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Um Mittag.


Des Tages Last und Hitze.

 

Minster, im Juni 1836.

Viele Jahre sind verstrichen, seit ich regelmäßig in ein Tagebuch schrieb. Die Zwischenräume wurden immer länger, und ich begnügte mich damit, die Ereignisse nebst ihrem Datum zu verzeichnen. Ich weiß nicht, weshalb das geschah, auch nicht, warum in diesem Augenblick, wo ich in meinem alten, auf den Münsterplatz blickenden Zimmer sitze, das Verlangen erwacht, wieder anzufangen, und meinen Gedanken, wie in jüngeren Jahren, Ausdruck zu geben.

Und in der Hast und dem Getreibe des Lebens ist eine Pause, wie sie mir, nicht aus Wahl, sondern durch die Nothwendigkeit geboten worden, sehr heilsam. Mir war seit Wochen unlustig und träumerisch zu Muthe. Ich bin, was Dr. Randall »schwach« nennt, und fand es schwer, mich zu irgend einem Zwecke aufzurütteln. Ich, sonst so sehr an Arbeit und an Lust zur Arbeit gewöhnt, muß sie nun, im Mittag meines Lebens, eine Zeitlang aufgeben und still liegen.

Erst gestern sagte Gottfried mit seinem lieben sorgenden Blick, den ich wohl verstand, zu mir: »Weißt du nicht einmal mehr etwas von den Krähen zu berichten?« Dann nahm er mein letztes Buch, in dem ich grade geblättert, als er eintrat, zur Hand und bemerkte: »Nun, Letty, es steht nur wenig darin.« Er begann zu lesen – grade in dem Theil, welchen ich ihm lieber nicht gezeigt hätte, – die finsteren Tage der Jahre 1825 und 1826 betreffend.

Ja, sie waren finster, denn alle Nöthe, die mit dem Gelde zusammenhängen, haben etwas so Trauriges, Gemeines und Drückendes. Halb England empfand die Krisis jener schrecklichen Jahre, aber sie lastete besonders schwer auf uns. Gottfried war um Rath gefragt worden, und hatte mehreren Freunden, unter ihnen dem Dr. Randall – die Aktien einer brasilianischen Bergwerksgesellschaft zum Ankauf empfohlen. Die Sache mißglückte, und Therese ließ das meinen armen Gottfried hart entgelten. Mein kleines Vermögen war auch dahin. Ich meinte, das kümmere mich nicht, fand aber, als die Nothwendigkeit äußerster Sparsamkeit mehrere Jahre andauerte, daß es mich allerdings kümmerte.

Gottfried hielt sich tapfer, verlor indeß doch eine Zeitlang alles Selbstvertrauen, wenn ich's so ausdrücken darf, und schien während dieser Bedrängnisse von der Blüthe der ersten Manneskraft in die tiefer liegende Region des mittleren Alters herabzusteigen.

Das war die dunkle Seite, doch gab es auch eine hellere. Mein Körper hielt Stand; ich blieb gesund und kräftig, und ertheilte Hugo und Jack, Lanz und Stephan Unterricht in der lateinischen Grammatik; Isabella und Greta aber hatten keine andre Erzieherin als ihre Mutter. Das gab natürlich viel Arbeit, aber sie fiel mir nicht schwer. Ich besitze vielleicht Lehrtalent, und meine beiden älteren Mädchen schreiben und sprechen ein gutes Englisch; auch hoffe ich, daß sie genug gelernt, um wegen zeitlicher Dinge die ewigen nicht zu vergessen.

Gottfried hat mir ein schönes neues Tagebuch verehrt, und selbst meinen Namen auf die erste Seite geschrieben, nebst der Bitte, Gott möge die kommenden Jahre friedlich und glücklich dahingehen lassen.

Aber ich fühle nicht, als sei es mir jetzt schon beschieden, zur Ruhe, zur wirklichen Ruhe zu kommen, vielmehr nur zu einem jener stillen Plätzchen, welche der Herr den müden Pilgern zur Erfrischung gönnt. Das alte Haus ist sehr voll, und wenn die Knaben in der Ferienzeit alle eintreffen, bleibt uns kaum Raum zum Athmen, wie Anna bemerkt; die liebe gute Anna, welche während aller Wandlungen und Kämpfe dieser siebzehn Jahre treu bei mir ausgehalten!

 

Den 16. Juni.

Unser Haus befindet sich in großer Aufregung, weil der Tag der Preisvertheilung der königlichen Schule herannaht. Stephan und Lanzelot Trevor haben fleißig gearbeitet, und man glaubt allgemein, der Preis der sechsten Klasse werde einem von beiden zufallen. Mein lieber Hugo ist wenig begabt und in der Schule noch weit zurück. Dann kommt Jack, der faule sorglose Jack, so universell in seinen Anlagen und Neigungen, daß mich die Wahl seiner Gefährten immer besorgt macht. Therese besucht mich fast nie, ohne von Jacks Missethaten zu berichten; entweder hat man ihn Arm in Arm mit einem Sohn des Herrn Farnel, des Kaufmanns in dem winzigen Lädchen, oder in der Stadt mit einem großen Loch in der Hose herumlungernd gesehen.

Armer Jack! Wie lieb mir der Junge bei all seinen Fehlern ist, selbst wenn er, wie eben jetzt, ins Zimmer stürzend, meinen Tisch mit allen Büchern und Papieren umwirft (wobei die Dinte nur durch ein Wunder gerettet wurde), und mich um Erlaubniß bittet, mit den beiden Farnels und ihrem Vater eine Bootfahrt machen zu dürfen.

»Aber Jack,« warf ich ein, »warum wählst du dir grade die Farnels? Da sind ja noch die Clarks und die Ferrises und die Söhne des Vicars? Hugo ist gegangen, mit diesen Ball zu spielen; sie passen mehr zu uns.«

»Aber Mutter,« erwidert Jack mit dem Lächeln, welches über sein ganzes Gesicht läuft und es beinahe hübsch erscheinen läßt, »Mutter, die Farnels betragen sich ebenso gut wie die Clarks, und fünfzigmal besser als die Ferrises, und sie sind wirklich sehr ordentliche Leute. Erlaub' es mir nur dies eine Mal, Mutter!«

»Hast du deinen Vater gefragt?«

»Nein, er ist ausgegangen. Nur diesmal, Mutter!«

Und ich lasse ihn gehen, rufe ihm aber noch nach, er solle sich die Hände waschen und das Haar bürsten; meine Stimme ist jedoch wohl zu schwach; denn er hört mich nicht und ist fort.

Dann erscheint Isabella mit der Bitte, ob sie nicht ruhig bei mir sitzen und Stephan mitbringen könne? Er bedürfe der Hilfe im Griechischen, so weit sie zu helfen vermöge, denn er solle aus dem Euripides übersetzen, und sie wolle dann das Englische niederschreiben. »Und hier sind wir in Sicherheit, Mama,« fügte sie hinzu.

»In Sicherheit, mein Kind? Welche Gefahren drohen euch denn anderwärts?«

Isabella lachte. »Du weißt, Mutter, wir fürchten den Donnerer.«

Freilich weiß ich wen sie meint, denn der arme liebe Lanz hat noch immer seine Heftigkeitsanfälle, und sie sind immer am schlimmsten in der Nähe Stephans und Isabellens.

»Ja, Liebchen, kommt nur; aber bedenke, wenn du Stephan zu viel hilfst, so geschieht das auf Kosten Lanzes und deiner Brüder.«

»Ihm helfen!« rief Isabella entrüstet; »als wenn ich ihm wirklich zu helfen vermöchte!«

»Nun Isabella, ich meinte, deshalb wolltet ihr diesen Zufluchtsort aufsuchen.«

Aber sie war schon fort, und kehrte bald zurück, hinter ihr Stephan, seine Bücher unter dem Arm, und die lange schwarze Locke, wie gewöhnlich, über seine Augen hängend.

Ehe er sich jedoch an dem kleinen Tisch vor dem Fenster niederläßt, tritt er zu mir an den Sopha, und küßt mich ruhig und zärtlich auf die Stirne.

»Vielen Dank, daß wir herkommen durften,« sagte er. »Geht es dir heute besser?«

»Ja, nach und nach,« und ich suche ihm mit der Rechten jene schwarze struppige Locke aus der Stirne zu streichen, wobei seine Augen, welche so sehr denen seiner Mutter gleichen, mir eine Botschaft der Vergangenheit zutragen.

Während ich jetzt schreibe, arbeiten die beiden am Fenster. Die Westsonne fällt durch die Jalousien ins Zimmer, und ruht auf dem über ihr Buch gebeugten Kopf meiner Erstgeborenen. Von Zeit zu Zeit blickt Stephan zu ihr empor, und nennt das Wort, welches sie schreiben soll, ändert es wieder, sucht in der Grammatik, korrigirt auf's Neue und denkt dann eine Zeitlang nach. Endlich fällt ihm das Wort ein, welches nach seiner Meinung den Sinn des Originals am richtigsten wiedergibt, und er ruft, sein Haar zurückwerfend: »Ich hab's! Schreibe -.« Seine dunkeln Augen glänzen, des Knaben erwachender Genius begegnet dem Genius des Dichters der Vergangenheit, und er bricht in die Worte aus: »Der prächtige alte Kerl!«

Der heutige Tag ist ein halber Feiertag, der letzte vor den Sommerferien, und Greta, meine liebe, hülfreiche Greta, geht mit ihren beiden jüngeren Brüdern spazieren, während Anna die Kleinen nach den Münsterfeldern geführt. Greta eignet sich vorzugsweise zum Mitglied einer großen Familie, und das thun nicht alle; daher die gelegentlichen kleinen Reibereien und Störungen. Aber Greta ist von Natur selbstlos, und es kostet sie keine Anstrengung, für Andre zu leben. Sie ist nicht hübsch, und steht grade in dem eckigen Alter, wo alle körperlichen Mängel hervortreten und man sprungweise wächst. Noch kürzlich nahm mich die Größe ihrer Hände Wunder, aber bald merkte ich, daß die Füße damit Schritt hielten. Desgleichen ihre Gesichtszüge: die Nase bekam vor einiger Zeit was Hugo einen Wachskrampf nannte, und ist zu groß für ihr Gesicht; aber dieses wird gewiß auch bald wachsen und sich ihr anpassen; jedenfalls wächst ihre Seele täglich, und das ist die Hauptsache. Ralph und Harry vergelten ihre schwesterliche Liebe durch völlige Hingabe; und Letty und Viola, das süße Pärchen, kommt mit all seinen Wünschen zu ihr, besonders seit ich stillliegen muß.

 

Den 17. Juni.

Dieser Morgen brachte einen Brief von Lanzelot Trevor. Er kehrt im nächsten Jahr nach England zurück, will sich dann irgendwo in unserer Nähe ankaufen und als englischer Grundbesitzer niederlassen. Das indische Leben ist so theuer, daß er kein großes Vermögen ansammeln konnte, aber bei der Pension, die ihm dann sicher ist, wird er noch immer im Vergleich mit Andern reich heißen dürfen. Er hat sich nicht wieder verheirathet. Seit dem Tode meiner geliebten Schwester kam er nur einmal herüber und wurde vom Könige in den Ritterstand erhoben. Seinen Knaben hat er mir gelassen, obgleich manche Leute sich wunderten, daß er ihn nicht nach Eton geschickt. Ich weiß, er wünschte ihn uns nicht zu nehmen, weil er mit Recht glaubt, daß sein Kostgeld uns eine große Hilfe gewährt. Lanz soll in Oxford studiren, und dahin will Dr. Randall auch Stephan schicken. Beide Knaben sind sehr begabte Schüler und gewissermaßen Nebenbuhler.

Lanz ist der schönste junge Mann, der mir je vorgekommen; er hat alle Schwächlichkeit seiner Kinderjahre abgestreift, ist groß und schlank wie eine Pappel; seine Züge sind schön geschnitten und die Augen gleichen denen seiner Mutter. Aber in dem Jungen steckt ein ungezügelter, rebellischer Wille, der mich oft betrübt. Wenn ihm Jemand entgegentritt oder er irgendwie Geringschätzung wittert, vermag er sich durchaus nicht zu beherrschen. Nach dem Ausbruch folgt dann eine fast rührende Anwandlung von Reue, und ohne die Gewißheit, stets bei mir die Liebe zu finden, deren er bedarf, würde er fast verzweifeln.

Was kann ich für Alle thun, als sie vor Gott auf dem Herzen tragen? Und während dieser langen Wochen erzwungener Ruhe ist mir das, glaube ich, noch besser gelungen. Wie Vieles kann ich nun in mein neues Buch schreiben! Mit Entzücken lasse ich die Feder über seine glatten, elfenbeinartigen Seiten mit ihren dicht gezogenen Linien gleiten! Gottfried weiß immer, was mir am meisten zusagt, und er freute sich heute, daß schon so viel hier geschrieben steht.

Jemand behauptete vor einiger Zeit, der Mangel an Geld und die Bemühungen und kleinlichen Sorgen des Auskommens pflegten stets eine trennende Mauer zwischen Mann und Frau aufzurichten. So ists aber, Gott sei Dank, bei uns nicht gewesen. Wohl gab es eine Zeit trüben Druckes, wo Gottfried nicht viel mit mir sprach, denn aus Furcht, mich zu ängstigen, hielt er mit dem zurück, was ich hätte wissen müssen; aber so blieb es nicht. Allmählich verzog sich die Wolke zwischen uns, – denn es war nur eine Wolke, keine Mauer, – und seitdem sind wir ganz Eins. Wie geduldig hat er meine Fehler, deren es viele gab, getragen! denn ich bin kaum eine bessere Hausfrau, als damals zur Zeit jener unehrlichen Köchin während des ersten Besuchs meiner Schwiegermutter. Zahlen liebe ich gar nicht, und die Nothwendigkeit, jeden Pfennig umzudrehen, macht mich elend. Ich möchte den Kindern so vieles zuwenden, was ich doch nicht darf, und sie ahnen nicht, wie viel es mich kostet »Nein« zu sagen. Im Allgemeinen sind sie indeß immer lieb und gut, und seit ich krank gewesen, so wunderbar fürsorglich.

Bis hieher hatte ich geschrieben, als Hugo eintrat und offenbar etwas auf dem Herzen hatte. Sein Gesicht drückte Unruhe und Zorn aus.

»Mutter,« begann er, »Lanz und Stephan sind fürchterlich an einander gerathen; sie haben sich im Garten geprügelt und Stephan ist mit dem Kopf gegen die Stufen gefallen.«

Weiter kam er nicht, als Isabella bleich und athemlos ins Zimmer trat, hinter ihr Greta, welche ich sagen hörte: »Aergere doch Mama nicht, – schäme dich, Isabella!«

»Bekümmere dich um deine eigenen Sachen, Greta,« sprach Isabella mit dem ihr eigenen leisen, entschiedenen Ton; »ich will reden,« fuhr sie fort, als Hugo sie daran zu verhindern suchte, und sagte dann so ruhig, daß man nicht merkte, wie stark ihr armes kleines Herz dabei schlug: »Mama, Lanz hat Stephan einen Lügner und Betrüger gescholten, und mich angeklagt, daß ich ihm darin beistehe. Stephan ertrug das, bis er mich beschuldigte, seiner Unehrlichkeit Vorschub zu leisten, und dann gab er Lanz einen Schlag. Ich bedaure sehr, dich beunruhigen zu müssen, aber ich wollte gerne Wein oder dergleichen für Stephan haben, welcher schwer verletzt ist.«

»Nein, er stellt sich nur an,« erscholl eine andere laute, zornige Stimme, deren das Haus durchdringenden Klang ich sogleich erkannte; dann wurde die Thür des Vorplatzes zugeschlagen, man hörte Jack ängstlich nach seinem Vater rufen, alles schien Hast und Verwirrung, und ich, bei dem Versuch, die Thüre des Zimmers zu erreichen, fiel matt und schwindelnd zurück und fühlte nichts weiter, bis ich mit der Erinnerung einer allgemeinen Aufregung erwachend, meine Jalousieen niedergelassen und Ruhe nach dem Sturm eingetreten fand. Langsam, wie mir der Gebrauch der Sprache wiederkehrte, wandte ich den Kopf und sah Jemanden zwischen meinem Sopha und dem Fenster sitzen.

»Bist du's, Isabella?«

Dann traten zwei Gestalten auf mich zu und Isabella sagte: »Mama, es thut mir so leid! Stephan hat keinen weiteren Schaden genommen; er ist hier, damit du dich selbst überzeugst.«

Stephan schlich nun herbei, kniete nieder und küßte meine Hand.

»Ich war nur betäubt,« sagte er, »und die Sache ist nicht des Aufhebens werth. Der Donnerer muß ja zuweilen seine Keile schleudern, weißst du. O, Tante Letty, ich habe dir doch nichts gethan?«

»Erzähle mir alles,« sagte ich; aber der Ton unserer Stimmen brachte die im kleinen Nebenzimmer Wache haltenden Kinder Greta und Hugo herbei.

»Du sollst nicht mit Mama sprechen,« rief Greta; »Papa hat's verboten.«

»Ich sollte meinen, du hättest für Einen Tag genug Unheil angerichtet,« fügte Hugo grollend hinzu; »also schweig!«

Stephan erhob sich sogleich, nahm seine Bücher und verließ das Zimmer.

Dann setzte Isabella sich in ihrer ruhigen, entschlossenen Weise nieder und sagte: »Mama, laß mich dir erzählen, was du gewiß zu hören wünschest.«

»Ja, mein Kind,« antwortete ich, »das thue ich allerdings. Kam es wegen der Uebersetzung?«

»Ja, das diente dem furchtbaren Zorn, in welchen Lanz sich hineinarbeitete, zum Vorwand. Er bekam einen Bogen meiner Handschrift zu Gesicht, – den ich hier gestern geschrieben, – riß ihn vor Stephans Augen mitten durch und rief, wenn er den Preis durch Betrügerei und mit meiner Hilfe erlangen wolle, so wünsche er ihm Glück dazu. Als ob der Preis von dieser Uebersetzung des Euripides abhienge, und selbst dann hätte ich ja nur niedergeschrieben, was Stephan mir diktirt hat! Du weißst, wie unleserlich seine ohnehin schlechte Handschrift wird, wenn er aufgeregt ist.«

Jetzt hob Isabella's Brust sich schneller und sie brach in Thränen aus.

Ich winkte Greta und Hugo, uns zu verlassen, und sagte dann: »Mir scheint, daß Lanz einigen Grund zum Verdruß hatte; es kommt ja nicht darauf an, worin deine Hilfe bestanden, liebe Isabella; jede Hilfe fällt gegen die andern Knaben ins Gewicht.«

»Aber Mama, Lanzelot wetteifert ja mit Stephan nur im Punkt der lateinischen Verse und jenes englischen Gedichts, durchaus nicht in der griechischen Uebersetzung, – und selbst dann -«

»Es ist in einem Fall nicht ganz recht, und wäre es auch nicht im andern; du weißst das, Isabella.«

Ihre Kornblumenaugen blickten mich offen an. »Ja, Mama, ich weiß, aber – aber – Lanz haßt Stephan,« – ihre feste, klare Stimme erbebte, sie gab mir einen heißen Kuß und verschwand.

 

Den 18. Juni.

Lanz kehrte gestern Abend erst spät zurück. Ich hörte Gottfrieds Stimme ihn mit einem scharfen Verweis auf sein Zimmer schicken.

Ich hatte eine böse, schlaflose Nacht, und sie wollten mich nicht so früh aufstehen lassen wie sonst. Als ich endlich auf meinem Sopha lag, waren die Knaben schon seit einer Stunde zur Schule. Dann nahm ich Greta im Französischen, Ralph und Harry in englischer Geschichte vor, und darauf kam meine tägliche Wonne, das süße kleine Schwesterpaar, und spielte mit seinen Puppen neben mir. Letty gleicht der früheren Isabella, mit ihren Kornblumenaugen, und Viola ähnelt Niemand als sich selbst.

Therese besucht mich einen Tag um den andern, und die liebe Milly Leslie kommt immer mit Blumen und Büchern und allem, wovon sie glaubt, daß es mir Freude macht. Sie ist jetzt ein anmuthiges, sanftes, älteres Mädchen mit grauen Streifen im früher glänzenden Haar, und einem ruhigen, geduldigen Ausdruck in ihren zärtlichen Reh-Augen. Ihre Hingebung an mich hat keinen Wechsel erfahren, und sie begnügte sich oft, die Brocken aufzusammeln, die von meinem vielbeschäftigten Leben abfielen, – mehr hab' ich ihr, fürcht' ich, auch nie gegeben; denn Mütter, an die so zahllose Ansprüche gemacht werden, behalten für die Romantik und Schwärmerei der Freundschaft keine Zeit; und oft vergleiche ich Milly mit denen, welche sich verletzt und beleidigt fühlen, wo ich an keine Beleidigung gedacht, und sich deshalb mißtrauisch von mir zurückgezogen. Sie ist immer da, wenn ich sie brauche, immer voller Interesse für alles, was mich betrifft, und hilfreich bei den Knaben wie bei den Mädchen. Therese kam heute herüber, und Milly ging wie gewöhnlich, wenn das der Fall. Therese bekam während längerer Zeit keine Kinder, und hat jetzt einen kleinen Knaben von neun Jahren, der sie sehr in Anspruch nimmt. Er soll ein Musterexemplar der Erziehung werden. Fräulein Katharina Pershore hat bei ihm Gevatter gestanden, und er lebt strenge nach der Regel. Therese stellt mich oft wegen der Freiheit, die ich meinen Kindern lasse, zur Rede, und der arme Jack wird mir immer als Warnung vorgehalten.

Heute war sie, wie ich erwartet, ganz voll von Stephan. Dieser war am gestrigen Nachmittag mit heftigem Kopfschmerz nach Hause gekommen und zu Bett gegangen, hatte sich so viel herumgeworfen und gestöhnt, daß Dr. Randall zu ihm gegangen und vernommen, wie er im Traum von einer Schlägerei mit Lanz, von Schulaufgaben, vom Griechischen und von Preisen geredet. Der Vater habe nun erklärt, er solle in diesem halben Jahr kein Buch mehr anrühren und heute schon nicht zur Schule gehen. Mir that das Herz weh um den Jungen, und Lanz trug an dem allen die Schuld!

Therese ging nicht weiter auf Stephans Trauer und Enttäuschung ein, sondern redete von andern Dingen, und schloß wie gewöhnlich mit der Bemerkung, ich habe mich bei der Kindererziehung aufgerieben; Dr. Randall sage das. Aber o, mein armer Stephan, wie mich darnach verlangt, ihn zu sehen und zu trösten!

Bald nachdem Therese gegangen, hörte ich die Knaben aus der Schule und Isabella von ihrer Musikstunde kommen. Ich wartete ängstlich auf der Kinder Erscheinen, und bald öffnete sich die Thüre und Hugo steckte den Kopf ins Zimmer.

»Hast du's gehört, Mama? Stephan ist krank, und mit dem Preise ists für ihn vorbei; er soll nicht wieder zur Schule.«

»Ja, ich weiß. Aber wo ist Lanz?«

»O, er ging hinauf in sein Zimmer; er schämt sich, und das ist kein Wunder!«

Dann kam Isabella; sie sagte nichts, sondern begann meinen kleinen Tisch fürs Mittagessen zu decken. Ihr Gesicht war blaß und traurig, und ich merkte, daß sie alles wußte. Man brachte mir das Essen, ich hörte die Glocke erklingen und die Jungen herunterstampfen – Hugo und Jack in Sprüngen, – ich kenne ihre Weise, und dann die beiden Kleinen, Ralph und Harry, von denen der letztere sein liebes Gesichtchen in die Thüre steckte mit den Worten: »Ich will dir bald Erdbeeren bringen, Mama!« dann dröhnt Gottfrieds Bureauthüre in ihren Angeln, er geht ins Eßzimmer, macht die Thür zu und nun erfolgt Stille. Aber ich weiß gewiß, Lanzelot ist nicht dabei.

Eben will ich mich erkundigen lassen, als ich einen der kleinen Jungen oben hinauflaufen höre, bis zu den drei Dachkammern, in welchen die älteren Knaben schlafen und die in der Familie »Taubenschläge« heißen. Ich höre ein lautes Klopfen und Lanzes Namen rufen, aber Harry kommt allein zurück. Als derselbe kleine Bote bald darauf bei mir mit einem Teller Erdbeeren erscheint, den er sorgsam zwischen seinen braunen Händchen trägt, frage ich ihn: »Ist Lanz nicht zum Essen gekommen, mein Liebling?«

»Nein,« antwortet er mit weisem Kopfschütteln, »nein; und er hat zu Ralph gesagt, als Papa den abgeschickt, er möge nicht essen. Aber sieh nur die klumpig große Erdbeere, Mutter,« schloß Heinrich, seiner Grammatik und anständiger Ausdrucksweise in einem Grade spottend, der Tante Therese scandalisirt haben würde.

 

Den 21. Juni.

Die letzten drei Tage brachten viel Sorge und Schmerz. Ich fühlte mich gründlich bedrückt und elend, und die dunkle Wolke schien keinen Lichtstrahl durchzulassen. Während der ganzen Zeit ist Lanzelot verschwunden, und ich kann nichts anderes denken als an ihn. Heute brachte der kleine Harry mir ein Blättchen, welches unter dem Tisch in des armen Lanzelots Zimmer gelegen, ein zerknittertes, mit Thränen benetztes, kaum lesbares Billet. Ich will es hier zur Erinnerung an diese traurigen Tage niederschreiben.

