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Sieben Stunden hatte er ununterbrochen an seinem Buche geschrieben, das die »Erkenntnis und Beherrschung des Lebens« behandelte. Nachdem das Kapitel »vom Spiel« und das »von der Liebe« vollendet waren, begann er »vom Ehrgeiz« zu reden, der die Männer reizt, wenn sie auf der Höhe ihrer Jahre stehen. An diesem Abschnitt seiner Arbeit lag ihm viel, weil Ehrgeiz für Herrschfreudige ein wichtiger Weg ist und eine gefährliche Klippe. Und es war ja die Aufgabe seines Buches, zu lehren, mit welchen Mitteln man die realen Mächte des Daseins sich unterwirft, wie er dies schon an sich selbst erprobte.
Er warf die Feder auf die weißen Bogen nieder und lehnte sich in den Sessel zurück. In seinem Hirne kreisten die Gedanken schneller und heftiger, drängten und ordneten sich, so daß ihm der Kopf wie unter Lasten sich beugte, mit dem Kinne die Brust berührte und mit dem langen blonden Bart die verschränkten Arme streifte. So fühlte er sich erhaben über Könige. Der Stuhl, in dem er die Erkenntnis eiserner Gesetze fand, dünkte ihm würdiger als ein Thron, der Tisch, auf dem er sie niederschrieb, glich wohl dem Parlament, wo die Geltung dem lauschenden Volke verkündet wird.
Es war ein breiter, kostbarer Tisch von schwerem Eichenholz mit silbernen Schlössern. Ein Schreibzeug darauf, aus Marmor mit Gold verziert, hatten begeisterte Schüler ihm geschenkt, als er vor kurzem sich den akademischen Lehrstuhl eroberte und so einer jungen Philosophie freiester Richtung zum Siege verhalf. Werke von Hume und Spencer standen da nebeneinander; aufgeschlagen war Nietzsches »Genealogie der Moral« und Macchiavellis »Buch vom Fürsten«.
Sein Ruhm lag in der absoluten Unbefangenheit des Denkens, in der rücksichtslosen Kühnheit, mit der er die Prämissen stellte und unbeirrt die letzten Folgerungen zog, vor denen andere zurückweichen, weil sie Abgründe fürchten. Kühl und sachlich wies er den Schulphilosophen die Einflüsse nach, die, zu Vorurteilen ausgewachsen, ihrem System oder ihrer Kritik den Weg gewiesen hatten, wie fast bei allen das Ziel von vornherein schon festgesetzt gewesen, ihr Wunsch der Vater der Gedanken sei und nicht einmal zum Vorteil eigener Persönlichkeit.
Er war, den großen Weltweisen aller Zeiten darin ähnlich, vor allem Zweifler. Aber sein Zweifel machte selbst vor den Gesetzen der Logik nicht halt; er zerstörte sie, indem er darauf hinwies, daß sie nur mit sich selbst bewiesen werden konnten und erhob damit das Nichts-Wissen-Können zum obersten wissenschaftlichen Prinzip. Daher auch sein Abscheu vor der Metaphysik. Für das diesseitige Leben allein, das nicht bewiesen, sondern nur gestaltet zu werden braucht, ließ er die Anwendung formalen Denkens, als durch Übereinstimmung begründet, praktisch gelten. Das greifbare Leben war sein Gott; ihm widmete er alle seine Kräfte. Der Gott der metaphysischen Welt dagegen war für ihn nichts als »das Irrationale«, und irrationale Größen interessierten ihn nicht.
