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Nachwort

Nur schauen, beobachten, sinnend und träumend intuitive Schlüsse ziehen!« Dieser Satz steht in der »Schonungslosen Lebenschronik«, worin Kurt Martens Abrechnung hält mit den ersten fünfzig Jahren seines Lebens, und sie treffen den Kern seines Wesens vielleicht besser, als ihm selbst vollkommen bewußt wurde. Er ist keiner jener derben Tatmenschen, die das Leben im Anlauf erobern und zwingen, er ist ein stiller, schlichter Betrachter, der sich aus dem lauten Treiben des Tages zurückgezogen hat wie der greise Goethe auf seine »Burg«, und mit lächelnder Gelassenheit den Lärm der kleinen Welt betrachtet, geruhig in dem Bewußtsein, daß es kein Heil gibt außer uns selbst. Die tiefe Einsicht in die Erhabenheit der Natur, in die zwangsläufige Entwicklung allen Seins, hat ihn besonnen und bescheiden gemacht, aber auch unendlich mild. Mit tiefem Schmerz sieht er die Leiden aller Kreaturen, sieht er, wie Streit ist und Haß um nichtige Dinge, und all »Die großen und die kleinen Leiden« empfindet er mit der schmerzlichen Bitternis des Weisen, der im freiwilligen Verzicht des Lebens besten Teil erkannt hat.

So ist er, durch Geburt und Erziehung, ganz ein Kind jener Zeit, die die Untergangsstimmung des neuen Jahrhunderts mit merkwürdiger Empfindlichkeit vorausgefühlt hat, der hinter all dem gleißenden Prunk des neuen Reichs das morsche Fundament gesehen hat, dem keine Dauer beschieden war. Schon in seinem ersten Buch, dem er den symbolischen Titel »Sinkende Schwimmer« gibt (1892), kündigt sich diese Stimmung leidvoll an, setzt sich in der Novellensammlung »Die gehetzten Seelen« (1897) stärker fort und gibt dem ersten großen Roman, dem »Roman aus der Décadence« (1898), sein eigentliches Gesicht, denn hier sind alle die kaum erkennbaren Zeichen des beginnenden Verfalls, wie sie sich seinem vielerfahrenen Auge darstellten, mit fast beängstigendem Scharfblick erkannt und mit unbestechlicher Offenheit und ohne jede Sentimentalität, fast nüchtern sachlich entwickelt, hier findet sich die »scharfschützenhafte Treffsicherheit«, die Richard Dehmel seinen Novellen nachrühmt, ins schier Unheimliche gesteigert; der Ausdruck ist anschaulich »bis zur Fingerspitzengreifbarkeit«, und wenn dem Werk etwas fehlt, so liegt es vielleicht an der philosophischen Ruhe des Helden, an der vivisektorisch kühlen Haltung des Verfassers, der zwar viel eigene Erlebnisse in die Fabel verflochten, aber doch zu wenig von seinem Herzblut gegeben hat. Es offenbart sich darin viel Ähnlichkeit mit E. von Keyserling, dem überlegenen baltischen Edelmann, mit dem er ja auch tatsächlich besonders verbunden war. In beiden liegt etwas von jener Art, die man mit einem leidigen Fremdwort die Fin-de-siècle-Stimmung genannt hat, jene müde, resignierte Art, wie sie absterbenden Geschlechtern und Zeiten eigen ist. Darin liegt aber auch wieder ein merkwürdiger Reiz, weil sie alles besonders sehen, besonders darzustellen wissen und ihren Stoff mit seiner fast unerhörten Geistigkeit durchdringen. Das tritt bei Martens vielleicht noch stärker hervor als bei Keyserling, denn er zeigt sich immer wieder als ein außerordentlich geistvoller Kopf, als ein Mensch, der allem ohne jede Voraussetzung entgegentritt und eben deshalb jedes Ding in seinem Kern betrachten kann. Darum reizt ihn auch das geistige Geschehen am meisten, darum sucht er seine Stoffe am liebsten in der großen Gesellschaft, mit der er von frühester Jugend an eng verbunden war.

Geboren wurde er am 21. Juli 1870, als Sohn eines Geheimen Regierungsrats in Leipzig, studierte nach sorgfältiger Vorbereitung Rechtswissenschaft, Geschichte und Philosophie, trat in seinem 25. Lebensjahre, offenbar weniger aus innerem Zwang, als einer mystischen Neigung folgend, zur katholischen Kirche über, promovierte zum Dr. jur. und siedelte sich nach mancherlei Reisen in München an, wo er seitdem in rastloser Arbeit tätig ist. In Leipzig hatte er die berühmte Literarische Gesellschaft mitbegründet, die auf das literarische Leben in Deutschland eine Zeitlang bestimmenden Einfluß hatte.

Es würde den gesteckten Rahmen weit überschreiten, wollte ich hier auch auf die anderen erzählenden und dramatischen Werke des Dichters noch näher eingehen, die alle bei Grethlein & Co. in Leipzig erschienen sind; mit besonderer Betonung sei aber auf seine schon eingangs erwähnte »Schonungslose Lebenschronik« hingewiesen (192l im Rikola-Verlag), die einen tiefen Einblick in sein eigenes Werden und in die geistige Verfassung Deutschlands vor dem Kriege gewährt. Man kann bezweifeln, ob es nötig war, so rückhaltlos über alle Erlebnisse zu berichten, aber man kann nicht leugnen, daß sie tiefe und oft überraschende Offenbarungen bietet, aus denen tatsächlich ein Kulturbild entsteht, das man zu sicheren Schlüssen heranziehen kann.

In der vorliegenden Auswahl sind »Ein Rückfall«, »Die Freundin und das Schäfchen« dem »Tagebuch einer Baronesse von Treuth« entnommen; »Der Kreisel«, »Begegnung«, »Nely und Cornelia« aus dem Band »Die großen und die kleinen Leiden«, »Der Ritt des Freiwilligen Pöppelmann« den »Katastrophen«.

Bremen, Ostern 1923
Dr. Karl Neurath.


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