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Elftes Kapitel

Eine Schwester

Seit die Rosen blühten und der kleine Findling in dem Lilienbeet entdeckt worden war, besserte sich Hannas Gesundheit zusehends. Laute Fröhlichkeit war nie ihre Art gewesen, aber ein stilles, sonniges Lächeln lag nun oft auf ihren Zügen und die Arbeit ging ihr leicht und rasch von der Hand. Dem Garten widmete sie die alte Sorgfalt; sie beobachtete die Entwickelung jeder einzelnen Blüte und behütete und begoß all ihre Lieblinge. Ihre Hauptfreude aber war die Pflege der kleinen Adoptivtochter, der sie jeden freien Augenblick widmete und deren fröhliches Gedeihen ihr Herz mit Wonne erfüllte.

Man hatte sie richtig »Helene« getauft und sie war aller Liebling. Rührend war das Entzücken Mrs. Warners, wenn ihr das Kind anvertraut wurde; all ihre Unruhe hörte auf, ja sie konnte stundenlang stillsitzen und seinen Schlaf bewachen; wie durch ein Wunder fühlte sie sich in ihre Jugend zurückversetzt und hielt sich für eine junge Mutter mit ihrem Erstgeborenen. Sogar die kostbare Tanjorabrosche hätte sie der kleinen Nellie gern geschenkt, wenn Hanna dieses Spielzeug nicht gefährlich gefunden hätte. Ueberhaupt mußte ihrer Liebe hie und da Einhalt gethan werden, wenn sie dem Kinde Süßigkeiten und allerlei Eßwaren in den Mund stopfte. In solchen Fällen richtete sie sich aber hoch auf.

»Wahrhaftig, es ist zu lächerlich,« pflegte sie mit Hoheit zu erklären, während all ihre Haubenbänder in die Höhe standen, »daß meine Tochter mich über so etwas belehren will. Du scheinst zu vergessen, Hanna, daß ich eine verheiratete Frau bin und die Mutter dieses Kindes. Mein Gatte wäre sehr erstaunt, wenn er erfahren würde, daß du an meiner Fähigkeit, mein Kind zu behandeln, zweifelst.«

Es blieb nichts übrig, als all die gefährlichen Dinge zu verschließen und ihr das kleine Geschöpf zu lassen. Auch Miß Prosser, die in ihrem Beruf genug mit Kindern zu thun gehabt hatte, um ihrer ziemlich müde zu sein, hatte die Kleine sehr ins Herz geschlossen, und ihre hübschesten Kleidchen und Bänder waren Geschenke der Patin.

Eines Abends ging Hanna mit dem Kinde auf den Armen im Garten auf und ab und sang es in Schlaf, als Karoline plötzlich erschien und ihr sagte, daß eine junge Dame sie zu sprechen wünsche.

Hanna war etwas erstaunt über fremden Besuch zu dieser Stunde, küßte das Kind und gab es dem Mädchen, worauf sie langsam ins Haus ging. Als sie ins Wohnzimmer trat, stand Rosie Ewell vor ihr. Hannas erster Gedanke war, daß Sir Wilfrid am Sterben sei und nach ihr schicke, und erbleichend hielt sie sich an einem Stuhl fest und fragte leise: »Was ist geschehen? Was wollen Sie?«

Der Empfang war schmerzlich für die arme Rosie.

»O, Miß Warner, war es unrecht, daß ich zu Ihnen kam? Ich bin so verlassen – so unglücklich – und ich dachte, Sie würden –«

»Unglaublich – Sie? Und Sie kommen von –«

»Von Surbiton. Meine Mutter hat mich aus ihrem Hause gewiesen und ich muß mein Brot verdienen. Bei Ihnen hoffte ich Hilfe zu finden.«

»Und – und Sir Wilfrid?« stammelte Hanna.