Ein Meister des Lebens trat er leicht und gewandt alle Hindernisse unter seine Füße. Weil er mit den innersten Trieben der Menschen wohl vertraut war, so wußte er die Motive ihrer Handlungen richtig zu schätzen und sie nach eigenem Wunsch zu lenken. Selten verrechnete er sich, niemals ließ er sich täuschen. In allen Sätteln war er gerecht:
»Des Hofmanns Auge, des Gelehrten Zunge,
Des Kriegers Arm, des Staates Blum' und Hoffnung,
Der Sitte Spiegel und der Bildung Muster,
Das Merkziel der Betrachter ...«
und allem überlegen, durch nichts zu verwirren, durch nichts zu erschüttern und stolz auf seine Freiheit und auf seine selbsterworbene Größe. Durch zahlreiche populäre Schriften und Revuen hatte er seinen Skeptizismus in alle Kreise getragen, und da die Zeitströmung mit ihm war, so drang sein Name bis in die Klassen der Gymnasien, bis in die Boudoirs der Damen. Für seine Fachgenossen von der strengen Wissenschaft schrieb er ein »System des agnostischen Monismus«, von dem selbst seine Gegner zugaben, daß es konsequenter sei als die »Kritik der reinen Vernunft«.
Vor jeder theoretischen Betrachtung setzte er den Gegenstand in Beziehung zu seinem eigenen Wesen, um sich klar darüber zu werden, ob der Blick auch reif sei zum objektivsten Urteil. So stellte er jetzt die Diagnose auf Ehrgeiz. Er untersuchte alle Winkel seines Charakters, ob und in welchen Formen sich diese Schwäche bei ihm fände. Doch konnte er, wiewohl er sich auf mancher kleinen Eitelkeit ertappte, von Ehrgeiz, als vom Streben, jenen Eitelkeiten durch Menschen schmeicheln zu lassen, nichts entdecken. Wohl aber fand er seine Vorstellungen, all seine Willenskräfte durchtränkt von dem Lustgefühl eines hohen Selbstbewußtseins und eines fanatischen Vertrauens auf seine so kunstvoll ausgebildete Persönlichkeit. Ja, wenn er gewisse Gedankengänge wiederholte, so fiel es ihm auf, daß er an den Stellen gern verweilte, wo die Unbestechlichkeit des Urteils besonders deutlich hervortrat und seine Überlegenheit über verblendete Impulse hell beleuchtete. So wuchs ihm die Verachtung des Menschen ins Unermeßliche, bis er das Allzumenschliche kaum mehr begriff. Wie hätte es ihn da nach den Beweisen fremder Verehrung noch gelüsten sollen! Nein, in ihm selbst erneute sich täglich der kostbare Quell des Stolzes auf seine unerschütterliche Kraft und Größe. Ein glückliches Lächeln zog um seine Lippen, so oft er seiner selbst gedachte.
Unbeweglich blieb er Stunde auf Stunde in dem großen, stillen Raume und spann seine Fäden weiter. Die Dienstboten, deren Geräusch die Überlegung störte, beurlaubte er allabendlich. Sie waren ihm zuwider mit ihrem geschäftigen Unverstand. Wären die kleinlichen Sorgen des Haushaltes nicht gewesen, er hätte sich am liebsten selbst bedient. Erst wenn er sich ganz allein im leeren Hause wußte, nahmen seine Gedanken den freien, weiten Flug, der ihnen Sicherheit verlieh. Da verschwand das Getriebe der nahen Stadt, das kindische Hasten der Bewohner. Nur die Laute der ehrwürdigen Natur spielten noch leise in den Bäumen, deren Gezweig hinter den Fenstern sich bewegte. Sonst schien die niedere Wirklichkeit erstorben vor der Entfaltung der intellektuellen Kräfte.
Als er mit seiner Analyse der ehrgeizigen Gelüste auch deren Befriedigung erwog, erschien es nötig, die Begriffe von Ziel und Ende näher zu bestimmen. Auf Grund seiner Lehre, daß jeder Wille Selbstbeschränkung finden müsse in der Erkenntnis des Erreichbaren, gelangte er zur Einheit von Ziel und Ende. Ziel konnte dem vernünftig wollenden nichts anderes sein als das Ende des Willens, wie es sich im Bewußtsein spiegelt. Nun galt es, den Begriff vom Zweck hiermit noch zu verbinden ...
