Eugenie Marlitt
Das Geheimnis der alten Mamsell
Eugenie Marlitt

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11.

Heinrich schloß die Hausthür, und Felicitas stieg die Treppe hinauf. Der schmale Gang mit seiner dumpfen, eingeschlossenen Luft, der sich da oben seitwärts abzweigte, wie lieb und traut umfing er das junge Mädchen, das eilig hindurch schlüpfte! Dann kam ein stiller, abgelegener Vorplatz; auf schiefe Wände, ein plumpes, wurmzerfressenes Treppengeländer, das unten aus unheimlicher Dämmerung emporstieg, und auf eine uralte, mit steifgemalten Tulpen und ziegelroten Rosen bedeckte Thür fiel hier ein falber Lichtschein, den bouteillengrüne Gläser hineinwarfen. Felicitas zog einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete geräuschlos die Thür, hinter welcher eine schmale, dunkle Treppe nach der Mansarde führte.

Das junge Mädchen hatte den halsbrechenden Weg über die Dächer nur ein einziges Mal machen müssen, von jenem Momente an war ihr der Eintritt in die abgeschiedene Klause der alten Mamsell unverwehrt. Während der ersten Jahre hatten sich ihre Besuche auf den Sonntag beschränkt, sie war dann in Heinrichs Begleitung hinaufgegangen. Nach ihrer Konfirmation jedoch hatte ihr die alte Mamsell den Schlüssel zu der gemalten Thür übergeben, und seitdem benutzte sie jeden freien Augenblick, um hinaufzuschlüpfen . . . sie führte sonach ein Doppelleben. Es war nicht nur äußerlich, daß sie dabei Höhe und Tiefe berührte, zwischen trüber Dämmerung und klarem Sonnenlichte wechselte – ihre Seele machte dieselbe Wandelung durch, und allmählich war sie so erstarkt, daß zuletzt alle Schatten, alles Trübe der unteren Region hinter ihr blieben, sobald sie die schmale, dunkle Treppe hinaufstieg . . . Unten handhabte sie Bügeleisen und Kochlöffel; ihre sogenannte Erholungszeit mußte sie ausfüllen mit Stickereien, deren Ertrag zu wohlthätigen Zwecken bestimmt war, wie wir bereits gesehen haben, und außer der Bibel und einem Gebetbuche wurde ihr jede Lektüre streng verweigert. In der Mansarde dagegen erschlossen sich ihr die Wunder des menschlichen Geistes. Sie lernte mit wahrer Begierde, und das Wissen der rätselhaften Einsamen da droben war wie ein unerschöpflicher Quell, wie ein geschliffener Diamant, dem nach jeder Richtung hin Funken entsprühen . . . Außer Heinrich wußte niemand im Hause um diesen Verkehr, die leiseste Ahnung seitens der Frau Hellwig würde ihm natürlicherweise sofort den Todesstoß versetzt haben. Trotzdem hatte die alte Mamsell dem Kinde stets eingeschärft, streng die Wahrheit zu sagen, wenn es jemals darum befragt werden sollte. Dazu kam es indes niemals; Heinrich wachte treulich, er stand auf der Lauer und hatte Augen und Ohren offen.

Die dunkle Treppe war erklommen. Felicitas blieb horchend vor einer Thür stehen, schob einen kleinen Schieber an derselben seitwärts und blickte lächelnd hinein. Da drin ging es toll zu – es war ein seltsames Gemengsel von Singen, Piepen und Schreien. Inmitten des Raumes erhoben sich zwei Tannen; die Wände entlang liefen Boskette, wie sie ein Garten nicht frischer aufweisen konnte, und auf dem Gezweige hauste ein lustiges Vogelgesindel. Das war das Lebendige, das sich die alte Mamsell in ihre stille Einsiedelei heraufgeholt hatte. Die kleinen melodischen Kehlen sangen zwar immer die nämlichen Weisen, aber dafür hatten sie auch nicht jene unselige Wandelung der Menschenzunge, die heute »hosianna« und morgen »kreuzige« ruft.