»Er ist in Lambscote; er weiß nicht, daß ich hier bin: kein Mensch weiß es, O, Hanna, schicken Sie mich nicht fort, ehe Sie mich gehört haben!«

Es bedurfte dieses Flehens nicht; sobald Hanna wußte, daß das junge Mädchen in Not war, flog ihr Herz ihr entgegen.

»Sie fortschicken, Miß Ewell! Wie können Sie so etwas denken! Bleiben Sie, solange Sie mögen! Ich möchte nur wissen, ob Ihre Familie Ihnen folgen –«

»O nein! Das ist unmöglich! Sie wissen kaum, daß ich Sie kenne. Aber ich habe Sie nie vergessen, Miß Warner, und als ich mich so verlassen fühlte, war mir's, als ob ich in Ihnen eine Freundin finden könnte.«

»Das sollen Sie auch, Miß Ewell, und ich bin glücklich, daß Sie zu mir kamen! Aber eins lassen Sie mich fragen – sollen die Leute erfahren, daß Sie hier sind?«

»Nein, o nein! Ich möchte mich vor aller Welt verbergen! Wenn ich Ihnen alles erzählt habe, und Sie mir sagen, daß ich unrecht habe, dann will ich alles thun, was Sie mich heißen, bis dahin bewahren Sie mein Geheimnis!«

»Dann müssen wir einen andern Namen für Sie erfinden. Ihr – Ihr Bruder ist so bekannt im Hause, daß es zu große Neugier erwecken würde, wenn sie hörten, daß Sie seine Schwester sind,«

»Wie soll ich mich nennen? Sagen Sie mir's, Hanna.«

»Jeder Name erfüllt den Zweck, Wollen wir ›Miß Fraser‹ nehmen? Die andern kommen bald nach Hause, deshalb muß dies abgemacht werden.«

»O ja, Fraser gefällt mir – Rosie Fraser heiß' ich also.«

»So, und jetzt kommen Sie herauf und machen sich's bequem, und Karoline soll Thee bringen.«

»Aber Sie wissen ja meine Geschichte nicht, wissen nicht, ob ich recht –«

»Recht oder unrecht, Liebe, das gilt mir gleich. Sie schlafen in meinem Zimmer und heute nacht erzählen Sie mir alles. Vielleicht finden wir zu zweien Hilfe für Ihr Leid, wenn nicht, so tragen wir's miteinander.«

Sie reichte ihr mit diesen Worten die Hand, aber Rosie fiel ihr um den Hals und weinte an ihrem Herzen. Dann führte Hanna sie die Treppe hinauf in ihr Zimmer, wo Karoline die kleine Nellie hingebracht hatte.

»Ein Kind!« rief Rosie erstaunt. »Wem gehört es? Woher kommt es? O, was für ein entzückendes kleines Geschöpf!«

»Meine Mutter hat es aufgenommen,« erwiderte Hanna errötend. »Wir kennen die Eltern nicht, aber wir haben es so lieb, als ob es unser eigen wäre.«

»Kein Wunder – so ein reizendes Geschöpf sah ich noch nie! Ach, nun macht es die Augen auf! Was für große Augen, Hanna! Und grau, wie die meinigen. O, du kleines herziges Ding! Ich habe es auch schon lieb! Darf ich es küssen? Und darf ich es pflegen helfen?«

»Wir sind immer dankbar für Beistand,« versetzte Hanna lachend und legte Nellie in der Wiege zurecht.

Als sie bald darauf Hand in Hand ins Wohnzimmer traten, waren Mrs. Warner und Miß Prosser schon zurückgekehrt.

»Liebe Mama,« sagte Hanna einfach, »Rosie Fraser ist für ein paar Tage zu Besuch gekommen. Miß Prosser, das ist eine junge Freundin von mir, die Sie willkommen heißen müssen,«

»Das sind alle Freunde von Ihnen zum voraus, liebe Hanna. Sehr heiß heute abend, nicht wahr? Was macht Nellie?«

»Sie war sehr artig und ging gleich zu Karoline, als Miß Fraser ankam, ich glaube, sie ist nun ganz an sie gewöhnt.«

»Miß Fraser kam ganz unerwartet?« bemerkte Miß Prosser.