An diesem Punkte des Gedankenganges ward der Gelehrte unvermutet von einer heftigen körperlichen Schmerzempfindung unterbrochen. Doch ehe er nach deren Art und Herkunft sich fragen konnte, war sie verschwunden. Nur eine Erregung blieb zurück mit rascherem Herzschlag und aufsteigender Hitze.
Er erhob sich und suchte, indem er im Zimmer auf und nieder schritt, den ungewohnten Zustand zu vertreiben. Aber die Unruhe, deren Grund nicht ersichtlich war, nahm zu, die Temperatur des Körpers wechselte in kurzen Zwischenräumen und erzeugte bald Schweiß, bald fiebriges Frösteln. Das ganze Nervensystem lag plötzlich wie in krampfhafter Spannung, alle Sinne waren gereizt, das Auge fühlte sich vom Lampenlicht geblendet, das Gehör vom leisesten Geräusch verletzt, vergebens mühte er sich, die Arbeit wieder aufzunehmen; das Hirn versagte die Funktion und richtete sich mit dem Trieb der Selbsterhaltung auf das physische Befinden.
Eine unbestimmte Erinnerung tauchte auf, an Tage der Kindheit. Noch konnte er sich die Beziehung nicht erklären. Deutlich zeigte sich nur der Widerwille, den sie hervorrief, vielleicht fielen ihm Krankheitstage ein aus jener ärgerlichen frühen Zeit, die ihm niemals teuer gewesen war, die er verachtete, weil sie ihn unwissend und bedeutungslos gesehen hatte. Auch war er schlecht unterrichtet worden als Knabe und hatte sein jugendliches Alter nicht einmal genießen dürfen. Dazu befiel ihn jetzt eine Schwäche, die seinen ganzen Organismus wie in Ketten legte. Die Energie des Denkens versagte; zusehends verdunkelten sich die Vorstellungen und kreuzten sich in sinnlosem Durcheinander.
Die Fortsetzung der Arbeit war nun völlig ausgeschlossen. Der Abend, von dem er sich so viel versprochen, blieb verloren. Mit zitternden Händen schob er die Bogen ineinander. Es ahnte ihm ein langer Abschied. Und während er hinüberging nach seinem Schlafzimmer, entmutigt und wie im Taumel, kam es ihm vor, als ginge er einen verhängnisvollen Weg, vereinsamt, weil verlassen von seinem Werke. Ach, daß es doch schon vollendet gewesen wäre, das Buch oder zum mindesten das Kapitel »vom Ehrgeiz«!
Hastig kleidete er sich aus. Hände und Füße, die eiskalt gewesen, wurden, sobald er sich zu Bett gelegt, nun glühendheiß. Alsbald begann auch das Herz immer heftiger und ungestümer zu klopfen. Beschleunigter Pulsschlag und Mattigkeit deuteten auf Fieber. Und plötzlich verspürte er wieder denselben bohrenden Schmerz wie vorhin, der auf der linken Brustseite in kurzen Zwischenräumen bald stärker, bald schwächer sich wiederholte.
Jetzt hellte sich die Erinnerung auf. Genau dies krampfhafte, zusammenschnürende Gefühl hatte ihn, als er ein Knabe von dreizehn Jahren war, eines Abends gepeinigt. Eine schwere Krankheit hatte sich damals daraus entwickelt, eine Herzbeutelentzündung, an der er wochenlang daniedergelegen. Einzelheiten huschten wie Gespenster an ihm vorüber. Er sah seine verstorbene Mutter, an die er selten mehr gedacht, zärtlich besorgt an seinem Lager sitzen; er meinte den Geruch des Kamillentees und der scharfen Arzneien zu spüren und den Schritt des Arztes zu hören, der immer mit dem Stock ins Zimmer stampfte. Das waren beängstigende Tage gewesen. Sie waren ihm in Vergessenheit geraten, wie die ganze Kindheit, von der ihn seine stolzen Erfolge schieden, daß er lange glauben durfte, durch nichts mehr mit ihr verknüpft zu sein, gleichgültig und kühl ihr gegenüberstand wie ein vornehmer Fremder. Und nun zeigte sich mit einem Male, daß noch immer eine verborgene Gemeinsamkeit zwischen seinen beiden Ich-Wesen bestand, eine unheimliche Identität, die gerade da sich offenbarte, wo sie gefährlich schien.
