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Die Feuer- und Wassertaufe hatte für die zwei Beteiligten doch ihre Folgen. Ein starkes Schnupfenfieber brach während der Nacht bei dem Kinde aus, und Felicitas erwachte am anderen Morgen mit heftigem Kopfweh. Sie besorgte trotzdem die ihr übertragenen Geschäfte mit gewohnter Pünktlichkeit, der verletzte Arm hinderte sie wenig, denn die vortreffliche Salbe hatte über Nacht bereits ihre Schuldigkeit gethan.
Nachmittags kehrte der Professor nach Hause zurück. Er hatte eben eine Augenoperation, an die sich bis dahin kein Arzt gewagt, glücklich ausgeführt. In Gang und Haltung offenbarte sich wie immer jenes ruhige, rücksichtslose Sichgehenlassen, das scheinbar durch nichts aus dem Gleichgewicht gebracht werden konnte, auch die kräftige Hautfarbe seines Gesichts war nicht um eine Nuance erhöhter – wer aber sein Auge kannte, dem mußte der ungewohnte Glanz auffallen, der unter den starken Brauen hervorleuchtete; diese kalten, stahlgrauen Augen, die nur gemacht schienen, prüfend und kühl sondierend in das Seelenleben anderer zu dringen, hatten also doch auch Momente, wo sie eigene innere Befriedigung und Wärme ausstrahlten.
Er blieb an der Hofthür stehen und frug Friederike, die mit einem Eimer voll Wasser in die Hausflur trat, nach ihrem Befinden.
»Mir geht es wieder gut, Herr Professor,« antwortete sie, ihren Eimer hinstellend, »aber die da drüben,« sie zeigte über den Hof hinweg nach einem Fenster im Erdgeschoß, »die Karoline hat gestern bei der Feuergeschichte eins weggekriegt. Ich hab' fast kein Auge zuthun können, so hat sie die ganze Nacht im Schlafe vor sich hingeschwatzt, und heute geht sie mit einem Kopfe 'rum, der wie Scharlach, und –«
»Das hätten Sie früher sagen sollen, Friederike,« unterbrach sie der Professor streng.
»Ich hab's auch der Madame gesagt, aber sie meinte, es würde sich schon wieder geben. Für die ist sein Lebtag kein Doktor geholt worden, und sie ist auch durchgekommen – Unkraut verdirbt nicht, Herr Professor! . . . Es hilft ja auch gar nichts, wenn man gut mit ihr sein will,« setzte sie entschuldigend hinzu, als sie sah, daß sich sein Gesicht auffallend verfinsterte; »sie war von klein auf ein verstocktes Ding und hat immer so apart gethan, wie ein Königskind – daß Gott erbarm', so ein Spielersmädchen! . . . Manchmal, wenn ich für die Madame was Gutes gebacken oder gebraten hatte, da hab' ich ihr auch ein paar Bissen hingestellt – lieber Gott, man hat ja doch auch ein Herz! Aber glauben Sie denn, sie hätte es angerührt? Ja, Gott bewahre – ich hab's allemal wieder forttragen müssen. Sehen Sie, Herr Professor, so machte sie's schon als Kind! Sie hat sich überhaupt immer nur halb sattgegessen von der Zeit an, wo der sel'ge Herr gestorben ist . . . Das ist aber alles die pure Verstocktheit und der sündhafte Hochmut, sie will nichts geschenkt haben, partout nicht! Ich hab's mit meinen eigenen Ohren gehört, wie sie dem Heinrich gesagt hat, wenn sie erst einmal das schreckliche Haus im Rücken hätte, da wollte sie arbeiten, daß ihr das Blut unter den Nägeln hervorkäme, und jeden verdienten Groschen an die Madame schicken, bis jeder Bissen Brot, den sie hier im Hause gegessen hätte, bezahlt wäre.«