»Um so größer war die Freude,« versicherte Hanna herzlich. »Wir können ein bißchen Aufheiterung brauchen in dem alten Hause.«

Mrs. Warner legte nicht die leiseste Neugierde an den Tag über Rosies plötzliches Erscheinen, dagegen fühlte Hanna wohl, daß Miß Prosser sich Gedanken darüber machte, daß der Gast ohne alle Anmeldung eingetroffen sei und ihr auch jetzt so wenig Aufklärung über denselben zu teil werde; sie beschloß, sich diesen unausgesprochenen Fragen zu entziehen.

»Komm, Rosie,« sagte sie, »wenn du bereit bist, zu Bett zu gehen, ist es mir lieb; ich habe heute viel Arbeit gehabt.«

Rosie erhob sich sofort und wünschte den beiden älteren Damen aufs artigste gute Nacht.

Sobald die Freundinnen in ihrem Zimmerchen angelangt waren, ging eine seltsame Wandlung mit Hanna vor. Es war, als ob sie um jeden Preis die Mitteilungen aufschieben möchte, die entgegenzunehmen sie sich so zeitig zurückgezogen hatte. Sie war sehr geschäftig, alles für Rosie bereit zu machen, aber sie gab ihr keinerlei Ermutigung, mit ihrer Geschichte zu beginnen, Sie beugte sich lange über des Kindes Bettchen und blickte auf das ruhig schlummernde Gesichtchen, mit Thränen in den Augen, und je länger sie zögerte, den Namen zu hören, der ja ausgesprochen werden mußte, desto mehr steigerte sich ihre Beklommenheit. Endlich machte Rosie selbst diesem Zögern ein Ende.

»Ich habe nun alles, was ich brauche,« sagte sie schüchtern, »aber schlafen kann ich nicht, Hanna, ehe ich Ihnen erzählt habe, was mich hierher geführt. Wollen Sie mich anhören? Ermüdet es Sie nicht allzusehr?«

»O nein, Liebe,« erwiderte Hanna, sich von des Kindes Bettchen aufrichtend und sich in einem Lehnstuhl niederlassend, »sagen Sie mir alles, alles – und ich will raten und helfen so gut ich es vermag,«

Rosie zog eine Fußbank herbei, auf die sie sich setzte, und dann erzählte sie, die Arme um Hannas Kniee geschlungen, unter heißem Erröten und mit vielen Thränen, von ihrer reinen, unschuldigen Liebe und von Lenas grausamem Dazwischentreten und deren Geständnis ihrer eignen Schmach, dessen Zeuge sie hatte sein müssen – und mit pochendem Herzen lauschte Hanna, nicht minder bewegt und erregt als das arme betrogene Kind selbst.

»O, und nun,« sagte sie, am Schluß ihrer Bekenntnisse angelangt, »nun werden Sie sagen, daß er ein schlechter Mensch sei und meiner Thränen nicht wert, aber, Hanna, gewiß – man kann sein Herz nicht so plötzlich losreißen von dem, den man lieb gehabt, auch wenn man einsieht, daß er es nicht verdiente.«

»Ja, mein Kind, das weiß ich – man kann es nicht,« sagte Hanna leise.

»Und dann mußte ich doch fort; ich konnte doch nicht in Lambscote bleiben bei Lena und mit jenem – jenem Mann?«

»Nein, nein,« rief Hanna warm, »das war unmöglich.«

»Wie schwer es war, Wilfrid meinen Entschluß mitzuteilen, ohne ihm den wahren Grund zu sagen, das können Sie mir wohl nachfühlen, Hanna. Erst hielt er alles für einen unbedeutenden Streit, der sich leicht beilegen lassen würde; als ich ihm aber fest und bestimmt erklärte, ich könne nicht unter einem Dach mit Lena leben, da war er sehr unglücklich, mein lieber, armer, betrogener Bruder. Er schrieb an Mama und erklärte ihr meine Heimkehr so gut er es selbst verstand, und am nächsten Morgen reiste ich nach Surbiton ab, ohne Lena noch einmal gesehen zu haben.«

