Meine Kleider, noch gute Ware, hängte ich in den Schränken wieder auf, die Strümpfe, von Mutterhand haltbar gestrickt, schichtete ich, wie sie es mich gelehrt, in einer Beige auf, stellte davor den Turm blendend weißer Taschentücher und schloß die Vorräte ab. Auf dem Tisch vor dem breiten, vergitterten Fenster, von wo ich so oft den Blick in die selige Wildnis der alten, verfilzten Bäume und über die leise dem See zu fallenden Wiesen getan hatte, von denen abends die schleierzarten Fahnen des Nebels heraufgeflattert waren, stellte ich meine deutschen Bücher, liebe Gefährten in der Fremde, mit leiser Trauer auf und doch mit der fast freudigen Neugier, was wohl der deutsche Krieger, der nun bald das fremde Zimmer 121 betreten und dessen Blick sie erstaunt betrachten würde, mit ihnen werde anfangen können und ob sie ihm wohl vertraut und gar ein herrlicher leichter Gewinn sein möchten. Was ich selber eifrig an Liedern und Sitten des fremden Volkes gesammelt und aufgezeichnet, in freiem Spiel nachgebildet und übertragen hatte, nahm ich als wertvolles Vermächtnis mit mir; Wegweiser zum Herzen meines Gastgebers, an das sich der Eindringling herandrängte, wollte ich nicht sein.

Im großen Speisesaal, der sein durch die Bäume gedämpftes Licht von beiden Seiten erhielt, setzten wir uns noch einmal an den Tisch, und da überfiel uns nun die Stille des Raums, der sonst vom Getöse der Kinder und unserer Unterhaltung erfüllt gewesen war, mit solcher Macht, daß wir selber kaum zu sprechen vermochten und nur in geflüsterten Meinungen den Anmarsch der fremden Truppen und den Rückzug der letzten rumänischen Kräfte, die noch zwischen uns und dem Feinde standen, berieten. Unser Landgut, abseits von jeglicher Hauptstraße, hatte bisher nur ordnungslos versprengte Rückzügler beherbergt; der dumpfe Geschützschlag, der während dem ganzen Vormittag in unsere Stille hallte, ließ 122 Kämpfe in der Richtung der Erdölfelder vermuten, die jenseits der Eisenbahnlinie lagen.

Wir beschlossen, da wir nun die Kinder in Sicherheit wußten und weiteres Verweilen hier auch für uns keinen Sinn hatte, nach der nächsten Kleinstadt zu fahren, von wo die Züge unbehindert nach der Moldau hin verkehrten; ich bestellte den Wagen. Als ich von den Stallungen, die ganz verlassen waren und wo ich nur den alten Vasile hatte aufstöbern können, in den Speisesaal zurückkehrte, saßen die beiden Erzieherinnen schweigsam über einem recht üppigen Mahl, das man uns vorgesetzt; aus der Küche aber hörte man das Pruzzeln und Zischen aus großen Pfannen, Geklirr des Geschirrs und Gelächter der Dienstmädchen. Gleich als fühlte man sich jeder Rechenschaft enthoben, als hätte jede Sparsamkeit, durch lange Wochen des Kriegs zur Gewohnheit geworden, ihren Sinn verloren, als zählte überhaupt nur noch die lebende Stunde und nicht mehr der morgige Tag, so bereitete man aus der Fülle, die unsere ländliche Abgeschiedenheit noch immer zu bieten hatte, ein richtiges Fest- und Schlemmermahl, etwas eintönig zwar, da keine Wahl in der Fülle möglich war und zudem die Köchin 123 und ihr Gesinde befahlen, aber doch so über alle Maßen üppig, daß uns der Leichtsinn, der zudem in solchen Augenblicken notgezwungenen Entschlusses oben schwimmt, überging und uns in eine grundlos lächerige Stimmung versetzte, die zuweilen jäh zerriß und mit trübseligen, wiederum belachten Seufzern der zwei verängstigten Frauenzimmer gespickt war. Wein wurde herbefohlen und ohne Zaudern gebracht, dieser leichte, goldklare Landwein, und ich merkte bald, daß er auch in der Küche getrunken wurde und daß auch dort die Qual der Ungewißheit von einer tollen Ausgelassenheit lärmend und notdürftig verdeckt wurde. Die Bedienung wurde nachlässig, hörte bald ganz auf, und unser Geschirr mit den erkaltenden Speiseresten stand wüst und trist auf dem Tisch neben den halbleeren Weingläsern. Unaufhörlich und mit leisen Erschütterungen, die wir in unserm Leib spürten, dröhnten dumpf grollend von fernher die Geschütze der Schlacht. Wir trieben zum Aufbruch.

Vasile hatte uns einen Wagen bespannt; er saß selber auf dem Bock, da keiner der Kutscher mehr aufzutreiben gewesen war. Mit weißem Bart und flatternden weißen Strähnen unter 124 dem breitrandigen runden Hut saß er da und blickte gleichmütig über die Rücken der Pferde dahin; er hörte wohl kaum den Geschützdonner in den Karpathentälern droben, und hörte er ihn, so ließ er sich dadurch nicht anfechten. Kurz war der Abschied von den zurückbleibenden Dienstboten: etwas unsicheren Ganges kamen die Mägde aus der Küche auf den Hofplatz heraus, lachten und heulten zugleich, winkten uns zu, als wir die Allee hinunter fuhren, und kehrten zu ihrem Mahl zurück, gänzlich nun sich selber überlassen.

Im Wegfahren sah ich, daß die Tür des Hauses, hinter dem bergenden Blattwerk, das an den Steinsäulen der Vorhalle emporklomm, offen geblieben war; ich blickte in den Flur, dessen dämmerige Kühle ich ein letztesmal durch die Glut des Mittags hindurch empfand. Ich hatte Lust, zurückzulaufen und die Tür wenigstens ins Schloß zu ziehen; ließ es aber zögernd sein.

Im Dorf sahen uns die Weiber langen Blickes nach; ihr Gruß klang fragend und war voll Angst. Auf den Feldern war kaum ein Mensch zu sehen; Maschinen standen unbedeckt und verlassen, die Gerätschaften schienen 125 hingeworfen oder der mutlosen, unsicheren Hand entfallen zu sein. Uns bedrückte lastend die öde Schwere des Tages, und unter dem wolkenlosen Himmel fuhren wir im Staub der Landstraße stundenlang schweigend über die weite Ebene, an leeren Gutshöfen hinter grauen Parkbäumen und an stillen Dörfern vorbei, durch die Furten der ausgetrockneten Flüsse, durch verwahrloste Felder und lichte Gehölze in die Landstadt, wohin alles geflohen war, was dem Anmarsch der einbrechenden Heere entkommen wollte.