»Liebste Mutter – (er nennt mich immer so) – ich gehe fort und bitte, sucht mich nicht aufzufinden. Unmöglich könnte ich jetzt am 24sten mich in der Schule zur Preisvertheilung einstellen, muß also dasselbe thun, was Stephan durch meine Schuld genöthigt worden zu thun, und von dem Examen zurücktreten. Ich habe reichlich Geld und werde nach Bristol gehen, um dort Beschäftigung zu suchen. Ich kann's nicht ertragen, von euch Allen und besonders von Isabella gehaßt zu werden. Sie weiß, daß ich damals gereizt wurde und daß Stephan zuerst geschlagen; aber ich wollte ihm nicht weh thun, und das weiß er auch; sein Fuß strauchelte, während wir mit einander rangen. Allerdings bin ich so schlecht wie möglich, und der Zorn macht mich ganz toll; aber ein Schleicher bin ich nicht und kann mein Unrecht bekennen. Lege bei Onkel Gottfried ein gutes Wort für mich ein und bitte Harry, meine Kaninchen zu füttern. Liebste Mutter, hoffentlich habe ich dich nicht kränker gemacht. Wenn mein Vater künftiges Jahr wieder kommt, kann ich zu ihm gehen; nach Minster kehre ich nie zurück. Dein dich innig liebender L. M. Trevor. Vergiß nicht, für mich zu beten, Mutter, und grüße Alle.«

Gottfrieds Gesicht war sehr strenge, als ich ihm den Brief zu lesen gab, und er sagte: »Lanz muß ernten, was er gesäet; er hat zu viele Störungen in unser Haus gebracht, und ich werde ihn nicht wieder aufnehmen.«

»Aber was sollen wir seinem Vater sagen, Gottfried?«

»Die Wahrheit,« antwortete er: »Ich will noch diesen Abend nach Bristol fahren, denn ich meine, den Schlüssel zur Auffindung des Jungen zu besitzen. Der Vater eines früheren hiesigen Schulknaben, welcher Minster um Weihnachten verließ, war mit Lanz befreundet, und derselbe wohnt in Bristol als Agent einer Schifffahrtsgesellschaft; aus den Reden der Knaben entnehme ich, daß Lanz zu jenem gegangen.«

 

Den 24 Juni.

Ich habe nichts von Gottfried gehört. Heute ist der so ängstlich erwartete Tag der Schulprüfung. Milly Leslie hat meine Mädchen dazu abgeholt, und Isabella und Greta sahen in ihren weißen Kleidern und den Strohhüten mit blauen Bändern sehr niedlich aus. Aber in den Kornblumenaugen meiner Erstgebornen las ich stille Betrübniß, obgleich sie seit Lanzes Flucht kaum ein Wort über die Sache gesprochen. Die Jungen waren fröhlich gestimmt, denn man glaubt, daß Ralph, unser kleiner Ralph, den Preis der ersten Klasse davontragen dürfte. Dennoch machte sich sonst wenig von der Aufregung und Spannung, die bei früheren Gelegenheiten vorgekommen, bemerklich. Die beiden Abwesenden füllten unser Aller Gedanken. Lanzelot, der seine Schuld noch durch sein Fortgehen und die uns verursachte doppelte Sorge gehäuft, und Stephan, der ohne bestimmten körperlichen Schmerz schwach und krank darniederlag, als sei ein Mehlthau auf ihn gefallen! Beide mir so theuer, – ich kann wohl sagen theuer wie meine eigenen Kinder, und beide ein heiliges Vermächtniß ihrer Mütter! Das Gefühl des Mißerfolgs bei ihrer Erziehung drückt mich schwer zu Boden. Was habe ich denn für Lanz gethan, da er mit sechzehn Jahren noch so wenig Selbstbeherrschung gewonnen? Was für Stephan, der allen meinen Bitten und Vorstellungen, sich nicht völlig in seine Bücher zu vergraben und den seinem Alter angemessenen Erholungen und Zerstreuungen nicht aus dem Wege zu gehen, nur taube Ohren geliehen? Meine Niedergeschlagenheit ist noch vermehrt durch den heute Morgen empfangenen Besuch Theresens, welche mir erklärte, sie und ihr Mann seien der Ansicht, daß ich zu viel unternommen und mir Bürden aufgeladen habe, denen ich nicht gewachsen sei. Sie deutete an, Isabella mache sich nicht genug nützlich, und sollte lieber lernen ihre Kleider selbst zu verfertigen, als so viel an den Schularbeiten der Knaben theilzunehmen. »Auch glauben wir beide,« fügte sie hinzu, »daß Isabellens Einfluß auf Stephan kein günstiger gewesen, und daß sie ihn veranlaßt, jedes andere Haus dem seinigen vorzuziehen. Er ist jetzt sehr verstimmt und reizbar, und sein Vater sagt, so lange seine Nächte so unruhig blieben und sein Puls so schwach, müsse er sehr ruhig gehalten werden.«

Dann äußerte sich Therese hart über Lanz und meinte, wir würden ihn ja natürlich nie wieder ins Haus nehmen, sondern seine eigenen Wege gehen lassen, während doch mein innerstes Herz nach dem Jungen verlangt und die leise Hoffnung hegt, Gottfried werde ihn mitbringen, obgleich dieser bei seiner Abreise erklärte, das nicht thun zu wollen. Wird er ihn finden? Es wäre schon etwas, ihn nur in Sicherheit zu wissen!

So weit hatte ich geschrieben, als sie Alle aus der Schule zurückkehrten, Ralph mit seinem Preise, Scotts Gedichte in Kalbleder gebunden und das Schulwappen oben darauf in Gold, – und die andern Jungen ganz stolz und glücklich. Hugo und Jack scheinen ihrem jüngeren Bruder die Ehre, welche ihnen selbst nie widerfahren, durchaus nicht zu mißgönnen, was ja von einer Seite erfreulich ist, obgleich der Mangel an Ehrgeiz, jenem berechtigten Ehrgeiz, der die von Gott verliehenen Talente auszubilden strebt, mir bei ihnen als Charakterfehler erscheint.

Den Preis der sechsten (obersten) Classe erhielt der zweite Sohn des Vikars von St. Lukas, des Herrn Ferris, und für das englische Gedicht und die lateinischen Verse ist kein Preis verabfolgt worden. Dr. Smith hatte geäußert, zwei Knaben seien bei dem Examen ausgeblieben, von denen er mit gutem Grunde gehofft, daß sie sich erfolgreich um jenen Preis beworben; der eine sei wegen Krankheit, der andere aus noch betrübenderer Ursache fern geblieben. Beide, erklärte er, wären vielverheißende Schüler gewesen, und er glaube die Gefühle der ganzen Schule auszusprechen, wenn er sage, daß er ihre Abwesenheit tief beklage.

Ich war recht erschöpft, nachdem ich alles vernommen, was die Kinder mir zu erzählen hatten, und weiß, sie mußten das lebendige Interesse, welches ich ihnen sonst zeige, vermissen; aber dieser Kampf gegen das Gefühl körperlicher Schwäche ist ein recht schwerer, und das Bewußtsein meines Unvermögens reizt und quält mich zugleich.

Seit ich in diesem Buch zu schreiben angefangen, habe ich oft das andere, bei unserer Hochzeit begonnene, nachgelesen. Der Unterschied zwischen damals und jetzt fällt mir auf, besonders der Umstand, wie viel häufiger in jenem meines inneren Lebens und Gottes Erwähnung geschieht; dennoch meine ich sagen zu können, daß Er mich nie verlassen hat, und mir in den dunkelsten Zeiten die Gewißheit feststand, Er werde mich lieben bis ans Ende. Die familiäre Weise, in welcher manche Leute sich gegen Andere über diese tiefsten und heiligsten Dinge aussprechen, ist mir unverständlich, und ebensowenig kann ich beistimmen, wenn Menschen, die gewisse Ansichten hegen, eine scharfe für Andersdenkende unübersteigliche Grenzlinie ziehen, und sich gegen dieselben heftige Ausfälle erlauben. Manche sehr gute und wohlmeinende Leute von, hier, die sich Herrn Ferris warm angeschlossen, besuchen mich zuweilen. Ich liebe das beständige Anführen und leichte Handhaben von Schriftstellen nicht, das sie sich angewöhnt, und meine, daß obgleich jetzt so viel mehr von Distriktsversammlungen und Vereinen die Rede, als zu Pastor Wentworths Zeiten, doch dem allen weniger Kern und Wahrheit innewohnt. Aber was weiß ich davon, und wie kann man nach der bloßen Außenseite der Dinge ein Urtheil fällen? Ich fühle nur, wäre Pastor Wentworth in diesen Tagen hier gewesen, so hätte ich ihm meine Sorge um die Knaben mittheilen können, was ich dem Vicar Ferris gegenüber nicht vermag. Und als dieser zu mir kam und über Lanzelots Verschwinden sprach, wie es denn ganz Minster thut, blieb ich eisig kalt, während er die gewöhnlichen conventionellen Redensarten vorbrachte, von zu großer Nachsicht, und von der Notwendigkeit, Knaben zu lehren, ihres eigenen Muthes Herr zu werden, was mehr sei als Städte gewinnen, und von Stephans wunderbarer Bewahrung. Ich bestrebte mich, geduldig zuzuhören, aber eben diese Anstrengung machte mich innerlich kalt, und als Herr Ferris ging, war ich viel trauriger als da er gekommen.

 

Den 26. Juni.

Gottfried kehrte am Freitag Abend zurück, ohne Nachrichten von Lanz mitzubringen. Heute sammelten sich die Kinder wie gewöhnlich zur Sonntagsabendlektüre um mich, erst die Kleinen, dann die Größeren. Ich habe das von jeher so gehalten, und wir lesen, reden und beten dann miteinander. Als sie nun heute dasaßen und ich den leeren Platz sah, zitterte meine Stimme dermaßen, daß ich nicht sprechen konnte. Alles schwieg während mehrerer Augenblicke; dann hörte ich ein innerliches Schluchzen, und wußte, es kam von Isabella. Mein ganzes Herz flog ihr entgegen, denn ich verstand ihre Gefühle; war sie doch in gewisser Hinsicht die Urheberin dieses traurigen Ereignisses gewesen! Endlich, nachdem ich Gott um Vergebung und Hilfe gebeten, und Ihm alle meine Kinder, die abwesenden und gegenwärtigen empfohlen, nachdem sie mich alle umdrängt und geküßt, blieb ich allein und meinen Gedanken überlassen. Bald aber sprang die Thüre plötzlich auf, Isabella erschien wieder, lief auf mich zu und schluchzte, neben mir niederknieend: »Mama, Mama, ich trage die Schuld!«

Dann, als ich ihren Kopf an meine Schulter drückte und ihr das Haar streichelte, kam alles heraus, die ganze Geschichte ihrer Liebe, ihrer Hoffnung und ihrer Furcht. Sie erzählte das, wie ein Kind es erzählen würde: Lanz sei immer so heftig gewesen, wenn er geglaubt, sie mache sich nichts aus ihm, und so eifersüchtig und zornig, wenn sie Stephan nur den kleinsten Gefallen erwiesen. Sie habe sich nicht darum bekümmert; statt ihn aber möglichst zu beruhigen und Frieden zu stiften, habe sie ihn absichtlich gereizt, und oft geärgert, wo es nicht noth gethan. Dennoch war Lanzelot im Unrecht gewesen; wie konnte sie behaupten, seine englischen Verse kämen denen von Stephan gleich, da das doch nicht der Fall? Oder er verstehe eben so gut wie Percy Ferris das Ruder zu führen? »Aber es ist so hart von Jack und Hugo, wenn sie erklären, ich hätte Lanz fortgetrieben! O Mutter, was soll ich thun, wenn er nie wiederkommt?«

»Ich glaube, er wird wiederkommen,« antwortete ich; »aber ach, meine Isabella, lassen wir uns das künftig zur Lehre dienen!«

»Hatte ich denn so gar unrecht, Mama?«

Sie harrte meiner Antwort mit schmerzlicher Spannung, und ich gab sie ihr ehrlich: »Ja, mein Liebling, ich meine doch;« und dann sprachen wir uns gründlich aus, wie Isabella und ich es lange nicht gethan. Zuweilen ist mir die Sorge gekommen, meine Aelteste entferne sich von mir, aber der erste wirkliche Schmerz beweist mir das Gegentheil. Ich versprach, mit Greta, Hugo und Jack reden und sie bitten zu wollen, das Vergangene nicht mehr zu erwähnen, versprach, ihr nach Kräften beizustehen, und ihr zu sagen, wenn ich etwas an ihr wahrnähme, wovon ich einen nachtheiligen Einfluß auf die Knaben besorgen müsse.

Aber hier liege ich, an zwei Zimmer gebunden und dem täglichen Leben meiner Kinder entrückt. Hätte ich mehr mit ihnen zusammen sein können, so wäre diesem Unheil vielleicht vorgebeugt worden.

Tag für Tag habe ich Gottfried gebeten, noch mit dem nothwendigen Briefe nach Indien zu zögern. Die ganze Sache lastet so schwer auf mir, daß ich wirklich wieder kränker bin, und nichts thun kann als still liegen, hin und her denken und mich fragen, womit ichs etwa bei der Behandlung meines armen, lieben Lanz versehen. Susannas Lanz, – ihr Knabe, den sie so oft wehmüthig betrachtete, den sie mir mit sterbenden Lippen anempfahl!

Dann auch der Stephan! er ist noch immer recht unwohl, und Dr. Randall hat ihn mit Therese und dem kleinen Barry nach Clevedon an die See geschickt. Der arme Junge durfte uns vor seiner Abreise nicht wiedersehen, da man besorgte, es könne ihn aufregen. Dr. Randall beglückte mich indeß gestern durch die Erklärung, daß er die erlittene Kopferschütterung des Knaben nicht für die alleinige Ursache seines Zustandes halte, sondern glaube, die Krankheit sei schon länger im Anzug gewesen; während Therese mir immer vorhält, Lanzelot habe Stephan in der Wuth fast umgebracht, und ich fürchte, ganz Minster theilt diese Ansicht.

Die liebe Milly Leslie sucht mir möglichst zu verbergen, was die Leute reden, aber aus ihren und der Knaben Aeußerungen geht mir doch hervor, daß Lanzelots Zornanfälle weit heftiger gewesen, seit ich nicht mehr zwischen den Kindern war, und daß sein Spitzname des »Donnerers« nicht auf unser Haus beschränkt geblieben.

Ich bekam einen sehr freundlichen Brief des Dechanten von Castelborough, als Antwort auf meinen Bericht über unsre Erlebnisse. Er kennt Lanzelot und sagt mir viel Tröstliches über ihn, meint, die Natur des Knaben sei eine durchaus edle, und wenn erst die Liebe zu Gott sein Herz regiere, werde sie auch seine Leidenschaften zügeln und seinen Willen sich unterwerfen. Sicherlich kehre er zu mir zurück, und wenn das geschehe, würden ihm ja meine Arme offen stehen.

Der liebe Dechant legte auch einen Brief seiner Frau, meiner theuren, fernen Freundin Wentworth ein, worin sie mich bittet, ihr »einige« meiner Kinder in den Sommerferien zuzuschicken; ich wisse ja, wie geräumig ihr Haus sei, und wie gerne sie den Ton der fröhlichen Stimmen vernehme! Das ist ein Anerbieten echter Freundschaft. Sie schlägt vor, Milly Leslie solle sie nach Castelborough bringen; sie weiß, daß ich Anna jetzt nicht entbehren kann, und erklärt, Milly würde ihr so willkommen sein, wie die Blumen im Mai. Diese ist sehr glücklich über die Aussicht, obwohl sie sich ungern von mir trennt, und ihr Vater hat wirklich eingewilligt, sie ziehen zu lassen. Die Ehre eines solchen Besuchs für seine Tochter mag dabei mitgewirkt haben, denn er zeigt sich selten so liebenswürdig, und Milly hat ein schweres Leben, wie ihre grauen Haare und die Furchen ihres guten kleinen Gesichtchens bekunden.

Ich habe dann beschlossen, daß Isabella, Hugo, Jack und Ralph sie nach Castelborough begleiten sollen. Die erstere wollte lieber bei mir bleiben, aber ich gab das nicht zu, denn ich weiß, daß der Besuch ihr wohl thun wird. Dr. Randall bot mir an, Greta und Harry zu Therese und Barry nach Clevedon mitzunehmen. Meine Schwiegermutter, Frau Waring, ist dort, sowie alle Taylors, folglich eine große Familienzusammenkunft. Ich glaube nicht, daß Therese um diesen gütigen Vorschlag weiß, und ich merkte ihm eine gewiße Aengstlichkeit an. Greta und Harry sollten sich zum Sonnabend fertig halten, und so gab ich denn meine Zustimmung.

Als Harry davon hörte, kam er zu mir geschlichen, und sagte mit zitternden Lippen und aufsteigenden Thränen: »Mama, ich kann ja nicht fort, denn wer soll des armen Lanz Kaninchen füttern?«

Der liebe treue Junge! Seine Ergebenheit für Lanz hat nie gewankt, und sie waren stets warme Freunde; gegen ihn ist Lanz niemals heftig geworden.

 

Den 10. Juli.

Die Trennung ist vorüber, die älteren Kinder sind fort und das Haus recht still. Meine Gedanken kehren in die Zeit von Isabellens und Hugos Kindheit zurück, und eine wunderbare Mischung von Schmerz und Freude erfüllt mich bei der Betrachtung der dazwischen liegenden Jahre.

Heute führte Gottfried Letty und Viola allein spazieren. Ich sah sie über den Münsterplatz gehen, und dachte, wie oft ich ihn dort so väterlich stolz mit Isabella erblickt; und gewissermaßen scheint sich jene frühere Zeit in der jetzigen zu spiegeln. Gottfried ist so zärtlich und sorgsam mit mir, und in so manchen Kleinigkeiten zeigt sich seine schweigende Liebe. Heute brachte er mir einen Geraniumtopf und gestern einen Theil Gedichte von Felicia Hemans, auch gab er mir einen Brief an Isabella zur Einlage in den meinigen, denn morgen ist ihr Geburtstag. Ich las ihn vorher, und glaube, einige der süßesten Thränen sind darauf gefallen, die ich je geweint; so theuer sind mir diese Zeugnisse der Liebe meines Gatten.

Wir sprachen von Lanz, dem lieben, verlorenen Lanz, und der Brief an seinen Vater ist abgegangen. Alle Bemühungen, eine Spur von ihm zu finden, sind bisher vergeblich gewesen.

 

Den 14. Juli.

Ich bekam ein ganzes Paket Briefe meiner abwesenden Kinder, alle sehr bezeichnend; doch wüßte ich kaum zu sagen, welcher mir der willkommenste ist. Isabella drückt sich in leichter einfacher Weise sehr gut aus, eine Gabe, die nicht jedem sechzehnjährigen Mädchen eigen; Hugo's klare aber große Schriftzüge schildern in kurzen unzusammenhängenden Sätzen alle erlebten Freuden und Genüsse. Jacks Erguß fehlerhaft und befleckt, doch überströmend von Liebe; und endlich Ralph's kleines Zettelchen, dessen winzige Handschrift dennoch verständlich bleibt, – alle in einen herrlichen Brief meiner lieben Freundin Wentworth eingeschlossen.

Sie ist wirklich eine wunderbar begabte Frau. Mit kurzen Worten und in gedrängten Sätzen spricht sie ihre Eindrücke von meinen Kindern aus. Ihre Briefe sind wahre Musterbriefe, so verschieden einerseits von denen Theresens, welche stets eine gewisse Ueberlegenheit in langen Sätzen zur Schau tragen, und denen der lieben Milly andrerseits, die so unzusammenhängend und weitschweifig sind, daß sie eine ganze Seite braucht, wo Frau Wentworth in drei Zeilen fertig wird. Ich glaubte, ihre Schilderung der Reise nach Castleborough würde nie ein Ende nehmen, und die vielen Einschiebsel zwischen den Worten lassen das Auge kaum zur Ruhe kommen.

 

Den 18. Juli.

Ich bekam heute einen sehr angenehmen Brief von meiner Schwiegermutter. Sie ist erfreut über Greta und meint, die werde mir zu großem Beistand und Trost gereichen; auch Harry unterhält sie durch seine kindlichen Einfälle. Dann drückt sie ihre und Katharinens Sorge um den kleinen zarten Barry aus, wie auch den Wunsch, Therese möge einige ihrer strengen Regeln hinsichtlich des Knaben aufgeben. Selbst jetzt im Seebad muß das Kind ein Lehrbuch über Conchilien und Meeresprodukte studiren, und jeden Morgen seiner Mutter Regeln der Grammatik aufsagen. »Aber Therese nimmt keinen Rath an,« bemerkt sie mit Recht.

Ueber den armen Stephan schweigt sie fast ganz, äußert nur, er sei ziemlich wohl, und fahre viel im Boote. Ich danke ihr sehr, daß sie den schmerzlichen Gegenstand von Lanze's Verschwinden nicht berührt. Ach, wie schwer das auf mir lastet, kann ich nicht beschreiben!

Heute Nachmittag saß Letty neben mir und sagte plötzlich: »Wird Lanz jemals wiederkommen, Mama?«

Und ich antwortete wie immer: »Ja, eines Tages, mein Kind.«

»Eines Tages scheint keines Tages,«, seufzte Letty; »ich bin so betrübt und habe Lanz so lieb; das thun auch Harry und Hugo und Jack. Ich sage jeden Tag zum lieben Gott: Bitte, lasse Lanz wiederkommen; aber es geschieht doch nicht; vielleicht hört er mich nicht.«

»Ja, Gott hört uns immer, mein Liebling,« antwortete ich; »aber er kann nicht immer thun, was wir wünschen.«

Die Kleine seufzte tief, hielt die Perlenschnur, welche sie für ihre Puppe aufzog, empor, und sagte oder fügte vielmehr meinen letzten Worten halb fragend, halb bestätigend hinzu: »Weils uns nicht gut wäre, Mama?«

Wie wunderbar uns zuweilen der Mund eines kleinen Kindes belehrt! O dieses schöne, geheimnißvolle Kinderleben! Wo die junge Seele, weniger durch das irdische Gefängniß eingeengt als unsre ältere, sich zu dem Willen Gottes erhebt und sein Lob verkündigt! Die Mutter vieler Kinder wird oft durch die Charaktereigenthümlichkeit eines derselben überrascht. Nur zu oft erblickt sie in den acht oder neun, die sich um sie drängen, nur eine Heerde, bei welcher, da alle gleichmäßig ihrer Pflege und ihrer Lehren bedürfen, das Persönliche einigermaßen zurückritt.

So verhält es sich auch mit der kleinen Letty. Sie ist jetzt meine stete Gefährtin, und seit Isabellas und Hugo's Kinderjahren bin ich nie mit einem meiner Kinder in so nahe Verbindung getreten. Sie gleicht Isabella, ist aber hübscher und zärtlicher in ihrem Wesen. Sie spricht viel von Lanz, und Anna erzählt mir, als sie den Knaben zuletzt gesehen, sei er auf der Treppe gesessen und habe Letty in den Armen gehalten. Erfreut, daß er seinen Taubenschlag verlassen, habe sie sich über das Geländer gebeugt und ihn gerufen. Sie sah noch, wie er Letty küßte und dann, ohne aufzublicken oder ein Wort zu sprechen, das Haus verließ, wie sie glaubte, um zur Schule zu gehen, doch in Wirklichkeit, um nicht wiederzukehren.

 

Den 1. September.

Mein Geburts- und Hochzeitstag! Seit ich zuletzt in dieses Buch geschrieben, habe ich vom Freudenbecher gekostet und tiefes Weh erfahren. Ich muß versuchen, davon zu reden; denn in den kommenden Jahren wird es mir wohl thun, diese Aufzeichnungen nachzulesen, wie ichs jetzt liebe, der Geschichte meiner ersten Ehezeit in dem alten rothen Buch zu folgen.

Am 19. Juli schenkte Gott mir in seiner Gnade wieder eine Tochter, und am 19. August sammelte er eins meiner Lämmer in seinen Schoß; unsre kleine Letty hat uns verlassen, um durch eine kurze und stürmische Fahrt über den dunkeln Strom in das Reich der Erlösten einzugehen. Der Verlust eines Kindes lehrt uns die Liebe zu unsern Kindern kennen; er mißt ihre Tiefen, und nur Gott weiß, welche Tiefen das sind!

 

Den 13. September. Sonntag.

Ich habe mein Buch mehrmals geöffnet, da mir war, als müsse ich schreiben, und dann, wenn der Versuch mißlang, empfunden, wie schwer es hält, selbst hier von dem, was ich durchgemacht, zu berichten. Aber heute, wo Stille im Hause herrscht, die Kleine neben mir in der Wiege schläft und die älteren Kinder zur Kirche sind, muß ich wohl den Anfang machen.

Seit der Woche nach meines Mägdleins Geburt begann mir die entschwundene Kraft wiederzukehren, und nach drei Wochen fühlte ich mich so wohl und so ganz die Alte, daß ich Gottfried beredete, die Kinder aus Castleborough abzuholen, und die freundliche Einladung der Wentworths, einige Tage bei ihnen zu weilen, anzunehmen.

Mein Liebling Letty war immer um mich, und ihr Entzücken, als ich wieder zu gehen vermochte, unbeschreiblich groß; denn an dem Tage, wo Gottfried abreiste, folgte ich ihm bis in die Vorhalle, und Letty tanzte vor mir her und rief: »Mama ist wieder unten! Wie herrlich!« Ehe ihr Vater das Haus verließ, wandte er sich, um ihr, seinem Liebling, noch einen Kuß zu geben, und dann rief sie: »Küsse auch Viola und Schwesterchen!« Ersteres that er, sagte aber scherzend: »O, Schwesterchen ist noch zu klein, um geküßt zu werden. Lebewohl!«

Sobald er fort, ging Letty auf das Kind, welches in Anna's Armen lag, zu und sagte: »Da Baby, hast du Papa's Kuß! Ich gebe ihn dir!«

Ich habe schon, wie ich sehe, bemerkt, daß dies liebe Kind in letzter Zeit meine stete Gefährtin gewesen, und immer werde ich dankbar auf jene Wochen zurückblicken, wo ohne einen Gedanken an die nahe bevorstehende Trennung, Letty und ich in so nahe Berührung traten. Ich glaube nicht, daß sie in irgend einer Weise frühreif oder unnatürlich weit für ihr Alter gewesen; sie hat keine bemerkenswerthen Worte gesprochen; aber freilich, der Duft des Paradieses, welches sie bald betreten sollte, schien sie zu umschweben, und in letzterer Zeit reifte ihr Glaube und wuchs ihre Liebe ersichtlich. In ihren Spielen, im Lernen und den kleinen Streitigkeiten mit Viola war sie noch vollständig Kind, aber stets ein christliches Kind, einfach, zärtlich und hold.

Am Morgen des 15. August ging sie mit Anna und ihrer kleinen Schwester wie gewöhnlich nach den Minsterfeldern. Ich werde mir stets vergegenwärtigen, wie ich sie vom Fenster aus über den grünen Platz hüpfen sah, und wie sie ein- oder zweimal nach mir zurückblickte, ihre Puppe schwingend, die als Baby angezogen, zum erstenmal einen langen weißen Mantel trug. Anna hielt das Jüngste im Arm und das Kindermädchen beaufsichtigte die beiden Kleinen.