»Und Ihre Mutter, Rosie – vertrauten Sie ihr alles?«

»Nein, Hanna, das konnte ich nicht. Ich konnte ihr mein Geheimnis nicht anvertrauen, ohne Lena zu verraten, ach, und, Hanna, Sie wissen nicht, wie wenig Liebe und Sympathie ich bei den Meinen fand. Man hatte sich, nachdem die Familie um ein Glied kleiner geworden war, behaglicher eingerichtet, mein Bett war verkauft worden, meine kleinen Habseligkeiten hatten die Schwestern an sich genommen – es war kein Raum mehr für mich in meiner Mutter Hause. Das erklärte sie mir auch unumwunden. Im Anfang setzte sie alles daran, ein Geständnis ›meiner Schuld‹, wie sie sich ausdrückte, zu erlangen, als ich das verweigerte, ging sie zu Lady Otto, die indessen nach London zurückgekehrt war, und suchte dort die Sachlage zu erforschen. Was jene Frau, die ebenso herzlos und herrschsüchtig ist, wie ihre Tochter, ihr gesagt haben mag, weiß ich nicht; genug, Mama kam in höchster Aufregung nach Hause und erklärte mir, daß ich das Haus verlassen müsse, weil meine unschuldigen Schwestern nicht mit einem so ehrvergessenen Geschöpf zusammenleben dürften!«

»Mein armes, armes Herz,« tröstete Hanna das aufs neue schluchzende Mädchen, »Kann denn eine Mutter ihr Kind so verkennen?«

»O, Hanna, es hat mir bitter weh gethan! Das Schlimmste aber war, daß sie mich nun mit Gewalt nach Lambscote zurückbringen wollte. Wilfrid hatte ihr geschrieben, daß ich jederzeit zu ihm zurückkehren könne, wenn ich seiner Frau Abbitte leiste – ich Abbitte ihr, der treulosen! Und dazu wollte meine Mutter mich zwingen. Heute nachmittag, nachdem sie Lady Otto besucht hatte, befahl sie mir, meine Koffer zu packen, da sie morgen früh selbst mit mir nach Lambscote reisen werde. Sie ging mit den Schwestern aus und ich war allein mit meiner Todesangst und Verzweiflung. Da, Hanna, da war's, als ob eine Stimme von oben herab mir Ihren Namen zuflüsterte; wie ein Friedenshort stand das liebe alte Haus mit seinem Garten vor mir und mir war's, als ob ein Wort von Ihnen, ein Blick in Ihre lieben, traurigen Augen mich von allem Leid befreien würde. Ich schickte das Dienstmädchen weg, packte meine Koffer und fuhr nach Waterloostation, wo ich mein Gepäck zurückließ, um jede Spur zu verwischen. Dann fuhr ich mit dem Omnibus hierher, und da bin ich nun und bitte Sie um Hilfe und Beistand. Nachdem meine Mutter mich verstoßen hat, bleibt mir nur der eine Ausweg – Geld verdienen, und ich kam zu Ihnen, damit Sie mir zeigen, wie ich es angreifen soll. Ich habe ja gar kein Anrecht an Sie, aber mir war's, als müßten Sie mir beistehen.«

»Und das Gefühl hat Sie nicht irre geleitet – ich will alles thun, was ich kann. Sind Sie sicher, daß jener Herr Ihnen nicht hierher folgen wird?«

»Wie wäre das möglich, Hanna? Er weiß nichts von Ihrer Existenz.«

»Aber – aber Sir Wilfrid?« fragte Hanna leise.