Hier war nun ein Getümmel von Wagen und Fußvolk, Soldaten und Bauern, das straßenauf und -ab brodelte und scheinbar ohne Ziel und Zucht lärmte und trieb. Als ein Eisenbahnzug, übermäßig lang und vollgepackt, keuchend in die Station einfuhr, gelang es mir, im Sturm der Menge meine zwei Begleiterinnen hineinzubefördern; ich selber, einer blinden Eingebung folgend, drängte mich wieder aus dem Menschenhaufen heraus, der in erstickender Hitze jeden Raum in den Gängen und auf den Plattformen besetzt hielt und nach der Weiterfahrt brüllte, und sah dem Zuge nach, der sich mühsam in die flirrende Glut der Felder hinausschleppte. Ohne Vasiles und seines Gefährtes zu denken, schritt ich 126 ins Innere des Städtchens, vom Schauen und aufregenden Miterleben über jeden Plan und alle Absichten meines Hierbleibens hinweggerissen.

Südwärts sich zurückziehende und flüchtende Truppenkolonnen durchschritten, durcheilten die Straßen, führerlos und in aufgelösten Zügen, viele ohne Waffen und barhaupt, viele mit Verbänden um die bleichen Gesichter und mühselig rascheren Kameraden folgend. Umsonst versuchte irgendeiner mit gellender Stimme sie aufzuhalten; sie achteten seiner nicht, warfen ihm einen Blick voll Müdigkeit und Trotzes zu, hasteten weiter. Andere rotteten sich vor Schenken und Häusern zusammen; Wassereimer, Weinkrüge gingen von Mund zu Mund, Gelächter flatterte auf, Flüche und Verwünschungen schlugen nieder. Auf dem umgitterten Hof der Polizeikaserne hatten sich ganze Scharen gelagert, lagen in der prallen Hitze der Nachmittagssonne, rührten kaum die Glieder, hoben kaum die Hand, um die Mütze tiefer über das braune Gesicht herabzuziehen. Trat ich näher, sah ich ihre graugrünen Uniformen voll rostbrauner Flecken eingetrockneten Blutes und ihre Verbände rotgesprenkelt: es waren 127 Schwerverwundete, von Fliegenschwärmen umquält, durstig, ohne Hilfe. Auf knarrenden Ochsenkarren kamen neue hinzu; wohin? brüllten die Bauern, die neben dem Gespann liefen; Stöhnen wies ihnen den Weg: weiter, nur weiter! Hände reckten sich, mancher versuchte sich zu erheben, mitzufahren, der stechenden Glut zu entfliehen; kraftlos sank er zurück. Ratlos stand die Bevölkerung des Städtchens herum, schloß die Türen ihrer Kramläden, öffnete sie wieder, wenn jemand zu kaufen vorgab, feilschte um den Preis und blieb unbezahlt stehen. Dort wurde ein Wagen mit Hausrat beladen; mit wippenden Palmen in grünen Kübeln zog das Gefährt davon, blieb im Gedränge stecken und wurde rasch erleichtert; die Palmen standen am Wegrand, als ich später dort wieder vorbeikam. Gerüchte gingen von Ohr zu Ohr; ich konnte ermessen, daß die Verwirrung größer als die Gefahr und daß die rasche Flucht noch nicht nötig war. Was mich umbrandete, war die Welle, die schmutzig und laut der großen Flut voraneilte.

Gegen Abend hin schien sich das Getümmel zu dämpfen. Mehrere Züge waren ein- und ausgefahren und hatten, obschon sie überfüllt aus der Landeshauptstadt ankamen, doch noch 128 auf jeder Haltestelle Platz für die ungeduldig Wegdrängenden geschafft; auf den Dächern hockten sie, Rücken an Rücken, im Ruß und Rauch der heftig arbeitenden Maschinen, auf den Trittbrettern kauerten sie dicht wie Bienen im Schwarm und klammerten sich an das Stangenwerk. Auf den Landstraßen zogen, endlos, die Ochsenkarren und ächzten ihre Spur in die geduldige Erde des reichen, armen Landes. Im Städtchen aber hatte ein Zeichen Wunder gewirkt: ein Trupp junger Soldaten, brauner Gebirgler, die raschen, gelenken Schrittes auf ihren weichen Opintschen durch das schreiende Volk tappten, dem hastenden Strom entgegen, wie ein fester Keil in die morsche Feigheit der Menge hinein, unangefochten von Warnung, Verzweiflung und Hohn, dem Kampfe zu, der in den nördlichen Tälern, an den bewaldeten Hängen, in den Engpässen tobte. Hinter ihrem Marsch glotzte Staunen, breitete sich verlegen und beschämt eine unsichere Stille aus.

Da, im stockenden Gewühl, sah ich Vasile. Ruhig lenkte er seine Pferde durch die Straße, auf seinem weißen Bart und in den weißen Strähnen unter dem runden Filz lag die Abendsonne wie ein Schein des Friedens, so daß sich 129 rings, wo er fuhr, die Blicke hoben zu dem bedächtig hantierenden Alten. Er hatte mich gesehen; langsam brachte er den Wagen zu mir heran, als hätte ich es ihm befohlen. Eine Weile zögerte ich. Ihn zur Flucht mit mir zu bewegen, auf diesem Wagen geruhsam in die Moldau zu fahren und uns beide nach Jassy an die russische Grenze durchzuschlagen: das mißfiel mir. Der Alte dachte nicht daran, die Scholle zu verlassen, auf der er sein Leben in Mühsal und Frieden verbracht. Da fragte er: »Wann fährt der Herr zurück?« Ich sprang in den Wagen: »Fahren wir, Vasile.« Er schnalzte mit den alten, dünnen Lippen, und die Pferde zogen an.