Unruhe und Beklemmung steigerten sich und hielten ihn in einer dumpfen Erwartung vor neuen Symptomen. Das Blut kreiste ihm eintönig in den Ohren, summte und sang so unerträglich, wie der Gesunde es nie vernimmt. Entnervt, mit kurzem, fliegendem Atem warf er sich unter den Decken hin und her, bis er in einen Halbschlaf verfiel, in eine bewußtlose Apathie voll blasser, wirrer Bilder aus der verlorenen Kinderzeit.
Aber bald erwachte er wieder, elender als zuvor. Irgendein seltsamer Ton oder die Einbildung eines solchen hatte ihn aufgestört. Er fuhr in die Höhe und horchte. Doch im Zimmer, überall im leeren Hause, war es totenstill. Da überfiel ihn ein Grauen vor der Einsamkeit, in die er sich vergraben, eine wahre Gier nach menschlichen Stimmen und menschlichen Gesichtern. Drei-, viermal drückte er auf den Knopf der elektrischen Klingel; vergebens, noch war keiner der Dienstboten heimgekehrt. Sinnestäuschungen traten auf, ohne daß er imstande war, sich ihrer zu erwehren, von neuem glaubte er jenen seltsamen Ton zu vernehmen. Wie ein Stampfen klang es, dann deutlich wie ein Schlürfen. Dazwischen das Geflüster der Bäume hinter den Fenstern. Noch einmal nahm er alle Kraft zusammen, mit der Kritik sich über den physischen Zustand zu erheben. In den Schätzen seines Wissens wühlte er nach medizinischen oder psychischen Mitteln. Doch keines wollte ihm einfallen, außer der tüchtigen Dissertation eines Schülers »über Schmerz und Ekel«, deren Ratschläge von der Autohypnose ihm jetzt wie Hohn erklangen.
Wieder legte sich der Krampf gleich einem eisernen Ring um sein Herz und ließ ihn nicht wieder los, sondern schwoll immer fürchterlicher an, bohrte und grub sich mit scharfen Zähnen ein, wuchs und griff um sich, fraß in den Armen und in den Schenkeln, drang selbst bis in die Fingerspitzen vor. Und eine Angst schlich heran, eine entsetzliche, markaussaugende Todesangst, so daß der Gefolterte laut aufstöhnte, mit den gekrallten Händen um sich schlug und das Hemd aufriß, als könnte die Luft, die Luft des Lebens, die er atmete, ihm Linderung schaffen. Dabei schien das Herz selbst im Körper sich gelöst zu haben, stieß und flatterte gegen die Brust wie ein gescheuchter Vogel.
Wohl eine Viertelstunde lang behauptete sich der Schmerz in voller Stärke. Dann ließ er allmählich nach, gefolgt von einer starrkrampfähnlichen Kraftlosigkeit. Reichlicher Schweiß brach aus. Die Herzbeklemmung ging zurück; dafür aber machte sich mit der wiederbeginnenden Tätigkeit des Gehirns eine physische Angst bemerkbar, schlimmer noch als das körperliche Leiden.
