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(Luise Marain, 28 Jahre alt, schlank und schmächtig, mit blassem Gesicht und dunkelblauen Augen, unter denen tiefe Schatten liegen. Die Augenlider sind stark gerötet.
Ihr Anzug ist einfach und schmucklos, aber sauber.
Madame Savoncru, 47 Jahre, breites, rotes, lächelndes Gesicht, ein weißwollener Shawl in Form einer Kapuze über den graugesprenkelten, stark zurückgekämmten Haaren drapiert. Sie trägt eine große, blaue Schürze mit Taschen und einen Korb auf den Knieen.
Die Scene spielt im Tramway, Linie la Villette-Champs Elysées an einem Herbstabend um acht Uhr. Der Wagen hält an der Ecke des Boulevard Malesherbes und der Kondukteur ruft die Nummern ab: 74, 75, 76, 77 –«)
Luise:
»78? – da.«
(Sie reicht ihm das Billet, steigt rasch ein und setzt sich auf den einzigen, noch leeren Platz neben Madame Savoncru, die sie anfangs gar nicht bemerkt.)
(Madame Savoncru berührt leise ihren Arm):
»Nun, ist man so stolz geworden, daß man seine alten Freunde nicht mehr kennt?«
»Ach, Sie sind's, Madame Savoncru? Nein, das hätt' ich wirklich nicht gedacht. – Wie geht es Ihnen denn?«
Madame Savoncru:
»Nun, es könnte schlechter gehen. Ich hab' mich nicht zu beklagen. Immer gut bei Appetit – wenn ich nur nicht so dick wäre. Aber was wollen Sie? Man muß sich halt so aufbrauchen wie man ist, nicht wahr?« (Sie lacht.)
Luise (lächelnd):
»Nun, freilich. – Und wie geht das Geschäft?«
Madame Savoncru:
»O, so so, la la. – Man frettet sich eben so durch.«
Luise:
»Und Ihre Tochter?«
Madame Savoncru:
»O, die ist noch ganz wie sonst. Immer mit der Nase in den Büchern. Sie sieht und hört nichts anderes. Sie will jetzt als Lehrerin an irgend eine Staatsschule. Die schwierigste Stellung, die man sich denken kann, glaube ich. Aber das schreckt sie nicht ab.«
»Aber sie muß sich doch beinah den Kopf zerbrechen?«
Madame Savoncru:
»Nun, sie will es ja nicht anders, grade das macht ihr Freude. Mein Mann und ich hätten es lieber gesehen, daß sie uns im Laden die Kasse geführt hätte. Aber mein Gott, man ist doch nicht dazu da, seine Kinder unglücklich zu machen. Wenn sie es nicht durchsetzt, ist das Unglück ja schließlich nicht so groß. Wir haben dann wenigstens nicht die Verpflichtung, sie zu trösten, Savoncru und ich.«
Luise (nachdenklich, ohne jede Bitterkeit):
»Sie hat doch gute Eltern, Ihre Tochter, sie ist wirklich gut daran.«
Madame Savoncru (zögernd):
»Haben Sie – Ihre Tante schon lange nicht mehr gesehn?«
Luise:
»Seit zwei Jahren nicht mehr – seit –«
Madame Savoncru:
»Seit Sie nicht mehr bei ihr wohnen?«
Luise:
»Ja. Wie geht es ihr denn?«
»O ich glaube ganz gut. Aber wir sprechen uns selten – das heißt so gut wie gar nicht – guten Morgen – guten Abend – es regnet – schönes Wetter heute – das ist alles. Sie hat ihre Arbeit und ich auch, da ist keine Zeit zum schwätzen. (Kurze Pause.) Sind Sie denn immer noch bös miteinander?
Luise:
»Nein – es ist nur –«
Madame Savoncru:
»Sie wollen nichts mit ihr zu thun haben?«
Luise:
»O ich habe gar nichts gegen sie, aber – es ist nur, weil Viktor – aber wozu soll ich Ihnen alles das erzählen? Es hat ja keinen Zweck.«
Madame Savoncru:
»Aber vielleicht thut es Ihnen gut, einmal darüber zu sprechen.«
Luise (wendet sich ab):
»O Madame Savoncru.«
Madame Savoncru:
»Nun freilich – Kleine – freilich – man braucht ja nur Ihre Augen anzusehen. Man sieht Ihnen an, daß Sie öfter weinen wie lachen. – Gehn Sie, ich kann es mir ja sowieso denken, wie die Geschichte ist. Er hat Sie schließlich doch nicht geheiratet – Ihr schöner Viktor – ist es nicht so?«
Luise (senkt den Kopf).