Die alte Köchin bemerkte nicht, daß ihrem Zuhörer während ihres Herzensergusses das Blut immer mehr in das Gesicht stieg. Sie hatte kaum den letzten Satz beendet, als er, ohne ein Wort zu entgegnen, sofort über den Hof nach dem ihm bezeichneten Fenster schritt. Es war ein großes Bogenfenster mit steinerner Einfassung, das sehr tief auf den Boden herabging und zu der Kammer gehörte, in welcher Friederike und Felicitas schliefen. Die offenen Flügel ließen nackte, getünchte Wände und elende Gerätschaften sehen, es war jener enge, abscheuliche Raum, in welchem einst die kleine vierjährige Felicitas die ersten Sehnsuchtsschmerzen hatte durchleiden müssen . . . Jetzt saß sie da am Fenster, die Ausgestoßene, die Verstockte, die sich nicht satt aß in fremdem Brote, die arbeiten wollte, bis ihr das Blut unter den Nägeln hervorkam, um jede Verpflichtung trotzig abschütteln zu können – ein Stolz, der sich mit wahrhaft männlicher Unbeugsamkeit inmitten der tiefsten Demütigungen aufrecht erhalten hatte, eine energische Seele voll unerschöpflicher Kraft, und das alles in diesem jungen Geschöpfe, das sich da so kindlich lieblich, scheinbar im Schlafe, zusammenschmiegte. Ihr Kopf ruhte, vom untergelegten Arme gestützt, auf dem Fenstersims, die atlasweiße Haut des Gesichts und die schimmernde Pracht der Haare hoben sich scharf ab von dem verwitterten, grauen Gestein. Unschuldig still und leidvoll erschien das reine Profil mit den sanftgeschlossenen Lippen und den schwermütig herabgeneigten Mundwinkeln – lagen doch die dunklen Wimpern tief auf der bleichen Wange und bedeckten die Augen, die so oft in Groll und Erbitterung aufblitzten.
Der Professor war geräuschlos herangetreten, er betrachtete sie einen Moment unbeweglich, dann bog er sich zu ihr nieder.
»Felicitas!« klang es weich und mitleidsvoll von seinen Lippen.
Sie fuhr empor und starrte wie ungläubig in die Augen, die auf sie niedersahen – ihr Name, von ihm ausgesprochen, hatte sie wie ein elektrischer Schlag berührt. Aber ihre Gestalt, die eben noch wie ein harmloses Kind sich elastisch zusammengeschmiegt hatte, sie stand urplötzlich da, in jedem Muskel gespannt, gleichsam aufhorchend, als gelte es, einen feindlichen Angriff abzuwehren.
Der Professor ignorierte diese Umwandlung völlig.
»Ich höre von Friederike, daß Sie leidend sind,« sagte er in dem gewohnten, ruhig freundlichen Ton des Arztes.
»Ich fühle mich wieder wohl,« antwortete sie gepreßt. »Ungestörte Ruhe stellt mich stets rasch wieder her.«
»Hm – Ihr Aussehen jedoch,« er vollendete den Satz nicht, streckte aber ohne weiteres den Arm herein und wollte ihr Handgelenk ergreifen. Sie wich einige Schritte tiefer ins Zimmer zurück.
»Seien Sie vernünftig, Felicitas!« ermahnte er, immer noch freundlich ernst, aber seine Brauen runzelten sich finster, als das Mädchen bewegungslos stehen blieb, während sie die Arme beinahe krampfhaft fest um ihre Taille legte. Trotz des dichten Bartes konnte man sehen, wie er zornig die Lippen zusammenkniff.
»Nun, so werde ich nicht mehr als Arzt, sondern als Vormund zu Ihnen sprechen,« sagte er in hartem Tone, »und als solcher befehle ich Ihnen, sofort hierher zu kommen!«
Sie sah nicht auf, ihre Wimpern legten sich vielmehr noch tiefer auf die Wangen, die eine glühende Röte bedeckte, und ihre Brust hob und senkte sich im schweren inneren Kampfe, aber sie kam langsam heran und reichte ihm schweigend, mit weggewandtem Gesichte, die Hand hin, die er sanft in die seine nahm . . . Diese außerordentlich schmale, kleine, aber hartgearbeitete Hand zitterte so heftig, daß es wie ein tiefes Erbarmen durch die ernsten Züge des Professors ging.