Es war die Möglichkeit des Sterbens, die dem Kranken unabweisbar sich aufdrängte. Er erinnerte sich, damals nach seiner Genesung gehört zu haben, daß bei derartigen Fällen leicht der Tod eintreten könne, ja eintreten müsse, wenn sie rasch hintereinander sich wiederholten. Der Tod, von dem er nie anders gesprochen als vom » exitus letalis«, von der »Auflösung«, wandelte sich jetzt binnen wenigen Minuten zu einer übermächtigen Persönlichkeit, vor der Systeme und Lebenskünste in Asche zerfallen. Eine Lehre vom Tode war in des Gelehrten Lebenswerke übersehen worden. Das Ende der organischen Welt war ihm zu selbstverständlich gewesen, als daß es ihn hätte fesseln können. Nun wurden die Fragen ganz plötzlich brennend. Die »Erkenntnis und Beherrschung des Lebens« reichte nicht mehr aus. Wie den Tod empfangen, wenn er käme? Wie sich zu den Dingen stellen, die nach ihm sich ankündigten? – So wurden die erschöpften Gedanken grausam aufgepeitscht. Hastig, wie Arbeiter, die sich zu verspäten fürchten, drängten sie vorwärts, überstürzten und verwirrten sich in ihrer Schwäche. Nur jener Schluß der Einheit von Ziel und Ende war stets voran: Tod ist Ende, folglich ist Tod auch Ziel des Lebens. Nicht der Herrschaft gilt das Wirken also, nicht der Erkenntnis, sondern immer nur dem Tode. Und der Begriff vom Zweck war nun auch offenbar. Er schloß sich jener Einheit an: Tod als Ende Zweck des Lebens!
Heißer denn je entflammte sich die Liebe zu seinem vollen, reichen Leben. Die Genüsse des Forschens und der Entdeckung jener Weisheit, die dem beschränkten Pöbel ewig verborgen bleibt, die Genugtuung, da verachten zu können, wo andere blind verehren, zauberte ihm noch einmal die Freude an den Kräften vor, die jetzt so plötzlich zu zerfallen drohten. Doch wozu das alles, wenn Tod der Zweck des Lebens war? Dann kam nur in Betracht, was jenseits lag, das wissenschaftlich Unzugängliche, das Unerforschliche. – Der kranke Kopf erhitzte sich im Grübeln; die Nerven wurden zermartert vom Grauen. Da war es abermals der Geist seiner Jugend, der ihm längst Vergessenes und, wie er meinte, Überwundenes zuflüsterte.
Seine ganze Kindheit war beherrscht gewesen vom religiösen Glauben. So oft er damals sich ängstigte und litt, hatte er sich zum Gebet geflüchtet und mit sorglosem vertrauen aus himmlische Hilfe sich getröstet. Ein furchtsam artiges Gotteskind war er gewesen, bis er, zum selbständigen Denken erwacht, sich auf eigene Füße stellte. Aber es hatte doch in jener Selbstentäußerung ein wunderbarer Trost gelegen; gegen alle Sorgen und Bedrängnis wirkte sie, ein billiges Radikalmittel, so mild und sicher.
Selbstentäußerung! Verzicht auf Selbsterworbenes, Selbstgewordenes, auf die so weislich ausgebildete Vernunft, auf all die stolzen Erkenntnisse und Überwindungen, Verzicht auf den ganzen Inhalt seines Lebens! Ein qualvolles Lachen stieg in ihm auf; zum ersten Male geschah das Unerhörte, daß er in einem Zwiespalt mit sich selber unterlag. Der Instinkt einer allzu menschlichen Angst triumphierte über das Denken, das ihn erbärmlich fand und doch nicht meistern konnte, nur mit verzweifeltem Hohne sich dagegen sträubte. Das Radikalmittel drängte sich auf. So kläglich es erschien, es wirkte sicher; der Tod als Zweck verlangte nichts als eben dieses Mittel. Schon war der Wille mürbe; ein kleiner Druck noch, und er würde glauben, die Lippen würden beten – und dann Erleichterung – und Erlösung – und Frieden für das Ende. – Nicht widersprechen! Keinen Hohn! Im Angesicht des Todes hat der Verstand sein Recht verloren ...
Im Korridor ertönten Schritte und weckten den Kranken aus seiner Agonie. Sein erster Gedanke war zu klingeln, um jemand neben sich zu haben, der ihm zusprechen oder helfen könnte. Als er indes an dem schlürfenden Gang die alte gebrechliche Köchin erkannte, deren Anblick allein ihm stets widerwärtig gewesen war, besann er sich eines andern. Ein kindisches Gefühl von Scham und Trotz hielt ihn ab, so hilflos Beistand von ihr zu verlangen. Es genügte, daß er nun wenigstens nicht mehr verlassen war. Auch zum Arzte mochte er nicht schicken. Er hatte voll Mißtrauen gegen die landesübliche Medizin sich zur Naturheilkunde bekannt und wußte, daß gerade in diesen schweren Fällen von Herzneurose die Ärzte bis auf bekannte Verlegenheitsmittel wie Chloral und Morphium ratlos sind. Zudem war das Schlimmste hoffentlich vorüber.