»O, nein, er kommt nicht. Ich weiß nicht, weshalb, aber er wollte mich nie mehr von Ihnen sprechen lassen. Haben Sie Streit mit ihm gehabt?«

»Nicht gerade das, doch eine gewisse Entfremdung ist eingetreten. Bitte, Rosie, dringen Sie nicht weiter in mich mit Fragen darüber. Betrachten Sie dies Haus als Ihre Heimat, bis Sie eine bessere finden.«

»Und wollen Sie mir Arbeit verschaffen, damit ich Ihnen nicht zur Last bin?«

»Wir wollen uns danach umsehen, aber Sie müssen Geduld haben, wenn sich auch nicht sofort etwas findet.«

»O, Hanna, Hanna! Wie engelsgut Sie sind! Ach, wenn Sie meine Schwester wären!«

»Denken Sie, ich sei es, und vertrauen Sie mir wie einer solchen.«

»Das thu' ich ja – niemand außer Ihnen hab' ich das anvertraut, O, und Hanna, wollen Sie mich lehren, die unglückselige Liebe aus meinem Herzen zu reißen – Sie, die Sie alles vermögen?«

»Das kann ich Ihnen nicht versprechen, Rosie; die Kunst verstehe ich selbst nicht. Aber, wenn es Ihnen ein Trost ist, zu wissen, daß ich Ihr Leid verstehe – o, Kind, auch ich habe viel gelitten, das dürfen Sie mir glauben. Wir wollen einander helfen; wir wollen arbeiten und uns keine Zeit gönnen zu müßigen Gedanken und fruchtlosen Thränen. Wollen wir Schwestern sein von dieser Stunde an, Rosie? Schwestern im ganzen großen Sinn des Wortes, nicht durchs Blut, sondern durch unsrer Herzen Zusammengehörigkeit? Soll es gelten – wollen wir den Bund schließen zu gegenseitiger Hilfe durch Liebe und Teilnahme und Sympathie?«

»O, meine Schwester! meine süße, treue Schwester!« schluchzte Rosie an ihrem Herzen. »Als ich deine liebe Stimme nur hörte, da war mir schon geholfen,« und eng umschlungen schliefen sie endlich ein.

Als Hanna sich beim Erwachen klar wurde, daß es kein Traum gewesen, daß Wilfrids Schwester bei ihr sei, wirklich und wahrhaftig auf ihren Schutz und ihren Beistand angewiesen, da leuchteten ihre Augen in reinem Glück. Nicht einen Augenblick bekümmerte es sie, wie ihr doch damit neue Sorge erwachse, Rosies Lebensunterhalt konnte ja nicht viel kosten, und wenn auch, sie würde sich dann eben noch mehr Arbeit zumuten, noch weniger Erholung gönnen und schließlich das Mädchen wegschicken und alle Arbeit übernehmen. Alles lieber, als ihre verlassene Schwester allein in der Welt lassen und tausend Gefahren ausgesetzt wissen.

Während sie sich beide ankleideten, ward der Lebensplan fix und fertig entworfen; die Arbeit war gefunden und im Geiste sahen sie sich schon miteinander alt werden, still und friedlich, ohne jene böse Liebe, die so viel Enttäuschungen hervorbringt, nur ganz erfüllt von Zärtlichkeit füreinander. Den Jungen scheint die Zeit so kurz und kein Ding unmöglich; die wirklich Alten sahen die Sache etwas ernster an.

Miß Prosser konnte sich noch nicht recht in die Idee finden, daß diese hereingeschneite Miß Fraser offenbar nicht nur vorübergehend Obdach in Wolsey Cottage finde. Solange Rosie anwesend war, unterdrückte sie jegliche Bemerkung; sobald diese aber nach dem Frühstück auf ihre dringende Bitte, sie irgendwo helfen zu lassen, die Weisung erhalten hatte, Mrs. Warner und die kleine Nellie im Garten zu beaufsichtigen, sagte sie mit einiger Schärfe zu Hanna: »Darf ich fragen, wielange Ihre Freundin hier bleiben wird?«