So kehrte ich denn, aus Unentschlossenheit dristig, noch einmal für eine Nacht auf das stille Land, in das einsame Haus zurück. Wohl graute mir beinahe, wieder in das Zimmer zu treten, das ich schon einem andern überlassen hatte, aber dennoch fühlte ich, als hätte ich zu früh und übereilt Abschied genommen und noch etwas gut zu machen. Die Bäume, an denen wir im eindunkelnden Abend vorüberfuhren, die Allee, in die wir spät einbogen, alles atmete die Ruhe dessen, was sich nicht wie der Mensch 130 aus eigenem Willen und zweifelhaftem Besserwissen hierhin und dorthin flüchtet, ohne doch aus der Hand, die unter die Welt und unser Schicksal gelegt ist, fallen zu können. Ich grüßte die Bäume, die groß und schweigend im Dunkel standen; ihre Ruhe fiel weich in mein Herz.

Als ich von den Stallungen, wohin ich Vasile hatte fahren geheißen, zum Hause schritt, sah ich Licht in den Fenstern; alle Zimmer, zu ebener Erde gelegen, waren hell, es schallten Stimmen, Lieder und Gelächter auf den dunkeln Hofplatz heraus. Die Tür war verschlossen. Zögernd stand ich eine Weile, dann pochte ich kurz an eines der Fenster. Ich hörte verwirrtes Reden, Geflüster, dann kreischendes Schreien und den Lauf nackter Füße über die Steinplatten des Ganges. Nochmals pochte ich, rief meinen Namen, man solle mir öffnen. »Geh du, Anika«, hörte ich eine hastige Stimme flüstern.

Nach geraumer Zeit wurden die eisernen Querbalken, die die Haustüre von innen verrammelt hielten, aus den Haken gehoben und die Riegel geschoben. Die alte Dienerin, barfuß und mit dem Kopftuch im Nacken, öffnete die Tür eine Spalte weit und sah mich groß, mit 131 starren Augen an. Sie stammelte: »Der Herr, der Herr – seid Ihr da? Kommen die Feinde?« Ich drängte mich an ihr vorbei in den Flur. Sie roch nach Wein, sturte bebend hinter mir her, als ich nach den Zimmern schritt, und blieb im Zugwind der offenen Tür stehen.

Plötzlich war es im Hause still geworden. Unschlüssig, wohin ich mich wenden wollte, unfähig zu begreifen, was vorgegangen war, drückte ich die nächste Klinke nieder, blickte ins Zimmer. Stühle lagen umgeworfen auf dem Boden, Schränke standen offen, ihr Inhalt war wirr zerstreut, Linnen, Geschirr, Eßwaren. Im nächsten Zimmer schlug mir der warme Dunst eines zerwühlten Bettes entgegen; auf dem Tisch, zwischen dem zurückgelassenen Spielzeug der Kinder, floß Wein aus einem umgestürzten Glas. Auf dem Stuhl lagen Kleider, Dienstbotenkleider, ein Uniformrock, schmutzig, zerrissen.

Im Nebenzimmer, das mir gehört hatte, wurde die Tür aufgerissen. Katinka, das wirre Haar im Gesicht, strauchelte über die Schwelle heraus, ergriff meine Hand, sank in die Knie, heulte auf und lachte aus Tränen zu mir empor. »Wir haben uns eingerichtet«, lallte sie. »Gute 132 Betten, eine einzige Nacht im Leben. Morgen kommt der Feind.« Ich schüttelte sie von mir.

Grausen befiel mich jäh. Dieses war die Flut des Schmutzes, die den Grund aufwühlte und nach oben spie, was unten gelegen hatte, jahrelang, geschlechterlang. Sie hatte das alte Haus in den alten Bäumen erreicht, sie spülte den Schlamm durch seine entsetzte Stille, durch seine traurige Einsamkeit.

Ich lag die Nacht im Stall, wo Vasile mir ein Lager aufschüttete. Am frühen Morgen führte er mich wieder in die Stadt. Näher dröhnten die Geschütze in die graue Oede der weiten Felder. Wir sprachen kein Wort miteinander, bis wir uns trennten. Als ich ihm die Hand reichte, beugte er sich zum demütigen Kuß darüber. Ich entzog ihm rasch die Finger, und er drückte mir seine weißen Bartstoppeln auf die Wange.

 

133 Zwei Züge, die in kurzem Abstand voneinander aus Bukarest ankamen und schleunig weiterbefördert wurden, ließ ich vorbeifahren, da sie gänzlich überfüllt waren und ich, mit meiner teuer bezahlten Fahrkarte in der Tasche, auf einen Sitzplatz für die lange Reise glaubte Anspruch erheben zu dürfen. In den Gängen schon, auf Koffern und Kisten, staute sich das flüchtende Stadtvolk; auf den Trittstufen hockten sie eng übereinander, wie die Beeren einer Traube, im blendenden Licht der Sonne und waren nicht geneigt, den stürmisch Hineindrängenden Platz zu machen; und oben auf den Wagendächern saß Mann neben Mann im Rauch und Staub.

Der dritte Zug fuhr ein; ein Blick genügte, um alle Hoffnung aufzugeben, in ihm einen Platz zu finden. Ich zauderte nicht, ergriff meinen kleinen Handkoffer, turnte auf der eisernen Leiter empor und bestieg das Dach des Wagens. Auf der gewölbten Decke tasteten sich meine Füße erst vorsichtig vorwärts, gingen dann beherzter auf dem berußten Blech, das allenthalben dumpf knarrte, und schlängelten sich zwischen den Rücken, aufgestemmten Händen und schlafenden Gesichtern der 134 Oberklaßpassagiere hindurch. Man gab mir bereitwillig Raum, rückte zur Seite und war mir behilflich. Ich stemmte meine Absätze in die Traufe, die dem Dach entlang lief, und setzte mich in eine Reihe mit den andern. Es waren Bauern aus der südlichen Walachei, junges Volk, kleine Beamte. Schulter an Schulter saßen wir eingeklemmt, einer dem andern Halt bietend. Zwischen den Knien hielten wir unsere Bündel fest; die Arme hinter dem Kopf verschränkt, konnte man sich mit einer gewissen Behaglichkeit sogar nach der Mitte des Wagendaches zu ausstrecken, in den wolkenlosen Himmel hinaufblinzeln, schlafen.

Keuchend hastete der lange und schwere Zug. Wenn der Rauch von der Lokomotive her über die dichtbesetzten Dächer strich und uns die Augen beizte, die Nase und den Mund mit Ruß und Kohlenstaub stopfte, daß die Zähne knirschten und die Zunge im brandigen Geschmack dick wurde, dann fluchten wir wohl und zogen die Hüte und Mützen übers Gesicht. Sonst aber war die Fahrt recht angenehm; die frische Luft strich sausend um unsere Ohren und milderte die pralle Hitze, die uns bräunte, und die Aussicht war frei und herrlich weit.