In die Minsterfelder führt eine hohe Pforte und etwas weiterhin trennt ein Drehkreuz jene von der Landstraße. Die Pforte steht zuweilen offen, war aber an jenem Tage geschlossen. Anna wandte sich mit dem Kinde der Hecke zu und gebot Jenny, ihr zu folgen; diese meinte aber, sie könnten über die Pforte wegklettern und Anna jenseits derselben wieder treffen. Sie stieg voran und hob dann die kleine Viola hinüber in der Absicht, sagte sie, Letty nachzuholen. Aber Anna, welche zurückkam, um zu sehen, weßhalb die andern ihr nicht folgten, erblickte eben noch Letty auf dem obersten Querbalken, und hörte, wie Jenny ihr zurief, sie solle sich in Acht nehmen. Im nächsten Augenblick fiel das Kind rücklings hinab, schlug mit dem Kopf gegen einen großen Stein und blieb sprach- und bewegungslos liegen.

Der Moment, wo ich Stimmen in der Vorhalle und dann einen schmerzlichen Schrei aus dem Munde der armen Anna vernahm, der mich schleunigst an die oberste Stufe der Treppe brachte, wird ewig in meiner Erinnerung als der fürchterlichste meines Lebens eingegraben stehen.

Ich blickte über das Geländer und sah Anna die Treppe hinansteigen, ein regungsloses Kind im Arm. Meine Lippen weigerten sich, eine Frage zu thun. Ich lief ihr entgegen und sah meine Letty, allem Anschein nach todt. O, welch ein Ausdruck für die, welche mich eine halbe Stunde vorher so voller Leben und strahlender Schönheit verlassen!

Ich nahm Anna meinen Liebling ab und legte ihn auf mein eigenes Bett. Dort hielt ich während der nächsten vierundzwanzig Stunden Wache, hoffnungslos, was diese Welt betrifft, vom ersten Augenblick an. Die Aerzte, Dr. Randall und Dr. Banks, brauchten mir nicht erst zu sagen, daß die Verletzung des Rückgrats und Kopfes tödlich sei. Wir schickten nach Castleborough zu Gottfried, und am Abend des zweiten Tages kam er. Kein Andrer sollte ihm das Geschehene mittheilen, als ich, und so verließ ich im grauen sprühenden Regen des Augustabends mein Kind zum erstenmal und ging schweren Herzens nach dem Posthause.

Als die stark beladene Kutsche schwankend um die Ecke der Straße bog, mußte ich denken, ob wohl unter allen Insaßen ein einziger im Stande sei, den Schmerz zu fassen, welcher jenen hochgewachsenen ernsten Mann durchzucken werde, sobald er Minster erreiche. Eine Kindergruppe und deren Mutter erwartete ihren Vater, und die Kleinen klatschten in die Hände und tanzten vor Freude, als die vier Pferde hielten. Ein Mädchen, das ich von Angesicht kenne, erwartete ihren Bruder, und ich sah, wie sie hinzusprang, während er vom Dach der Kutsche herabstieg. Ihm folgte Gottfried; seine Augen suchten die meinen, dort nach Hoffnung spähend; er entdeckte keine, denn er schlang den Arm um mich und fragte, sich niederbeugend: »Lebt sie?«

»Ja,« antwortete ich, »aber sie kennt weder mich noch sonst Jemand.«

»Komm' nach Hause, Geliebte,« waren seine nächsten Worte. »Du bist nicht stark genug, um an einem solchen Abend draußen zu sein.«

»Ja,« sagte ich, »Gottlob, ich bin jetzt ganz kräftig.«

Dann zog er meine Hand unter seinen Arm, und wir wandten uns heimwärts. Die Welt außerhalb unsrer kleinen geht bei allem Jammer, der uns betroffen, ihren alten Gang ruhig fort; gewiß haben nur Wenige, die da schwer gelitten, diese Wahrheit nicht empfunden. Wir wurden unsanft daran erinnert, als der Postillon, uns nachlaufend, zu Gottfried sagte, er habe sein Trinkgeld vergessen, und fragte, ob ein Dienstmann ihm nicht seine Manteltasche tragen solle. Desgleichen, als uns der Wagen mit den fröhlichen Kindern, die ich am Posthause gesehen, vorüberfuhr, und ein kleines Mädchen im Alter unserer Letty auf dem Schoß ihres Vaters saß, deren blonde Locken über seine Schultern fielen. Wieder, als ein anderer Wagen uns einholte voll geputzter Menschen, die zu einem Ball fuhren, der in unsrer Nachbarschaft gegeben wurde. Wir erreichten bald unser nur drei Minuten von »der Krone« belegenes Haus, welches uns endlich allen neugierigen Blicken entzog.

Ich weiß kaum, wie wir die Nacht zubrachten, wohl aber, daß sie die leidvollste unsres ganzen Lebens gewesen. Wir schwiegen meistens, riefen nur zuweilen unser Kind bei Namen, und ab und zu sprach ich die kleinen Lieder und Verse, die sie so sehr geliebt. Dann wieder klagten wir Gott unser Leid und baten ihn, uns, wenn es möglich sei, dieses Kind zu lassen, während ich doch immer dabei fühlte, das werde nicht geschehen.

Der Morgen ging hell und strahlend auf, die Dohlen flatterten um die Münsterthürme und die Vögel zwitscherten auf den Feldern. Grade, als der erste Sonnenstrahl ins Zimmer fiel, öffnete meine Letty die Augen, – diese holden Kornblumenaugen – und richtete sie auf etwas, das wir nicht sahen. Das leise Stöhnen ließ nach, und die krampfhaften Zuckungen, welche zu betrachten uns das Herz zerrissen hatte, waren nun vorüber. Das Kind lag still und friedlich da und ihre Lippen bewegten sich. »Wie hübsch!« hörten wir sie flüstern, als sie der Erde Lebewohl sagte, »wie hübsch! Sieh nur Papa, sieh Lanz!«

»Was sieht denn mein Liebling?« fragte ich.

Meine Stimme, ihrer Mutter Stimme, zog den Blick der Kornblumenaugen wieder zur Erde herab. Sie suchten die meinigen, und sie flüsterte schwach! »Mama, dort – Jesus – sieh!« Ganz gewiß glaube ich, sie, hat ihn, den guten Hirten gesehen, wie er sie liebevoll anlächelte, der König in seiner Schöne!

Und so verließ uns mein geliebtes Kind.

Drei traurige Tage folgten, und dann kehrten die andern Kinder zurück in die alte Heimat, über welcher noch die Stille des Todes lag. Ich habe immer gewünscht, sie möchten alle zugegen sein, wenn ein Brüderchen oder Schwesterchen »mit Christo begraben« würde durch die Taufe, und so wollte ich sie auch alle um mich sammeln, als unsre Blume eingepflanzt wurde in das Bild seines Todes, gläubig vertrauend, sie werde auch wieder in dem Bilde seiner Auferstehung hervorgehen aus dem Grabe.

Wir legten sie neben ihre Tante Susanna unter dem Schatten der hohen Minsterthürme, und dort, am Grabe seiner Mutter, kam Lanz wieder zu uns. Ich hörte ein leises, gebrochenes Schluchzen und sah mit unaussprechlichem Dankgefühl Susanna's Knaben an meines Kindes Grabe knieen, den Kopf in die Hände gebeugt. Nie werde ich diesen Abend vergessen, als in dem kleinen Zimmer, wo sie alle ihr erstes Gebet auf meinem Schoße gestammelt, Lanz die Geschichte seiner Scham und Reue vor uns ausschüttete.

Er erzählte, wie er uns verlassen, um wo möglich seiner Zornausbrüche Herr zu werden, und wie er gehofft, es solle ihm, wenn er den Versuchungen dazu ausweiche, gelingen. Doch es erging ihm wie jenem alten Einsiedler, der aus demselben Grunde die Einsamkeit gesucht, und in einer Zornesanwandlung seinen Krug zerbrach, weil er auf dem Wege vom Brunnen bis zu seiner Zelle das Wasser dreimal verschüttet hatte. Lanz bekannte traurig: »Ich bin um nichts besser geworden; kannst du mir nicht helfen?«

Wie seltsam, daß wir alle die doch oft so ohnmächtige Hülfe der Menschen suchen, während der große Helfer stets nah und zur Hülfe erbötig ist. Ich sagte meinem armen Jungen, wohin er sich wenden müsse, ließ ihn fühlen, daß meine Liebe unveränderlich sei, und daß sie ihm immer als Zuflucht offen stehe. Er sagte mir, er habe unseres Lieblings Tod in einer Bristoler Zeitung gelesen, worauf es ihn gedrängt, nach Hause zu kommen, – »denn ich liebte sie so,« stammelte er, »nach Isabella am meisten.«

»Und sie liebte dich auch, Lanz,« sagte ich, »und betete, Gott möchte dich zu uns zurückbringen. Dein Name war einer der letzten, der über ihre Lippen kam.«

 

Den 16. September.

Die Taufe unsrer Kleinen, lange aufgeschoben, damit alle Kinder zugegen sein könnten, hat heute stattgefunden.

Lanzelot Trevor und Isabella, beide im vorigen Jahr konfirmirt, standen Gevatter. Ich fühle, daß ich dadurch ein neues Band dem schon zwischen uns und dem Knaben bestehenden, hinzugefügt, und glaube, es war recht so. Das Kind heißt Susanna Letty zur Erinnerung an die geliebten Entschlafenen.

Ich beobachte Lanz ängstlich, und bin voller Hoffnung. Er hat eine Stelle auf einem Comptoir in Bristol bei der Werfte bekleidet und in einer benachbarten engen Straße gewohnt. Er sah Gottfried zweimal an seinem Fenster vorbeigehen, als dieser ihm damals nachforschte, wollte sich aber nicht zu erkennen geben. Natürlich wird es ihm jetzt hier nicht leicht gemacht. Gottfried ist ernst und kalt gegen ihn, Isabella weniger herzlich, als ich wünschen möchte, und im ganzen Hause vorherrschend ein Gefühl, daß er uns viel Noth und Sorge gemacht, die man nicht gleich vergessen kann.

Therese begegnete ihm heute bei der Taufe zuerst, und ich sah, wie Lanze's Unterlippe zitterte, als sie ihn auf das kälteste begrüßte. Stephan ist bei einem Lehrer und wir erwarten Lanzelots Bestimmung über seinen Knaben, der jetzt ins Militär treten möchte, – doch kann diese noch nicht hier sein. Dr. Schmidt war auch der Ansicht, daß Lanz nicht auf die königliche Schule zurückkehren solle. Während dessen lernt er bei einem der hiesigen Geistlichen, dem Herrn Pereival, und freut sich, unsern Knaben Hugo und Jack bei ihren Arbeiten nachhelfen zu können.

Mein liebes Jüngstes gedeiht, und ich bin wieder stark und gesund. Wie gnädig ist Gott! Wäre dieses Leid einige Monate früher gekommen, so hätte ich mich nicht aufrecht gehalten; jetzt aber ist die Nothwendigkeit, alle Pflichten des täglichen Lebens zu übernehmen und die Fähigkeit, wieder meinen Platz in der Familie zu behaupten, mir sehr heilsam. Aber es vergeht keine Stunde des Tages oder der Nacht, wo mein Liebling mir nicht gegenwärtig ist. Wie ich oft Susanna im Traum erblickt, so sehe ich jetzt meine kleine Letty.

 

Den 13. Oktober.

Wir haben die alten Gewohnheiten wieder aufgenommen, welche so lange durch meine Krankheit unterbrochen wurden, und der Unterricht im Schulzimmer nimmt seinen regelmäßigen Verlauf. Isabella und Greta lernen Französisch und Italienisch bei dem fremden Sprachlehrer der großen Schule und ich lese Geschichte und Poesie mit ihnen, lasse sie auch immer nachschreiben, was wir zusammen gelesen, und gebe ihnen Themata auf, worüber sie ihre Gedanken aussprechen müssen. Isabellas Aufsätze sind zum Theil merkwürdig gut für ihre Jahre. Sie ist in mancher Beziehung älter, wie ich damals als junge Frau im Beginn meiner Ehe war.

Neulich vermißte Lanz eines seiner Bücher und kam in das Schulzimmer, um zu fragen, ob die Mädchen es irgendwo gesehen. Isabella erhob die Augen nicht von ihrem Pult und Greta sagte: »Bitte, Lanz, störe uns nicht!« Denn er stöberte im Zimmer umher, suchte auf den Bücherbrettern, warf die Schulhefte durcheinander und ging in seiner alten ungestümen Weise zu Werke.

»Schnaubend und donnernd, wie gewöhnlich,« murmelte Isabella, als er sich zum Fortgehen wandte.

So leise sie auch sprach, hörte er's doch; seine Augen blitzten und er begann die Unterlippe zu nagen, wie immer bei aufsteigendem Zorn. »Ich habe dich nicht gebeten, mir zu helfen,« sagte er und schlug die Thüre zu, »wußt' ich's doch besser!«

Der Säugling, welcher in der Wiege neben mir schlief, erwachte und schrie, und Isabella sagte: »Lanz ist doch nicht im geringsten verändert; er macht immer Unruhe und Lärm!«

»Wie bald du vergessen kannst, Isabella,« bemerkte ich. »Erinnerst du dich nicht mehr, wie dir zu Muthe, als er im vorigen Juni fort war? Das heißt doch zu schnell vergessen!«

Ihre Wangen färbten sich dunkelroth, aber sie hatte nicht Zeit zu antworten, denn die Thüre öffnete sich leise und Lanz kehrte zurück. Er ging gerade auf sie zu und sagte: »Entschuldige meinen Ungestüm, Isabella; bitte, verzeih mir! und es thut mir so leid, daß ich Suschen geweckt, Mama!« Damit beugte er sich zu der Kleinen mit einer Zärtlichkeit nieder, welche mir Thränen ins Auge lockte, und küßte sie. Lanz hat etwas unbeschreiblich Anziehendes!

 

Den 12. November.

Lanzelots Antwort auf unsern Brief vom Juli ist gekommen. Sie ist sehr kurz, und er bittet uns, ja nicht zu glauben, daß er uns einen Vorwurf über das Geschehene machen könne; wir seien nur zu gut gegen den Jungen gewesen. Dieser würde ohne Zweifel wieder auftauchen, wie schlechtes Geld das gewöhnlich thäte; und er würde rathen, ihn einen Monat auf Wasser und Brod zu setzen. Er bedaure nur, daß der junge Randall nicht den Muth gehabt, ihn tüchtig durchzuprügeln.

In dieser Weise schreibt Lanzelot immer, als gäbe es keinen Ernst in der Welt. Und wo soll der auch herkommen, wenn kein Glaube an die leitende Hand, welche uns Alle in Liebe führt, vorhanden ist? Lanzelot wird künftigen Frühling in England sein, und bittet Gottfried, sich nach einer Besitzung in unserer Nähe für ihn umzusehen.

 

Den 15. Dezember.

Wieder hat das Schulexamen stattgefunden, und heute sind die Preise vertheilt worden; der kleine Ralph war abermals Sieger, Hugo und Jack gingen wieder leer aus. Jack besitzt treffliche Anlagen, ist aber wirklich faul und sorglos. Auf diese stets freundliche, leichtlebige Natur läßt sich so schwer einwirken!

Frau Waring ist bei Therese, und die beiden ältesten Taylors kommen nach Weihnachten. Sie waren in einer berühmten Pension zu Bath, und ihre Großmutter ist begreiflicherweise sehr stolz auf die dort von ihnen erlangte Ausbildung. Aber Frau Waring scheint mir in den letzten Jahren viel milder geworden, und Niemand hat sich in meinem Schmerz so theilnehmend gezeigt wie sie; vielleicht weil ihre Theilnahme auf eigener Erfahrung beruht, denn sie verlor zwei Kinder am Keuchhusten.

 

Den 4. Jan. 1837.

Ein neues Jahr hat begonnen, und meine Kinder sind voller Lust und Leben. Heute Abend sollen sie in einer großen Gesellschaft bei Randalls tanzen und Charaden aufführen. Kate und Maude Taylor sind schöne große Mädchen und treten vielmehr hervor als Isabella, die neben ihnen fast klein erscheint, während Greta natürlich noch ganz Kind ist. Beide letztere sind in weiß mit schwarzen Schleifen gekleidet und tragen das Haar einfach in Locken auf den Nacken fallend. Hugo, der vorher bei Randalls geholfen, stürzte im letzten Augenblick ins Haus, um sich anzuziehen.

»Ich sage,« begann er, »ihr beiden werdet euch neben Maude und Kate ganz schlampig ausnehmen. Deren Haar ist aufgethürmt mit hohen Kämmen und Puffen, und was weiß ich noch mehr! Wahrhaftig, Mutter, sie sind nicht schmuck genug! Es ist dort eine große Herrlichkeit! Alle Folliotts und Pentonvilles kommen, und -«

»Lieber Junge,« sagte ich, »zieh' du dich an und sieh nach Jack; das wird zweckmäßiger sein, als wenn du deine Schwestern bemängelst.«

»Hallo!« rief Hugo, »welch ein Staatskerl kommt da! Ihre Herrlichkeit wird aber den Stephan einmal ausstechen!«

Und Lanzelot erschien, seiner Gewohnheit nach anzusehen wie ein junger Prinz. Bei dem reichlichen Taschengeld, das sein Vater ihm bewilligt, ist er immer ganz fein gekleidet, kann überhaupt nie einen vernachlässigten, schluddrigen Eindruck machen. In der Hand trug er einige weiße Camelien und gab sie mir mit den Worten: »Ich dachte, du könntest sie den Mädchen ins Haar stecken!«

»Ach wie schön!« sagte Greta; »dürfen wir sie tragen, Mama? Bitte, ja!«

Sie kniete nieder und ich befestigte die liebliche Blume in dem schwarzen Band, welches ihre blonden Locken zusammenhielt.

»Nun Isabella,« rief ich. Diese kam ruhig, ohne ein Zeichen von Befriedigung oder Freude herbei und sagte zu Greta, die auf einen Stuhl gestiegen war, um sich in dem über dem Kaminsims hängenden Spiegel zu betrachten: »Sei nicht so albern, Greta!«

Ich befestigte die Blume in ihren braunen, welligen Haaren, und freute mich, daß diese so natürlich herabfielen und nicht mit Kämmen und Puffen sich aufthürmten, wie Hugo es bei seinen Basen gesehen. Endlich waren alle fertig und die große gelbe Kutsche, welche heute Abend in steter Bewegung war, entführte die Kinder bis zum kleinen Harry herab, unter Aufsicht ihres Vaters, meinen Blicken.

Natürlich war Jack der letzte, und Anna flog hinter ihm her mit der Bitte, sein Haar noch einmal scheiteln zu lassen. »Der Scheitel ist ganz schief, Master Jack!« rief sie. »Ach, quäle mich nicht,« waren Jacks letzte Worte, ehe er in die Tiefe der großen Carosse niedertauchte.

Ich kehrte ins friedliche Haus zurück, ging mit der kleinen Viola ins Kinderzimmer und brachte diese, während Anna die Taubenschläge und die Zimmer der Mädchen aufräumte, zu Bette, wornach wir noch ein wenig von ihrer süßen Schwester mit einander plauderten, denn ich möchte deren Andenken frisch erhalten und lasse nie einen Tag verstreichen, ohne ihrer zu erwähnen. Viola lernt von ihr sprechen, als lebte sie noch, nur in der schönen neuen Heimat, wo wir sie nicht sehen oder jetzt schon erreichen können, wohin wir ihr aber einst folgen werden.

Als sie und Baby schliefen, bin ich heruntergekommen, habe eine Stunde gelesen, dann nachgedacht und endlich mein Buch genommen und geschrieben, was ja auch ein Denken auf dem Papier zu nennen ist.

 

Den 5. Januar.

Ich hielt gestern Abend mit Schreiben inne, weil die Thürglocke ging, und hatte gerade mein Buch weggelegt, als zu meiner Ueberraschung das Eßzimmer sich öffnete und Stephan hereintrat.

»Ist etwas vorgefallen? Was bringt dich her, Stephan?«

»Nichts als mein Verlangen,« erwiederte er. »Laß mich eine Stunde hier bei dir sitzen; ich bin des Spektakels da drüben satt und müde.«

»Aber, lieber Stephan,« wandte ich ein, »deine Eltern werden damit nicht zufrieden sein. Ich glaube kaum, daß ich's erlauben darf.«

Er warf die rebellische Haarlocke zurück und ließ sich trotz meiner Einrede in Gottfrieds großem Lehnstuhl, mir gegenüber, nieder.

»Niemand wird mich vermissen,« sagte er, mit dem Nachdruck auf mich. »Sie klatschen alle Beifall, während die Charadendarsteller sich zu Narren machen. Ich verließ sie, als der Donnerer gerade Heinrich VIII. spielte, und muß sagen, es war gelungen, obwohl lächerlich. Tante Letty, viel hübscher ists hier bei dir zu sitzen. Wir sprechen ja nie mehr mit einander.«

Das ist wahr. Therese hat es zu deutlich gezeigt, daß sie Stephans häufiges Hiersein nicht wünsche, und so habe ich ihn, seit er nun Weihnachten nach Hause kam, nicht aufgefordert, uns oft zu besuchen.

»Nun Stephan,« erwiederte ich, »eine Stunde darfst du bleiben; dann wird das Charadenspiel vorüber sein, und du mußt gehen und irgend eine junge Dame zu Tische führen.«

Er zuckte die Achseln. »O, bis dahin ists noch weit. Der arme kleine Barry, dessen Kopf so dick wird wie ein Kürbiß, soll ein langes Gedicht hersagen, ehe der Vorhang fällt, – und davon bricht das Haus nicht nieder, denk' ich. Ists aber nicht lauter Schwindel? Tante Letty, ich weiß, du findest das auch, und freust dich, nicht dabei sein zu müssen.«

»Ich könnte ja nicht dabei sein, Stephan; mein einfaches schwarzes Kleid würde schlecht hinpassen; aber ich freue mich, wenn Andere sich vergnügen. Weil die Sache dir aber nicht zusagt, so laß uns von andern Dingen reden. Gedenkst du noch meines Rathes, nicht blos zu arbeiten, sondern auch zu spielen?«

»Ja; ich wurde jeden Tag beim Ballspiel niedergeworfen, und brach fast den Hals beim Wettrennen, welches des alten Sandfords (seines Lehrers) Schüler anstifteten. Natürlich war ich der letzte; ja, sie saßen alle schon beim Essen, ehe ich nach Hause kam. Es muß ja wohl lustig sein, mit Koth bespritzt über Hecken und Gräben zu springen, wie losgelassene Hunde, aber ich kann's nicht finden; ich that es nur dir zu Gefallen.«

»Und gewiß hast du am folgenden Tage dreimal so gut gearbeitet, Stephan; gesteh' es nur!«

»Nein, ich glaube nicht, denn ich zerriß drei Abschriften meiner griechischen Verse; meine Hand, zitterte so stark, daß ich nicht ordentlich schreiben konnte; hübsch schreibe ich ja nie, aber es war doch schlimmer als sonst, und – nun ja, beim alten Sandford gibt's Niemand, der für mich schreiben möchte. Nicht als hätte ich das Unheil vergessen, welches daraus entstand, daß Isabella es damals that. Der Kummer, den ich dir dadurch verursacht, hat mich immer sehr geschmerzt, Tante Letty. Und daß der dumme Kerl auch fortlaufen mußte!«

»Die Geschichte gehört jetzt der Vergangenheit an, Stephan; ich hoffe doch, ihr seid Freunde, du und Lanz?«

»Ja, so ziemlich; er muß zuweilen niedergesetzt werden. Ich meine, Hugo wiegt ihn tausendmal auf.«

In derselben Weise sprach er fort, bis ich nach der Uhr sah und ihm sagte, die Zeit sei um, er müsse nun gehen. Er murrte und zögerte, aber ich blieb fest, und sich aus dem großen Stuhl heraushebend, kam er auf mich zu.

»Tante Letty, gib mich nicht auf,« sagte er; »wenn du das thätest -«

Ich legte meine Hand auf seine Stirne und schob das Haar zurück. »Meine eigenen Jungen sind mir kaum theurer, als du es bist, Stephan. Ich betrachte dich immer wie ein Vermächtniß; und je mehr ich dich liebe, desto mehr verlangt mich, dich tapfer die Schlachten des Lebens kämpfen und in den Dienst des großen Heerführers treten zu sehen.«

»Ich bin nicht im mindesten gut, das weiß ich,« sagte der Knabe; »aber, Tante Letty, Lanzelot ist, mein' ich, nicht besser, und doch hast du ihn zum Gevatter Suschens erwählt. Könnte er ihr doch in einem seiner Wuthanfälle den Hals umdrehen!«

»Stephan,« sprach ich ernst, »gib diesen unfreundlichen Gesinnungen gegen Lanz nicht nach. Er hat eine scharfe Lehre bekommen und kämpft, glaub' ich, wirklich unter jenem Heerführer, den ich dir vorher genannt. Bedaure ihn, aber verachte ihn nicht.«

»Du scherzest wohl, Tante Letty. Ich Lanz verachten! Eher umgekehrt! Gute Nacht!«

»Küsse mich, liebster Stephan, und hüte dich, daß keine bittere Wurzel in deinem Herzen emporwachse.«

Stephans dunkle Augen blitzten, wie die des Lanz es zuweilen thun, und er sagte: – »Selbst Hugo behauptet, je mehr einer dir Unruhe und Sorge mache, desto mehr liebest du ihn; du bist viel strenger gegen Hugo als gegen Jack.«

Der Ton, in welchem er sprach, war kein achtungsvoller. Seine Worte hatten mich verwundet, und als er gegangen, flossen meine Thränen. Warum sollte ich mich von der Wahrheit abwenden, selbst wenn sie aus dem Munde eines meiner Kinder käme? Aber Stephan ließ mich traurig zurück und ich fühlte, daß ich Gott noch eifriger um Weisheit bei der Ausübung meiner Mutterpflichten bitten müsse, und den Mantel der Liebe nicht die Fehler des einen Kindes mehr verhüllen lassen darf, als die des andern. Wäre es möglich, daß ich's bei ihnen, die mir alle so theuer sind, hierin versehen?

 

Den 12. Januar.