»Wie lange?« wiederholte Hanna. »Das weiß ich nicht, vielleicht für immer, was ich von Herzen wünschen würde. Jedenfalls so lange, bis sie eine bessere Heimat findet, denn die Arme hat jetzt gar keine.«

»Wie sonderbar. Ist sie eine Waise?«

»Ja – fast ist ihr Los noch schlimmer, sie hat außer uns niemand, zu dem sie gehen könnte.«

»Sehr traurig! Aber sie kann kaum erwarten, daß Sie sie erhalten. Sie kennen sie ja nicht einmal seit lange.«

»Ich kenne sie zu lange, um ihr die Aufnahme unter meinem Dache zu versagen, solang ich eins besitze, Miß Prosser, und ich – ich habe von ihren Freunden einst Wohlthaten empfangen, die ich vergelten möchte,«

»Sie sagten doch eben, daß Miß Fraser ohne Freunde sei.«

»Keine, die sie aufnehmen könnten. Ein junges Mädchen taugt nicht in jedes Haus.«

»Gewiß nicht. Allein, daß sie Sie zur Beschützerin gewählt hat, ist merkwürdig. Weiß sie, wie arm Sie sind, und daß Sie sich mit Zimmervermieten abquälen, um für Ihre Mutter und das Kind zu sorgen?«

»O, Miß Prosser, Rosie denkt viel zu edel und ist viel zu stolz, um irgend jemand zur Last fallen zu wollen. Sie kam zu mir, um sich mit meiner Hilfe zu einem Erwerbszweig zu verhelfen.«

»Was hat sie gelernt?«

»Das weiß ich nicht. Wir haben es noch nicht näher besprochen! jedenfalls hat sie eine gute Erziehung genossen.«

»Und wenn sie nun zu keiner Arbeit taugt?« fuhr Miß Prosser in dem nämlichen mißbilligenden Ton fort. »Eine gute Erziehung – was will das heißen, wenn man sein Brot verdienen soll!«

Hanna war sehr gereizt. Miß Prossers Fragen waren ihr peinlich gewesen, weil sie fürchtete, ihr mehr über Rosies Verhältnisse zu verraten, als sie wollte. Und nun empörte sie diese augenscheinliche Unfreundlichkeit. »Was für ein Recht hatte sie, sich darein zu mischen?« fragte sich Hanna. Haus und Geld waren nicht Miß Prossers Eigentum, und wenn jemand um des neuen Ankömmlings willen entbehren müßte, so wäre das sicher nicht Miß Prosser. Hanna äußerte sich in diesem Sinne, obwohl sie nicht vergaß, wieviel Dank sie dem alten Fräulein schuldete. Diese erriet ihre Stimmung aber doch.

»Nun sind Sie mir böse, Hanna,« sagte sie, »und ich habe es doch gut gemeint. Sie sind gar so unbesonnen, meine Liebe, und bürden sich Lasten auf, ohne daran zu denken, wie schwer sich dieselben tragen lassen. Ein Kind wird Ihnen in den Garten gelegt, und ohne sich zu besinnen, nehmen Sie es zu sich, und nun wollen Sie diese Miß Fraser ganz ebenso aufnehmen und wahrscheinlich für beide arbeiten. Sie begehen wahrhaftig ein Unrecht gegen sich selbst, Liebe.«

»Ich kann Rosie nicht als eine Last ansehen – ich habe sie zu lieb. Sie will bei mir bleiben, und wir wollen Arbeit und Besitz redlich miteinander teilen.«

»Gut, gut; kommen wir auf den wesentlichen Punkt zurück. Was denken Sie, daß Miß Rosie ergreifen könnte? Ich sehe schon, daß ich Ihnen nur helfen kann, wenn ich ihr helfe; wenn Sie einmal entschlossen sind, gibt es keinen Widerspruch.«

»O, meine liebe Miß Prosser – das ist wieder Ihr gütiges Herz! Sie werden uns raten und beistehen, nicht wahr? Sie verstehen so viel mehr, was man von einem jungen Mädchen verlangt und was sie erreichen kann.«

