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Anatoles Liebesleid

Anatole Loursain, 55 Jahre alt. Ganz Paris kennt ihn, den dicken Vaudevilledichter mit seiner großen Glatze, dem ewig lächelnden Komikergesicht und den lustig zwinkernden Augen. Jeder weiß, daß wir »Madame à la Migraine«, »Bols de Gargotes« und »Echec et mat« – den letzten großen Erfolg der » Folies Tragiques« – seiner Feder verdanken.

Madame Loursain, 40 Jahre, dabei immer noch eine begehrenswerte Erscheinung mit offenem, frischem Gesicht, klarem Teint und jugendlichem Mund. Die zurückfallenden Ärmel ihres Nachthemdes lassen die schön geformten, weißen Arme frei.

Es ist nämlich ein Uhr nachts. Monsieur und Madame Loursain sind eben aus dem Theater gekommen und ruhen jetzt auf dem gemeinsamen Lager. Ein Zwischenraum von etwa 40 Centimetern trennt sie voneinander. Aber dies schmale Stückchen weißes Leinen erfüllt seinen Zweck ebenso gut, als ob es ein breiter Fluß wäre, der zwischen ihnen dahinrauschte. Ein herzlicher Händedruck morgens und abends stellt für einen Augenblick eine Art Freundschaftsbrücke von einem Ufer zum andern her. Monsieur Loursain liest den Theaterbericht im Temps. Die Lektüre scheint ihn sichtlich zu befriedigen, trotzdem ballt er schließlich das Blatt zusammen, seufzt tief auf und löscht die Lampe aus.)

Madame Loursain:

»Bist du schon müde?«

Anatole:

»Ja.«

Madame Loursain:

»Ist Sarcey heute langweilig?«

Anatole:

»Im Gegenteil, sehr interessant.«

Madame Loursain:

»Was sagt er denn?«

Anatole:

»Ach, nichts Besonderes.«

Madame Loursain:

»Gute Nacht, mein Freund.«

Anatole:

»Gute Nacht, Claire.«

(Die Freundschaftsbrücke. – Lange Pause. – Madame Loursain liegt regungslos da und blickt mit weit offenen Augen ins Dunkle. Sie denkt nach. Anatole wälzt sich unruhig hin und her, sie hört, wie er unter dem Kopfkissen nach seinem Taschentuch sucht, sich leise schneuzt – dann ein verhaltnes Aufatmen wie von unterdrückten Thränen.)

Madame Loursain:

»Anatole.«

Anatole:

»Was denn?«

Madame Loursain:

»Du weinst?«

Anatole:

»Nein.«

Madame Loursain:

»Doch, ich höre es ja. Warum weinst du denn, mein Dicker?«

Anatole:

»Nein, ich weine nicht, ich hab nur Schnupfen. Ich habe mich heute abend, als wir aus den Nouveautés kamen, erkältet.«

Madame Loursain:

»Nicht wahr, das Stück von Eugène Pistouillet ist mehr wie trostlos? Der Saal war fast leer, und das an einem Sonntag, noch dazu bei der zweiten Aufführung – das elende Dings wird keine acht Aufführungen erleben – meinst du nicht auch?«

Anatole (düster):

»Kaum.«

Madame Loursain:

»Warum sagst du das so traurig? Freust du dich denn nicht darüber?«

Anatole (mit einer Stimme, die wie aus weiter Ferne herüberklingt):

»Es giebt Stunden im Leben, wo selbst der Hereinfall eines Kollegen einen kalt läßt.«

Madame Loursain:

»Aber solche Stunden sind äußerst selten. Und bei dir steckt fast immer eine unglückliche Liebe dahinter. Bist du denn schon wieder einmal verliebt, mein armer Schatz?«

Anatole (mit schwacher Stimme):

»Gott bewahre, was für eine Idee!«

Madame Loursain:

»Ja, ja, du bist wieder verliebt – du hast heute abend fast nichts gegessen. Und bei dir will das viel sagen. (Besorgt.) Wenn es nur keine zweite Madeleine Hébé ist – die hat dich wirklich unglücklich genug gemacht.«

Anatole:

»Sag nur ruhig: uns unglücklich gemacht. Du warst ja so eifersüchtig auf sie (mit naiver Wut), sie war schuld daran, daß du damals krank wurdest – das verfluchte Weibsbild. Das werde ich ihr niemals verzeihen. Nein, nein, diesmal ist es keine Madeleine Hébé, Gott sei Dank.«

Madame Loursain:

»Wer denn, Anatole?«

Anatole:

»Es ist – – aber – (er thut so, als ob er aus Zartgefühl nicht davon sprechen wollte) ich sehe nicht ein, wozu – mir scheint –«

Madame Loursain:

»Aber weshalb denn? Du hast vorhin geweint – du bist ganz traurig – so sag es mir doch – es wird dir wohl thun, dich auszusprechen.«

Anatole:

»Wenn meine Zeitgenossen das hörten, würden sie hart über mich urteilen. Es ist eigentlich doch nicht üblich, daß man seiner Frau solche Liebesgeschichten anvertraut.«

Madame Loursain:

»Seiner Frau vielleicht nicht. – Aber ich bin seit drei Jahren eigentlich nicht mehr deine Frau, mein Schatz. Ich bin deine Schwester, deine Freundin, deine alte Mama. Hast du nicht schon damals, wie wir noch ganz jung waren, immer gesagt, ich ginge mit dir um wie eine alte Henne mit ihrem Küchlein?«

Anatole:

»Und ich habe mich immer benommen wie ein Hanswurst – ja wirklich wie ein rechter Hanswurst.«

Madame Loursain:

»Mein Gott, aber du siehst doch, daß ich mich nicht verändert habe, ich bin immer noch die alte Henne, die ihr Küchlein beschützt, die Mama, die ihr Baby trösten muß. – Also, wer ist es denn? – sag es mir doch. – Natürlich eine Schauspielerin? – nicht wahr?«

Anatole:

»Nein, von denen hab ich genug. Und dann bin ich darin überhaupt derselben Ansicht wie Dumas junior – du kennst doch seinen berühmten Ausspruch? – (Im Anekdotenton.) Dumas wurde eines Tages beschuldigt, er habe ein Verhältnis mit einem sehr hübschen Mädchen, das in seinen Stücken auftrat. Er verteidigte sich mit den Worten: ›Ihr wißt doch selbst, daß ein Architekt niemals mit seinen Maurern Brüderschaft macht.‹«

Madame Loursain:

»Was beweist das? Höchstens, daß er ein undankbarer Mensch war, denn – –«

Anatole:

»Nun ja, aber im Princip hat er doch recht gehabt. – Weißt du nicht mehr, was für Unannehmlichkeiten ich mit Andrée Silouy gehabt habe?«

Madame Loursain:

»O ja, mit ihr wie mit allen andern. Gar nicht zu reden von der schon erwähnten Madeleine Hébé.«

Anatole:

»Ah, die steckt dir immer noch in den Gliedern?«

Madame Loursain:

»Ja, das ist wahr, aber ich begreife ganz gut, daß du sie schneller vergessen hast wie ich. – Nun, wer ist es denn aber diesmal? Wahrscheinlich irgend eine Cocotte?«

Anatole:

»Oho, Cocotte! Was du dir gleich denkst. Du übertreibst immer so. Mein Gott, sie ist nicht gerade eine Prinzessin, aber deshalb braucht sie doch noch keine Cocotte zu sein. Sie ist eine unabhängige, frei denkende Frau. (Kurze Pause.) – Und heute abend reist sie mit einem ihrer Freunde nach Rußland, er hat sie einfach gezwungen, mitzugehen.«

Madame Loursain:

»Ist es ein Russe?«

Anatole:

»Nein, ein Neger, aber er will den Winter in Moskau verleben.«

Madame Loursain:

»Und warum geht denn diese – – diese Dame mit ihm?«

Anatole:

»Ach warum? Immer dieselbe Geschichte. Warum thut man überhaupt etwas, was man lieber nicht thun möchte? – Warum? Das weißt du doch ebenso gut wie ich. Das Leben ist nun mal so – das verfluchte Leben! Sie muß einfach, die Unglückliche. Sie kann doch nicht nur von Couplets leben. Man darf auch nicht ungerecht sein.«