»Thörichtes, eigensinniges Kind, da haben Sie mich nun wieder einmal gezwungen, mit aller Strenge gegen Sie aufzutreten!« sagte er mit mildem Ernste. »Und ich hätte gewünscht, daß wir ohne weitere Feindseligkeiten auseinandergehen sollten . . . Haben Sie denn gar keinen anderen Blick für mich und meine Mutter, als den eines unauslöschlichen Hasses?«
»Man kann nicht anders ernten wollen, als man gesäet hat!« entgegnete sie mit halberstickter Stimme. Sie strebte fortwährend sich loszuwinden, und ihre Augen hafteten mit einem so still entsetzten Ausdruck auf den Fingern, die ihr Handgelenk weich, aber kräftig umschlossen, als seien sie glühendes Eisen.
Jetzt ließ er ihre Hand rasch fallen. Milde und Mitleid verschwanden aus seinen Zügen, er stieß mit der Spitze seines Stockes ärgerlich nach einigen schuldlosen Grashalmen, die zwischen dem Gefüge des Pflasters sproßten – Felicitas atmete auf, so sollte er sein, rauh, hart; sein mitleidsvoller Ton war ihr entsetzlich.
»Immer derselbe Vorwurf,« sagte er endlich kalt. »Ihr übermäßiger Stolz mag freilich oft genug verwundet worden sein; war es doch gerade unsere Aufgabe, Sie auf möglichst gemäßigte Ansprüche zurückzuführen . . . Ich kann getrost Ihren Haß auf mich nehmen, denn ich habe nur Ihr Bestes gewollt; und meine Mutter? . . . nun, ihre Liebe mag schwer zu gewinnen sein, das will ich nicht bestreiten, aber sie ist unbestechlich gerecht, und schon ihre Gottesfurcht wird nicht zugelassen haben, daß Ihnen wirkliches Leid und Unrecht geschehe . . . Sie sind im Begriff, hinauszutreten in die Welt und sich auf eigene Füße zu stellen, dazu bedarf es in Ihrer Lage vor allem der Fügsamkeit . . . Wie soll Ihnen der Verkehr mit den Menschen überhaupt möglich werden bei Ihren falschen Ansichten, die Sie so eigensinnig festhalten? Wie wollen Sie je auch nur ein Herz gewinnen mit diesen trotzigen Augen?«
Sie hob die Wimpern und sah ihn ruhig und fest an.
»Wenn man mir beweist, daß meine Ansichten der Moral und der reinen Vernunft gegenüber nicht Stich halten, dann will ich sie gern fallen lassen,« entgegnete sie mit ihrer tiefen, ausdrucksvollen Stimme. »Aber ich weiß, ich stehe nicht allein mit der Ueberzeugung, daß keinem Menschen, und sei er, wer er wolle, das Recht zukommt, andere zu geistigem Tode zu verurteilen; ich weiß, daß tausend andere mit mir fühlen, wie ungerecht und strafbar es ist, einer Menschenseele die Berechtigung des Aufwärtsstrebens abzusprechen, weil sie in einem niedrig geborenen Leibe wohnt . . . Ich gehe getrost hinaus unter die Menschen, denn ich habe Vertrauen zu ihnen und hoffe zuversichtlich, diejenigen zu finden, denen ich ganz gewiß nicht trotzig gegenüberstehen will . . . Ein unglückliches Menschenkind wie ich, das unter gemütlosen Seelen leben muß, hat keine andere Waffe, als seinen Stolz, keine andere Stütze, als das Bewußtsein, daß es auch Gottes Kind, Geist von seinem Geiste ist. Ich weiß, daß für ihn alle die Stufen und Schranken in der menschlichen Gesellschaft nicht bestehen – sie sind Menschenerfindung, und je kleiner und erbärmlicher die Seele, um so fester hält sie an ihnen.«
Sie wandte sich langsam um und verschwand hinter der Thür, die nach der Gesindestube führte, und er stand draußen und starrte ihr nach, dann drückte er den Hut tief in die Stirne und schritt dem Hause zu. Was in diesem gesenkten Kopfe vorging, vermochte wohl niemand zu ergründen; so viel aber war gewiß, jener Glanz seiner Augen, den er vorhin mit heimgebracht, war verflogen – es lag wie ein finster brütender Geist auf den stark gefurchten Brauen.
In der Hausflur standen der Rechtsanwalt Frank und Heinrich beisammen. Der Professor sah rasch, wie erwachend, auf, als ihre Stimmen sein Ohr berührten.