»Nun, gut, meine Erfahrungen sollen ihr zu gute kommen! Aber wäre es nicht besser, Miß Fraser selbst in unsern geheimen Rat zu berufen?«

Hanna holte Rosie aus dem Garten, und diese hatte nun ein scharfes Examen zu bestehen. Die Resultate waren nicht glänzend; sie spielte ein wenig Klavier, sie sang ein wenig, sie zeichnete ein wenig, aber in keiner dieser Fertigkeiten war sie genügend ausgebildet, um dieselbe wirklich verwerten zu können. »Hm!« bemerkte das alte Fräulein nachdenklich, »als Bonne zu kleineren Kindern, das könnte gehen; ist freilich schlecht bezahlt und tüchtig nähen müßten Sie; können Sie nähen?«

»Ein wenig,« erwiderte das junge Mädchen zu Boden blickend.

»Ich mochte Rosie durchaus nicht als Bonne fortlassen,« erklärte Hanna lebhaft. »Das steht kaum über einem Kindermädchen und ist keine geeignete Stellung für sie.«

»Vorderhand hat man ihr auch noch keine angetragen,« erwiderte Miß Prosser trocken, »und ich weiß nicht, ob sie eine solche ausfüllen könnte. Krankenpflegerin – das thun viele Damen, aber sie ist noch sehr jung – im Westend ist ein gutes Frauenspital.«

»Rosie in ein Spital?« fragte Hanna, »und krank werden und sich überanstrengen? Und von mir getrennt werden? Nein, Miß Prosser, keinen Beruf, bei dem sie nicht hier wohnen kann!«

»Freilich möchte ich bei dir bleiben, Hanna, aber in erster Linie muß ich dir helfen und darf dir nicht zur Last fallen.«

»Das ist brav gesprochen, Miß Fraser, nun habe ich Sie schon noch einmal so lieb!« rief Miß Prosser. »Wie wäre es mit dem Post- oder Telegraphendienst? Das lernt sich rasch.«

»Das würde ich nimmermehr zugeben!« sagte Hanna aufgeregt. »Rosie an einem Post- oder Telegraphenschalter, wo jeder beliebige Mensch sie angaffen und anreden kann, und in einem Bureau voll junger Männer! Das ist ganz unmöglich!«

»Ich bin nicht ganz im klaren, was Miß Fraser dabei passieren sollte,« versetzte Miß Prosser gereizt, »und ich wußte nicht, daß das Fräulein so viel heikler ist, als andre junge Mädchen, die selbständig dastehen müssen. Ich weiß nicht, wozu ich unter den Umständen noch raten soll, Hanna, Geld findet man eben nicht auf der Straße, und da sie nicht künstlerisch begabt ist, so wird es sehr schwierig sein, etwas andres, als einen dieser von Ihnen so verschmähten Posten zu finden.«

»Vorderhand wollen wir uns keine weiteren Sorgen machen, liebe Miß Prosser, sondern an unser Mittagessen denken. Rosie, willst du mir diese Vasen mit frischen Blumen füllen, solange ich in die Küche gehe? Dort ist ein Körbchen und eine Gartenschere. Nach unserm großen Diner wollen wir mit Nellie spazieren gehen und diese ernsthafte Sache ernstlich weiter besprechen.«

Als sie dies ausführten und miteinander über die grünen Wiesen von Chelsea dahin wanderten – Hanna trug das schlafende Kind – fragte Rosie ihre Freundin, weshalb sie sich denn allen Vorschlägen Miß Prossers widersetzt habe.