Aber noch ehe er die Augen wieder schließen konnte, packte es ihn abermals. Wie aus einem Hinterhalte sprang der tückische Schmerz ihn an und wühlte sich durch die Glieder. In diesem Fürchterlichsten, das er je gelitten, wand sich der Kranke, hin und her geschleudert, gekrümmt, wimmernd, mit keuchender Brust. Dann kam die Angst und mit ihr die Gewißheit seines Todes. Sein ganzes Leben brach vor ihm zusammen, wertloser Plunder. Wenige Minuten machten ihn zum ärmsten Mann.
Nun war alles vergebens gewesen. Die relative Wahrheit hatte ihren Sinn verloren. Es gab keine Ansicht mehr, viel weniger Überzeugung.
Darum sträubten sich die Hände nicht mehr, zu beten. Alles war nun ohne Wert. Aber vielleicht stand hinter den Dingen doch jener unwahrscheinliche Gott. Warum ihn nicht anrufen, wenn es Linderung gewährte? –
Und der Kranke begann zu schreien in seiner Qual, grelle, abgerissene Laute, untermengt mit bettelnden Worten und Beteuerungen eines frommen Glaubens. Und wirklich meinte er damit sich zu erleichtern und schrie immer wieder, daß es im Hause widerhallte und die erschrockene alte Köchin zu ihm ins Zimmer stürzte.
Was dem Herrn Professor fehle, fragte sie. Ob sie zum Arzt laufen oder lieber bei ihm bleiben und ihm was bringen solle.
Es gab nichts mehr, wonach ihn verlangte. In seiner hoffnungslosen Pein war nur der eine Gedanke noch, daß es nun bald zu Ende gehe, daß man sich hüten müsse, dieses Ende aufzuhalten.
Dann aber vermengten sich die Begriffe Tod und Gott; und der Gottesbegriff rief wieder die Vorstellung der irdischen Offenbarungsform hervor, die dem Tode gegenüber wunderbare Werte zeigt.
Die Lippen stießen mühsame Worte hervor; als sie verständlich wurden, klangen sie fremd und weinerlich. Es war die Stimme der Kinderzeit.
Der Gelehrte rief nach dem Priester. – – –
In den lichten Augenblicken seiner Bewußtlosigkeit sah er das Antlitz des Priesters über sich gebeugt, die vertrockneten Züge eines Greisen, die leblos und abstrakt erschienen wie der Dienst, unter dem sie gealtert waren. Sie wurden von Verachtung oder Mitgefühl nicht mehr bewegt; selbst die Genugtuung über errungenen Sieg war ihnen fremd geworden. Denn der Allmächtige wird immer siegen, wenn er die Hand ausstreckt nach hoffärtigen Herzen.
Der Kranke hörte, wie mit eintönig singender Stimme Gebete über ihm gesprochen wurden; sie hallten in ihm wider, ohne daß er ihren Sinn verstand. Dann aber vernahm er deutlich das Kredo und sprach selbst dazu ein schwaches, inbrünstiges Amen und vernahm die Formel der Beichte: » Confiteor Deo omnipotenti et vobis pater ...« Er bekannte vor Gott sein Leben und opferte ihm die Sünde seiner Erkenntnis und seiner Weisheit auf. Und endlich empfing er zwischen Schlaf und Wachen die Hostie auf seiner Zunge. Er fühlte sich heilig und froh davon, weil er gewiß war, daß durch die Heiligung allein sein Streben selig würde. Noch seltsameren Opfern hätte er jetzt sich unterzogen, nur um diese Gewißheit sich zu erhalten.