135 Kam das eiserne Bogengerüst einer Brücke, einer Bahnhofhalle oder der dunkle Schlund eines Tunnels in Sicht, so erhob sich auf den ersten Wagen warnendes Geschrei, das von Mund zu Mund weiterlief. Wie ein Aehrenfeld, vom Windstoß erdrückt, niederwogt von einem Rand zum andern, so beugten sich unsere Leiber in gemeinsamem Schwung zur Seite; wir duckten die Köpfe hinter die gekrümmten Rücken der Nachbarn, hörten den schmetternden Widerhall vom Steingewölbe und das Geklirr der erschütterten Eisenmaste, während das Wasser unter der Brücke hinwegsprudelte, und hoben, war die Gefahr vorbei, aufblinzelnd unsere Gesichter wieder dem hellen Himmel zu. Erst als der Abend kam und die Weitsicht schloß, wagten wir es nicht mehr, zwischen den Hallen uns aufzurichten; die Drähte, die da und dort die Linie überquerten, hingen oft lose herab und konnten leicht tödliche Verwirrung in unsere Reihen bringen.

An den Stationen kauften wir, aus den Händen reger Bäuerinnen, die süßen Trauben der Moldau, herbe Birnen und späte Pflaumen. Der Durst trocknete unsere Kehlen, die Sonne verkrustete unser Gesicht mit staubigem Schweiß. 136 Schmatzend schlürften wir den Saft aus dem lockeren Fleisch der Pfirsiche, zerquetschten wir mit der Zunge die Beere am brennenden Gaumen. Aber kaum wieder draußen auf der flirrenden Ebene, zerkratzte uns der ätzende Luftzug die Kehle.

Mein Nachbar, ein Bauer, griff nach einer Traube, die ich ihm angeboten hatte, und murmelte: »Wenn wir sie dem armen Teufel dort zwischen die Zähne steckten, vielleicht hört er auf, so jämmerlich zu wimmern?« Ich drehte mich um. Hinter uns, auf der andern Seite der Dachwölbung, lag ein Soldat, die Beine krampfhaft hochgezogen; sein Kopf war über und über mit Binden umwickelt, die im Bauch ganz grau und schmutzig geworden und mit braunem Blutgerinsel befleckt waren. Ein Kamerad hatte seinen Arm unter des Kranken Nacken geschoben und sprach beruhigend auf ihn ein, wenn er gurgelnd aufstöhnte und sich kraftlos aufzurichten versuchte: »Ja ja, noch ein Stündchen, noch ein Weilchen; heut abend sind wir daheim.« Wir krochen, der Bauer und ich, hinüber und versuchten, dem Soldaten eine Beere zwischen die zusammengebissenen Zähne zu schieben. Seine verzerrten Lippen waren 137 ausgetrocknet und voll Risse wie eine alte Baumrinde. Wir preßten ihm den Saft aus der Frucht auf die Zähne; erst warf er den Kopf zur Seite, dann öffnete er langsam den Mund und bewegte die trockene Zunge. Seine Augen waren verbunden, nur der zuckende Mund und die Nase stießen aus den zerfaserten Leinwandfetzen hervor. »Was fehlt dem Mann?«, fragte ich. Der Kamerad hob die Hand zur Stirne, strich sich quer übers Ohr: »Sie sagten im Lazarett, der Schädel sei entzwei. Nichts zu machen, heim mit ihm, aufs Dorf zur Baba; die wird einen Spruch über ihn sprechen und ihn heilen, wenn Gott will.« Unruhig zuckte der Verwundete zusammen und wimmerte lauter. Seine Zunge lallte. Wir träufelten ihm neuen Fruchtsaft in den Mund. »Noch ein Stündchen, noch ein Weilchen«, tröstete der Kamerad, »heut abend sind wir daheim.« Dann zu mir, mit zornigem Blick: »Seit zwei Tagen reisen wir so. Kein Platz im Wagen frei, kein Platz für einen verwundeten Soldaten.« Ich kroch zu meiner Traufe zurück. Später, auf einer kleinen Station mitten im Feld, halfen wir dem Kranken vom Dach hinunter. Als wir weiterfuhren, lag er im Schatten des armseligen Gebäudes. Sein 138 Kamerad spähte über die weiße Straße ins Land hinaus; es war, als rufe er um Hilfe in die Einsamkeit.

Unsere Reihen wurden lichter. Der und jener stieg ab. Die zurückbleibenden krochen enger zusammen, um sich zu stützen. Es wurde Abend. Einer hatte aus seinem Bündel eine Geige gezogen; er spielte, über die Knie gebeugt, im ratternden Takt der Eisenbahn stampfende Tanzweisen. Wir andern summten leise mit, von Müdigkeit und jäher Trauer befallen. Es wurde Nacht; die Sterne zogen herauf, die schwarze Luft um uns, von keinem Lichtschein durchkreuzt, kühlte unsere sonnversengten Gesichter, biß uns kalt in die Glieder. Wir wickelten uns in die Kleider, in die Schafpelze, schlossen uns Leib an Leib eng zusammen. Doch keiner durfte schlafen, kein Fuß die Wasserrinne am Wagendach verlassen. »Erzähl uns, Alter«, sagte eine Stimme in die Nacht hinaus. Der Bauer begann, mit leise singender Stimme: »Es war einmal, wie niemals wieder –«. »Lauter!«, schrie es von drüben, »wir sind auch noch da!« Und lauter sprach der Bauer in das Rollen der Räder, in den Lärm des nächtlichen Zuges: »Es war einmal, wie niemals 139 wieder, – denn wärs nicht gewesen, so könnte mans nicht erzählen –: als die Pappel Birnen trug und die Weide Veilchen, als die Wölfe und Lämmer sich um den Hals fielen und sich den Bruderkuß gaben, da sprang der Floh – mit neunundneunzig Oka Eisen hatte man seinen Huf beschlagen – in den hohen Himmel hinauf, um diese Geschichte herunterzuholen . . .« Am Ende schliefen wir doch, einen unruhigen Schlaf, den der schrille Pfiff der Lokomotive und der jähe Ruck an jeder Haltestelle immer wieder aufrüttelte, und als der Morgen über den Hügeln der Moldau heraufdämmerte, schlugen unsere Zähne im Schlaf vor Kälte klappernd zusammen.