Es friert heftig, und die Kinder gehen mit ihren Basen nach dem Teiche bei Hills-Court, wo die Folliotts den hiesigen Leuten erlauben, Schlittschuh zu laufen. Die Knaben thun das, und die Mädchen sehen ihnen zu, aber Katie und Maud Taylor sagen, mehrere ihrer jungen Freundinnen liefen vortrefflich. Diese beiden Basen werden stets als Autorität angeführt. Sie gleichen allen Taylors und sind genau, wie ihre Mutter sie zu haben gewünscht, nach Einem Muster zugeschnitten und in dieselbe Form gegossen. Meine Kinder scheinen im Gegentheil alle verschieden und bieten unaufhörlich die stärksten Gegensätze.

In Isabella hab' ich, seit jene gekommen, ein gewisses Streben wahrgenommen nach Dingen, die außerhalb unseres friedlichen, häuslichen Stilllebens liegen, was mich etwas verdrießt. Doch ist es in ihrem Alter natürlich; und wenn ich nie besondere Lust verspürt, unser einförmiges Leben in Kensington mit den beiden lieben Tanten gegen ein anregenderes zu vertauschen, so muß ich deshalb nicht von Isabella dasselbe verlangen. Hatte ich doch einst meine Schwester Susanna, und der vertrauliche Austausch unserer Gedanken und Gefühle und die Liebe, welche uns so eng verknüpfte, war sehr verschieden von dem, was ich bei meinen Töchtern sehe; wir genügten einander vollkommen. Eine solche ausschließliche und zärtliche Freundschaft zwischen Schwestern kommt selten vor, und Isabella und Greta stehen sich im Alter nicht so nahe, wie Maude und Katie Taylor, die mir unzertrennlich scheinen.

Sie haben Isabella viel von ihrer Pension in Bath erzählt, und diese sagte mir neulich, sie möchte auch so gern eine Schule und besonders jene Schule besuchen.

»Was, Isabella, du wolltest uns Alle verlassen? mich verlassen?«

Sie blickte mir gerade und fest in die Augen, wie gewöhnlich: »Du hast ja Greta, Mama, und ich würde, glaub' ich, brauchbarer hieher zurückkehren.«

Darauf ließ sich nichts erwiedern, als die einfachen Worte: »Es ist unmöglich, mein Kind; wir können dich nicht in eine so theure Anstalt schicken;« und Isabella sagte:

»Weshalb sind nur alle guten Dinge unmöglich für uns?«

»Nicht alle guten Dinge,« war meine Antwort; »das höchste Gut ist uns erreichbar, wenn wir nur die Hand darnach ausstrecken.«

 

Den 18. Februar.

Die Ferienzeit ist vorüber, und unser Leben geht seinen alten Gang, heute nur etwas unterbrochen durch eine Ausfahrt, welche wir unternahmen, um einen Ort aufzusuchen, von welchem Gottfried meinte, daß er Lanzelot Trevor passen könne. Der Tag war entzückend, voll leiser Anklänge des nahenden Frühlings; denn die Erde beginnt, aus ihrem Winterschlaf zu erwachen, und man empfindet überall den Einfluß des sich regenden Lebens. Wir mietheten einen Wagen und fuhren rasch zwischen Hecken dahin, wo die ersten Kräuter schimmernd hervorlugten und die Vögel lustig zwitschernd sich von ihrem kommenden Nesterbau unterhielten. Warm und sanft und doch durch den Hauch des sich schlängelnden Flusses erfrischt, strich die Luft von den Hügeln herab. Ich fahre ja selten, und der Anblick der freien Natur gewährt mir so großes Vergnügen. Ich konnte nicht viel sprechen, aber Greta und der kleine Harry schwatzten munter, während Lanz sich zuweilen von dem Bock des offenen Wagens niederbeugte, um ein paar Worte mit Isabella auszutauschen. Gottfried lenkte das alte graue Pferd, welches in gleichmäßigem Schritt forttrabte, seinen vorgerückten Jahren entsprechend.

Wir ließen Hills-Court links liegen und wendeten uns dem Dorfe Coleworthy zu. Der gesuchte Ort kam bald in Sicht; das Haus steht am Abhang eines Hügels und überschaut das Thal, worin Minster liegt, und durch welches der breite schöne Strom ruhig und stattlich dahinfließt.

Ladyshall ist seit Jahren in den Händen einer alten Caershire Familie gewesen, die es jedoch nach und nach verlassen, weil reiche Heiraten mit Erbtöchtern sie in andere Landestheile geführt. Ladyshall war zuletzt an einen entfernten Verwandten der Wyndleshaws vermiethet, welcher dort gewohnt, schon lange ehe Gottfried Minster kennen lernte. Er starb kürzlich, und eine Woche darauf wurde seine Frau in dasselbe Grab auf dem schönen kleinen Kirchhof von Coleworthy gelegt. Wyndleshaws Testamentsvollstrecker hat nun Gottfried die Besitzung bis zum Ablauf der Miethezeit für Trevor angeboten, und ich wüßte nicht, daß dieser Besseres finden könnte. Die Nachbarschaft wird ihm zusagen, denn er wünschte ja, in unserer Nähe sich anzusiedeln. Die Ladyshall umgebenden Wälder und Ländereien sind sehr schön, das Haus selbst ist groß und geräumig, jetzt voll von altmodischem schwerem Mobiliar, welches der Erbe, der im Norden von England lebt, und sich nicht um solche Reliquien kümmert, verkaufen will. Ich wanderte mit Lanz umher, der so froh war, daß mir der Ort gefiel, und in seiner zärtlichen Weise sagte: »Du weißt, Mutter, es wird ein Landhaus für dich.«

Während die Mädchen und ihr Vater einen der Hügel erstiegen, ging ich mit Lanz und dem kleinen Harry nach der Kirche. Wir bekamen die Schlüssel von dem alten Küster, und seine Tochter, eine starkknochige, ernstblickende Frau begleitete uns, und erklärte in eintönig singendem Ton die Monumente und sonstigen Denkwürdigkeiten.

Drei schöne gothische Fenster an der Südseite der Kirche fielen mir zunächst ins Auge.

»Das sind der Frau Bertha Fenster,« erklärte die Frau auf meine Erkundigung; »aus denen machen die Leute viel, kann ich Ihnen sagen.«

»Und wer war denn Frau Bertha?«

»Ach! 's ist schon lange her! aber sie sagen, die Bertha sei eine Tochter der Wyndleshaws gewesen, und habe durchaus einen der Herren von Hills-Court heiraten sollen. Sie wollte aber nicht, denn es war ein harter schlechter Mann, obgleich er Haufen Goldes besaß. So lief sie denn davon und wurde eine Nonne, – Sie wissen doch, was eine Nonne ist? Dann starb der Alte – ihr Vater, mein ich, – und sie stiftete hier wo das Haus ist, ein Nonnenkloster, das auch so lange stehen blieb, bis ein guter König von England all' die Geschichten wegschaffte; sie hörten gewiß schon von ihm erzählen?«

»Seiner Güte bin ich nicht so sicher, aber ich weiß was Sie meinen.«

»Nun, das ist jetzt einerlei,« fuhr die Frau fort. »Als Bertha starb, wurde der Mann, den sie nicht heiraten wollte, bekehrt, erbaute diesen Flügel der Kirche und setzte die Fenster zu ihrem Andenken hinein, weshalb sie die Berthafenster heißen. Man sagt, sie käme jeden Ostern hierher und gehe mit ihren weißgekleideten Nonnen dreimal um die ganze Kirche, ich hab's aber nicht gesehen und verlange das auch nicht.«

Nach Beendigung dieser Geschichte, die sie etwas lebhafter vortrug als die früheren, drehte unsre Führerin den großen rostigen Schlüssel im Schlosse um, und die schwere eichene Thüre schlug knarrend zu, als wir die Kirche verließen, und aus der feuchten modrigen Atmosphäre in die frische herrliche Luft hinaustraten. Der sehr reiche Vicar hat noch eine andere Stelle und ist zugleich Domherr von Castelborough; und der Pfarrverweser, der das gemüthliche Pfarrhaus an der Dorfstraße bewohnt, scheint sich nicht viel um die Gemeinde von Coleworthy zu kümmern.

»Die Wesleykapelle ist jeden Sonntag ganz voll,« sagte die Frau und fügte leiser hinzu: »Ich gehe auch wohl mitunter Abends hin, obgleich ich des Küsters Tochter bin.«

Lanz trug Abends beim Thee die Geschichte von Ladyshall vor, und Gottfried wunderte sich, daß ich nie davon gehört.

Alte Ueberlieferungen der Grafschaft berichten, ein anderer Zweig der Wyndleshaws habe sich nach dem Fall des Klosters, welches mit der Kirche von Minster zusammenhing, hier niedergelassen und das jetzt Ladyshall genannte Haus erbaut.

 

Den 15. April.

Die Zeit der Ankunft Lanzelots rückt heran, und wir erwarten ihn jetzt sehr bald. Seine erste Herüberkunft schwebt mir viel deutlicher vor, als die zweite. Wie gut erinnere ich mich seines Blicks, seiner Worte, seiner fast verzweiflungsvollen Geberden, als er damals die Wahrheit erfuhr. Er ist dem Andenken meiner theuren Susanna treu geblieben, und das wird stets ein starkes Band zwischen uns bleiben.

Lanz macht entschiedene Fortschritte im Guten. Er beherrscht sich weit mehr, und das ist mir besonders während der letzten Wochen aufgefallen, wo Stephan Randall zu den Osterferien nach Hause gekommen war. Hugo und Lanz sind große Freunde und ich glaube, daß diese Freundschaft beiden zuträglich ist. Jack will gern Seemann werden und ich muß wohl seinem Wunsche nachgeben; aber es ist schon spät dafür, und nur der Dienst auf Handelsschiffen stünde ihm noch offen. Der liebe Junge! Vergebens suchte ich ihn zu stetigem Fleiß anzuhalten, und Dr. Smith glaubt, es sei wirklich besser, ihn ziehen zu lassen; die Trennung fällt mir nur so schwer!

 

Den 1. Mai.

Meiner süßen Letty sechster Geburtstag! Ich strebe ernstlich darnach, sie mir vorzustellen wie sie jetzt ist und nicht wie sie war. Aber das Herz thut mir dabei weh, und ich sehe sie noch heute vor einem Jahr, Viola an der Hand, vor mich hintretend um ihren Geburtstagskuß zu empfangen und ihr kleines Geburtstagsgedicht aufzusagen. Ich habe allerlei Reliquien hervorgesucht: die Puppe, womit sie mir am letzten Morgen winkte; Jane Taylors kleines Liederbuch, worin sie noch nicht lesen konnte, das sie aber oft neben mir sitzend in der Hand hielt, die Lieder, welche ich sie gelehrt, nachsprechend und sich einredend, daß sie sie wirklich lese; der Hut mit blauem Band, oben ganz verbogen, der schrecklichen Katastrophe redender Zeuge; die langen blonden Locken, welche meine liebe Anna an dem Tage, wo die grausame Scheere sie abschnitt, sammelte und bewahrte. O du geliebtes Kind, mir geschenkt in dem lieblichsten Mai, den ich je erlebt, soll ich den guten Hirten anklagen, daß er dich zur ewigen Quelle der himmlischen Weide geführt? Nein! Obgleich meine Thränen reichlich fließend dies Blatt benetzen, erkenne ich doch daß er's wohlgemacht. Um sie sorge ich nicht, sondern weiß sie geborgen und meiner Gebete bedarf sie nicht mehr.

 

Den 3. Mai.

Wieder ein Geburtstag! Greta wird heute vierzehn Jahre alt. Sie besitzt eine Pflichttreue und Zuverlässigkeit, die mich an ihren Vater erinnert. Ihre Sorgsamkeit, als ich so lange liegen mußte und ihre praktische Tüchtigkeit sind denkwürdig für ein Mädchen ihres Alters. Gott segne und behüte sie!

 

Den 20. Mai.

Ich bin wieder etwas schwächer, und soll eine Ferienreise machen, ohne eines der Kinder mitzunehmen, sondern wie Hugo sich ausdrückt, »der ganzen Geschichte den Abschied geben.« Ein so unerhörtes Ereigniß für mich, daß ichs kaum ein Vergnügen nennen mag. Und doch steht mir ein entzückender Besuch bei den theuren Wentworths in Castleborough bevor.

Milly Leslie, immer zur Stelle, wenn man sie braucht, will während meiner Abwesenheit nach den Kindern sehen, und was sie verspricht, das hält sie auch. Therese gab dasselbe Versprechen, aber ich muß bekennen, es genügt mir nicht. Der lieben Milly Name ist hier selten genannt und doch verdanke ich ihr so viel! Sie gehört zu jenen ruhigen anspruchslosen Wesen, die kommen und gehen ohne sonderlich beachtet zu werden; bleiben sie aber einmal aus, wie würde man sie vermissen!

 

Den 22. Mai in Castleborough.

Hier sitze ich denn in einem entzückenden Zimmerchen, das im Thurm des alten Dechantenhauses belegen, und welches ich durch drei Wendeltreppen von meinem Schlafzimmer aus erreiche. Letzteres blickt auf den Garten, während ich von meinem Wachtthurm aus die große Westseite der Kathedrale und den geschorenen Rasenplatz davor übersehen kann. Der Dechant hat mir dieses Zimmer zugetheilt; er gibt es immer seinen besonderen Freunden und weiß, daß es mich beglückt. Wie gütig er ist! Die Zeit und ihre Wandlungen haben nur alles Liebenswürdige in ihm mehr entwickelt, und seine trefflichen Eigenschaften noch vertieft. Kleinliche Eifersucht und anspruchsvolle Wichtigthuerei liegen ihm sehr fern; die Würde, welche ihm schon vor sechzehn Jahren in St. Lucas eigen, besitzt er noch; aber es ist die zarte und anziehende Würde, die dem Botschafter Christi geziemt und die jetzt seine grauen Haare wie mit einer Strahlenkrone schmückt. Indem ich von ihm schreibe, durchdringt mich ein Gefühl stolzer Freude, daß ich ihn je gekannt; aber meine schwachen Worte vermögen dasselbe nicht entfernt so wiederzugeben, wie ichs wirklich empfinde.

Als er zu seiner jetzigen Stelle – keine der höchsten und reichsten – berufen wurde, war damit ein anderes einträgliches Nebenamt verbunden, das ihm hätte zufallen können. Seit mehreren Jahren kannte er aber einen sehr thätigen und eifrigen benachbarten Prediger, über dessen Haupt alle Beförderungen hinweggegangen, und der schon seit langer Zeit mit einem lieben Mädchen verlobt, demselben nicht zumuthen konnte, seine jetzige Armut zu theilen. Diesen ließ der Dechant kommen und fragte ihn, ob er geneigt sei, jenes Amt zu übernehmen, und durch eifrige Verwaltung desselben ihn der Verantwortlichkeit zu entbinden. Von Dank erfüllt konnte der Mann doch nicht fassen, daß er aus den Händen des Dechanten ein für diesen so werthvolles Geschenk entgegennehmen sollte; und Frau Wentworth, welche mir diese Geschichte erzählte, setzte hinzu: »Ich glaube, nichts ist Castleborough so undenkbar vorgekommen, als die Thatsache, daß mein Mann auf die jährliche Einnahme mehrerer tausend Mark verzichtet, während ich wußte,« – sie sagte es mit stolzer Freude – »er hätte gar nicht anders gekonnt.«

Die Dechantin ist kräftiger als früher; sie bewegt sich gerne im Hause und kann sogar zur Kathedrale hinübergehen.

 

Den 24. Mai.

Pfingstsonntag, und ein weißer Tag in meinem Kalender!

Wir waren zweimal zur Kirche, und der Dechant predigte mit alter Kraft und Lebendigkeit. Auf keinem Geistlichen kann mehr Arbeit lasten als auf ihm. Man sagt wohl, die Dechanten haben nichts zu thun; aber eine Woche in Castleborough verlebt, würde Jeden überzeugen, daß es dem an Arbeit nicht mangelt, der ihr nicht aus dem Wege geht.

Jeden Sonntag kommen die Chorknaben in sein Haus, er bewirthet sie in der Halle mit Thee und liest, redet und betet dann mit ihnen. Die Knaben müssen während der Woche kleine Aufsätze schreiben, und ich begegnete dem Dechanten, wie er, den Arm voller Correcturhefte, aus der Halle in sein Arbeitszimmer ging. Er sagte lächelnd: »Angenehme Beschäftigung das! Sie würden sich wundern, wie gut einige dieser kleinen Sänger schreiben!«

An den Sonntag Abenden predigt er in verschiedenen Kirchspielen, wo man der Hülfe bedarf, und in der Woche ist er fortwährend beschäftigt. Es gibt kein gutes Werk in Stadt und Umgegend, wo man nicht seine Mitwirkung, – ich meine nicht blos durch Geld, sondern durch Rath, Theilnahme und Ermuthigung – in Anspruch nähme.

Einmal wöchentlich sammelt sich eine kleine Schaar in seinem Studirzimmer zum Bibellesen. Jedes Mitglied der Gemeinde ist dazu geladen und kann einen Freund mitbringen. Bei dieser Bibelstunde – denn das ist sie – stellen sich viele Alte und Schwache ein, die früher nie dergleichen gehört, und meine Freundin sagt, die Aufmerksamkeit und der Ernst in manchen dieser alten Gesichter rührten sie oft mehr, als sie ausdrücken könne.

Neben all dieser Arbeit schreibt der Dechant an einem Commentar, von welchem ein Band schon im Druck erschienen und der für ein ganz treffliches Werk gilt. Dabei scheint er niemals hastig, zerstreut oder überbürdet, ist ein stets anregender Gesellschafter und der unterhaltendste, liebenswürdigste Wirth.

 

Den 26. Mai.

Seit ich dies am Sonntag geschrieben, hatte ich einen neuen Beweis der Wahrheit obiger Behauptung, bei Gelegenheit eines Mittagessens, welches hier gestern stattfand, wo die Gedanken und Meinungen des Tages zur Sprache kamen. Es waren manche gescheidte und gebildete Leute zugegen, und ich nahm mit Verwunderung wahr, wie sehr der Dechant auf allen Gebieten zu Hause ist. Man redete von den großen Fortschritten und Wandlungen der letzten zehn Jahre, von der Zunahme der Eisenbahnen und deren Wirkung, indem sie Städte und Landschaften enger verbinden und neue Anregung schaffen, und dann von der Ausbreitung der Missionsgebiete und der größeren Leichtigkeit, in jene fernen Länder einzudringen.

Die Gesundheit des Königs verursacht große Besorgnisse. Wenn er sterben sollte, würde uns eine junge Königin, die Prinzessin Viktoria, beherrschen, welche nicht viel älter ist als meine Isabella.

 

Den 30. Mai.

Erfreuliche Nachrichten aus der Heimat! Baby und alle sind wohl. Lanzelot Trevor befindet sich in London und schlägt mir vor, hierherzukommen und mich abzuholen. Der Dechant hat Lanz freundlich eingeladen, seinen Vater hier zu treffen, und ich habe Gottfried gebeten, mir den Knaben zum 4. Juni zu schicken.

 

Den 6. Juni.

Durch einen seltsamen Zufall kamen Lanz, sein Vater und Herr Missionar Somers, des Dechanten Schwager, in derselben Postkutsche von Bath hier an. Gottfried hatte Lanz am 4. Juni von Minster abgeschickt, und als der Knabe an die Abfahrtsstelle kam, sah er einen großen Herrn den Bocksitz erklimmen, während ein blasser magerer Geistlicher ins Innere stieg. Da alle Außenplätze besetzt waren, suchte Lanz vergebens den Schirrmeister zu bereden, eine Ausnahme zu seinen Gunsten zu machen, als sein Vater, die Stimme erkennend und von seiner Höhe niederblickend sagte: »Lanz, ich will dir hier neben mir Platz machen.«

»Ich fühlte gleich, das müsse mein Vater sein,« berichtete der Knabe.

Sie hatten sich seit zehn Jahren nicht gesehen, und Lanz war noch ein Knäbchen in langen Kleidern, da sein Vater zuletzt England verließ.

Mein Schwager ist weniger verändert als ich geglaubt. Er ist noch immer ein schöner Mann mit feinen, scharf geschnittenen Zügen von stattlichem hohem Wuchs. Sein Sohn gleicht ihm sehr, aber dessen Mund ist sanfter und sein Lächeln unwiderstehlich, während Trevors Lippen mir noch härter geschlossen schienen, als früher, und sein Lächeln, obwohl häufig, übermüthiger und spöttischer ist. Gestern Abend machte er eine Bemerkung über die Arbeit der Missionare in Indien, welche eine ernste Antwort des Dechanten hervorrief und das Blut in die bleichen Wangen des Missionars Somers trieb. Dieser ist ein gebrochener Mann und wird nie wieder in sein Arbeitsfeld zurückkehren können; aber bei aller Leibesschwäche und vielen erfahrenen Entmuthigungen muß er doch dem Herrn für manche Erfolge Dank sagen. Ich hatte gestern eine lange Unterredung mit ihm und freute mich, als er mit glänzenden Augen von einem kleinen Hindumädchen erzählte, welches, ihn segnend, in vollem Glauben entschlafen war, nur eine von vielen, aber die letzte, gleichsam ein Siegel auf seine Wirksamkeit in jenen fernen Landen. Wir wanderten unter den Linden des Hofes auf und nieder, und er redete wieder von der Gemeinschaft der Heiligen und dem wunderbaren Band, welches die Kinder Gottes durch alle Jahrhunderte und durch alle Zeiten verbindet. Er bewog mich, ihm von meinen Kindern und von Stephan zu erzählen. Ich weiß, weshalb dieser letztere ihm ein besonderes Interesse einflößt, und wenn ich zurückkehre, werde ich Gottfried bitten, ihn zu uns einzuladen.

 

Den 8. Juni.

Gestern Abend litt ich an Kopfschmerzen, und konnte deßhalb, weil wir zu Tische Gesellschaft hatten, nicht hinuntergehen. Ich saß in meinem Thurmstübchen, als mich ein Klopfen an die Thüre erschreckte. Dann sprach Lanzelot Trevors Stimme: »Darf ich eintreten?« Es war das erstemal seit seiner Rückkehr, daß er ein Gespräch mit mir suchte, und ich wunderte mich deshalb nicht wenig.

»Nun,« begann er, »morgen geht's fort, und ich bedaure das nicht. In diesem Hause kann man nicht Athem schöpfen; die Luft ist zu heilig. Immer wieder komm' ich mit unserem Wirth an einander, und jener salbungsvolle Somers hat sich mit einem Haufen anderer Pastoren bei Tische zum Narren gemacht. Aergere dich nicht, Letty, ich wollte dir nicht wehe thun.«

Nun fand ich Worte für die Besorgniß, deren ich mich nicht erwehren kann. »Lanzelot,« begann ich, »versprich mir, nichts zu sagen, was deines Sohnes Glauben erschüttern könnte; du verlangtest, ich solle ihn lehren, wie ich meine eignen Kinder gelehrt, hast mir dabei keine Bedingung gestellt, und ich glaube selbst von Herzen, daß dieser Glaube, wie er den Heiligen gepredigt worden, der einzige Halt im Leben und Sterben und die einzige Schutzwehr für deinen Knaben ist. Ich meine, er hat ihn ergriffen, – o Lanzelot! bitte, entziehe ihm diesen Stab nicht durch deine Reden. Denke an seine Mutter!«

Sein Ausdruck verwandelte sich sogleich und er sagte! »An sie denken! Vergeß ich sie je? Du bist die Beste der Guten, Letty, und ich danke dir von Herzen für alles, was du, wie ich sehe, für meinen Knaben gethan. Er hat mir erzählt, wie du ihn voriges Jahr empfangen, hat mir von deines Kindes Tod erzählt,« – und hier, da er meine Thränen fließen sah, fuhr er, mir näher tretend, sehr ernst fort: »Ich verspreche, deinen Wunsch zu erfüllen. Mein Junge soll nie erfahren, daß ich zweifle, wo er glaubt! ich verspreche es bei meiner Ehre!«

»O Lanzelot,« sagte ich, »gebe Gott, daß deine Zweifel sich auch in Glauben verwandeln mögen!« Er küßte meine Stirne, trat dann ans Fenster und stand mit verschränkten Armen gegen die tiefe Nische desselben gelehnt. Plötzlich begann er in gänzlich verändertem Ton: »Das waren Prachtmenschen, die jene Kirche erbaut; jetzt gibts solche Riesen wohl leider nicht mehr auf Erden!«

Dann sagte er, ehe er mich verließ: »Nun will ich ins Wohnzimmer hinab und mich angenehm machen; entspricht das deinen Wünschen?«

»Gewiß,« lächelte ich, und er ging.

Die Schalten der sommerlichen Dämmerung wuchsen, und die große Uhr schlug vom Glockenthurm herab die neunte Stunde. Das Geräusch tröpfelnder Wasser von dem Springbrunnen im Hofe erreichte mein Ohr; die Blätter der Linden säuselten im Abendhauch und die Sterne blickten aus der tiefen Bläue der Sommernacht. Frieden erfüllte meine Seele, der Frieden festen Vertrauens, daß alle, die ich liebe, endlich eingesammelt werden sollen und ich einst erfahren, daß Susanna, die theure Schwester meiner Jugend, die süße Erinnerung meiner spätern Jahre, mit ihrem Manne und ihrem Kinde zusammen eingehen wird in die Gemeinde der Gläubigen.

 

Den 12. Juni.

Wieder daheim! Welches Entzücken lag in dem stürmischen Willkomm aller meiner Kinder! Da standen sie auf der Straße, als der Wagen vorfuhr, ihr Vater mitten zwischen ihnen.

Lanz und sein Vater saßen draußen, ich im Innern der Kutsche, und ich weiß kaum, wie ich herabgekommen bei dem Jubelgeschrei der Kleinen und der stilleren Freude Isabellens, Hugo's und Greta's, denn Jack, obwohl zu den älteren zählend, machte so viel Lärm als eins der andern. Endlich gelangten wir vor unsere Thüre, und in der Halle stand Anna, das Baby im Arm, Baby Suschen, wie ein Rosenknöspchen anzusehen. Ich nahm sie Anna ab und sagte, mich umwendend, zu Lanzelot: »Das ist Susanna!« Er streichelte das Kind und flüsterte so leise, daß ich's allein verstand: »Den Namen höre ich gern.« Dann stiegen wir alle hinauf in die Wohnstube. Hier setzte Gottfried mich in seinen eigenen Lehnstuhl, Greta brachte mir mein Tischchen und eine Tasse Thee, und dann trat etwas mehr Stille ein. »Wie wohl du aussiehst,« bemerkte Gottfried in dem ruhig befriedigten Ton, der mir so bekannt, und Hugo fügte über mich gelehnt hinzu:

»Ja, du siehst ganz jung aus, Mutter!«

Darauf sagte Onkel Lanzelot: »Das ist ein zweideutiges Compliment, Hugo; es setzt voraus, deine Mutter habe alt ausgesehen.« Und dann lachten alle, während die Thüre aufging und ein neuer Gast das reichlich volle Zimmer betrat, welches Anna, die gerade erschien, zu räumen versuchte, indem sie Baby Suschen, Viola und Harry mit sich wegführte.