»Weißt du,« sagte sie, »ich würde mich gar nicht genieren, in einem öffentlichen Bureau angestellt zu sein; ich denke mir es sogar unterhaltend. Ich habe in Surbiton so einen weiblichen Postbeamten gekannt und das Mädchen war ganz vergnügt. Mama fand es natürlich sehr gemein, aber sie verachtet jede Arbeit; das thust du doch nicht!«

»Gewiß nicht, Rosie; keine ehrliche Arbeit kann je gemein sein. Doch würde ich dich eine derartige Stellung nur im äußersten Notfall annehmen lassen, sie paßt einmal nicht für dich.«

»Würdest du das deiner leiblichen Schwester auch sagen?«

»Nein, Liebste. Meine Schwester hätte auf niemand Rücksicht zu nehmen, als auf meine Mutter und mich.«

»Und auf wen habe ich denn Rücksicht zu nehmen? Meine Mutter hat mich verstoßen.«

»Auf – deinen Bruder« sagte Hanna zögernd, »Er und ich werden uns wohl nie wieder im Leben begegnen, aber ich wollte nicht, daß er je erführe, daß ich sein Schwesterlein so wenig behütet habe.«

»Hanna, ich möchte etwas fragen, aber du wirst böse werden.«

»Ich kann mir nicht denken, womit du mich böse machen könntest, Herzchen.«

»Ja, allein dies könntest du doch übelnehmen, aber, bitte, thue es nicht! Weißt du, an dem Morgen, nachdem Wilfrid mich hierher gebracht hatte, wo ich dich zum erstenmal sah, da sagte ich zu ihm – sei mir nicht böse, Hanna – ich sagte, daß ich glaube, daß du ihn lieb habest.«

Hanna war's, als ob sie ersticken müßte, und Thränen standen in ihren Augen, doch faßte sie sich und sagte lächelnd: »Du närrisches Kind! Wie kamst du nur darauf?«

»Weil er so lange bei euch gewohnt hatte und du ihn so gut kanntest und Wilfrid so ein lieber Mensch ist, daß ihn jedermann gern haben muß – nur diese gräßliche Lena nicht. Und dann, Hanna, du siehst immer traurig aus, wenn ich von ihm spreche, und du bist so gut gegen mich und denkst für mich, und behütest mich so, und da dachte ich, es sei –«

»Um seinetwillen? Würdest du mich lieber haben, wenn ich dir sagte, daß du recht hast? Würdest du mehr Vertrauen haben?«

»Mehr Vertrauen – das könnte ich nicht; aber ich würde mich freuen, zu wissen, daß Wilfrid dich auch geliebt hat.«

»Geliebt? O, nein, Kind, nein!« rief Hanna aufgeregt, »aber Freunde waren wir, die allerinnigsten Freunde.«

»Und werdet ihr nie mehr Freunde werden?«

»In diesem Leben nicht, Rosie.«

»Und das alles wegen dieser abscheulichen Lena, die seiner schon überdrüssig ist! O, wenn er doch dich geheiratet hätte!«

Hanna schwieg und Rosie berührte das Thema nicht wieder.

Wenige Tage darauf, nachdem ihre Koffer angekommen waren, brachte Rosie eine kleine, gemalte Photographie und bat Hanna, sie in ihrem Schlafzimmer aufzuhängen;, es war eine Madonna.

»Ich finde, das Jesuskind sieht Nellie ähnlich, und deshalb dachte ich mir, du würdest Freude daran haben,« erläuterte sie.

»Danke dir, mein Liebling! Wie hübsch das gemalt ist!«

»Findest du? Das habe ich gemalt; ich thue es so gern.«

»Du hast das gemalt – ja, aber warum hast du mir denn nicht längst gesagt, daß du das verstehst?«

»Ach, wozu nutzt denn das!« rief Rosie lachend.

»Zu sehr vielem, Kind. Setze deinen Hut auf; sofort gehen wir zu Mr. Denham, meinem alten Freunde,«

Das Resultat dieses Besuches war, daß Rosie Ewell, oder vielmehr Miß Fraser, in Mr. Denhams Atelier angestellt wurde, um Photographieen zu kolorieren; sie legte so viel Eifer und Geschicklichkeit dabei an den Tag, daß sie bald im stande war, sich vollständig selbst zu erhalten.


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