Bei einem Halt grüßten uns, lachend aus breiten Gesichtern, kräftige Soldaten aus einem offenen Pferdewagen herauf. Sie trugen braune Hosen, die Röcke hatten sie abgeworfen, die Beine staken in hohen Schäften. »Russki?«, riefen wir fragend. Sie nickten und schrien Worte, die wir nicht verstanden. Aus den Wagen ihres endlos langen Zuges starrten graue Geschützrohre in die morgenfahle Luft. Hell klang das Wiehern ihrer Pferde. »Zu spät kommen sie, zu spät«, murmelte der alte Bauer. 140 »Vor uns der Feind und hinter uns der Russe. Trau keinem, dann lebst du einen Tag länger! Nun stampfen viele fremde Stiefel auf unserm armen Mütterchen herum.«

Gegen Mittag rollten wir durch freundliche Täler zwischen lichten Gehölzen der Flußebene des Pruth zu. Eine Stadt, mit alten Kirchen und grauem Häusergewirr auf den sanften Hängen, lag im kühleren Licht: Jassy, das Ziel unserer Flucht, an der russischen Grenze.

 

141 Das Leben mochte sonst wohl etwas schläfrig durch diese Straßen gehen. Alte Häuser, von denen der blaugraue Verputz langsam abbröckelte, umschlossen große Säle mit erblindenden Spiegeln und wackelnden Möbeln, auf denen einst der Glanz pompöser moldauischer Fürstenherrlichkeit gelegen hatte. Jetzt erfüllte die nervöse Tatenlosigkeit der Flüchtlinge Straßen und Plätze. Jeder Hauswinkel war besetzt und zur notdürftigen Wohnung umgestaltet. In den Höfen hausten Familien unter freiem Himmel; noch lag ihre Habe unabgeladen auf den Karren; die Ochsen waren irgendwo an die Hauswand gebunden. Jeder Tag spülte neue Scharen in die enge Stadt, die sie nicht zu fassen vermochte. Man traf die alten Bekannten, die man sonst jeden Vormittag auf der Promenade von Bukarest gegrüßt hatte. Die Ministerien zogen Schub um Schub ein; ihre Aktenbündel fraßen Räume auf, wo besser Betten gestanden hätten. Die Zeitungen erhöhten ihre Auflagen, bis ihnen das schäbige Papier ganz ausging. Die Kriegsberichte, in ungelenken Buchstaben von Hand auf Packpapier geschrieben, wurden auf den Plätzen angeschlagen; stumm stand das tagelang bummelnde 142 Volk vor ihnen und las, wie die feindlichen Armeen vorrückten. Die Vorräte der Kaufleute gingen zur Neige; wer das Brot nicht aus eigenen Mehllagern buk, stand lange Stunden vor den halbleeren Verkaufsläden.

Die Springflut der Flüchtlinge, die über die Stadt ging, brach sich an der unablässig daherrollenden Woge der russischen Truppen, die von der andern Seite her über die Brücken des Pruth einmarschierten.

O dieser lässig gedehnte, helldunkle Klang des russischen Marschliedes, der Tag und Nacht die herbstliche Luft erfüllte: nie werde ich ihn vergessen und nie in ihm das Bild der bleichen Stadt. In breiter Front, acht Mann nebeneinander, zogen sie durch die Straßen daher. Ihr Gang war langsam, war der Gang von Menschen, die weit gewandert sind und nicht wissen, wohin sie weiterziehen. Er trug die Grenzenlosigkeit der Steppen, die träge Wucht trübe wälzender Ströme mit sich. Nicht grün wie die Hügeltäler der Karpathen, nicht blau wie die übersonnten Weiden waren die Uniformen dieser endlos daherquirlenden Massen, sondern braun wie die dunkle Scholle ihrer Heimat, wie die aufgerissenen Ufer ihrer Flüsse. 143 In ihren Gesichtern las man die Zeichen fernster Völkerschaften: das geschlitzte Auge, den vordrängenden Backenknochen, den dünnen Schnurrbart rund um verschwiegene Mundwinkel. Aber ihr Lied, ihr immer wieder aufflackerndes, einschlafendes Lied! Wie ein Vogel mit dunkeln Schwingen flatterte es über den gesenkten Köpfen der braunen Heersäulen, von einem Ende der Stadt zum andern, stieß an den fremden Mauern empor, fiel nieder in den Straßenschmutz, sang weiter auf summenden Lippen. Am frühen Morgen weckte es mich aus dem Schlaf, um die Mittagsstunde hallte es von ferne aus den untern Straßen empor, abends durchbrach es mit seiner klagenden Eintönigkeit das rauschende Geschwätz der neuigkeitsgierigen Spaziergänger, und in der tiefsten Nacht, wenn ich das Fenster der frischen Luft öffnete, verwehte es irgendwo in die dunkel lastende Stille über der Stadt. Ich sah Truppen ohne Gewehre, in kotigen, zerlumpten Mänteln, die Füße in Lederfetzen geschnürt, an derben Stöcken müde marschieren: das Lied besaßen sie alle, und alle, schien mir, das gleiche. Es war der schicksalverbundene Bruder ihres langsam stumpfen Schritts, der sie ins fremde Land, 144 aufs fremde Schlachtfeld tröstend begleitete, letzter Gruß und Segen der harten Heimat.

Kam der frühe Herbstabend über die neblige Landschaft und die feuchte Stadt, so stockte der braune Menschenstrom, zerrann in die Winkel der Stadt. Auf offenen Höfen und Plätzen, in leeren Lagerräumen und unnützen Verkaufsläden an den Hauptstraßen krochen sie truppweise zusammen. Dort lagen sie, in den regenschweren Mänteln, die mit ihrem Leib verwachsen schienen, die Schirmmütze über das struppige Haar zurückgeschoben, die plumpen Stiefel nahe am rasch entfachten Feuer. Aßen sie, schliefen sie? Es mochte so sein; nie sah ich es. Aber am langen Hals zogen sie die Balalaika aus ihren Säcken, betteten sie im Armwinkel und auf den Schenkeln der gekreuzten Beine und spielten ihr surrendes, flirrendes Lied. Und einer erhob sich, groß vor dem flackernden Licht, raffte den Mantel über die Knie empor, steckte seine Zipfel im Gürtel fest, und tanzte. Mit weitgebreiteten Armen stampfte er schwankend hin und her, sprang und sank auf die wippenden Fersen, gelenkig und frei, wie er niemals schritt, und bis zur rasenden Tollheit. Die Kauernden richteten 145 sich auf, klatschten in die Hände und sangen mit. Ihre Gesichter, eben noch unbestimmbar gleichartig im müden Zwang des Dienstes, bekamen Form und Eigenprägung, lauschten hingerissen, schauten verzückt, waren verloren an eine große Macht, die sie, grell bestrahlt vom zuckenden Feuer, schön werden ließ. Die Heimat war plötzlich um ihre armen, strapazengepeitschten Körper, die heilige ferne Erde, der ihr Herz in Trauer anhing, unter ihren wegmüden Füßen. Neues Leben floß in sie, berauschend und stärkend. Fern war der Krieg, fern der graue Morgen, der sie aufs Schlachtfeld hinausstieß.