»Laßt mich durch!« höre ich sagen, und kenne die Stimme: es ist Stephans. Mit seinem gewöhnlichen zögernden Schritt kommt er heran, kniet vor ihnen allen bei meinem Stuhl nieder, umschlingt und küßt mich. »Tante Letty,« sagt er, die langen Locken aus der großen breiten Stirn zurückwerfend, »ich freue mich sehr, daß du wieder da bist. Alles geht verkehrt ohne dich, wenigstens was mich betrifft.« Dann stieg ihm plötzlich das Blut ins Gesicht, und sich des bei ihm so seltenen Gefühlsausdrucks schämend, steht er auf und läuft, ehe ich ein Wort zu erwidern vermag, aus dem Zimmer.

»Ruft ihn zurück!« sage ich, höre aber durch das Getrampel der eilenden Füße Isabella's Stimme: »Nein, er mag es nicht,« und sogleich stemmt Lanz seinen Rücken gegen die Thüre, allen den Ausweg versperrend.

Die Mutter einer großen Familie muß manchen sauren mühseligen Schritt thun und zu manchen Stunden seufzen: Meine Bürde ist schwerer, als ich sie tragen kann; aber dann kommen auch wieder Augenblicke des reichsten Ersatzes, wo eine Schatzkammer sich weit zu öffnen scheint, und die Gaben Gottes in ganzer Fülle auf sie herabströmen.

Diese Erfahrung habe ich bei meiner Rückkehr nach kurzer Abwesenheit gemacht. Es ist so süß, von seinen Geliebten in solcher Weise empfangen zu werden und zu fühlen, daß man ihnen nothwendig ist. Mein verlorenes Kind, dessen kleine leichte Gestalt und zärtliches Wesen ich so schmerzlich vermisse, schwebt mir beständig vor Augen. Aber kann ich es denn verloren nennen, da ich doch weiß, daß ich sie wohlgeborgen wieder finden soll an dem Tage, wo Gott seine Schätze aufthun wird?

 

Den 20. Juni.

Der liebe alte König ist todt, und wir haben nun eine junge mädchenhafte Königin, nur wenige Monate älter als Isabella. Wie ernstlich muß jedes Frauenherz im Lande Gott bitten, sie zu segnen!

 

Den 4. Juli.

Heute verkündigt das hiesige Tagblatt: »Ladyshall ist an Sir Lanzelot Trevor, früheren Richter an Ihrer Majestät Gerichtshof zu Agra, und Schwager unseres geehrten Mitbürgers, Herrn Waring, vermiethet worden.«

Dieser Trompetenstoß hat Lanzelot sehr belustigt, und er meint, er würde den Kindern der Nachbarschaft als ein alter indischer Nabob Furcht einjagen. Den Anschein hat es jetzt nicht, denn unzählige Karten werden von allen Seiten abgegeben, und wir können uns glücklich schätzen, daß Lanzelot mit seinem Diener im »Schwan« wohnt, sonst würde unser Mädchen beständig an der Hausthüre stehen müssen.

 

Den 13 August.

Wir speisten gestern mit Randalls und einigen andern bei den Folliotts, und ich gedachte jenes Mittagessens, wo ich Maude dort zuerst gesehen. Ihr Name ist seit Jahren nicht in der Familie genannt worden, und wir haben überhaupt nur wenig Verkehr mit Hillscourt gehabt. Nun führte indeß Lanzelots Verwandtschaft eine Erneuerung der Bekanntschaft herbei, und daher die Einladung zum Mittagessen. Ich wurde nach Tische mit schmeichelhaften Bemerkungen über meines Schwagers äußere Erscheinung begrüßt, und sie erklärten, er sei für die Nachbarschaft ein großer Gewinn, da die früheren Besitzer von Ladyshall, die armen alten Wyndleshaws, in geselliger Hinsicht ganz unbrauchbar gewesen. Die Fenster des Wohnzimmers blicken auf die Terrasse, und da mir die Leute und ihre Unterhaltung ziemlich gleichgültig waren, trat ich, hinaus und wandte mich dem Blumengarten zu. Ein schwarz gekleidetes Kind sah mich kommen, floh unbeholfenen Laufes, um sich hinter einem Boskett zu verbergen, blieb mit dem Fuße an der Drahteinfassung eines Blumenbeets hängen und fiel. Ich eilte hinzu, hob sie auf und fragte, ob sie sich wehe gethan

»Ach bitte, lassen Sie mich los; ich muß zu Mama; Großmama wird so böse sein!«

Des Kindes Klagetöne riefen zwischen den Bäumen eine bleiche abgezehrte Frau in Witwentrauer hervor. Ihr Gesicht schien mir bekannt, glich aber einem Bilde, von dem alle Farbe abgewaschen ist.

»Clara,« sagte sie, »was gibt's? Bist du verletzt?«

»Ich lief, um dir zu sagen, daß Jemand aus dem Wohnzimmer komme, Mama, fiel aber und stieß mich am Arm.«

Die Stimme kannte ich auch, und plötzlich wußte ich's – dies war Maude Folliott, als Witwe zurückgekehrt in ihr väterliches Haus, vor der Zeit gealtert, gebrochen und kummervoll. Sie blickte mich forschend an und sagte:

»Frau Waring, ich erwartete nicht, Sie zu sehen; gewiß erkennen Sie mich kaum, so sehr habe ich mich verändert, während Sie seit unserer Trennung fast dieselbe geblieben sind.«

Sie schickte Clara unter dem Vorwand, ein Buch zu holen, ins Haus und sagte dann in traurigem, fast verdrießlichem Ton: »Sie hatten damals Recht und ich hatte Unrecht. Mein Wille ist nie gebrochen, nie mit Gottes Willen eins geworden. Und wie ich gesäet, so ernte ich jetzt. Ich war keine glückliche Frau und bin nun eine elende Witwe. Ich darf hier nicht stehen bleiben, sie lassen mich nicht gern gesehen werden. Mein Vater hat sich erbarmt und mich wieder ins Haus genommen, über meine Mutter ist hart und unversöhnlich. Vielleicht treffen wir uns später einmal.«

Es nahten Schritte und sie ging.

»Wir haben Sie vermißt, Frau Waring,« sprach Fräulein Folliott, jetzt eine ältliche junge Dame, die aber verzweifelte Anstrengungen macht, ein Stückchen Jugend festzuhalten. »Sir Lanzelot und ich sind gekommen, Sie zu suchen.«

Sie blickte Lanzelot an, als erwarte sie seine Zustimmung, erhielt aber keine, vielmehr warnte er mich nur, der verrätherischen Wärme eines Augustabends in England nicht zu trauen und nicht so spät draußen zu bleiben.

Als wir im Sternenlicht nach Hause fuhren, dachte ich viel an Maude und fühlte mehr wie je, daß mein innigstes Herzensgebet für meine Kinder sein müßte: »Lehre sie thun, was dir wohlgefällt.«

 

Den 4. Oktober.

Stephan Randall ist nach Oxford abgereist und Lanz ins Militär eingekauft, jetzt Fähndrich des sechzigsten Regiments.

Lanz Trevor war sehr gütig und großmüthig gegen uns und hat die ganze Ausrüstung Jacks für den Seedienst übernommen und die Schiffsprämie bezahlt. Der Junge ist glückselig, und mein trauriges Gesicht, wenn er von seiner ersten Reise spricht, ruft bei ihm kaum ein Wölkchen hervor. Zuweilen erstickt er mich fast mit Küssen und sagt: »Lustig, Mutter! Ich bringe dir indische Shawls und andre schöne Sachen mit; du wirst dich freuen, mich los zu werden; denke nur, wie viel weniger Lärm im Hause sein wird, und mein Fortgehen legt Anna sicherlich zehn Lebensjahre zu. Zudem weißt du, können wir ja nicht immer daheim bleiben!«

Das ist wahr; aber mir ist's, als würde ich's nicht ertragen, meiner Kinder liebliche Jugendtage dahinschwinden zu sehen und als könnte ich nie vergessen, daß die große mitleidslose See über die Köpfe mancher ebenso fröhlicher schmucker Matrosenknaben hinweggespült, wie mein armer Jack einer ist. Er hat die Schule verlassen und geht jetzt zu einem Lehrer, der dem Jungen die nöthigen Vorkenntnisse beibringt. Diese entsprechen offenbar seinen Anlagen, und vielleicht wäre es besser gewesen, wenn man ihn schon früher von dem ihm verhaßten Schulzwang befreit hätte.

Mein lieber Hugo arbeitet im Bureau seines Vaters und geht seinen ruhigen Weg. Natürlich wird noch manches für ihn geschehen müssen, ehe er als fertiger Jurist Stellung gewinnt; aber ohne Zweifel hilft uns Lanzelot auch hier.

Wie gütig und großmüthig zeigt er sich überhaupt gegen uns, und doch, »eins fehlt ihm.« Dieser Mangel drängt sich mir immer auf, wenn ich mit ihm bin, und ist auch wohl der Grund, weshalb zwischen ihm und seinem Sohn so wenig Sympathie besteht. Lanz fühlt sich nicht recht behaglich dem Vater gegenüber, und oft sehe ich, wie er vor unterdrückter Ungeduld an der Unterlippe nagt, wenn jener ihn in dem kalten spöttischen Ton anredet, der offenbar sein Gefühl verletzt. Es ist Grundsatz bei Trevor, daß Knaben immer niedergehalten werden müssen und sich nie geltend machen dürfen. Er begreift nicht, daß Gottfried mit Hugo und den andern Cricket spielt, oder im Sommer früh morgens mit ihnen zum Baden geht. Freundschaft zwischen Vater und Sohn ist ihm unverständlich; die besteht aber gottlob! zwischen Gottfried und seinen Knaben!

 

Den 23. Februar.

Ich habe in letzterer Zeit wenig geschrieben, denn ich fand nicht den Muth, meine Gefühle bei der Trennung von Jack zu schildern. Er ist am 18. Januar auf der Viktoria nach China und Ostindien abgesegelt. Sein Onkel Lanzelot hat ihm viele Empfehlungen mitgegeben, und so scheint ein günstiger Stern über seiner ersten Reise zu walten; aber ich fühle nichts desto weniger, daß er von mir gegangen, vielleicht auf immer!

Am letzten Abend trat ich leise in seine Kammer, als er schon im Bette lag. »Mutter,« sagte er, »ich bin noch wach; gib mir einen Kuß!« Dann umschlang er mich, das Knabenherz schmolz und er schluchzte an meiner Brust, wie ers so oft in seiner ersten Kindheit gethan.

»O, Mutter, Mutter, du hast ja Hugo und den klugen kleinen Ralph, die dir Ehre machen, und Harry; du wirst mich nicht so sehr vermissen!«

Ja, mein Jack, der du mir so viel Noth und Unruhe verursacht, wie sie nur die Geduld einer Mutter erträgt, der du so ungeberdig und faul, ein Anstifter vielen Verdrusses und mancher Störung im Hause, – wie theuer bist du dennoch dem Herzen deiner Mutter!

Wir weinten einige Augenblicke zusammen, und dann, während er neben mir kniete, betete ich für meinen Jungen und befahl ihn der Obhut des großen Steuermannes zur Leitung durch die stürmischen Wogen des Lebens.

Dieser Austausch unserer Gefühle in seiner kleinen Kammer that uns beiden wohl, und am folgenden Morgen blieb ich ruhig, als er mit seinem Vater aufbrach, welcher letztere ihn an Bord des Schiffes gebracht, um dann noch ein paar Tage bei seiner Schwester Katharina Taylor vorzusprechen.

Das Haus erscheint mir jetzt recht leer: Hugo sitzt den ganzen Tag im Bureau, Jack ist fort, Lanz beim Depot in Woolwich, Stephan Randall in Oxford.

»Welch eine Erleichterung für dich, sie alle los zu sein!« bemerkte neulich Therese. Wie wenig sie mich kennt! »Du möchtest dich doch nicht von Barry trennen,« sagte ich.

»Von Barry! nein!« antwortete sie, »obgleich ich beabsichtige, ihn nach Winchester zu schicken, wenn Dr. Randall das gut heißt. Auch ist Barry sehr verschieden von Jack und außerdem ein einziger Sohn!«

»Ach Therese!« rief ich.

»O erschrick nur nicht! Stephan ist doch nicht mein Sohn, und ich hasse alle sentimentalen Einbildungen, wo man diejenige Mutter nennt, welche den Mutternamen nicht beanspruchen kann.«

Das war ein Stich, und ich empfand ihn als solchen.

Nun, die Zeit hat Therese nicht milder und besser gemacht. So – weit meine Lebenserfahrungen reichen, finde ich, daß das Alter in der Regel nicht veredelt und erhebt, wie manche Bücher behaupten. In der Regel wachsen und entwickeln sich vielmehr die Fehler und Schwächen unserer jüngeren Tage, anstatt zu erlöschen und zu sterben. Es bedarf eines besseren Einflusses, als ihn die äußeren Dinge mit sich führen, um uns in das Bild unseres lieben Herrn zu verklären. Schonung, Nachsicht, Freundlichkeit und barmherzige Liebe lernt man nur zu seinen Füßen; sie gehen nicht von selbst aus Leiden und Kümmernissen oder aus dem Flug der Zeit hervor, der Zeit, die auf ihren Schwingen so vieles entführt, was wir geliebt und hochgehalten.

 

Den 10. März.

Die arme Frau Smith – Maude Folliott – hat mich oft besucht. Ihre Mutter kümmert sich wenig um sie, und sie blieb mit der kleinen Clara in Hills-Court zurück, während die Familie nach London übersiedelte. Dort wurde ihnen das alte Schul- und das Kinderzimmer im Flügel des großen Hauses zur Wohnung angewiesen, und eins der Hausmädchen muß sie bedienen.

Ich brachte neulich einen Tag bei ihr zu und nahm Greta und Viola mit. Die arme Clara war so glücklich darüber! Es ist ein trübes, melancholisches, dabei wunderbar plumpes, linkisches Kind, – wie Lanzelot bemerkt, gewiß das Ebenbild des seligen Herrn Smith. Wenigstens würde man sie nie für die Tochter ihrer so fein und aristokratisch aussehenden Mutter halten. Kein Wunder, daß ihr Anblick der Großmutter beständiges Aergerniß gibt.

Ich glaube, der armen Maude einigen Trost zu gewähren. Sie hat mir ihre ganze Geschichte erzählt, und daraus kann man wieder die Lehre ziehen, daß auf keiner in entschiedenem Ungehorsam gegen den Willen der Eltern geschlossenen Ehe ein wirklicher Segen ruht; auch ist mir ganz klar, daß der erste verkehrte Schritt der armen Maude jener Gang zur Kirche nach Minster gewesen, wo sie schon dem bestimmten Befehl der Eltern zuwidergehandelt. Die Frömmigkeit, welche ein Kind veranlaßt, das Gebot, auf welchem so große Verheißung ruht, zu übertreten, scheint mir keine Wurzel zu haben, weshalb sie dann in Zeiten der Versuchung abstirbt.

Maude rührte mich bis zu Thränen, als sie mir schilderte, wie sie sich selbst kaum für jene frühere Maude Folliott halte, welche so sorgfältig geputzt zum Nachtisch hinunterkam, und von deren Ritt auf einem kleinen grauen Pony ihr Vater seinen Freunden so stolz erzählte, während sie auf seinen Knieen saß, ein Gläschen süßen Weines schlürfte und eingemachten Ingwer aß. Die Arme! Wie dankbar muß ich doch sein, wenn ich mein Leben während dieser sechzehn Jahre mit dem ihrigen vergleiche!

 

Ladyshall, den 8. Juli.

Ich mache hier einen langen Besuch, und Isabella und Greta sind mit mir. Das Landleben ist entzückend und läßt nichts zu wünschen übrig.

Am 11. d soll eine Gesellschaft zur Feier von Isabellens achtzehntem Geburtstag stattfinden, und Lanzelot trug mir auf, die ganze Nachbarschaft in seinem Namen einzuladen.

Therese sah meine Liste durch und äußerte ihre Verwunderung, daß ich einige Namen von Leuten aus Minster aufgeschrieben. Das würde, meinte sie, der »Grafschaft« mißfallen. Lanzelot machte sich darüber sehr lustig. »Laß es ihnen immerhin mißfallen und nimm noch mehrere von der Gattung hinzu, Letty,« sagte er.

Lanzelot mag Isabella sehr gern, und ist gütig gegen Greta. Meine Jungen behandelt er aber kalt, fremd, ganz in derselben Weise wie seinen Lanz.

 

Den 9. Juli.

Der junge Soldat ist nach Hause gekommen; ein schöner stattlicher Mensch, und ich freute mich bei seiner Ankunft zugegen zu sein. War's doch ein mütterlicher Kuß, mit dem ich ihn begrüßte, als er in die Halle trat. Alles lief ihm entgegen, und die Kleinen jauchzten vor Freude, ein Lärm, desgleichen Ladyshall wohl seit Jahren nicht vernommen.

 

Den 10. Juli.

Dieser Monat bringt viele Erinnerungen, und ich saß Nachmittags, ganz in Gedanken der Vergangenheit vertieft, unter dem großen Tulpenbaum, als Isabellens Stimme mein Ohr traf, während ich sie mit ihren Schwestern auf dem Wege nach Coleworthy geglaubt.

»Isabella, mein Kind!« rief ich, denn der Ausdruck ihrer Kornblumenaugen ließ mich etwas Besonderes vermuthen. Die arme Kleine! Vor achtzehn Jahren lag sie, ein zartes Kind, so sicher, so geborgen in meinen Armen, und heute wird es mir ins Bewußtsein gerufen, daß sie zum Weibe herangereift ist.

»Mama,« – und sie ließ sich neben mir auf den Rasen nieder, »Mama, es ist etwas vorgefallen, – ich bin so unglücklich!«

Sie erröthete über das ganze Gesicht, und instinktmäßig wußte ich alles; es bedurfte kaum ihrer gesammelten Worte:

»Lanz sagt, daß er mich liebt und mich zu heiraten wünscht. Aber Mutter, nicht um die ganze Welt kann und will ich das thun! Er ist so hitzig! Eben im Holze sprach er mit mir, und ich erschrack, und nun war er so heftig und wild; da verließ ich ihn und kam hierher! O Mama!«

Ich zog das arme, verschüchterte Vögelchen an meine Brust, – eine Zufluchtsstätte, die ihm, so lange ich lebe, nicht fehlen soll, und allmählich wurde sie ruhig und still, so still wie sie damals vor achtzehn Jahren in meinen Armen lag. Die Wahrheit blitzte mir plötzlich entgegen, und ich erkannte die Ursache der Eifersucht und Nebenbuhlerschaft der beiden armen Knaben.

Während sie noch so lag, ließ sich ein rascher Schritt auf dem Sandwege der Terrasse über uns vernehmen, und im nächsten Augenblick kam Lanz mit dem ganzen früheren Ungestüm herbeigesprungen. Sogleich löste Isabella sich aus meinen Armen und ging eilig dem Hause zu.

»Setze dich, Lanz,« sagte ich; »sie hat mir alles gesagt; es thut mir so leid, mein lieber, lieber Junge!«

»Ich will sie heiraten,« fiel er mir heftig ins Wort; »ich sterbe, wenn ich sie verliere. O Mutter, hilf mir!« Wieder derselbe Ruf, aber ich wußte, woher ihm jetzt Hilfe kommen werde, und ich fürchtete deshalb nicht für ihn, wie in früherer Zeit.

»Der Schleicher, der Heuchler hat mich verdrängt,« begann er wieder; »ich glaube das wirklich! Tante Letty, du wirst für mich Partei nehmen; o willst du nicht für mich Partei nehmen?«

»Lanz, wir sind beide zu aufgeregt, um jetzt über die Sache reden zu können. Ich muß mit deinem Vater und mit Isabella sprechen. Verdirb ihr die Geburtstagsfreude nicht, und besonders sage nichts Unwürdiges von Stephan. Erinnere dich deines Entschlusses vor zwei Jahren am Grabe meiner kleinen Letty.«

»Ach ja, kleine Letty, kleine Letty, du hast mich lieb gehabt!« stöhnte er, und bei der Nennung dieses Namens verwandelte sich sein ganzes Wesen; er wurde sanft und ruhig. Und nun, während der Sommerhimmel über uns glänzte und die Blätter dem Hauch der Luft säuselnd ihre Geheimnisse anvertrauten, erzählte mir der arme Junge die alte, alte Geschichte, die sich ewig wiederholt und doch in jedem einzelnen Falle neu erscheint, die der Strom der Zeit von Eden bis auf uns herabgeführt, noch einige der Paradiesesblumen in seinem Schoße tragend, aber zugleich auch die Dornen, welche treue, zärtliche Herzen als das Erbtheil des Sündenfalles verwunden. Denn mit der Sünde ist auch der Schmerz bei denen eingekehrt, die vorher der vollkommenen, durch keinen Schatten getrübten Liebe sich erfreut.

Nach dem Essen bat mich Trevor, in sein Arbeitszimmer zu kommen, um mit ihm über den morgenden Tag zu sprechen, und dort erzählte ich ihm des armen Lanz Geschichte. Unbeschreiblich verletzte es mich, seine spöttisch gekräuselte Lippe zu sehen und ihn sagen zu hören: »Reine Kinderei! Der anmaßende Bursch! Mich freut, daß sie ihn ablaufen ließ! Er bildete sich gewiß ein, sein rother Rock sei unwiderstehlich! Nimm's nicht zu Herzen, Letty; die Sache hat nichts zu bedeuten!«

Vergebens stellte ich ihm vor, so leicht, sei sie doch nicht, denn bei Lanz gehe alles tief, und er sei viel älter als seine Jahre.

»Etwa im Punkt der Selbstbeherrschung?« lachte sein Vater. »Nun, ich werde ihm meine Meinung sagen, und wenn er's je wieder wagen sollte, das Kind durch seine lächerlichen Liebeserklärungen zu beunruhigen, so würde ich ihn sofort nach Woolwich zurückschicken.«

Weiter konnte ich nichts aus ihm herausbringen.

Er zeigte mir dann eine Schnur herrlicher in Gold gefaßter Amethysten von feinster indischer Arbeit, welche er Isabella am nächsten Morgen verehren wollte; »denn sie wird mit achtzehn Jahren mündig, wie alle Königinnen,« setzte er hinzu.

»Und nun, Letty, bilde dir nicht ein, daß ich Lanz seinen Geschmack verüble, – ich lobe sie nur des ihrigen wegen. Ihr richtiger Verstand sagt ihr, es sei bloße Kinderei.«

Das war alles. Dann bat er mich, morgen die Gäste an Stelle der Entschlafenen zu empfangen, und ich sollte nur fordern, wessen es bedürfe.

Das bringt mich in eine ganz neue Stellung, und Therese hat gewiß Recht, wenn sie behauptet, ich passe nicht dafür. Lanzelot Trevor besitzt eine zahlreiche Dienerschaft, weit zahlreicher als nöthig, und das stolze Wesen im Verkehr mit ihnen, welches die Gewohnheit des anglo-indischen Lebens erzeugt.

Seit ich dies geschrieben, sind Gottfried und Hugo von Minster herübergekommen, um hier zu schlafen.

Es war mir sehr tröstlich, mit meinem Gatten von Lanz und Isabella reden zu können. Er ist immer ruhig und weise, und obgleich er sagte, alle Vögelmütter flatterten ängstlich empor, wenn ihr erstes Nesthäckchen an Flucht denke und von Liebe zu zwitschern, begonnen, war er dabei doch so herzlich und eingehend; denn es bewegt mich wirklich, den friedlichen Strom, des Mädchenlebens meiner Isabella von wilden Wassern bewegt zu sehen; auch ängstigt mich der Gedanke an Stephan Randall; er wird doch nicht heimlich ihr Herz gewonnen haben?«

»Es sind ja noch Kinder,« sagte Gottfried; »gräme dich nicht um Lanz; die Liebe eines achtzehnjährigen Knaben hat selten Bestand. Die meinige hats auch nicht gehabt, weißt du, Letty; und welch ein Glück war das für dich!«

So sprach er, halb im Ernst, halb im Scherz; aber es klang doch ganz anders wie Trevors schneidender Spott.

 

Den 15. Juli.

Während der letzten Tage konnte ich unmöglich schreiben. Nun, da der Sturm vorübergezogen und Stille ihm gefolgt ist, muß ich diese Lebensgeschichte meiner Kinder fortführen und die Vorfälle der letzten Woche erzählen.

Der Morgen des achtzehnten Geburtstages meiner Isabella erhob sich hell und strahlend, und sie trat um acht Uhr zu mir ins Zimmer, ihrer Geschenke froh, und scheinbar von der Erschütterung, in welche des armen Lanz unüberlegtes Beginnen sie versetzt hatte, zurückgekommen.

Sie nannte ihn einen »armen Jungen,« und bedauerte, daß er ihr ein so kostbares Geschenk verehrt; dabei öffnete sie einen Kasten und zeigte mir ein schönes Armband, bei welchem ein kleiner Zettel lag mit kurzen, reuigen, demüthigen Worten, wie sie Lanz ähnlich sehen. Er bittet sie, das Armband als Andenken ihrer verwandtschaftlichen Gefühle für ihn zu tragen, und versichert, ein weiteres nicht fordern zu wollen, bis sie's ihm aus freien Stücken geben könne. Dann bittet er sie noch wegen seiner gestrigen Heftigkeit um Verzeihung, und bemerkt, ihr gütiges Herz werde diese gewiß dem armen »Donnerer« gewähren. Ich glaube, Isabella ärgert sich ein wenig, daß sie ihre Fassung so gänzlich verloren; denn als die beiden am Frühstückstisch zusammentrafen, hätte wohl niemand ahnen können, daß eine solche Scene zwischen ihnen vorgefallen. Gottfried sagt mir immer, daß ich Isabellens Anziehungskraft überschätze, und daß sie nicht eigentlich hübsch zu nennen sei; dasselbe behaupten ihre Großmutter und ihre Tanten, Therese und Katharine Taylor. Ich aber finde etwas Außergewöhnliches an ihr, und ihr Charakter besitzt eine Tiefe, die ich bisher nicht zu ergründen vermocht. Ihre Augen sind ihre große Schönheit und sie erinnern jetzt mehr an Kornblumen als je. In der Regel zurückhaltend und ernst, hat sie doch Anwandlungen von Lebhaftigkeit und Fröhlichkeit, deren Seltenheit ihnen erhöhten Reiz verleiht.