Madame Savoncru:
»Nun, und was weiter? Das ist mir 'ne schöne Geschichte. Und jetzt sitzen Sie da, und es ist zu spät. – Es ist immer ein Glücksfall, wenn der Mann einen nicht sitzen läßt. Wenn ich Savoncru vor der Hochzeit nachgegeben hätte, wäre es mir ebenso gegangen. Er hätte mir ein Kind angehängt, und der Myrtenkranz wäre zum Teufel gewesen. Aber Savoncru ist ein anständiger Mensch.«
Luise (lebhaft):
»Das ist Viktor auch. Er kann es nur nicht leiden, wenn man ihn zu etwas zwingen will. Er hat eben seinen eigenen Kopf. Und wenn man ihm etwas aufzwingt, wird er wild. Tante ist ihm in die Quere gekommen.«
Madame Savoncru:
»Weshalb denn?«
Luise:
»Weil – Wissen Sie noch, damals, wie er mich immer besuchte –
Madame Savoncru:
»O, ich erinnere mich noch, als ob es gestern gewesen wäre.«
Luise:
»Er hatte einen ganz schönen Verdienst – 10 Franks pro Tag. Und ich brachte es bei Mlle. Cordely auf 5 Franks 60. Wir wären gar nicht schlecht dran gewesen, wenn wir geheiratet hätten. Ich hatte angefangen Modellrüschen und Jabots zu machen, die ich mir selbst ausdachte – so was wird sehr gut bezahlt. Ich wäre nie in Verlegenheit um Näherei gewesen, ich kann auch ganz gut schneidern, ich würde es nicht gerade riskieren, ein elegantes Jackett zu machen, aber eine Bluse oder meinetwegen auch einen Umhang bringe ich ganz gut fertig. Ich will mich damit nicht rühmen, aber es ist wirklich wahr, Madame Savoncru.«
Madame Savoncru:
»Ja, ich weiß, Sie waren immer so geschickt, aber warum ist denn die Heirat nicht zustande gekommen?«
Luise:
»Mein Gott – das Unglück hat es gewollt, daß Viktor eine Erbschaft machte. Es war ja nicht viel, so ein paar hundert Franks. – Also an einem Freitag Abend kommt er wie gewöhnlich zu uns. Aber er war nicht so lustig und nett wie sonst, er sah ganz sorgenvoll aus.
»Es ist zu dumm«, sagte er, »aber nun werde ich hinreisen müssen wegen der Erbschaft von meinem Onkel Scipio«.
»So«, sagte meine Tante, »war der Herr Onkel wohlhabend?«
»O, ein paar 1000 Franksscheine werden wohl dabei herauskommen«, sagt Viktor. Er wußte natürlich noch gar nicht, wieviel es war, er sagte das nur so, weil er es selbst hoffte.
»Also dann wünsche ich Ihnen gute Reise und fröhliche Rückkehr«, sagt meine Tante. Dann ging ich eine Flasche Weißwein und einen Liter Kastanien holen, und eine Stunde später ging er ganz wie immer fort. Es ging alles ganz anständig zu – – ich will mich nicht damit rühmen, aber damals wär ich ihm schön gekommen, wenn er keinen Respekt vor mir gehabt hätte.«
Madame Savoncru:
»Also ganz wie ein Mann, der weiß, was sich gehört – nicht wahr, Luise?«
Luise:
»Ja, so war er damals wirklich. Aber kaum ist er die Stiegen herunter, so fängt meine Tante an, »na, du wirst schon sehen«, sagt sie mir, »wie der sich aufspielen wird, wenn er erst das Geld hat, der Hanswurst. Da magst du nur zuschauen, wo du bleibst.« Und dann fängt sie an mir alles mögliche über ihn zu erzählen. – Aber es war mir ganz egal. Ich bin nun einmal so, wenn ich jemand gern hab', ist es mir ganz einerlei, was die andern über ihn reden.«
Madame Savoncru:
»Mir geht es ebenso. Ich bin ganz dumm mit meiner Vertrauensseligkeit. Es ist noch keine zehn Jahr her, seit ich angefangen habe, den Leuten nicht mehr zu borgen. Früher war ich immer gleich damit bei der Hand. Aber die Kunden sind nicht so zart wie man denkt. Nun und dann?«