So verscheuchte er die Angst vor seiner Auflösung und umging mit dem Radikalmittel seiner Kindheit die letzten quälenden Gedanken. Eine sanfte und vage Befriedigung zog in sein Gemüt. Es wurde besser mit ihm.
Der Schlaf ward fest und gleichmäßig. Die Träume vergingen, bis auch der Herzschlag allmählich sich besänftigte und die Genesung vorwärtsschritt.
Als er am nächsten Tage spät erwachte und einen Arzt um sich beschäftigt sah, staunte er fast, sich noch lebend und verhältnismäßig wohl zu finden.
Verschwommen, stückweise traten ihm die Erlebnisse der letzten Nacht in Erinnerung. Er schrak davor zurück und suchte sie vor sich selber abzuleugnen. War es denn möglich, daß er so leicht sich hatte ganz aufgeben können? Oder war es schon Irrsinn gewesen, der seinen Intellekt von der Verantwortung befreite? – Doch eine Antwort, die ihm behagt hätte, blieb aus. Scheu zog er sich vor jeder Wahrheit über diesen Punkt zurück, beschäftigte sich angelegentlich mit seinem äußeren Zustand, den der Arzt für völlig gefahrlos erklärte. Eine akute Krankheit wäre nicht vorhanden. Nur würde er das Bett noch hüten müssen, bis er wieder zu Kräften gekommen sei. Er hatte sich überarbeitet. Das war alles. –
Bald war sein Körper gesund und kräftig wie ehedem. Er konnte daran denken, von neuem seiner Arbeit sich zu widmen, das Werk »von der Erkenntnis und Beherrschung des Lebens« fortzusetzen.
Aber seltsamerweise wollte ihm die rechte Sammlung dazu nicht gelingen. Immer wieder stieß er auf die Notwendigkeit, zuvor sich über seinen inneren Zustand klar zu werden, festzustellen, ob und in welcher Weise die rasche, schemenhafte Wandlung jener schlimmen Nacht in ihm fortwirkte. So oft er einen Anlauf dazu nahm, erschrak er vor sich selbst; seine Erwägungen wurden überschwemmt von einer Flut der peinlichsten Gefühle. Nirgends fand er sicheren Boden, auf dem er bauen konnte, überall aber eine klägliche Scham, Verbitterung und Zynismus. Immer tiefer verirrte und verstrickte er sich in Unbegreiflichkeiten. Er fand sich nicht mehr zurecht, weder in seiner Natur noch in seinen Zweifeln. Wenn er in seinen Schriften las, um den Zusammenhang zu finden, so kam ihn unvermutet Spott und Ärger an. Vieles verstand er nicht mehr, vieles erschien banal und vieles falsch.
Zuweilen tauchte das vertrocknete Gesicht des Priesters vor ihm auf mit dem leeren, abstrakten Ausdruck, der sich ihm zwischen Traum und Wachen so deutlich eingeprägt. Er fürchtete, ihm wieder zu begegnen, und meinte, dieser fremde Priester müsse dann höhnisch nach ihm blinzeln und würde sicher auch mit dem Triumphe seiner Eroberung prahlen. Wie aber würde dann seine, des Gelehrten, Weisheit so geplündert vor dem schadenfrohen Pöbel stehen!
Da ward dem klugen Mann des Lebens immer ängstlicher, immer unsicherer, ratloser und fast erbärmlich zumute.
Er mochte Welt und Wissenschaft nun anfassen, wo er wollte. Es gelang nichts mehr. Auch nicht die kleinste relative Wahrheit ließ sich mehr von ihm ergründen, und selbst beim offenbarsten Widersinn versagte ihm die Kritik. Doch was das Wesentlichste blieb: Er selbst war sich zur Nebensache, ja zur Last geworden, ein mehr als zweifelhafter Maßstab der Erkenntnis.
Sein Werk hieß nun Fragment. Sein Wissen ging den Weg der Schulgelehrsamkeit. Jahraus, jahrein hielt er historisch-philosophische Kollegien, nachdem er sich selbst und seiner Zeit schon längst historisch geworden war.