So gingen Nacht und Ruhe dahin. Auch für mich, der ich stundenlang im rieselnden Regen stand, gleich ihnen dem Zauber des dumpfen Spiels hingegeben, die wilde Schwermut ihrer Lieder und Tänze im glücklich pochenden Herzen.

 

146 Früh, allzu früh fiel in diesem Winter der erste Schnee auf die frierende Stadt. Tausend Füße, die sich an keinem Ofen erwärmen konnten, zerstampften ihn in den Straßen zu braunem Schmutz; doch keine Schaufel räumte ihn weg. Und er kam wieder. Er deckte die Höfe zu, in denen sich die obdachlosen Familien verkrochen hatten; er verwehte die Schienenwege der Eisenbahn, die spärliche Zufuhr an Nahrung vom Lande brachte; er deckte, dafür segnete man ihn, den verpesteten Staub, in dem die Krankheiten, die Seuchen gelegen hatten. Er drückte schiefe Gartenzäune ganz zu Boden; am Morgen schwelten ihre Trümmer im Ofen. Dort knackten auch die zerhackten Möbel, die man lieber entbehrte, als frostschlotternd benützte. Man saß in Pelzwerk und hohen Filzstiefeln am Tisch und zählte die Brotstücke ab, die es täglich für jeden Magen ergab.

Eines Vormittags, kaum waren wir aus den hüllenden Decken heraus, schellte es an der Tür. Ich öffnete; ließ man fremdes Volk erst herein und herumschnüffeln, so brachte man sie schwer wieder auf die Straße. Ein riesenhafter Mann, in Stiefeln und hochgeschlossenem Mantel, stand breit und derb auf der Schwelle; 147 hinter ihm zwei schmächtigere, ihm wohl untergeben. Er trat ein, schob mich mit freundlich bestimmtem Druck zur Seite, pflanzte sich groß und unwiderstehlich im Zimmer auf; die Gehilfen blieben im Gang. »Hier lebt ihr?«, scholl sein Baß. »Ja ja, muß jeder sehen, wie er durchkommt.«

Ich ersuchte ihn höflich um Aufklärung über den Zweck seines Eindringens.

»Karapantscha«, sagte er und verbeugte sich leicht gegen mich. Sein buschiger Schnurrbart fiel ergeben über den verwegenen Mund. »Sie kennen mich nicht, wie? Nein, wie sollten Sie auch? Wo sind die Kinderchen, wo?«

Ich rief einen der Knaben herein, erwartete, daß sich Onkel und Neffe begrüßen würden. Der Fremde stand stramm wie ein Soldat.

»So groß ist er geworden? So groß? Auf meinem Arm habe ich ihn getragen, als er in den Windeln lag. Karapantscha durfte das Wickelkind hüten. Der Großvater, der hohe Herr, wußte: nirgends ist sein Glück, sein Stolz, seine Zukunft besser aufgehoben als bei Karapantscha, dem Anführer seiner Leibgarde. Ja, das war ich, mein Herr«, wandte er sich 148 verbindlich zu mir. »Ihm ergeben mit Herz und Faust. Seine Familie – meine Herrschaft. Sein Name – meine Ehre. Später war ich bei der Polizei und anderswo tätig. Einen Band Gedichte von Karapantscha finden Sie in jeder besseren Buchhandlung. Sind Sie im Bild?«

»Vollkommen«, beeilte ich mich ihn zu versichern. Zögernd fügte ich bei: »Was verschafft uns die Ehre Ihres Besuchs?«

Er schritt zum Ofen, in dem das Feuer bescheiden knatterte. »Habt ihr Holz?«, fragte er. »Brot, Fleisch? Leder für die Schuhsohlen? Haben die Kinder warme Kleider? Habt ihr Raum genug? Keine russische Einquartierung bekommen? War da kürzlich ein fremder Offizier, ein General, bei einer Dame untergebracht. Handkuß und Säbelrasseln; machte sichs bequem. Nachts, die Dame schläft, weckt sie ein Klirren im Nebenraum. Mein Gott, denkt die Gute, was will er nun? Am Morgen ist er weg, ohne Dank, ohne Abschied. Ihr Haarwasser, ihre Parfüms, alles ausgesoffen. Es ist ein Kreuz mit diesen Russen. Schuhwichse, durchs Brot filtriert, schmeckt ihnen. Unsere Bauern mußten die Schnapsfässer auf der Straße umkippen; Befehl der Regierung, damit der Russe 149 nichts finde. Was tut er? Auf der Straße liegt er und leckt die Steine ab. Ich, Karapantscha, sag Ihnen dies. Haben Sie Parfüms, Schnaps, Haarwasser?«

Ich verneinte.

»Man kann es entbehren«, sagte er düster. »Man muß ohne auskommen. Das Wichtigste ist es nicht. Aber Brot, Fleisch. Brauchen Sie etwas, lassen Sie michs wissen. Karapantscha schafft es Ihnen. Dazu bin ich da. Die Kinderchen sollen keine Not leiden. Ich sorge für sie.«

Gerührt drückte ich ihm die Hand. Er riß mich an seine Brust. »Der Vater hat mich wissen lassen, er zähle auf mich. Für die Kinderchen, schrieb er. Eigenhändig, Herr, an Karapantscha! Ein prächtiger Mann. Vergißt nicht die Dienste, die Karapantscha der Familie je und je geleistet. Nun bin ich da, nun hat die Not ein Ende. Von morgen ab« – er stürzte in den Korridor hinaus und brüllte die Gehilfen an – »von morgen ab schafft ihr das Brot ins Haus, und wenn ihrs bei der Militärverpflegung stehlen müßt! Ihr tragt der Köchin das Wasser in die Küche. Ihr treibt Geflügel auf, Eier, Butter, Kartoffeln. Ich werde jeden Tag nachsehen kommen. Weh euch, wenn etwas fehlt!«

150 Die beiden Männer grinsten. Er schob sie zur Tür hinaus. Dankend nahm er eine Prise Tabak aus meiner Dose, rollte sich eine Zigarette, zerquetschte mir die Hand und verließ dröhnend das Haus. An die Fenster gepreßt, sahen die Kinder seine derbe Gestalt im Schneegestöber verschwinden.