»Nun, du hast Patienten im Hause, Professor?« fragte der Rechtsanwalt, indem er ihm die Hand reichte. »Die Feuergeschichte hat fatale Folgen, wie ich höre – das Kind –«
»Hat ein tüchtiges Schnupfenfieber,« ergänzte der Professor trocken. Er schien offenbar nicht in der Laune, sich auf weitere Erörterungen einzulassen.
»Ach, Herr Professor, das hat ja wohl nicht viel zu bedeuten!« meinte Heinrich. »Das Kind ist einmal eine arme kranke Kreatur und pimpelt den ganzen Tag – wenn aber so ein Mädchen, wie die Fee, der das ganze Jahr keine Ader weh thut, den Kopf hängt, da kommt einem die Angst.«
»Nun, von der Kopfhängerei habe ich nicht viel bemerken können,« sagte der Professor mit auffallend scharfer Stimme, – man sah, wie unter dem Barte die Mundwinkel ironisch zuckten. » Der Kopf sitzt fest wie irgend einer, darauf kannst du dich verlassen, Heinrich!«
Er schritt mit dem Rechtsanwalt die Treppe hinauf. Auf den obersten Stufen kam ihnen Aennchen entgegen; sie war barfuß und im Nachtkleidchen, auf dem gedunsenen Gesichtchen glühten Fieberflecken und die Augen waren geschwollen vom Weinen.
»Mama fort, Rosa fort, Aennchen will Wasser trinken!« rief sie dem Professor entgegen. Er nahm sie erschrocken auf den Arm und trug sie in das Schlafzimmer zurück – niemand war zu sehen. Erzürnt rief er nach dem Mädchen. Eine ferne Thür ging auf, und mit erhitztem Gesicht, das Bügeleisen in der Hand, kam Rosa herbeigelaufen; dort in dem Zimmer blähte sich eine ungeheure, blütenweiße Mullwolke auf dem Bügelbrette.
»Wo stecken Sie denn? Wie können Sie das Kind allein lassen?« fuhr er sie an.
»Ach, Herr Professor, ich kann mich doch nicht in Stücke teilen,« verteidigte sich das junge Mädchen, fast weinend vor Aerger. »Die gnädige Frau muß durchaus ein frischgewaschenes Kleid morgen früh haben – das Waschen und Bügeln nimmt ja gar kein Ende mehr – wenn Sie nur wüßten, solch ein Kleid ist eine Heidenarbeit –«
Sie hielt inne, der Rechtsanwalt brach in ein lautes Gelächter aus.
»O, über die Frau im einfachen weißen Mullkleide!« rief er und hielt sich die Seiten, denn das finster verlegene Gesicht des Professors erschien ihm urkomisch.
»Die gnädige Frau meinten,« nahm Rosa ihre Verteidigungsrede wieder auf, »es sei ja doch nur ein leichtes Schnupfenfieber bei Aennchen, sie könnte ganz gut einmal auf ein halbes Stündchen allein bleiben; sie hat ihr allerhand Spielzeug aufs Bettchen gegeben –«
»Und wo ist meine Kousine?« unterbrach der Professor sie rauh.
»Die gnädige Frau sind mit Madame Hellwig in den Missionsverein gegangen.«
»So,« schnitt er ihren Bericht kurz ab – er sah grimmig aus. »Jetzt gehen Sie und machen Sie den Plunder fertig!« befahl er, nach der Thür zeigend, aus der sie gekommen war, dann rief er nach Friederike, aber die alte Köchin steckte mit beiden Händen in einem eben angerührten Teige und schickte Felicitas.
Das junge Mädchen kam die Treppe herauf. Noch lag die feine Röte innerer Bewegung auf ihren Wangen, doch ihr Auge streifte kühl und ernst das aufgeregte Gesicht des Professors. Sie blieb in ruhig fester Haltung stehen und erwartete schweigend seine Befehle. Es kostete ihm augenscheinlich große Ueberwindung sie anzureden.
»Die kleine Anna ist ohne Aufsicht – wollen Sie bei ihr bleiben, bis ihre Mutter zurückkommt?« fragte er endlich; einem aufmerksamen Ohre konnte es nicht entgehen, daß er seine Stimme zu einem freundlichen Tone zwang.