Madame Loursain:

»Du willst damit wohl sagen, daß sie nicht nur von deinen Couplets leben kann?«

Anatole:

»Kurz und gut. Sie muß mit ihm gehen. (Mit veränderter Stimme.) Sie ist sogar schon fort. – Sie muß jetzt schon über die belgische Grenze sein. – Mein Gott, wann werde ich das erste Telegramm von ihr bekommen?«

Madame Loursain:

»Morgen früh.«

Anatole:

»Glaubst du wirklich?«

Madame Loursain:

»Aber natürlich.«

Anatole:

»Wenn sie mir nur überhaupt telegraphieren kann. Der schwarze Kerl bewacht sie wie ein Argus, er ist fortwährend auf der Lauer. Und wenn er nur den geringsten Verdacht auf sie hat – bums giebt es eine Ohrfeige. Sie muß sich wie ein Teppich von ihm ausklopfen lassen, das arme Geschöpf.«

Madame Loursain:

»Und auf dich hat er keinen Verdacht?«

Anatole:

»Nein, ich bin zu dick, er hat unbegrenztes Zutrauen zu mir, weil ich so dick bin und –«

Madame Loursain:

»Und das mißbrauchst du in dieser Weise?«

Anatole:

»Nun, das ist doch immer so.«

Madame Loursain:

»Und die ganze Geschichte macht dir also wirklich Vergnügen?«

Anatole (fast weinend):

»Sehe ich etwa aus wie ein Mensch, der glücklich ist? – O Gott, nein. Ich leide, ich leide ganz entsetzlich. Siehst du, meine liebe, gute Claire, ich leide so darunter, weil ich fühle, daß ich trotz meiner 50 Jahre, trotz meiner Glatze und meinem grauen Bart innerlich noch so verzweifelt jung geblieben bin. Ja, ich bin viel zu jung geblieben, ich bin immer noch wie ein grüner Junge. Alles macht Eindruck auf mich, alles reißt mich mit fort. Und du, mein liebes, einziges Frauchen, du hast dein ganzes Leben damit zugebracht, meine Dummheiten zu vertuschen, wieder gut zu machen und mir immer wieder zu verzeihen. Und du thust das mit einem Takt, einer Milde und einem Edelmut, der – –« (er hält ganz überwältigt inne).

Madame Loursain (gerührt):

»Anatole! Komm, mein Schatz, beruhige dich doch. (Pause.) – Liebst du sie denn wirklich so?«

Anatole (feurig):

»Ich bin ganz weg in sie. Sie ist so chic. Stelle dir eine Frau vor, die für 5000 Franks mit Rubinen und Smaragden besetzte Schildkröten auf der Brust trägt und an der Taille lauter schwarze Iris –«

Madame Loursain:

»Das ist jedenfalls dem Neger zu Ehren.«

Anatole:

»Und alles das mit soviel Geschmack. Sie ist das Originellste, was man sich denken kann. Verstehst du, was ich meine?«

Madame Loursain:

»O ja, sehr gut.«

Anatole:

»Und zu denken, daß sie jetzt fort ist, daß ich sie nicht einmal in Gedanken begleiten kann – Gerade das ist so schrecklich!«

Madame Loursain:

»Aber wenn du im Kursbuch nachsiehst – kannst du ihr doch in Gedanken folgen.«

Anatole:

»Das ist ein Gedanke. (Er fährt rasch aus dem Bett.) Wo ist denn das Kursbuch?«

Madame Loursain:

»In deinem Arbeitszimmer, auf dem kleinen Sekretär am Fenster.«

Anatole:

»Ich will es gleich holen. (Er steckt die Lampe an.) Bist du sehr müde, Claire?«

Madame Loursain:

»Nein, warum meinst du?«

Anatole:

»Weil ich dich bitten möchte, mir ein bischen beim Nachschlagen zu helfen. Ich kann mich in den verwünschten Dingern nie zurecht finden.«

(Madame Loursain giebt keine Antwort. Sie setzt sich im Bett auf und ist mit Vergnügen bereit, mit ihrem Mann die Reiseroute des interessanten Flüchtlings von Paris nach Berlin zu verfolgen.)


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