Er wurde unser täglicher Besuch. Er wurde unser Rat für alles. Mehr als das: unsere Rettung. Seine Gedichte aber, die ich mir erstand, waren schlecht und paßten mit ihrem weinerlichen Getue wenig in die schwere Zeit, die uns allen verhängt war. Trotzdem ließen wir sie auf dem Tisch im Zimmer liegen, und er blätterte gerne darin, während er seine Befehle donnerte.

War mir so die Sorge um unser leibliches Wohl von seinen starken Händen abgenommen, so blieb mir doch immer noch der Kontrollgang zum Polizeikommissariat erst täglich, später einmal in der Woche zu tun, wo ich mich als Ausländer über meine Anwesenheit auszuweisen hatte. In der öden Gleichförmigkeit der Tage, in die nur wie ferne Erschütterung, unsern abgestumpften Sinnen kaum mehr faßbar, die Unglücksbotschaften vom Kriegsschauplatz hereingrollten, ward dieser Gang zur fast 151 angenehmen Gewohnheit, zur lieben und bescheidenen Sensation, die ich gewissenhaft suchte, wenngleich mein Ausbleiben kaum bemerkt worden wäre, wie ich aus der Erledigung meines Falls schließen durfte.

Zwei mäßig große Tische, mit Zeitungspapier belegt, voll violetter Tintenflecken, standen im Vorraum; hingeschmissene Aktenbündel trieben sich stapelweise herum, in den Tintenfässern stauten sich ausgedrückte Zigarettenstummel, der Staub lag dicht wie Schimmel überall. Ein Beamter kauerte an seinem Pult; der Rauch stieg zitternd aus seinem verzerrten Mundwinkel. Ab und zu netzte er den Zeigefinger an der Lippe, blätterte in zerknitterten, schmutzigen Papieren, stöhnte leise vor sich hin. Die Tür zum Zimmer des Kommissärs war mit einem Vorhängeschloß notdürftig zugehalten. An den Wänden klebten unzählige Bekanntmachungen, Listen mit Höchstpreisen für Nahrungsmittel, die längst nur noch im Schleichhandel aufzutreiben waren, und höher oben die vergilbten Oeldrucke, die das alte und das junge Königspaar in glatter Würde wiedergaben.

Der kleine Raum war ansehnlich besetzt: französische Gouvernanten, deutsche 152 Kindermädchen, russische Köchinnen, vierschrötige Weiber und hochstelzende Damen aus allen Schichten der Bevölkerung; in kleinerer Zahl die Männer. Knopfloch und Busen zierten, wenn es sich um Angehörige verbündeter oder neutraler Völker handelte, die bunten Zeichen ihrer Landesfarben. Jeder neue Gast schob sich zur Türe des Kommissariatszimmers, las dort die Zeit der Sprechstunde, die längst angebrochen war, starrte eine Weile auf das Vorhängeschloß, wandte sich dann ab, vom Lächeln der harrenden Menge freundlich empfangen, und suchte sich selber lächelnd einen Platz auf wackligem Stuhl, schmutzigem Fenstergesims oder an der Wand.

Knarrte die Tür in den Angeln, wandten sich dem Neuankommenden alle Blicke zu, musterten Gewand und Gang, Auftreten und Antlitz. Eine Dame, mit schwebenden Augen die Neugier ansaugend, die ihr entgegenflog, schob lässig hinter sich die Tür ins Schloß, aus dem sie wieder losschnappte. Knurrendes Geheul des Beamten: »Warum heiz ich den ganzen Tag, wenn ihr die Kälte eindringen laßt? Wir sollen wohl erfrieren, he?« Schon war, mit behendem Sprung, der Jude an der Tür, stemmte sich 153 dagegen, zwang sie ins Schloß. Die Dame rauschte weiter, ohne den Beamten zu sehen, ohne dem Juden zu danken. Ein Herr stand vom Stuhl auf, sie setzte sich lächelnd, er zog seine Dose aus der Westentasche, steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Schon war, unhörbaren Schrittes, der Jude bei ihm, riß Streichhölzer hervor und bot ihm das Feuer. Der Herr nickte leicht mit dem Kopf. Sachlich der Jude: »Krieg ich auch eine?« Der Herr, als ob er rumänisch nicht verstände, lächelte ihm zu, regte sich nicht. Der Jude schlich in seinen Winkel zurück.

Ich fragte laut, dem Beamten ins Ohr: »Ist der Kommissär noch nicht da?« Er hob mit rascher Gebärde den Kopf ein wenig; das hieß: nein. Auf spitzen Fingern hielt er eine Stempelmarke vor sich hin, spuckte mit eleganter Sicherheit darauf, hämmerte die Marke mit der Faust auf den Foliobogen und wischte die Finger an der Hose ab. Ich verließ den Raum.

Die Stadt ertrank im feuchten Schnee. Graues Gewölk schob sich langsam über die kahlen Kuppen herein, vom Pruth her, aus Rußlands unendlichen Ebenen. Hustend und bleich stapften die Menschen durch die düsteren 154 Straßen. Junge rumänische Soldaten, kaum ausgebildet, schlurrten auf ihren Opintschen truppweise vorbei. Ein Pope mit wallendem Bart hob vom Fußsteig aus die Arme segnend über die Schar. Sein Mund, in Verzückung, stammelte: »Söhne von Wölfen!« Gläsernen Auges blickte er ihnen nach. Sie hielten die Köpfe gesenkt, achteten seiner nicht.

Im kalten Schulsaal saß ich stundenlang mit hundert andern auf den Bänken an der Wand, den Oberkörper entblößt, und wartete auf den Arzt, der dann, waren wir endlich an der Reihe, uns rasch die Einspritzung gegen Cholera und Typhus unter die Haut trieb. Ein Strich mit dem Wattenknäuel über das Brustbein, ein Stich mit der Nadel, die Watte darüber, der nächste. Vier Wochen schon brannte der Schmerz an Hals und Leib, die Glieder waren matt, der Kopf heiß. Verwirrt taumelte ich in die feuchte Schneeluft hinaus. Was brüllte man dort unten auf dem Platz? Ach, Nachrichten aus Bukarest, aus dem vom Feinde besetzten Bukarest mit seinen warmen Häusern, seinen üppigen Vorräten und seinem winterlichen Leichtsinn. Wer es glauben mochte! Wir aber, das stand fest, schlugen uns um einen 155 Platz im Dreck dieser überfüllten, armen, frierenden Stadt.