Aber ich schreibe ja die Geschichte ihres achtzehnten Geburtstages. Der erste Theil des Tages wurde damit hingebracht, die große Halle für den Tanz zu schmücken, Blumen in Vasen zu setzen u. s. w. Der Eßtisch strotzte mehr von Silbergeschirr als mir lieb, und vielleicht ist überall etwas zu viel Pracht entfaltet. Die Einladungen zur Mittagstafel lauteten auf halb sieben, damit hinterher Zeit zum Tanzen bliebe.

Ich war rechtzeitig fertig, und stand mit Gottfried und Lanzelot im Wohnzimmer, um die Gäste zu empfangen, als die Randalls erschienen, und zu gleicher Zeit Isabella, Hugo und Lanz, letzterer in voller Uniform, eintraten. Der arme liebe Stephan stach dabei etwas ab, obgleich Oxford ihn ein bischen aufgestutzt hat; doch bleibt sein Gang schwerfällig und unbeholfen, und seine Schultern sind hoch; nur der Zauber seiner Stimme und die wunderbare Tiefe seiner dunkeln Augen zeichnen ihn aus. Er ging, nachdem er mich begrüßt, sofort auf Isabella zu, und sagte so laut, daß ich's hören konnte: »Ich habe dir ein Buch mitgebracht, aber vielleicht legst du jetzt, bei all dem Glanz der irdischen Herrlichkeiten, keinen Werth darauf.«

Stephans Gesicht sagte mir alles; Isabella erwiderte mit strahlendem Lächeln: »Stephan!« nur das eine Wort, welches indeß sogleich seine Wirkung zu üben schien, denn ich hörte ihn flüstern: »Alle irdische Pracht kann dich nicht verderben!«

Hier fiel Therese ein mit den Worten: »Laß mich diese reizenden Amethyste etwas näher betrachten; Isabella.«

Das rasche Erscheinen anderer Gäste verhinderte mich mehr zu hören, und dann folgte das lange schwerfällige Mittagessen, wobei alles sehr großartig zuging, und ich der leeren Unterhaltung eines alten Landedelmanns lauschen mußte, der bei der Krönung zugegen gewesen, und alle Zeitungsgeschichten über die Königin auswendig wußte, die er wohl meinte der Frau eines Rechtsgelehrten vom Lande als eigene Erlebnisse auftischen zu können. Ich sah Gottfrieds Augen erst etwas ängstlich zu mir herüberschweifen; aber bald begannen sie lustig zu zwinkern, da er wohl merkte, daß ich mich nicht überwältigen ließ, sogar dann nicht, als mein stattlicher Freund – nebenher bemerkt Obersheriff in diesem Jahr – mich fragte, wo unser Landsitz gelegen, er erinnere sich dessen nicht genau, und ich antwortete: »Wir wohnen in der Katharinenstraße in Minster.« »Wirklich?« bemerkte er; »wo mag die ungefähr liegen?« Ich erklärte ihm, das Haus gehöre zu dem Geschäftslokal der Registratur, worauf er an seinem Wein nippte und, »Ach, so!« erwiderte. Dann blickte er weg, um die Brocken einer Unterhaltung zwischen einer gewissen Lady Tamwell und deren Nachbar aufzufischen, mußte aber, weil das nicht gelang, zu mir zurückkehren – der arme alte Mann! Sein patronisirender Ton verwirrte mich nicht, sondern hatte eher die Wirkung, mich noch unbefangener zu machen.

Gegen neun Uhr begann der Ball, an dem Greta und Ralph auch eine Stunde lang theilnehmen durften. Ich sah dem Tanzen mit großem Interesse zu und meine Augen suchten besonders Isabella und die Knaben. Lanz machte mit der ihm eigenen vornehmen Leichtigkeit die Honneurs des Hauses, und ich hörte von allen Seiten Bemerkungen über seine stattliche Erscheinung. Er tanzte dreimal mit Isabella, beobachtete aber sonst seine Pflicht gegen alle Damen, junge und ältere.

Ich konnte nicht umhin, seinem Vater, der sich bei mir erkundigte ob ich auch müde sei, zu sagen: »Du bist doch gewiß mit Lanz zufrieden?« und sein Auge widersprach der gleichgiltigen Antwort: »O, er macht sich ganz ordentlich, dir sei's gedankt! Seine Warnung hat er bekommen und die hat, denk' ich, gewirkt Wie gut unsre kleine Königin aussieht! und Greta ist auch ein liebes, fröhliches, natürliches Kind; es thut einem wohl, ihr zuzusehen!«

Damit drückte Lanzelot sein Glas ins Auge, und ging weiter.

Im Anfang des Abends hatte ich Stephan vermißt, und weil er mir stets im Sinne lag, durchwanderte ich alle Räume, um ihn zu suchen, und fand ihn endlich im Bibliothekzimmer, wo er oben auf der Leiter stehend Bücher hervorzog.

»Ei, Stephan,« rief ich, »bist du denn der Geselligkeit noch immer so abhold wie früher?«

»Freilich, solcher Geselligkeit wie dieser!« war seine Antwort. »Gewiß, Tante Letty, ziehe ich alles und jedes der Thorheit vor, sich wie toll im Kreise herumzudrehen.«

»Welch ein junger Stoiker du bist, Stephan! Ich finde nur das Uebermaß der Vergnügungen schädlich, wie jedes Uebermaß, und würde dich sehr gern eine Quadrille tanzen sehen.«

»Vielen Dank, Tante Letty, aber damit kann ich nicht dienen. Criket und Ball hab ich früher dir zu Liebe gespielt, und nahm aus demselben Grunde sogar neulich ein Ruder zur Hand, wobei ich fast mein Leben gelassen hätte.«

Er warf sein Haar in der alten Weise zurück, und stieg mit den Büchern im Arm die Leiter hinab. Aber unser Zufluchtsort war entdeckt, und mehrere Damen kamen ins Zimmer gerauscht.

»O welch ein entzückendes Gemach, wie kühl und behaglich!« riefen sie, nahmen sofort Platz und zogen mich ins Gespräch, während Stephan sich mit seinen Büchern davonmachte.

Als die Gäste alle fort waren und Stille sich über Ladyshall gelagert, fühlte ich mich aufgeregt und ruhelos, war auch wohl zu müde, um schlafen zu können, und saß noch lange auf, nachdem Gottfried das Lager gesucht hatte. Ich vernahm das Ticken der Uhr auf dem Gang, regelmäßig wie der Herzschlag der Zeit, die so schnell und doch so unmerklich dahinrauscht, und meine, noch niemals die Flüchtigkeit und Kürze des Lebens so empfunden zu haben, wie in der stillen Nacht des achtzehnten Geburtstages meiner Isabella; nie auch hat mich das Gefühl der Werthlosigkeit alles dessen, was die Welt hoch hält, so durchdrungen wie damals. Jene achtzehn Jahre, die zwischen der Geburt meiner Aeltesten und dem gegenwärtigen Augenblick lagen, erscheinen mir, wie ein Schatten, der über den Hügel läuft, während die sanften weißen Wolken sich oben in blauer Luft jagen.

Ich bin in letzterer Zeit zu sehr von dem Strom der sogenannten weltlichen Sorgen und Freuden hingerissen worden, und doch hat sich in mir die Ueberzeugung befestigt, daß die Welt nicht, wie manche behaupten, nur in Bällen, Mittagessen und den Erfordernissen der Gesellschaft, besteht. Der beständige Strudel des Londoner Lebens und der Durst nach Aufregung irgend einer Art muß nothwendig dem geistigen Wachsthum der Seele schaden; aber wieder liegt die Gefahr nahe, von seinem selbstgewählten Standpunkt herab nur die eigenen Angelegenheiten und nicht die der Andern ins Auge zu fassen.

Und dennoch erschien mir die kleine Milly Leslie achtungswerther wie je, als sie es abschlug zu diesem Tanzfest herüberzukommen, weil sie niemals solche Einladungen angenommen. Gewiß hat es sie Kämpfe gekostet, da sie uns alle so liebt und so gerne mit uns ist.

Die Nacht war heiß und drückend, ich öffnete die Thüre und blickte in den Gang hinaus; eine dunkle Gestalt ging vorüber, und ich erschrack, – denn sie glich Lady Bertha's Geist! Am Ende des Ganges befindet sich ein großes Bogenfenster, die Gestalt ging darauf zu und blieb davor stehen. Die Sache begann wirklich unheimlich zu werden und doch wollte ich mich gern überzeugen, wer der nächtliche Wanderer sei. Der Mond warf seinen vollen Schein durch das Fenster, und in meinen weißen Frisirmantel gehüllt trat ich näher.

»Lanz bist du's?« fragte ich leise.

»Ja, Tante Letty; ich kann nicht schlafen.«

»Nun, ich dachte schon an Lady Bertha's Geist,« sagte ich scherzend. »Ich bin auch unruhig und schlaflos, muß dich aber doch zu Bette schicken, sonst stören wir das Haus.«

»Einen Augenblick noch, Tante Letty; ich kann hier besser sagen, was ich sagen möchte. Ich habe beschlossen, längere Zeit weder gegen dich, noch gegen Isabella oder irgend Jemand meiner Liebe für sie zu erwähnen. Ich weiß selbst nicht was mich bewogen, so mit ihr zu sprechen, wie ich's gethan; vielleicht die plötzliche Sorge, daß ein Anderer sie gewinnen könnte. Siehst du, Tante Letty, ich habe sie mein Lebenlang geliebt. Bis ich vor zwei Jahren fortging, ahnte ich nichts davon, auch noch nicht, bis ich nach Woolwich kam. Aber jetzt weiß ich's und werde, glaub ich, diese Liebe zu ihr bis an's Grab festhalten.«

»Du bist noch so jung, Lanz – lieber Junge, du bist noch so jung!«

»Nenn' es nicht Kinderspiel, wie mein Vater thut, Tante Letty; von dir ertrüg' ich, das nicht. Laß mich nur hoffen, wenn ich ihrer, würdiger geworden, in dir eine Freundin zu finden; bis dahin werde ich dich nie mehr Mutter nennen.«

Meine Stimme bebte, als ich ihn versicherte, in allen Dingen seine Freundin bleiben und ihn wie einen eigenen Sohn betrachten zu wollen; auch nimmt es mich wirklich innerlichst Wunder, daß ein so schöner und anziehender junger Mann in Isabellens Herzen kein Echo weckt.

Wir redeten noch mancherlei, dessen ich hier nicht zu erwähnen brauche, aber ich kehrte mit der festen Ueberzeugung in mein Zimmer zurück, Lanz werde sich zu einem ritterlichen Christen entwickeln und der Liebe jeder Frau würdig sein.

Ich habe dies in Absätzen geschrieben und schließe jetzt an dem Abend vor meiner Rückkehr nach Hause. Heute sprach ich, auf Wunsch ihres Vaters, eingehend mit Isabella und überzeugte mich, daß ihr Herz jetzt noch völlig frei ist, und daß weder Lanzelot noch Stephan demselben bisher tiefere Gefühle eingeflößt. So ist's ja denn gut und nun soll, wie ich hoffe, unser ruhiges häusliches Leben mit seinen gewöhnlichen Beschäftigungen wieder beginnen.

 

Minster den 1. August 1838.

Es ist vielleicht ganz natürlich, daß Isabella und sogar Greta die Rückkehr zu den alltäglichen Gewohnheiten und Pflichten, nach dem Luxus und den Zerstreuungen Ladyshalls, etwas hart ankommt. Ich selbst ertappe mich auf Klagen über die Hitze und drückende raucherfüllte Luft der Stadt.

Hugo hat sich den Fuß beim Cricketspielen verstaucht, muß still auf dem Sopha liegen und will beständig unterhalten sein.

Stephan Randall geht aus und ein wie immer und Lanz reitet von Ladyshall herüber, stellt sein Pferd in den »Schwan« und speist früh mit uns. Er ist völlig der Alte und schlief neulich wieder oben im eigenen »Taubenschlag,« weil er mit Gottfried bei Herrn Sampson essen sollte und es des Abends für den Heimritt zu spät geworden wäre.

Missionar Somers ist jetzt hier; er und Milly Leslie sind große Freunde und ich hoffe fast, daß daraus jenes gewisse Etwas sich entwickeln könnte, hinsichtlich dessen Gottfried behauptet, ich sei in diesem Punkt weniger scharfsichtig als die meisten Frauen.

 

Den 6. August.

Somers erfüllt meine Erwartungen nicht ganz. Er ist zuweilen so trübe und schwarzsehend und läßt die Religion nicht in dem hellen Licht erscheinen, welches sie doch ausstrahlt. Auch finde ich die Weise nicht ganz klug, wie er jungen Leuten äußerliche Regeln und Bräuche aufdrängen will, die doch nur Zeichen und Ausflüsse inneren Lebens sein müssen, und der Versuch, alles in Eine Form zu zwängen, pflegt ein so fruchtloser zu sein.

Mich schmerzt besonders der Eindruck, den Somers auf meinen Schwager und Stephan hervorbringt. Wir speisten gestern alle in Ladyshall und ich habe Trevor nie so bitter und spöttisch und Stephan nie so kühl und gleichgiltig gefunden. Somers ist nicht der Mann um Leute von der Art meines Schwagers zu behandeln, und doch hat er so viel Liebe und Eifer für göttliche Dinge, und wenn er mir von seiner Missionsarbeit erzählt, muß ich mich über ihn freuen, wie damals, wo wir zusammen unter den Bäumen in Castleborough auf und nieder wandelten Er hat mit mir von Isabella Randall gesprochen und von seinem Interesse für ihren Sohn. Es thut mir recht leid, daß Stephan ihn vermeidet und in Somers Gegenwart sehr zu seinem Nachtheil erscheint.

 

Den 30. September.

Gottfried hat recht gehabt. Somers und Milly Leslie sind seit zwei Tagen verheirathet. Die liebe Milly scheint völlig befriedigt durch das was er ihr bietet; doch war er ein gar seltsamer, zerstreuter Liebhaber. Ueberzeugt bin ich indeß, daß Milly's gesunder Menschenverstand für das tägliche Leben mit ihm ausreichen wird. Der liebe Dechant kam herüber, um sie, zu trauen; es war eine stille Hochzeit, ohne Brautjungfern, und Milly trug ein lillaseidenes Kleid und einen Strohhut.

Ich gedachte jener Braut, welche Somers einst zu gewinnen gehofft und seiner Liebe für sie, die jetzt einer todten Vergangenheit angehört. Milly kennt die Geschichte und ist so sanft und demüthig, daß ihr die zweite Liebe eines Mannes wie Somers theurer erscheint als die erste irgend eines Andern.

Er soll nicht nach Indien zurückkehren, sondern hat eine Anstellung bei der heimischen Missionsgesellschaft gefunden, und sie werden in London wohnen. Der alte Kapitän Leslie läßt eine Schwester zu sich kommen, die er seit Jahren nicht gesehen, um Millys Platz auszufüllen, dieselbe ist arm und froh, eine Heimat zu finden, und ich glaube, dem Kapitän wird der Wechsel seiner – ich hätte bald gesagt Sklavin – zusagen.

Mit dem Dechanten hatte ich eine lange erquickliche Unterredung. Vielleicht aus alter Gewohnheit, vielleicht aber auch weil niemand ihm gleichkommt, kann ich mein ganzes Herz gegen ihn ausschütten. Zuweilen sind Leute, die selbst keine Kinder gehabt, nicht im Stande, die Sorgen und Befürchtungen, Freuden und Schmerzen, welche der Besitz von Kindern mit sich bringt, ganz zu verstehen; anders ist es mit dem Dechanten. Jedes meiner Kinder hat ein besonderes Interesse für ihn und so freute er sich über einen Brief meines lieben kleinen Seefahrers. Er weiß auch von Lanz und dessen plötzlicher stürmischer Liebeserklärung an Isabella. Alles was er darüber sagte, war so weise, und besonders machte er mir klar, daß es immer verkehrt ist, viel über solche Dinge zu sprechen, daß wir ein festes Vertrauen in unsre Kinder setzen müßten, so lange sie sich dessen nicht unwerth gezeigt, welch letztere Erfahrung ich, wie er glaube, nie machen würde.

Ich erzählte ihm von Isabellens Zurückhaltung und wie sie nur in Augenblicken großer Erregung sich gegen mich aufschließe. Er sagte, wir dürften kein Vertrauen erzwingen wollen, und Isabella habe doch bei jener Gelegenheit gezeigt, daß sie wisse, wo sie in Nothfällen ihre Zuflucht finde.

Manches sagte Wentworth mir auch über das innere Leben der Seele – meiner Seele. Davon kann ich nicht schreiben. Aber er rieth mir, nicht zu viel bei den Meinungsverschiedenheiten zu verweilen, welche in der Kirche täglich mehr hervor treten; denn obgleich er wohl begreife, daß sie ein Gegenstand des Interesses, ja des Befremdens für mich sein müßten, so glaube er doch, das »viel lieben« sei die wesentlichste und sicherste Bestimmung der meisten Frauen; noch fügte er hinzu, was mir der Aufzeichnung werth scheint:

»Meinungsverschiedenheit in religiösen Dingen ist ein Zeichen von Leben und muß nicht nothwendig zu Streitigkeiten führen. Es ist immer besser, wenn die Wasser bewegt werden, sei's auch mit stürmischer Hand, als wenn nur todte Ruhe herrscht. Die großen Bewegungen, an deren Spitze bedeutende Namen gestanden, haben die schlummernden Kräfte der Kirche geweckt, und wir müssen dafür ewig dankbar sein. Vielleicht ist ein Rückschlag gefolgt, wo Worte und Versicherungen an die Stelle von Thaten getreten, und auf die Heiligkeit des täglichen Lebens., auf Barmherzigkeit und Selbstverleugnung weniger Werth gelegt wird, als die großen Reformatoren der Kirche selber gewünscht und gelehrt. Sehen wir z.+B. nicht in dieser Oxforder Bewegung, von welcher die Gerüchte ab und zu herüberdringen, Gottes Hand?«

 

Januar 1839.

Konnte ich doch als ich zuletzt in mein Tagebuch schrieb nicht ahnen, daß ich zunächst von einem Wechsel meines Heimatortes würde erzählen müssen, und doch, – die Heimat nenne ich, wo meine Lieben sind und die werden mich ja auch dort umgeben.

Anfang vorigen Oktobers wurde Gottfried durch Lanzelot zu der Stelle eines Registrators und Auditors beim Stempelamt in Wrentham empfohlen. Das Einkommen ist höher, das Feld der Thätigkeit größer, und als die Aufforderung kam, glaubte mein Mann, sie nicht ablehnen zu dürfen; so wurde er denn vor vielen Bewerbern erwählt, und im März sollen wir dieser theuren Heimat meines jungen Eheglücks Lebewohl sagen, welche immerdar die geheiligtsten Erinnerungen umschweben werden.

Wie bei allen großen Veränderungen im Leben, kommt mir alles noch ganz traumhaft vor. Die nächsten Wochen bringen viel Unruhe, und ich werde jeden freien Augenblick zu Ueberlegungen, Berathungen und zu wirklicher Arbeit ausbeuten müssen.

»Fürs Trauern bleibt dir keine Zeit,« sagte Therese in ihrer kalten ruhigen Weise. »Ich habe immer geglaubt, Letty, daß du eines etwas weiteren Kreises bedürftest, und du wirst finden, daß ich recht gehabt. Durch Sir Lanzelots Niederlassung in Ladyshall hatte sich freilich der Kreis deiner Bekanntschaften auf die Grafschaft ausgedehnt, aber doch wird das Leben in einer größeren Stadt dir unendlich mehr zusagen.«

Ich begreife nicht, wie es Therese gelungen, in Minster ihre Ueberlegenheit immer geltend zu machen. Vielleicht haben der jährliche Besuch Londons und die Verbindung mit den Pershores und deren »Clique« dazu geholfen.

 

Den 25. März.

Die Kinder sind fort, und diese Nacht ist meine letzte im alten Hause. Die Randalls luden mich ein, bei ihnen zu schlafen, aber ich bat Gottfried, mich bis zuletzt hier bleiben zu lassen, und er erlaubte das; doch hatte ich mir kaum vorgestellt, wie es sein würde, – die nackten öden Räume und die tiefe todtenähnliche Stille!

Ich ging durchs ganze Haus, wo die Möbeln in Stroh und Matten eingepackt standen und gab jedem Zimmer einen Abschiedsblick. Erst den »Taubenschlägen« mit den redenden Zeugen der Gegenwart meines armen Jack, Gekritzel an den Wänden, Einschnitte in die Fensterbänke, die Nägel und Stricke, wie er sie gelassen, als er versucht, seine Hängematte zu befestigen und in der Nacht herausfiel mit furchtbarem Gepolter, welches das ganze Haus weckte und mich erschrocken und athemlos hinaufstürzen ließ.

Hugo's kleines Bett blieb noch zurück, und darin wird Anna übernachten. Sein »Taubenschlag« ist viel besser erhalten, ebenso der von Lanz, wo Bilder hängen, die er selbst aufgeklebt, und überall Namenszüge mit den Buchstaben I. S. W. in mancherlei Schnörkeln geschrieben stehen.

O wie viele Geschichten der Vergangenheit las ich, als ich so die Runde machte! Die Geister entschwundener Tage, das Echo verklungener Freuden überall! Zwanzig Jahre sind fast verstrichen, als Gottfried mich an seiner Hand durchs Haus führte und mich lachend dessen Herrin nannte, lachend, weil ich so sehr einem Kinde gleiche, sagte er. Nun bin ich eine Frau im mittleren Alter, mit Silberfäden im Haar und Sorgenfalten auf der Stirne! Aber innerlich ist, Gott sei Dank! das Herz jung geblieben und vermag noch der Welt, die Gott so herrlich geschmückt, entgegenzuschlagen, und mit derselben Wonne aufzublicken zum Sternenhimmel, der uns die Geschichte unendlicher Liebe verkündet, der Liebe dessen, welcher auch mich mit ewiger Liebe liebt.

Hier, ganz allein in dem Zimmer, wo alle meine Kinder ihren ersten Schrei gethan, wo meine Letty, das Kind meiner Liebe und meiner Gebete den Ruf des guten Hirten vernommen, hier, wo Schmerz und Trauer, Freude und Hoffnung so oft, so oft mein Herz bewegt, schließe ich diesen Bericht meiner ersten geliebten Heimat.

In der Stille höre ich die Münsteruhr die neunte Stunde verkündigen, höre die Seufzer des Märzwindes vor dem Fenster. Die alte Uhr auf dem Gange schlägt zum letztenmal in diesem Hause; sie ist fast abgelaufen und wird in Minster nie wieder aufgezogen werden. Meine gute Anna kommt eben, mir zu sagen, sie habe das Brett mit meinem Abendbrod in ihres Herrn kleines Zimmer gestellt; dort brenne ein helles Feuer und der Abend sei kalt. Liebe, gute Anna! sie ist eine der großen Segnungen meines Lebens, war bei mir in Freude und Schmerz und theilte meine Hoffnungen und Sorgen. Es gibt keinen größeren Schatz, als treue christliche Dienstboten, und kein stärkeres Band, als das, welches eine Mutter mit derjenigen verbindet, die ihre Kinder von Kindheit auf verpflegt und gehütet!

Wir haben hier keine bleibende Statt, sondern die zukünftige suchen wir, wo Seufzer und Schmerzen nicht mehr sein werden!

L. W.
Minster, Donnerstag Abend, den 25. März 1839.

 

Wrentham, den 25. März 1840.

Heute ist es ein Jahr, seit ich mein Buch in der lieben alten Heimat geschlossen, und nun in Kraft jenes von Gott uns verordneten Gesetzes sind uns fremde Dinge vertraut geworden, und die neuen Ordnungen sind nach und nach an die Stelle der alten getreten.

Aber beim Rückblick auf dieses Jahr meine ich zu erkennen, wie viele Lehren es mir gebracht, Lehren der Sanftmuth und der Geduld!

Aeußerlich war es kein besonders glückliches zu nennen.

Die Kosten des Umzugs, die Schwierigkeiten neuer Bekanntschaften und Freunde und die Unruhen der Einrichtung führten manches Unangenehme mit sich. Dann hat sich Hugo, mein lieber ältester Knabe, dem ich immer völlig vertraute, so träge und nachlässig gezeigt, wie ich's nie von ihm erwartet. Er findet seine Bureauarbeiten lästig, hat seinem Vater durch Unaufmerksamkeit Verdruß gemacht und den andern jungen Schreibern durch Mangel an Pünktlichkeit ein schlimmes Beispiel gegeben; aber ich hoffe, er bessert sich jetzt. Das viele Neue hat ihn vielleicht überwältigt und er kommt nun, denk ich, mehr in Zug. Denn Wrentham ist im Vergleich mit Minster eine Hauptstadt; der Lärm und das Treiben auf den Straßen und die steten Gesellschaften und Vergnügungen jeglicher Alt machen den Unterschied sehr fühlbar.

Isabella war eine Zeitlang abwesend zum Besuch bei den Taylors und Greta so lange die älteste Tochter zu Hause. Ralph ist in Winchester – wieder eine Wohlthat von Trevor! Der kleine Harry besucht eine Vorbereitungsschule in Wrentham, und ich unterrichte Viola und Tuschen, zuweilen mit Greta abwechselnd. Jack kommt im Mai nach Hause und wir sollen die Ferienzeit alle in Ladyshall zubringen.

 

Den 3. April.

Isabella ist gestern Abend zurückgekehrt und kommt mir viel entwickelter vor – frauenhafter und weniger junges Mädchen Sie saß heute Morgen allein bei mir und begann plötzlich:

»Mama, du wirst bald einen Brief von Herrn Harrison bekommen. Er wünscht mich zu heirathen und Tante Catharina sähe es gern, wenn er Maude heirathete. Möchtest du nicht der Tante sagen, Maude würde mich sehr verbinden, wenn sie sich möglichst bald in Frau Harrison verwandelte?«.

»Wer ist denn Herr Harrison?« fragte ich.