»Sehr gern,« antwortete sie unbefangen, »aber ich habe ein Bedenken – die Frau Regierungsrätin liebt es nicht, das Kind mit mir zusammen zu sehen. Wollen Sie die Verantwortlichkeit übernehmen, so bin ich bereit.«
»Ja wohl, das will ich.«
Sie schritt ohne weiteres in das Schlafzimmer und schloß die Thür. Der Rechtsanwalt sah ihr mit aufleuchtenden Augen nach.
»Fee nennt sie Heinrich seltsamerweise,« sagte er zu dem Professor, während er neben ihm die Treppe nach dem zweiten Stocke hinaufstieg, »und so sonderbar auch der Name auf seiner derben Zunge klingt, auf die Erscheinung paßt er prächtig . . . Ich muß aufrichtig gestehen, ich begreife nicht, wo ihr, du sowohl wie deine Mutter, den Mut hernehmt, dies merkwürdige Mädchen eurer alten Köchin und dem naseweisen Kammerkätzchen da unten gleichzustellen.«
»Ah – wir hätten sie in Samt und Seide wickeln sollen, meinst du?« rief der Professor so heftig gereizt, wie ihn sein Freund noch nie gesehen. »Und weil dem Hause Hellwig eine Tochter versagt ist, so hätte, deiner Ansicht nach, der leere Platz nicht vortrefflicher ausgefüllt werden können, als mit dieser Fee, oder besser ›Sphinx‹, wie ich sie nenne . . . du bist von jeher ein Schwärmer gewesen! . . . Uebrigens steht es dir frei« – sein Ton vibrierte vor innerer Aufregung – »die Tochter des Taschenspielers zur Frau Frank zu machen – meinen Segen als Vormund hast du!«
Das feine Gesicht des Rechtsanwaltes errötete bis unter den lockigen Haarstreifen über der Stirne. Er sah einen Moment angelegentlich durch das Fenster hinunter auf den Marktplatz – sie hatten im Gespräch das Zimmer des Professors betreten – dann wandte er sich lächelnd um.
»So, wie ich das innerste Wesen des Mädchens auffasse, wird sie sich schwerlich um deinen vormundlichen Segen kümmern; ich würde mithin lediglich auf ihre Entscheidung angewiesen sein,« entgegnete er nicht ohne leisen Spott, »und wenn du meinst, mein Ohr mit der Bezeichnung ›Taschenspielerstochter‹ zu erschrecken, so irrst du dich gewaltig, mein sehr verehrter Professor . . . Du freilich, bei deinen Grundsätzen, würdest einen solchen Gedanken nicht ohne gewaltige Nervenerschütterung ausdenken – ein Spielerskind mit warmem, raschem Herzschlag und das kühle Blut ehrenfester Kauf- und Handelsherren, das fein gemessen durch deine Adern fließt – das ginge freilich nun und nimmer – die dort müßten sich ja samt und sonders im Grabe umdrehen!«
Er zeigte durch die offene Thür in die anstoßende große Erkerstube. Dort an der langen Wandseite hing eine Reihe vortrefflich gemalter männlicher Oelbilder, stattliche, behäbige Gestalten mit funkelnden Diamanten an den Fingern und auf dem zierlich gefältelten Busenstreifen. Das waren verschiedene Bürgermeister und Kommerzienräte, die einst den Namen Hellwig getragen hatten.
Der Professor ging hinüber in das Zimmer – die Nadelstiche des Spottes schienen an ihm abzugleiten. Er kreuzte die Arme über der Brust und schritt einigemal unter den Bildern auf und ab.
»Sie haben tadellos dagestanden im Leben,« sagte er plötzlich stehen bleibend. »Ob jeder ohne innere Anfechtung und Kämpfe diese makellose äußere Würde und Haltung behauptet hat – ich glaube es nicht. Die menschliche Natur hat viel Sprödes, sie widerstrebt da meist am hartnäckigsten, wo sie gehorchen muß . . . Alle diese Opfer sind Steine zu einem soliden Bau gewesen, und dieser Bau heißt ›das Haus Hellwig‹. Sollen sie gefordert und gebracht worden sein, damit ein Enkel kommt und sie mit einem Fußtritte wie ein Kartenhaus umstößt? . . . Gott soll mich bewahren!«
Es sah fast aus, als habe er mit diesen Worten einen inneren Konflikt gelöst, denn die seltene Gereiztheit, die Frank mit Verwunderung an ihm beobachtet hatte, war verschwunden, als er in sein Zimmer zurückkehrte. –
Felicitas mochte vielleicht eine halbe Stunde am Bette des Kindes gesessen haben, als die Regierungsrätin nach Hause kam. Ihr Gesicht verfinsterte sich sofort beim Erblicken des jungen Mädchens.