In der Abenddämmerung ging ich noch einmal ins Kommissariat. Der Vorraum war leer, die Tür zum Zimmer des Gewaltigen weit offen. Zirpende Gitarrenklänge schollen daraus. Ich trat ein. Der Kommissär musizierte. Bei ihm, friedlich lauschend, stand der Beamte in seiner abgeschabten, verbeulten Uniform.

Der Kommissär lächelte mir zu, lud mich, mit rascher Armbewegung zwischen zwei Akkorden, zum Sitzen ein. »Ich komme – eben recht zum Konzert«, sprach ich in verbindlichem Rumänisch. Er zog das Französische vor: »Vous aimez la musique?« Ich versicherte ihn meiner Begeisterung. Er, wilder zupfend: »Vous chantez quel instrument?« Zögernd bedauerte ich. Nach einer Weile wagte ich den Zweck meines Besuches vorzubringen: Fremdenkontrolle. Er ließ sich nicht stören: »Bien, bien.« Ich blieb müde sitzen.

Von einem Polizeisoldaten ehrfürchtig hereinbegleitet, erschien ein russischer Offizier. Die Gitarre sank in das Dunkel unter den Tisch. Der Russe bot herrliche Zigaretten an; schon lange hatte sich unser Gaumen dieses zarten 156 Geschmackes entwöhnt. Der Offizier beklagte sich über seinen Quartiergeber; der Jude verlange zuviel. Ein Spezialbeamter wurde mit dem Russen hingeschickt: so und soviel, sonst verhaften. Der Kommissär schüttelte seine Faust vor meiner Nase: »Il faut les tenir comme ça!«; dann, mit raschem Griff unter den Tisch, holte er die Gitarre herauf und klimperte summend weiter. Sein Gesicht war hell zur grellen Lampe erhoben, die blendend über ihm schwebte; seine Augen schlossen sich träumend.

Ich rückte auf meinem Stuhl hin und her. Die Einspritzung an der Brust juckte schmerzhaft. Ein trostloses Lachen kitzelte mich; die ganze Not der Stunde fiel dunkel über mich.

Ich stand auf. »Vous partez déjà?« fragte er enttäuscht. »Sie sind doch wohl sehr beschäftigt«, wandte ich ein. »Es muß nicht einfach sein, jetzt Ordnung zu halten. Wenn man sieht, was alles in dieser Stadt zusammengeströmt ist . . . Sie haben wohl viel zu tun?« Er hob langsam die Hand von der Gitarre empor, die surrend verklang, griff sich an die Stirn, bedeckte die Augen und flüsterte mit gebrochener Stimme: »Monsieur, toute la nuit, toute la jour . . .« Und seufzte tief.

157 Ich zog mich zurück. Während ich die Tür hinter mir schloß, rauschte sein Geklimper von neuem auf und verhallte im klatschenden Plätschern einer Pfütze, in die ich stolpernd geraten war. Als ich heimkam, meine feuchten Kleider trocknen wollte, war der Ofen erloschen. Man ging früh zu Bett.

Es nützte nichts mehr, Kriegslieder singen zu lassen. Wenn ein paar hellblaue französische Uniformen im Schneegestöber auftauchten, grüßte man sie wohlgefällig; was aber brachten sie? Der Weg über Rußland war weit; sogar die Lazarettausrüstung war dort irgendwo stecken geblieben. Die Russen, ja, die Russen waren gekommen, eine ganze Armee; wer wußte, wann sie auf eigene Faust mit dem Feind zu verhandeln begann? Wann das Land, in zwei Teile zerrissen, verschachert wurde? Entsetzt fuhr man zurück, zischte einem das Gerücht zum erstenmal entgegen. Dann gab man es achselzuckend weiter. Die Not war groß, das Mißtrauen größer. Im kalten Winterschnee erstickte sogar die Flamme des Kriegs beinahe; aber das Fieber flackerte grauenhaft allenthalben auf.

Rasch, von einem Tag zum nächsten, war der Entschluß gefaßt. Der Fürst, von der Front 158 hergeeilt, hieß uns zur Reise rüsten. Schuhe, Kleider, Decken wurden in Säcke gestopft, in der Dunkelheit zu einem abseits liegenden Bahnwagen geführt, in einem freigehaltenen Abteil verstaut. Karapantscha mit seinen Gehilfen stand Wache. Der Wagen wurde einem Zug angekoppelt, der russisches Eisenbahnmaterial abführen sollte. Bis über die nahe Grenze war die Fahrt gesichert; nachher mußten wir uns allein weiterhelfen.

Noch einmal, nachdem die Türen schon geschlossen worden waren, stürzte der Fürst herein, riß die Kinder an sich, strich ihnen über das Haar, über die Wangen, als wollte er ihr Bild auch in den Händen bewahren. Dann blieb er in der Nacht zurück.

Auf der Grenzstation, im ärmlichen Licht des Bahnsteigs, sah ich Karapantscha würdigen Ganges auf die russischen Zöllner zuschreiten; sie folgten ihm zu unserem Wagen, er hob die Hand gegen unser Fenster empor, redete heftig auf sie ein, und sie nickten. Dann führte er sie zurück. Keuchend, daß ihr Atem wie Wolken um sie stand, schleppten die beiden Gehilfen ein Fäßchen herbei. Die Russen stellten sich dicht darum auf, ihre langen Mäntel umschlossen 159 es ganz, sie beugten sich nieder, schlugen mit dem Knöchel daran, richteten sich auf und ließen das Fäßchen in ihren Wachraum rollen. Wie zur Parade standen sie unserm Abteil gegenüber und rührten sich nicht, bis der Zug wieder zu rollen begann. Vor ihnen, mit großer Gebärde, warf Karapantscha eine Kußhand zu uns empor und wischte sich dann mit dem Handrücken über die Augen.

Unter uns donnerte die eiserne Brücke. Ueber uns stand die Winternacht. Vor uns lag, schneefahl und stumm, die Weite des russischen Landes.


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