»Ein sehr reicher Mann und Parlamentsmitglied, – denke nur, Mama!«

»Aber Isabella,« wandte ich ein, »wünschest du denn wirklich, Maude möge diesen Herrn heirathen?«

»Natürlich, Mama; das würde die Sache gleich abthun und viel Mühe ersparen.«

»Hörst du je von Stephan Randall, Isabella?«.

Sie erbleichte plötzlich und erwiderte bestimmt: »Nein, Mama, ich verbot ihm, mir zu schreiben.«

»Oder von Lanz, Isabella?«

»Der hat mir einmal geschrieben, aber nur über Sinbad, Jacks Hund, den Lanz zu sich genommen; es war nur ein Geschäftsbrief,« sagte sie leichthin.

»Und Stephans Brief war kein bloßer Geschäftsbrief?«

»Nein.«

»Isabella,« sagte ich entschieden, »ich finde es nicht recht von Stephan, wenn er dir etwas sagt oder schreibt, was du mir nicht zeigen kannst, es sei denn, daß er dir, wie Lanzelot, offen seine Liebe erklärt habe.«

Ihre Lippen zitterten und sie war sichtlich bewegt. Mit unsicherer Stimme sagte sie: »Stephan hat mir nur einmal geschrieben, seit wir Minster verlassen, und wäre ich zu Hause gewesen, so hätte ich dir den Brief, wenn du's verlangt, gezeigt, doch ich bekam ihn bei Tante Catharina; ich habe ihn zerrissen; aber Mama, er enthielt nicht, was du vielleicht denkst. Er betraf Stephan selber mehr wie mich.«

Ich verfolgte den Gegenstand nicht weiter, denn sie soll nicht glauben, daß ich ihr mißtraue oder Zweifel hege; und doch weiß ich nicht recht, wie die Sache sich mit Stephan verhält.

 

Den 20. April.

Herr Harrison hat nicht geschrieben, sondern ist selber gekommen, um sein Anliegen persönlich vorzubringen. Greta, welche natürlich diese kleinen Herzensangelegenheiten ihrer Schwester sehr beschäftigen, erklärt, es sei recht albern von Isabella, ihn nicht zu mögen; und in der That meine ich, daß nur eine frühere Neigung sie verhindern könne, Harrisons Antrag günstig aufzunehmen. Es ist ein hübscher, liebenswürdiger Mann, und was noch mehr, er scheint durchaus wohlgesinnt und achtungswerth. Er besitzt ein schönes Vermögen und ein stattliches Haus in der Nachbarschaft der Taylors. Wir könnten in der That nichts besseres wünschen, aber Isabella bleibt fest, und mir fiel die peinliche Aufgabe zu, Herrn Harrison zu sagen, daß jeder fernere Versuch nutzlos sei, und ihn gehen zu lassen.

Sir Lanzelot Trevor, der ein paar Tage hier gewesen, belustigte das Vorgefallene sehr, und er erklärte unter anderem spöttisch, William Harrison Esq. Parlamentsmitglied, habe zu hoch hinausgewollt. Wir aber wissen im Gegentheil, daß Isabella, die ja ganz ohne Vermögen, einen Antrag erhalten, wie wir ihn nicht für sie erwarten konnten; dennoch wünsche ich nicht, daß es anders sein möchte. Ich habe keine Eile, mich von meiner Tochter zu trennen, und bedaure, daß diese Heirathsgeschichten so früh in ihr Leben getreten sind.

 

Den 10. Mai.

Gestern Abend kam unser Jack ins Haus gestürzt, das ächte Bild eines Schiffsjungen, rosig, frisch und fröhlich. Zu unserer großen Freude genießt er des besten Rufs auf dem Schiff und ist ganz erfüllt von der Herrlichkeit des Seelebens. Er hat eine Kiste mit Gegenständen aus allen Theilen der Welt mitgebracht, aber mein indischer Shawl ist nicht darunter.

»Es thut mir sehr leid, Mama; siehst du, ich wußte nur nicht, daß diese Sachen so schrecklich theuer sind; würden sie doch den Lohn von zwei Jahren verschlingen! Aber wenn ich erst mein eigenes Schiff führe, sollst du ihn haben!«

Es sieht Jack ganz, ähnlich, daß er es selbstverständlich auffaßt, uns in Wrentham und nicht mehr in der alten Heimat zu finden Nachdem ich ihn gestern Abend in sein Zimmer gebracht, wandte er, sich und, preßte mich in die Arme.

»Mutter, ich habe jenen letzten Abend im ›Taubenschlag‹ nie vergessen, sondern oft an alles gedacht, was du mir damals sagtest, wenn ich auf Deck Wache hielt, und die großen Sterne am dunkelblauen Himmel funkelten. Ich habe gestrebt, mich tapfer zu halten,« flüsterte er, »und Gott hat mir beigestanden.«

O, der gesegneten Worte für mein Mutterherz! Solche Augenblicke ersetzen ihm manche Stunde des Drucks und der Ermattung, da man ausrufen möchte: »Ich habe vergeblich gearbeitet und meine Kraft unnützlich zugebracht!« Du Kleingläubige! Es gibt keine vergebliche Arbeit und keine vergeudete Kraft, sobald die Arbeit in Gott geschehen und die Kraft von ihm gekommen ist.

 

Den 30. Mai.

Die Gegenwart unseres Schiffsjungen gleicht dem Hauch der frischen Salzluft, die er so sehr liebt; sie thut uns allen gut; er hat auch Hugo aufgemuntert, und sein fröhliches Lachen wirkt in der That ansteckend; selbst Anna behauptet, sich zu freuen, wenn sein Schritt auf der Treppe erschallt, obgleich sie wisse, daß er den Lärm ins Kinderzimmer tragen und das ruhige Spiel der beiden kleinen Schwestern und Harrys in Ausgelassenheit verwandeln werde, die mit allgemeinem Aufruhr endet.

 

Den 24. Juli.

Ralph ist mit Ehren geschmückt aus Winchester gekommen, und es war erquicklich, zu sehen, wie Jack über des Bruders erlangte Preise jubelte. Der arme kleine Barry Randall hat während dieses seines ersten Schulhalbjahres viel leiden müssen und ist halb krank zurückgekehrt.

Er war der Sklave eines großen Jungen, der kein Erbarmen kannte, und machte sich durch seine Altklugheit und seinen Eigendünkel bei allen lächerlich. Beides ist nicht des armen kleinen Burschen eigene Schuld, und Therese kann kaum erwarten, daß ein so wie er in der Stubenluft erzogenes Kind sich im stürmischen Fahrwasser des öffentlichen Schullebens glücklich fühlen werde. Anstatt eines hohen hat er einen niedrigen Platz bekommen und ist hinter manchen Jüngeren zurückgeblieben. Gewiß eine bittere Enttäuschung für seine Mutter!

 

Den 1. Juli 1841.

Mit den Jahren verliert sich die Lust am Schreiben, und wenn nicht etwas Besonderes die Wogen des Lebens bewegt, so lasse ich die Feder ruhen.

Wir brachten den vorigen Winter sehr ruhig zu und besuchten keine Gesellschaften, da meine liebe Schwiegermutter zwei Tage vor Weihnachten sanft entschlafen ist. Die Zeit hatte sie viel milder gemacht und in den letzten Jahren ist sie mir wirklich eine Freundin gewesen. Ihre Briefe drückten stets die lebhafteste Theilnahme für mich und meine Kinder aus, und ihr Verlust hat wieder ein Band mit der Vergangenheit abgeschnitten. Ich lebe vielleicht mehr in dieser als manche Andere.

Ich habe in Wrentham Freunde gefunden und bin viel freundlicher Theilnahme begegnet. Aber dennoch vermisse ich, was Jemand sehr richtig die Blume der Freundschaft genannt, wo eines zum andern sprechen kann: Weißst du noch? denkst du noch daran?

Wrentham hat uns manches Gute gebracht, als da sind: höhere Einnahmen und ein besseres Haus – aber auch mehr Sorgen. Gottfried ist viel stärker beschäftigt, weßhalb er sich scheinbar – nicht wirklich – weniger um mich bekümmert und weniger mit mir spricht, als in früheren Tagen. Wenn ich ihn sein Bündel Briefe zusammensuchen und Abends in sein Bureau verschwinden sehe, wo er bis gegen Mitternacht sitzt, so muß ich der Abende gedenken, da ich im kleinen Eßzimmer der alten Heimat mit ihm den Schiller las und die lateinische Grammatik studirte; und dann fühle ich das Weh »hinten im Herzen,« welches mir jede Veränderung zu bringen pflegt.

Wieder sehne ich mich oft nach meinen Kleinsten, nach den kleinen Kindern, die nun rasch zu Männern und Frauen heranwachsen. Die süße Zeit ihrer völligen Abhängigkeit von der Mutter, deren Herzen so theuer, wie schnell verstreicht sie doch! Aber solche Betrachtungen sind vergeblich, und es ist besser, hoffnungsreich vorwärts und vor allem stetig aufwärts zu blicken!

 

Ladyshall, den 7. Juli.

Welch ein wunderbares Gefühl, so ganz allein die alten Minsterstraßen zu durchwandeln! Lanzelot brachte mich zur Stadt und ließ mich auf mein Verlangen dort zurück, während er mit Lanz und den Mädchen weiter fuhr, um einen entfernten Besuch zu machen.

Ich empfing viele freundliche Grüße und alle Leute schienen erfreut, mich wiederzusehen. Erst lenkte ich meine Schritte nach unserem alten Heim. In die Catharinenstraße einbiegend, blickte ich nach den Fenstern des Kinderzimmers empor und erwartete fast, die kleinen Gesichter auf mich niederlächeln zu sehen. Gottfrieds Nachfolger wohnt außerhalb der Stadt, und so steht denn unser altes Haus öde und verlassen da. Der Schreiber bewohnt eins der Zimmer, doch die andern sind staubig und wie unberührt seit unserer Abreise. Einsam wandelte ich durch die Räume, von den Taubenschlägen hinab bis zur Küche. Die leeren Kinderzimmer schienen mir vorzugsweise von der Zeit, ihrem Wandel und ihren Verlusten zu reden; aber durch die Stille vernahm ich wieder das silberne Lachen und das Trampeln der kleinen Füße, wenn sie, wie in früheren Tagen, sich zuerst im Gehen übten.

Von dort ging ich nach dem Klosterhof, wo meine geliebte Schwester still und friedlich neben meinem süßen Kinde schläft; der hohe Münster überschattete mich und sein tiefer Glockenton schlug mit bekannter Stimme die zwölfte Stunde. Jetzt kamen mir der Schmerz und die Trauer, mit welchen ich die Theuren hier gebettet, ganz traumhaft vor, und ich empfand nur, wie sie so sicher geborgen sind. Das Schwerste ist vorüber; die eisigen Wasser des Todes, von denen wir uns Alle mehr oder minder schaudernd abwenden, sind durchschifft. Für Susanna gibt es keine Enttäuschungen, kein vergebliches Sehnen der Liebe mehr; kein müdes Klagen, daß ihr der Kampf zu schwer und daß Leib und Seele verschmachten. Und mein holdes Kind darf kein irdisches Leid mehr berühren; sie ist und bleibt mein in aller Frische und Lieblichkeit der Kinderjahre; ich möchte sie jetzt nicht zurückrufen.

Ich schritt durch den Münster, wo violette Streifen auf den Boden des Schiffes fielen und Kränze des zartesten Roth und Gelb die Säulen umzogen, während die Sonne die bunten Fenster des Seitenschiffes erhellte. Als ein Lichtstrahl nach der Nordseite hinüberschoß, gedachte ich jener Zeit, wo Isabella und Stephan dort als kleine Kinder beisammenstanden.

Wir hatten von Stephan nur wenig vernommen. Isabella erwähnt seiner nie, aber heute erreichte mich durch Dr. Randall die Kunde seiner Erfolge. Er hat alle Prüfungen glänzend bestanden, und wird nun seine Bahn als Rechtsgelehrter betreten.

 

Den 8. Juli.

Lanz ist jetzt ein stattlicher Mann von durchaus vornehmer, gewinnender Erscheinung. Diesen Abend bat er mich, mit ihm in den Garten zu kommen, und wiederholte hier in bestimmter Weise die Wünsche seiner Liebe. Er sagte, daß er ja fast mündig sei, daß er sein Herz an Isabella gehängt und mich bäte, ihm beizustehen.

Ich versuchte mit Isabella über ihn zu reden, aber sie war sehr zurückhaltend, und ich fürchte, die Sache nimmt eine ungünstige Wendung. Lanz erinnerte mich daran, wie treu er sein Versprechen zwei Jahre lang gehalten, und nun, da er seines Vaters Zustimmung habe, dürfe er doch den Versuch machen, sie zu gewinnen?

Ich habe Greta ins Vertrauen gezogen, und diese sagt, sie sei überzeugt, daß Isabella irgend einen Kummer mit sich herumtrage; sie schlafe weniger als sonst, und wenn sie wache, habe sie sie weinen hören. Das beunruhigt mich sehr, denn ich glaube, daß es in irgend einer Weise mit Stephan Randall zusammenhängt.

 

Den 10. Juli.

Wieder der Vorabend von Isabellas Geburtstag, ihrem einundzwanzigsten. Sie ist jetzt zwei Jahre älter, als ich bei meiner Verheirathung war. Ihr Vater und Hugo kommen diesen Abend von Wrentham mit den Kindern und Anna, denn Sir Lanzelot hat erklärt, wir müßten einmal im Jahr sein Haus füllen. Morgen findet keine Gesellschaft statt; nur unsere ganze Familie mit Einschluß der Randalls ist beisammen.

Meine Freundin Wentworth schickte mir gestern den Brief eines Verwandten von ihr, eines Obersten in Lanzens Regiment, der mich sehr beglückt hat. Er spricht von Lanz als von einem äußerst hoffnungsvollen jungen Offizier, und sagt, er sei allgemein beliebt und man könne auch sagen geachtet. Wenn er selbst auch die »besondern Ansichten« des jungen Mannes nicht theile, so müsse er doch dessen günstigen Einfluß auf die Soldaten seines Regiments, ja sogar auf die Offiziere desselben anerkennen.

O welche Antwort auf meine Gebete, welch ein reicher Lohn der Geduld! Sicherlich, ja sicherlich theilt seine Mutter meine Freude, und weiß, daß ihr Sohn geborgen ist.

Nachdem ich heute Obiges geschrieben, ging ich in das kleine Gehölz, durch welches ein Weg bis zur Kirche führt, und dicht bei der Pforte traf ich Stephan; er kam ganz wie sonst auf mich zu und sprach, meinen Arm durch den seinigen ziehend: »Setze dich, Tante Letty, und höre mich an, – je eher, desto besser!« Wir wandten uns nach dem Kirchhof und dort, unter Lady Bertha's Fenster, hörte ich Stephans Geschichte. Er ist mit Ehren bestanden, eine hoffnungsvolle Laufbahn liegt vor ihm, seine Gesundheit läßt nichts zu wünschen übrig, er behauptet, jeder Arbeit gewachsen zu sein, und meint also, nun den Kopf erheben und um Isabella werben zu können.

Ich wandte mich und blickte ihn an; sein Gesicht strahlte im stolzen Bewußtsein des Erfolgs und doch trug es einen Ausdruck, den ich nicht verstand. Was mochte das sein?

Ich sollte es bald erfahren. Er fuhr fort und sagte, wie er sich längst mit Fragen und Zweifeln, die Wahrheit der Offenbarung betreffend, getragen, welche während des letzten Jahres eine feste Gestalt angenommen. Vor zwei Jahren habe er Isabella darüber geschrieben und sie wisse, daß er wegen solcher Zweifel den geistlichen Stand nicht erwählt habe. Ich hörte Stephan mit großem Schmerz so reden, und ein kalter Schatten schien mir über den Sommertag gefallen, als wir dem Hause wieder zuschritten. Ich habe für ihn wie für Lanz und meine andern Kinder gebetet, habe ihm früh die Händchen gefaltet, und er hat schon als Kind mit mir in der Bibel gelesen; und jetzt, wo ihm der Glaube abhanden gekommen, der allein einen festen Halt in den Stürmen des Lebens gewährt, bittet er mich um Isabellas Hand. Ich kann sie ihm unmöglich geben und weiß, daß ihr Vater fühlen wird wie ich. Und doch, wenn sie ihn liebt und ihre Traurigkeit und Verschlossenheit diese Ursache gehabt, welch eine Aufgabe liegt dann vor mir!

Während des ganzen Abends war ich still und bedrückt. Lanzelot hatte viel zu erzählen, und er und Stephan sprachen lebhaft. Einigemal sah ich Lanz bei kleinen, versteckten Ausfällen halb spöttischer Anspielungen auf heilige Dinge von Seiten Stephans die Farbe wechseln. Eine scherzhafte Verdrehung, welche dieser über Bibelworte gehört und als guten Witz aussprach, konnte ich nicht durchgehen lassen, und erklärte es für Unrecht, dergleichen im Beisein so vieler Kinder zu wiederholen.

Er warf das Haar in alter Weise zurück und sagte lachend: »Verzeih, liebe Tante Letty; ich vergaß, daß dir solche Scherze mißfallen.«

Nun ergriff mein lieber Lanz tapfer das Wort: »Es gibt ernstere Einwürfe gegen solche Reden, als Tante Letty's Mißbilligung.«

Stephans kühle, herausfordernde, spöttische Antwort erfolgte sogleich: »Wohl die deinige, he? Entschuldige mich, Lanz; ich vergaß, wie reizbar dein Nervensystem ist.«

»Ich meine, wenn die Leute Wortspiele lieben, so haben sie dafür reichliche Gelegenheiten, ohne eine entweihende Hand an die Bibel zu legen.«

»Vielen Dank,« war die Erwiderung; »ich vernahm schon von deinem Predigertalent durch einen jungen Menschen, dessen Bruder sich im sechzigsten Regiment befindet, und der mitunter die Ehre gehabt, dir zuzuhören.«

Lanz biß sich auf die Lippen; ich saß erschrocken, fast zitternd da, denn zu meinem großen Kummer sah ich Isabella lächeln, als ihr Auge dem des Stephan begegnete. Ich glaube, Lanz sah es auch, und weiß, daß ein heftiger Kampf in ihm wogte, während Stephan ermuthigt fortfuhr:

»Eine schöne Gelegenheit zum Predigen fändest du am steinernen Kreuz vor den Coleworther Bergleuten; wir wollen alle kommen und zuhören, wer weiß, mit wie erbaulichen Gefühlen!«

Dann folgte ein Schweigen, welches Lanz zuerst brach. Wie hat Gottes Gnade doch diesen feurigen, stürmischen Geist bezwungen! Wie verschieden ist er von dem Lanz früherer Tage! Er begann in freundlichem Ton:

»Sollen wir nicht diesen schönen Abend am Flusse genießen? Willst du mitkommen, Tante Letty?« Er saß neben mir, und ich konnte nicht umhin, meine Hand auf die seinige zu legen.

Er fühlte, daß ich mich mit ihm freute, und sagte, sich zu mir niederbeugend, als wir das Zimmer verließen: »Ich hasse alle Wichtigthuerei und Anmaßung, aber ich mußte so sprechen. Hatte ich recht, Tante Letty?«

»O Lanz, sehr recht! Ich danke Gott für deinen Muth!«

Dann gingen Alle nach verschiedenen Seiten auseinander, um sich zur Fahrt zu rüsten, und ich kam hierher, um Briefe zu schreiben. Viola und Suschen haben bei mir ihre Geburtstagsgeschenke für Isabella zusammengelegt, und Lanzelot und Gottfried wandeln draußen auf und nieder. Es dämmert schon stark und der Vollmond steigt hinter den Bäumen empor. Ich muß hinuntergehen und Thee machen, denn die Gesellschaft wird bald zurückkehren.

Ich sah von meinem Buche aufblickend, wie sie über den Rasen herankamen, Lanz und Greta zusammen, dann die Knaben, einer nach dem andern, und zuletzt, hinter den Uebrigen, Stephan und Isabella. Sie blieben etwas zurück; Isabellas Kopf ist gesenkt und ihre kleinen weißen Hände hat sie wie muth- und hoffnungslos zusammengepreßt. Stephan hingegen scheint höher aufgerichtet als sonst, sein Schritt ist fester und sein ganzes Wesen entschlossen und selbstbewußt. Jetzt hat er Isabella verlassen und ist zu Gottfried getreten; ich sehe sie sich gegen das Haus wenden und weiß, was er mit Isabellas Vater zu reden hat.

 

Den 11. Juli.

Heute wird mein Liebling einundzwanzig Jahre alt; aber ihr Geburtstag ist weder für sie noch für uns ein glücklicher. Ach, die schöne Zeit, wo sie ihre Geburtstagsküsse und Geschenke bei mir abholte und mit mir Gott bat, sie im neuen Lebensjahr zu behüten!

Aber weshalb blicke ich trübe in die Vergangenheit zurück? Gehört mir nicht die Gegenwart mit ihren Ansprüchen und Kämpfen? Und Gott wird durchhelfen!

Isabella betreffend ist mir kein Zweifel mehr übrig geblieben. Sie liebt Stephan, will ihn aber nicht heirathen, so lange er auf den Meinungen beharrt, deren er sich jetzt rühmt. Ihr Schmerz thut mir weh, aber ich freue mich ihrer Festigkeit. Sie würde kein wahrhaftes Glück mit Stephan finden, wenn er sich ohne Steuermann und ohne Anker auf das stürmische Meer des Lebens hinauswagte. Ich gedenke meiner theuren Susanna und dessen, was sie gelitten, und wenn ich jetzt Trevor betrachte, so erkenne ich, was es heißt, ohne Gott zu altern.

Heute hat mein armer Lanz noch einmal, aber in sanfterer, besonnener Weise Isabellen sein Herz geöffnet. Er kam, nachdem er die Wahrheit erfahren, zu mir, und ich trauerte mit ihm. »Es kann niemals sein, Mutter,« sprach er nun; »aber ich habe für das Reich Gottes zu arbeiten, und Gott wird mir die Arbeit zuweisen.«

 

Den 30. Juli.

O Lanz, Lanz! wie wenig konnte ich ahnen, was mir zunächst hier aufzuzeichnen bestimmt sein würde! Seit Isabellens Jahresfeier sind Tage verstrichen, die einem Fiebertraum gleichen. Und noch jetzt, wo wir einigermaßen zur Ruhe gekommen, bleiben die Erschütterung und der Schrecken jener fürchterlichen Nacht fast ungeschwächt.

Wir trennten uns an Isabellens Geburtstagsabend gegen eilf Uhr, und um Mitternacht war alles still. Ich machte bei meinen Kindern die Runde (denn wir bewohnen in Ladyshall immer den westlichen Flügel) und fand sie alle ruhig schlafend. Dann küßte ich Isabella und Greta vor der Thüre ihres Zimmers und ging in das meinige. Gegen zwei Uhr erwachte ich und fuhr in unbestimmtem Schreck empor, sprang aus dem Bett und trat ans Fenster. Nie vergesse ich die Angst, welche mich ergriff, als ich aus einem in gleicher Linie mit dem meinigen liegenden Fenster die Flammen hervorbrechen und jenen ganzen Theil des Gartens und seiner Umgebung von, düsterem Schein umleuchtet sah.

Im nächsten Augenblick war Gottfried geweckt, und ich hatte eben Zeit, einen Mantel überzuwerfen, als es heftig an die Thüre pochte und Lanzens Stimme rief: »Onkel Gottfried, Feuer!«

Was nun folgt, ist nur eine verwirrte Erinnerung an erstickenden Rauch und brennende Hitze, als wir in den Gang hinaustraten; an erschreckte, schreiende Kinder, an das Geräusch knisternden Holzes und das schreckliche Zischen und Prasseln der erbarmungslosen Flammen, vor denen der Mond geisterhaft erbleichte oder hinter dicken Rauchwolken verschwand. Oft habe ich von den Schrecken solcher Feuersbrünste gehört und gelesen, aber nichts kommt der wirklichen Erfahrung derselben gleich. Ich weiß nicht, wie lange es gedauert, bis ich mich mit allen Kindern und Anna auf dem Rasen vor dem brennenden Hause wiederfand; Hugo hatte meinen Toilettekasten und meine Bücher, dieses Buch unter ihnen, gerettet; seit dem ersten Erwachen war vielleicht eine Stunde verstrichen, vielleicht nicht einmal so viel. Wasser schien nicht zur Hand, und Boten wurden nach Minster geschickt, um die große Feuerspritze zu holen; aber jedermann wußte, das Haus sei unrettbar verloren.

Wir drängten uns nahe zusammen, die Augen vor der Hitze und Helle schützend, wenn nach jedem Zusammensturz die zackige, zornige Lohe tausend Zungen in den tief blauen Nachthimmel emporstreckte. Die männlichen Dienstboten, Lanzelot, mein Gatte und Hugo thaten was sie konnten, um einige der Bilder und Werthsachen im untern Theil des Hauses zu retten. Niemand war eifriger als Lanz; er stand allen voran. Plötzlich hörte man eine laute Stimme und Lanzelot Trevor rief von einer Gartenbank herab: »Sind alle in Sicherheit?« Die Dienstboten antworteten für sich selber einer nach dem andern, und ich, von allen meinen Lieben umgeben, mußte mit klopfendem Herzen Gottes große Gnade preisen. Aber plötzlich ertönte ein lauter Schrei; er kam von meiner armen Isabella.

»Stephan Randall, Mutter! Wo ist Stephan Randall?« Und als wüßte sie, wer ihr helfen würde, lief sie über den Rasen zu Lanz, der sich gerade mühte, einen schönen Kupferstich der Raphaelschen Madonna von San Sisto zu retten. »O Lanz, Niemand hat an Stephan gedacht!«

»Stephan!« rief er; »und er schläft im Hinterhause! Sei unbesorgt, er soll nicht verbrennen!«

Ich war meinem Kinde gefolgt und kam gerade rechtzeitig, um sie vor dem Fallen zu schützen. Aber Hitze und Rauch trieben uns zurück, während Lanzens hohe Gestalt inmitten der Glut, die uns fast erstickte, verschwand.