»Wie kommen Sie hierher, Karoline?« fragte sie scharf, indem sie ihren Sonnenschirm auf das Sofa warf und hastig ihre seinen dänischen Handschuhe abstreifte. »Ich habe Sie doch sicher nicht um diese Dienstleistung ersucht!«
»Aber ich!« sagte der Professor mit harter Stimme, der plötzlich hinter ihr auf der Schwelle der offenen Thür erschien. »Dein Kind brauchte Aufsicht, es kam mir barfuß auf der Treppe entgegen.«
»Nicht möglich! . . . Ja, Aennchen, wie konntest du denn so unfolgsam sein?«
»Bist du wirklich im Zweifel, Adele, wer hier den Vorwurf verdient,« fragte der Professor noch immer sich beherrschend, aber es grollte bereits in seiner Stimme.
»Mein Gott, ich bin ja trostlos über dies pflichtvergessene Geschöpf, die Rosa! . . . Sie hat auf der Gotteswelt nichts zu thun, als das Kind zu beaufsichtigen, aber ich weiß schon, man darf nur den Rücken wenden, da gafft sie zum Fenster hinaus, steht vorm Spiegel –«
»Zufällig steht sie in diesem Augenblicke am Bügelbrette und richtet im Schweiße ihres Angesichtes ein Kleid her, das du à tout prix morgen anziehen mußt,« unterbrach sie der Professor, in schneidendem Hohne jedes Wort markierend.
Sie erschrak heftig. Die tödlichste Verlegenheit spiegelte sich momentan auf ihrem Gesichte, allein sie faßte sich rasch.
»Gott, wie albern!« rief sie unmutig die weiße Stirne runzelnd, »da hat sie mich wieder einmal völlig mißverstanden – ich habe häufig das Unglück!«
»Gut,« unterbrach er sie beharrlich, »wir wollen dies Mißverständnis gelten lassen, aber wie mochtest du ihr, deren Unzuverlässigkeit du eben hervorhobst, dein krankes Kind allein anvertrauen?«
»Johannes, mich rief eine heilige Pflicht!« antwortete die junge Witwe nachdrücklich mit einem schwärmerischen Aufschlag ihrer schönen Augen.
»Deine heiligste ist die Mutterpflicht!« rief er – in diesem Augenblicke war er sehr zornig. »Ich habe dich nicht hierhergeschickt, um in Missionsangelegenheiten thätig zu sein, sondern einzig und allein des Kindes wegen!«
»Um Gottes willen, Johannes, wenn die Tante und mein Papa dich hörten! . . . Früher dachtest du anders!«
»Das gebe ich dir vollkommen zu. Eigenes Denken aber wird uns stets auf den unerschütterlich festen Satz der Moral zurückführen, daß wir zunächst unsere ganzen Kräfte dem Boden zuwenden sollen, auf den uns die Vorsehung gestellt hat – und wenn du dereinst hundert aus dem Heidentume gerettete Kinderseelen dem Ewigen aufzählen kannst, sie werden nicht um ein Jota den Vorwurf rechtfertigen, daß du dein eigenes darüber hast zu Grunde gehen lassen!«
Das Gesicht der Regierungsrätin glühte wie eine Päonie. Sie rang nach Fassung und der gewohnten Sanftmut, und es gelang ihr.