Luise:
»Also ich gehe am nächsten Morgen ins Atelier. Es war gerade nicht viel zu thun und so kam ich schon um sechs Uhr wieder nach Haus. Die Thür ist verschlossen. Ich frage die Nachbarn, aber niemand wußte, wo meine Tante war. Dann geh ich zur Portiersfrau: »Wo ist denn meine Tante?« »Sie wird gleich wiederkommen«, sagt die, »da ist sie ja schon«. Und wirklich, sie kam gerade zurück und machte ein ganz komisches Gesicht. »Wo kommst du denn her?« frage ich. – »Ich komme von Viktor.« »Was wolltest du denn bei ihm?« – »Ich hab' deine Sachen hingebracht.« »Meine Sachen, was soll das heißen?« ich war ganz konfus. »Du hast meine Sachen zu Viktor getragen?« – »Ja.« – »Aber wozu?«
Madame Savoncru:
»Ja, was sollte denn das?«
Luise:
»Um mich mit ihm zusammenzubringen, verstehen Sie? Sie hatte genug davon, meine Mutter zu spielen, und weil ich den ganzen Tag für mich arbeitete um zu heiraten, so warf sie mich einfach heraus – das war die ganze Geschichte. Sie schickte mich ihm auf den Hals. Sie glaubte, er wäre dadurch gezwungen, seine Pflicht zu thun. – O Gott, wie hab' ich damals geweint. Auf den Knieen hab' ich vor ihr gelegen, Madame Savoncru, auf den Knieen. »Tante, Tante, schick mich nur nicht fort. Wo soll ich denn hin? Ich hab' weder Vater noch Mutter, ich hab' niemand auf der Welt wie dich, schick mich nicht fort.«
Aber sie wollte nicht hören. »Geh du nur zu ihm, wenn er dich heiratet, ehe er seine Erbschaft hat, muß er dich nachher auch behalten. Geh zu ihm, sag ich dir.« – Dann hat sie mich zur Thür hinausgestoßen. Ich war schlimmer dran wie ein verlaufener Hund. Zwei Stunden lang hab' ich auf der Straße gestanden und geweint. Dann bin ich gelaufen, immer weiter gelaufen wie eine Wahnsinnige, mitten in der Nacht. Um Mitternacht bin ich dann schließlich wieder zu meiner Tante gegangen. Sie hat mich nicht eingelassen. Und dann ging ich zu Viktor. Er schlief schon. Auf seiner Kommode lagen meine Kleider, meine Unterröcke, all meine Sachen. Als ich das sah, kam es mir vor, als ob es die abgelegten Kleider meines einstigen Selbst, die Kleider einer andern Luise seien, die jetzt gestorben war. – Dann wurde ich ohnmächtig.« – (Sie kann vor Bewegung nicht weiter sprechen.)
Madame Savoncru (mit Thränen in den Augen):
»Armes Kind – und warum hat Viktor? –«
Luise:
»Ich hab' es Ihnen ja schon gesagt. Es hat ihn geärgert, daß man ihn zwingen wollte. »Wir werden heiraten, wenn ich will, wenn es mir paßt, und es ist nicht gesagt, ob es mir überhaupt paßt«, das kriege ich jetzt alle Tage zu hören.«
Madame Savoncru:
»Aber glauben Sie nicht, daß er es doch schließlich thun wird – wegen den Kindern. Wenn Sie schon zwei haben, mein Gott, wegen den Kindern wird er es doch thun.«
Luise:
»Ich hab' doch nur die Kleine.«
Madame Savoncru (wirft einen vielsagenden Blick auf ihre Taille):
»Und eins unterwegs?«
Luise:
»In vier Monaten.«
Madame Savoncru (steht auf):
»Da sind wir schon an der Place Blanche. Ich muß aussteigen – ach Gott, es ist wirklich ein Elend. Was haben wir Frauen überhaupt von unserm Leben? es ist nicht der Mühe wert. Also adieu. Nur Mut und viel Glück! Geben Sie mir die Hand. – (Sie schütteln sich die Hände.) Haben Sie noch weit bis zu Haus?«
Luise:
»'Ne halbe Stunde.«
Madame Savoncru (im Hinausgehen):
»Ist es Ihnen nicht langweilig, so lange allein zu fahren?«
Luise:
»O nein, ich habe zu viel zu denken.«