»Halten Sie inne, Herr Lanz!« hörte ich rufen, aber seine Stimme tönte zurück: »Es geht! Ich kann durch die Halle und über die Treppe des Flügels hinauf!«

»Da bin ich!« rief er noch einmal und winkte mit der Hand aus dem Bogenfenster, wo ich ihn vor zwei Jahren im Mondlicht stehend erblickt. Die Leute aus dem Dorfe waren währenddessen herbeigeströmt und alle suchten zu retten, was sich noch retten ließ, denn das Haus war verloren. Wie kann ich mir die Scene zurückrufen! Bücher, Bilder, kostbarer Hausrath und Silberzeug über den Rasen und die Terrasse verstreut! Die Madonna mit ihrem tiefen Blick, den göttlichen Sohn im Arm, stand gegen den Stamm einer großen Akazie gelehnt und die Flammen beleuchteten das wundervolle Bild und gaben ihm den vollen Ausdruck des Lebens.

Währenddessen verhielt Isabella sich still. Sie murmelte einigemale: »Sie vergaßen ihn, niemand dachte an ihn!« aber das war alles. Mehrere kräftige Männer waren Lanz gefolgt, mußten jedoch zurückweichen und gingen nun mit Stricken und Leitern nach dem hintern Theil des Hauses.

Plötzlich erscholl der Ruf: »Hier!« Und nach dem Bogenfenster emporblickend, sahen wir Lanz wieder. Er schien gewaltsam bemüht, sich uns hörbar zu machen.

»Stricke und Leitern her!« rief er. »Ich habe ihn! Isabella, liebe Isabella, er ist in Sicherheit!«

Das waren die letzten Worte, welche wir vernahmen. Wir sahen hinter ihm Licht, ein helles unheimliches Licht, und dann wie er vorwärts aufs Gesicht fiel. Aber nun wurden die Leitern angesetzt und mit starken Stricken zusammengebunden. Sie wollten hinaufsteigen, als Trevor sie bei Seite schob: »Laßt mich!« sagte er leise, aber bestimmt.

Noch einige Augenblicke höchster Spannung und mit Hilfe meines Gatten und Hugo's von unten, wurde Lanz von seinem Vater neben Stephan auf den kühlen Rasen gelegt.

Lanz konnte nur eben wiederholen: »Vater, sage Isabella, daß ich ihn gerettet!« dann schloß er die Augen und ein Stöhnen des heftigsten Schmerzes brach aus diesen tapfern Lippen hervor.

»Sein rechter Arm ist gebrochen und hilflos,« sagte der Vater; »schickt nach einem Doktor, – schickt gleich nach Minster!«

Aber der Arzt von Coleworthy war unter dem Haufen und trat jetzt hervor. Stephans Bewußtsein kehrte zurück; er faßte mich ins Auge: »Tante Letty! Isabella! o mein Liebling, sprich zu mir!« Denn Isabella strich mit schneeweißem Gesicht und zitternder Hand das Haar von seiner breiten Stirne zurück.

Das Geräusch nahender Spritzen wurde nun gehört, aber die Hilfe kam zu spät. Ehe die Sonne im Osten emporstieg, rosig vom Glanz des anbrechenden Tages, war die alte Heimat der Wyndleshaws ein Trümmerhaufen.

Viele gütige Herzen, aller Theilnahme und aller Bereitwilligkeit voll, boten uns an jenem Morgen ihre Hilfe an; meine kleineren Kinder, wie Anna, Greta und Isabella wurden in Dr. Randalls Wagen nach Minster gebracht. Ich blieb mit den beiden Leidenden im hübschen Gärtnerhäuschen dicht vor der Pforte des Parks zurück. Wie dankbar mußten wir für diesen Zufluchtsort sein, und als Lanz auf das reinliche Bett gelegt wurde, entstieg ihm ein Seufzer der Erleichterung.

Stephan kam in ein anderes Zimmer, denn die Familie räumte uns willig ihr ganzes Häuschen ein. Er war unverletzt und litt nur an den Folgen der tödtlichen Betäubung, aus welcher Lanzens tapfre Hand ihn mit Mühe errettet.

O du brave und ritterliche Hand! Wie vermag ichs nur zu schreiben, daß sie nie mehr sich erheben wird zur Vertheidigung der Schwachen, oder zu einer That wie diejenige ist, mit welcher er den Genossen seiner Kindheit den verzehrenden Flammen entrissen! Lanz mußte Stephan durch Rauch und Flammen und unter brennenden Balken fortschleppen, und gerade als er das steinerne Fenster erreicht, das noch unversehrt zwischen den Trümmern steht, fiel ein schwerer Balken auf seine Schulter nieder und zerbrach den obern Theil des Arms, welchen zugleich das brennende Holz versengte.

Alles was ich je von Schmerzen gesehen oder gelesen, verschwindet im Vergleich zu dem, dessen jenes kleine Zimmer Zeuge war. Am Morgen des dreizehnten, als die Aerzte sich nach der Untersuchung des Armes zurückgezogen, wurde ich von Gottfried und Trevor gerufen, um ihren Ausspruch zu hören. Ich wußte, er lautete traurig, denn der Vater meines armem Lanz stand gegen den kleinen Speiseschrank der Gärtnersfrau gelehnt, mit dem Ausdruck schmerzlichsten Jammers. Gottfried umschlang mich und ich erwartete Schreckliches zu hören. Dann begann Dr. Randall und nie habe ich ihn so bewegt sprechen gehört: »der Wundarzt meint, der Arm müsse über dem Ellbogen abgenommen werden und wir wünschen, daß Sie den armen Jungen auf das Unvermeidliche vorbereiten. Sie vertreten ja Mutterstelle bei ihm.«

Die Worte rüttelten mich empor. Ich dachte an Susanna und freute mich bei allem Jammer, daß dieß ihr erspart geblieben. »Wird die Amputation sein Leben retten?« fragte ich.

Dann fiel die leise hohle Stimme des Vaters ein: »Es ist die einzige Hoffnung.«

»Wie bald muß es geschehen?«

»Sogleich, wir holen das Nöthige aus Minster und kommen augenblicklich zurück.«

Dann ließen sie mich mit Gottfried und Lanzelot allein. Alsbald gewahrte ich ein geisterhaftes entsetztes Gesicht vor dem niedrigen Fenster, und ein zweites kaum weniger bestürztes daneben; es waren der arme Stephan und mein eigener Hugo. Wußten sie alles? Ich konnte es ihnen nicht sagen, wagte überhaupt nicht zu sprechen; denn ich sollte mich ja aufrecht erhalten und so, nach einigen Momenten des Schweigens, schritt ich mit meiner schlimmen Botschaft die enge kleine Treppe hinan.

Habe ich je zuvor gewußt, was Beten heißt? Denn als ich vor der Thür des bescheidenen Zimmerchens stand, fühlte ich, daß mein Ruf den Herrn selber herbeigeführt; sicherlich war er bei mir, sicherlich hielt er mich aufrecht mit der rechten Hand seiner Gerechtigkeit.

Lanz lag da, wie die Aerzte ihn verlassen. Er richtete seine großen Augen auf mich und lächelte.

»Der Schmerz ist geringer, Tante Letty. Finden sie mich besser?«

Ich nahm den Wein, hielt ihn an seine Lippen und sagte dann bei ihm niederknieend: »Lanz, das Schlimmste ist noch nicht vorüber.«

Er begriff sofort was ich meinte und sagte schnell: »Mein Arm?«

»Er muß abgenommen werden, um dein Leben zu retten, das für deinen Vater und uns alle so theure Leben!«

Keine Antwort. Seine Brust wogte, seine Augen füllten sich mit Thränen und ich sah wie er tödtlich erblaßte.

»Mein Liebling,« sagte ich, »Gott wird dich nicht verlassen.«

Da brach er hervor, der natürliche Schrei des jungen feurigen Herzens: »Lieber sterben! Laßt mich sterben!«

»Nein, Lanz,« sagte ich; »du wirst leben und deinem Gott noch dienen; fürchte dich nicht.«

Wieder ein langes Schweigen, während wir beide beteten. Jenes Schweigen bleibt meiner Erinnerung eingegraben. Ich werde immer daran denken, wenn ich das Geräusch der sommerlichen Regentropfen auf den Blättern höre, wie sie damals durch die weißen Schlingrosen am Fenster fielen, werde immer daran denken, wenn ich einen Sonnenstrahl sehe, wie er damals Lanzens Bett streifte und die dunkle Regenwolke plötzlich durchbrach. Er berührte mich wie ein Hoffnungsbote und sofort öffnete Lanz die Augen.

»Ich möchte erst Stephan allein sehen und nachher meinen Vater. Mein armer Vater!« fügte er seufzend hinzu.

Ich that nach seinen Wünschen und weiß nicht, was nun folgte; doch war Stephans Ausdruck, als er das Zimmer schwankend verließ, ein mir unvergeßlicher. Hugo führte ihn sanft hinaus und gleich darauf ist er nach Minster gefahren.

Die gefürchtete Stunde kam und ging. Ich durfte nicht zugegen sein, aber Gottfried und Lanzelot waren beide im Zimmer.

Die muthige Seele des tapferen Jünglings bewährte sich auch hier. Die Aerzte erklärten, nie größeren Muth gesehen zu haben, und die Gewißheit, daß es sein Glaube gewesen, der ihn damals aufrecht erhalten und bis ans Ende aufrecht erhalten wird, erfüllte mich mit unaussprechlicher Dankbarkeit; jener Glaube, der im Unsichtbaren wurzelt, für welchen die Heiligen und Märtyrer den Tod erlitten, und dessen Besitz in alle Ewigkeit Gegenstand ihrer Wonne bleiben wird.

Während dreier Tage nach der Operation hatten wir mehr Grund zur Besorgniß als zur Hoffnung. Bis der Verband abgenommen war, ließ sich nichts mit Sicherheit bestimmen; aber Gottlob! jetzt geht alles gut und es gilt nur noch ihn aufzuheitern und ihm sein Kreuz tragen zu helfen.

Meine jüngeren Kinder sind nach Hause zurückgekehrt, aber Greta und Isabella bleiben noch bei Randalls. Lanz darf bis jetzt nicht transportirt werden und ich leiste ihm vorläufig im Gärtnerhäuschen Gesellschaft.

 

Den 1. August.

Heute war ich mit Sir Lanzelot auf dem Schauplatz jener furchtbaren Nacht. Das Feuer ist durch Brennholz entstanden, welches dem Küchenschornstein zu nahe gelegen und sich entzündet hatte. Das Haus war von ihm, als dem Miether, versichert, so daß er einigen Ersatz für seine Verluste erhält. Ein großer Theil des werthvollsten Besitzes ist verbrannt, aber Einiges wurde gerettet. Er steht jetzt in Unterhandlung mit den Wyndleshaws und möchte den Miethvertrag auf längere Zeit schließen und das Haus wieder neu erbauen.

Als wir uns dem Gärtnerhäuschen näherten, blieb er stehen und sagte: »Es scheint heute besser mit ihm.«

»Ja, er ist besser, aber wir müssen uns auf eine längere Zeit der Schwäche gefaßt machen. Dr. Randall sagt, ein Jahr könne verstreichen, ehe er im Stande sein würde, seine alten Gewohnheiten wieder aufzunehmen.«

»Das wird er niemals können,« entgegnete er bitter. »Aber Letty, hast du je einen größeren Helden gesehen, als mein Junge es ist?«

»Nie,« antwortete ich ernst; »du darfst wohl auf einen solchen Sohn stolz sein.«

»Ich bin es auch,« lautete die Antwort; »man könnte zum Heiligen werden, wenn man das mit ansieht.«

Ich wagte ein Weiteres: »Lanzelot, weißst du noch, wie ich dir in Castleborough sagte, ich würde immer beten, daß du glauben möchtest, statt zu zweifeln. Wird nicht dieser Schmerz dich zum Heiland deines Sohnes führen, der ihm geholfen, zu thun, was ein Christ thun und leiden kann?«

»Letty, einige Menschen werden als Helden, andere als Feiglinge geboren. Wie weiß ich, ob Lanz sich nicht eben so sehr bewährt hätte, wäre er auch nicht gewesen, was du einen Christen nennst. Und Liebe – wie kann ich Liebe in dem grausamen Geschick entdecken, welches meinen Sohn lebenslang zum Krüppel macht, und den schönen kräftigen Menschen, der er noch vor einem Monat war, in den armen verstümmelten hülflosen Invaliden, wie er jetzt daliegt, verwandelt, zum Lohn für die tapfere That der Rettung eines Andern obendrein.«

Ich sagte nichts weiter, weiß aber, daß Gutes aus dem scheinbar Bösen hervorgehen, und Lanz seinen Vater noch zu dem kindlichen Glauben, der allein Stich hält, gebracht sehen wird.

 

Den 11. August.

Heute wurde Lanz auf seine ernstliche Bitte gestattet, Isabella und Stephan zu sehen. Ich wollte nicht im Zimmer bleiben, ja ich konnte es nicht, denn die Rührung, diese drei Kindheitsgenossen in solcher Weise beisammen zu sehen, hätte mich übermannt. Als ich des theuren Lanz Kissen für die Nacht zurechtlegte, blickte er auf und sagte in seiner gewinnendsten Art: » Mutter, so laß mich dich jetzt nennen!«

»Ja, Liebling, und ich bin stolz darauf!«

»Weißst du, was ich heute gethan? Ich habe jedem Anspruch auf Isabella entsagt und sie dem armen Stephan gegeben. Er kommt gewiß noch zum Glauben und sie werden glücklich sein. So!« fuhr er mit einem tiefen Seufzer fort, »ich bin zufriedener, seit ich das alles aufgegeben. Küsse mich, Mutter! Selbst ein armer Krüppel, wie ich, kann noch glücklich werden. Gottes Wille ist immer der gute und richtige!«

 

Wrentham, den 29. September.

Ich mußte meinen lieben Lanz verlassen und nach Hause kommen, denn Viola und Suschen haben die Masern, und Anna war ängstlich. Isabella und Greta sind bei den Wentworths in Castleborough, und Stephan Randall auf Reisen.

Zwischen ihm und Isabella ist jetzt die Verbindung insofern geschlossen, als beide erklärt, sich nicht anderswie verheirathen zu wollen. Ich weiß kaum, ob wir recht gethan, darein zu willigen; aber Isabella ist jetzt mündig und muß für sich selber entscheiden. Sie sagt, Stephan verstünde ihre Gefühle und Ansichten vollkommen und kenne die Scheidewand, welche zwischen ihnen stehe. Sie hätten sich ohne solche Verbindung nicht schreiben können, und deßhalb mag es so am besten sein.

 

Den 11. Juli 1842.

Wieder Isabellens Geburtstag und der Jahrestag jener schrecklichen Nacht! Der theure Lanz ist bei uns. Er sieht noch recht bleich und schwach aus; der Verlust seines Arms hat ihn völlig entkräftet. Wenn ich ihn inmitten seiner Prüfung geliebt und bewundert, wie soll ich denn jetzt mein Gefühl für ihn beschreiben? Er ist über allen Ausdruck tapfer und stark. Seiner angestrengten Uebung ist es gelungen, sich ohne Hülfe der rechten Hand anzuziehen, aber nicht ohne viel Mühe und Arbeit. Das scheint nur ein kleiner Theil der Beschwerden, ist aber ein Zeichen des großen Ganzen; ebenso geht es beim Essen und im täglichen Leben; er erinnert nie an seinen Verlust, ist heiter, fast lustig, und das ganze Haus hängt ihm an. Suschen kann Stundenlang neben ihm sitzen, und es wäre schwer zu bestimmen, wer von uns ihn am meisten liebt. Stephan besuchte uns kürzlich, machte einen viel sanfteren günstigeren Eindruck, und es war entzückend, die beiden jungen Leute beisammen zu sehen.

Isabellas Hochzeit soll nun am Allerheiligentage stattfinden. Wir können unsere Einwilligung nicht länger zurückhalten, und Stephan scheint wirklich anders geworden zu sein. Isabella meint es wenigstens und ist befriedigt, – glaubt vielleicht, was sie hofft. Gott gebe, daß es so sei!

Allerheiligentag. Alles ist vorüber und sie sind fort: Meine Isabella ist nun eine Frau. Das Kind meiner Jugend, meine Erstgeborene mit ihren Kornblumenaugen hat mich verlassen.

Ich kann nicht behaupten, ganz befriedigt zu sein, so zärtlich ich Stephan auch liebe; aber ich bitte Gott, meine theuren Kinder zu segnen und sie nie zu verlassen.

Isabella trug ein weißseidenes Kleid und einen langen Schleier, wie es jetzt Mode ist. Sir Lanzelot hatte ihr ein schönes Perlenhalsband geschenkt, und ihre Schwestern waren Brautjungfern.

So weit hatte ich geschrieben, als die Post mir einen beunruhigenden Brief brachte, meinen lieben Jack betreffend. Er liegt in Granada am schleichenden Fieber darnieder, und sein Kapitän, welcher gütig geschrieben und einige Zeilen Jacks eingelegt, verhehlt uns nicht, daß er sehr krank ist. Welcher Schluß eines Hochzeittages! Es überwältigt mich fast! Und doch halte ich mich an Gottes Verheißung und an seine Liebe, und er wird mir beistehen!

 

Den 2. November.

Gottfried meint, Jack könne nicht so krank sein, da er selbst geschrieben; aber ach, ich lese diese schwachen ungleichen Schriftzüge immer wieder, und jedesmal sinkt mir das Herz. Wir müssen die nächste Post erwarten; ach, welche Qual der Ungewißheit!

 

Den 4. November.

Ich kann weder schlafen, essen, noch ruhen. Erführe ich nur, wie's um meinen Jungen steht! Andere reden mir von Hoffnung, aber ich selbst habe kaum welche; so schleichen mir die Tage traurig dahin! Der Ton seines fröhlichen Lachens, seines Schritts auf der Treppe, das Bild des lieben wilden Lockenkopfes, wie er ihn zur Thür hineinsteckte an den Tagen, wo er immer zu spät zum Essen und Abendthee kam, – das alles schwebt mir vor, und diese Erscheinungen der Vergangenheit verfolgen mich bei Tag und bei Nacht.

 

Den 18. November.

Die finstern Novembertage ziehen einer nach dem andern vorüber und finden mich reizbar und ruhelos. Von allen Prüfungen, die Gott mir geschickt, scheint mir die schwerste – diese tödtende Spannung und Ungewißheit.

 

Den 26. November.

Seit zwei Tagen geht es mir besser. Gott hat geredet und ich habe die leise Stimme vernommen, welche zu meiner Seele spricht: »Sei ruhig, ich bins!«

 

Castleborough, den 15. Januar 1843.

Hier bin ich wieder einmal allein. Die lieben alten Freunde früherer Tage hatten von meinem Kummer gehört und an Gottfried geschrieben: »Schicken Sie sie uns.« Auch war ich in der That unfähig, den Ansprüchen meines Hauses zu genügen. Am 3. Dezember kam die Nachricht, daß mein Knabe fern von uns allen im fremden Lande gestorben sei. Sie haben ihn auf einem kleinen friedlichen Kirchhof begraben neben einem andern seiner Schiffsgefährten, der auch dem Fieber erlegen war.

Mein Mutterherz möchte brechen, wenn das Bild meines sterbenden Knaben vor mir aufsteigt. Hätte ich nur sein Kissen zurechtlegen, seine trockenen Lippen netzen, ihm von meiner Liebe und einer noch größeren, der Liebe Jesu erzählen können! Die Briefe sagen, er habe sorgsame Pflege genossen, und er scheint alle Herzen gewonnen zu haben; darin liegt ein großer Trost. In der That wird uns jede Beruhigung zu Theil; aber ich fühle mich durch diesen Schmerz gealtert und gebrochen, und meine ganze Familie empfindet das mit mir.

Hier wohne ich in einem Hause des Friedens und der Ruhe und habe den Werth meiner Freunde nie so gefühlt wie jetzt.

Der Dechant ist älter geworden und seine hohe Gestalt etwas gebeugt; aber, sein Eifer für Gott und seine Liebe zu den Menschen sind ganz dieselben. Ich habe in den letzten beiden Jahren viel durchgemacht, und meine, schon sehr verändert gewesen zu sein, ehe die Todesnachricht meines Jack kam. Der Brand von Ladyshall und die lange Pflege meines lieben Lanz hatten mich schon sehr geschwächt, bevor jener neue schwere Schlag fiel.

 

Den 8. Februar.

Ich stand gestern Morgen am Fenster, welches auf die Frauenkapelle der Kathedrale blickt, als meine Freundin Wentworth leise zu mir trat. »Ich habe in der vorigen Nacht von Ihnen geträumt,« sagte sie; »wir standen hier beisammen.«

Abends gab sie mir folgende Verse, die ich abschreibe, weil sie mir als Zeugniß einer langen nie getrübten Freundschaft sehr werthvoll sind.

Ich habe geträumt einen schönen Traum,
Und möchte ihn jetzt dir erzählen,
So lange die Strahlen des Untergangs
Noch diese Fenster erhellen.
Wir standen sinnend beisammen hier,
Und sahen die Wolken fliegen.
Am tiefblauen Himmel zogen sie hin
In langen weißflockigen Zügen.
Doch indem ich noch schaute, gewannen sie
Gestaltung plötzlich und Leben,
Und schienen vor meinem erstaunten Blick
Als Geister hernieder zu schweben.
Da waren Mütter, die Kleinen im Arm,
Und fröhliche Kinderschaaren,
Dann wieder der greisen Häupter viel
Im Zuge, dem wunderbaren!
Und im Vorüberziehen grüßten sie uns
Und winkten mit Mund und Händen,
Als ob sich Freunde, längst getrennt,
Mit Freunden zusammenfänden.
Ihre Stimmen vernehmen konnten wir nicht,
Noch klar ihr Angesicht sehen,
Doch mußten sich unsre Seelen wohl
Und unsre Herzen verstehen!
»Theure Freunde sind es,« sprach ich zu dir,
»Das soll uns ihr Winken bedeuten!«
Du sagtest: »Ich habe sie alle gekannt
In den alten, den glücklichen Zeiten!«
Da brach ein Strahl aus den Wolken hell
Und fiel ins Fenster von oben,
Es hat sie das rosige Licht aus der Höh
Mit verklärtem Glanze umwoben,
Als erglänzte die winterlich kalte Welt
In ihrer schneeigen Pracht
Rothglühend beim freudigen Morgenschein, -
Und das sehend, bin ich erwacht.
Ach, wollten doch immer die Träume der Nacht
Der Ermatteten Herzen stillen,
Indem, zwischen dieser und jener Welt
Sie die goldne Brücke enthüllen!

Ist uns jene Welt nicht in der That näher, als wir glauben? Es gibt geweihte Augenblicke, wo ich diese Nähe meiner Geliebten zu spüren glaube, und die goldene Brücke, von welcher meine Freundin gesungen, besteht wirklich zwischen beiden Welten.

 

Wrentham, den 1. März.

Ich bin gestärkt und erfrischt nach Hause zurückgekehrt und kann jetzt ertragen, wovor mir noch gegraut, als ich abreiste, – die Ankunft der Kiste meines Jack. Es gewährt mir nun fast Freude, die Sachen zu betrachten, sie mit zärtlicher Hand zu berühren und als Reliquien zurückzulegen. Das Theuerste ist mir die Bibel, welche ich ihm damals mitgegeben; darin liegt eine kleine vertrocknete Rose, die ich ihm am Morgen seines siebzehnten Geburtstages ins Knopfloch gesteckt. Er sagte mir Abends vor seiner Abreise: »Deine Rose werde ich bewahren, Mutter,« und er hat es gethan.

Die Bibel ist an verschiedenen Stellen angestrichen und auf eins der leeren Blätter ein Vers geschrieben, über den der Schiffskaplan gepredigt und der ihm offenbar einen tieferen Eindruck gemacht: »In der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem Meer.«

Ich habe diese Sachen meines lieben Jack mit Letty's Puppe und Hut und einer angefangenen Stickerei, welche Susanna in Minster auf dem Tisch liegen ließ, als sie zuletzt im Wohnzimmer war, aufbewahrt.

Am Weihnachtstage. Sir Lanzelot und sein Sohn sind zum Weihnachtsfest herübergekommen. Der liebe Lanz hat sich sehr erholt, und es ist erquicklich, die jetzt so innige Liebe zwischen Vater und Sohn zu sehen.

Von Stephan und Isabella hören wir Gutes. Sie wohnen jetzt dauernd in Oxford und hoffen, uns nächsten Frühling zu besuchen. Isabella's Briefe lauten sehr fröhlich und sie scheint äußerst stolz auf ihren Mann, dessen Ruf sich immer mehr verbreitet und der seinem Collegium vorsteht.

Ralph, mein kleiner Ralph, wird im nächsten Jahre hingehen und Harry seine Stelle in Winchester einnehmen. Greta bleibt mein Trost und meine Stütze. Ihre kleinen Schwestern sind ihr ganz ergeben, und sie leitet deren Unterricht ausschließlich.

Bis hieher hat Gott geholfen, und es macht mich sehr glücklich, Gottfried die Früchte jahrelangen Mühens genießen und seinen ältesten Sohn ihm kräftig zur Seite stehen zu sehen.

In Ladyshall wird ein neues Haus auf der Stelle des alten erbaut, und Sir Lanzelot hat die Besitzung gekauft, und will sich dort ganz niederlassen.

Neulich Abends, als Lanz neben mir auf dem Sopha saß, legte er seine linke Hand in die meinige und sagte: »Mutter, zuweilen frage ich mich: Was soll, was kann ich thun? und bekomme nur die Antwort: ›Sei geduldig und warte!‹« »Aber,« fuhr er seufzend fort, »hart ists doch, wenn ein Mensch von dreiundzwanzig Jahren sich ganz unnütz auf Erden fühlt.«

Das kleine Suschen saß arbeitend zu meinen Füßen; wir hatten ihre Gegenwart beide vergessen, als sie rasch aufblickend sagte: »Ei, Lanz, du thust ja so viel, jeden Tag führst du mich spazieren und liesest mir und Viola vor und bist so lieb und gut!«

Er beugte sich nieder und streckte seinen linken Arm aus; Suschen sprang empor und er drückte sie an sich.

»Danke, kleine Trösterin,« sprach er. »Ich weiß, du liebst den armen alten Lanz.«

Die Antwort war ein schallender Kuß. »Jedes liebt dich,« sagte sie.

»Gleicht Suschen nicht unserer Letty, Mutter?« fragte er, als Anna das Kind zum Schlafen abgeholt. »Mich dünkt, sie wird ihr alle Tage ähnlicher.«

 

Den 31. Dezember.

Die letzte Seite dieses Buchs und mein letztes Wort darin soll lauten: »Der Herr ist mein Schild und meine Stärke; mein Herz hat ihm vertraut und mir ist geholfen!


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