»Sei nicht so streng gegen mich, Johannes!« bat sie. »Bedenke, daß ich ein schwaches Weib bin, aber gewiß immer nur das Beste will . . . Habe ich gefehlt, so ist es wohl auch hauptsächlich aus Liebe zu deiner guten Mutter geschehen, die meine Begleitung wünschte – es soll aber gewiß nicht wieder vorkommen.«
Die Regierungsrätin hatte mit dem weichsten Tone ihrer flötenartigen Stimme gesprochen und bot dem Professor lieblich lächelnd die Hand. Sonderbar, der ernste Mann errötete wie ein junges Mädchen – es war ihm wohl selbst unbewußt, daß ein scheuer Seitenblick rasch nach der hinüberstreifte, die mit gesenkten Lidern am Bette des Kindes saß – er erfaßte zögernd die Hand mit zwei Fingern und ließ sie sofort wieder fallen . . . Die zwei Taubenaugen, welche bittend und unverwandt auf seinem Gesichte geruht hatten, funkelten auf, und das Gesicht erblaßte, aber die Sanftmut wurde tapfer behauptet. Die junge Frau nahm den Kopf ihres Kindes zwischen ihre Hände und hauchte einen Kuß auf die kleine, fieberglühende Stirne.
»Ich kann nun Aennchens Pflege wieder übernehmen und danke Ihnen herzlich, liebe Karoline, daß Sie mich einstweilen vertreten haben,« sagte sie freundlich zu Felicitas.
Das junge Mädchen erhob sich rasch, aber die Kleine brach in ein bitterliches Weinen aus und umklammerte mit beiden Händchen fest ihren Arm.
Der Professor prüfte den Puls des Kindes.
»Sie hat starkes Fieber; ich darf durchaus nicht zulassen, daß sie sich noch mehr aufregt,« sagte er mit kalter Freundlichkeit zu Felicitas. »Sie bringen wohl das Opfer, dazubleiben, bis sie eingeschlafen sein wird?«
Sie nahm schweigend ihren Platz wieder ein, und er ging hinaus. Zu gleicher Zeit eilte die Regierungsrätin in ihr Wohnzimmer und ließ die Thür hinter sich ziemlich unsanft ins Schloß fallen. Felicitas hörte, wie sie drin mit raschen Schritten auf und nieder lief. Plötzlich klang ein scharfes Geräusch, wie das Zerreißen irgend eines Gewebes, durch die Thür. Aennchen richtete sich horchend auf und fing an zu zittern; das Geräusch wiederholte sich und folgte immer rascher aufeinander.
»Mama, Aennchen will artig sein, will's nicht wieder thun! Ach, Mama, Aennchen nicht patschen!« rief das Kind plötzlich wie außer sich.
In dem Augenblicke trat Rosa in das Zimmer. Das frische Gesicht des Mädchens sah blaß und erschreckt aus.
»Sie zerreißt wieder einmal – ich hörte es auf dem Vorplatze,« murmelte sie mit einem unsäglich verächtlichen Ausdruck zu Felicitas hinüber. »Still, Herzchen,« flüsterte sie dem Kinde beschwichtigend zu, »Mama thut dir nichts; sie kommt nicht heraus und wird bald wieder gut!«
Drüben wurde eine Thür zugeschlagen, die Regierungsrätin hatte sich entfernt. Rosa ging in das Wohnzimmer und kam gleich darauf mit einem Bündel weißer Fetzen in der Hand zurück.– Es waren die Ueberreste eines ehemaligen Batisttaschentuches.
»Wenn sie in Wut kommt, so kennt sie sich selbst nicht mehr!« grollte das Mädchen flüsternd. »Da zerreißt sie, was sie gerade unter den Händen hat, und schlägt auch ohne Gnade und Barmherzigkeit zu – das weiß der arme, kleine Tropf da recht gut.«
Felicitas drückte das Kind an ihre Brust, als müsse sie es vor den Zornausbrüchen der leidenschaftlichen Mutter schützen; ihre Besorgnis war jedoch ohne Grund. Die Stimme der Regierungsrätin klang plötzlich in ihrer Glockenreinheit vom Vorsaale her; sie plauderte heiter mit dem die Treppe herabkommenden Rechtsanwalt, und als sie bald darauf das Schlafzimmer wieder betrat, war ihr Aussehen schöner und anmutiger denn je. Die Zornröte lag noch als zart hingehauchter Karmin auf den sanft gerundeten Wangen, und wer hätte bei dem ganzen lieblichen Gesichtsausdruck den auffallenden Glanz der Augen für etwas anderes, als die erhöhten Regungen einer schönen weiblichen Seele halten mögen?