Felicitas schloß den Schieber und öffnete eine zweite Thür. Der Leser hat bereits vor Jahren einen Blick in diesen epheuumsponnenen Raum geworfen, er kennt die Versammlung ernster Köpfe, die sich an den Wänden hinreiht, aber er weiß nicht, daß sie in innigem Zusammenhange stehen mit jenen großen, in roten Maroquin gebundenen Büchern, welche dort in einem altväterischen Glasschranke aufgeschichtet liegen . . . Es ist eine gewaltige Flut, die von jenen Stirnen ausgegangen – wer sie zu entfesseln versteht, der kennt keine Einsamkeit, kein Verlassensein . . . Die großen Tonmeister verschiedener Zeiten waren es, welche in Bild und Werken das Asyl der alten Mamsell teilten, und wie sich die Epheuranken vermittelnd und unparteiisch um alle Büsten schlangen, ebenso vorurteilslos begeisterte sich die einsame Klavierspielerin an der altitalienischen, wie an der deutschen Musik. Der Glasschrank barg aber auch noch Schätze, die einen Autographensammler in Ekstase hätten versetzen können. Manuskripte und Handschriften jener gewaltigen Männer, die meisten von seltenem Werte, lagen in Mappen hinter den Scheiben. Diese Sammlung war in früheren Jahren zusammengetragen worden, wo, wie die alte Mamsell lächelnd meinte, ihr Blut noch feurig durch die Adern gerollt sei und hinter den Wünschen noch die Energie gestanden habe – manches vergilbte Blatt war mit bedeutenden Opfern und seltener Ausdauer errungen worden.

Felicitas fand die alte Mamsell in einem Zimmer hinter der Schlafstube. Sie kauerte auf einem Fußbänkchen vor einem geöffneten Schranke, und um sie her auf Stühlen und Fußboden lagen Rollen weißer Leinwand, Flanell und eine Menge jener kleinen Gegenstände, die das Menschenkind sofort nach seinem ersten Schrei beansprucht. Die alte Dame wandte den Kopf nach der Eintretenden. Ihre feinen Züge hatten sich merkwürdig verändert, und wenn sie auch jetzt eben lebhafte Freude ausdrückten, so konnten doch damit die Spuren des Verfalles nicht verwischt werden.

.,Gut, daß du kommst, meine liebe Fee!« rief sie dem jungen Mädchen entgegen. »Bei Tischler Thienemann kann alle Augenblicke der Storch ins Haus fliegen, wie mir eben die Aufwartefrau sagte, und die Leute haben auch nicht das kleinste Stückchen Wäsche für das arme Kindchen . . . Unser Vorrat ist noch recht anständig, wir werden ein ganz hübsches Bündel zusammenbringen, nur daran fehlt es« – sie setzte ein Mützchen von rosa Kattun auf ihre kleine Faust und hielt eine schmale weiße Spitze daran. »Das könntest du gleich fertig machen, Fee,« fuhr sie fort; »die Sachen müssen aus jeden Fall heute abend noch hingeschafft werden.«

»Ach, Tante Cordula,« sagte Felicitas, indem sie Nadeln und Faden zur Hand nahm, »damit ist den Leuten nicht allein geholfen – ich weiß ganz genau, Meister Thienemann braucht auch Geld, und zwar fünfundzwanzig blanke Thaler.«

Die alte Mamsell überlegte.

»Hm, es ist ein wenig viel für meine gegenwärtigen Finanzen,« meinte sie, »aber es wird doch gehen.«

Sie erhob sich mühsam. Felicitas reichte ihr den Arm und führte sie nach dem Musikzimmer.

»Tante,« sagte sie plötzlich stehen bleibend, »die Frau Thienemann hat sich vor kurzem geweigert, deine Wäsche zu besorgen, um es nicht mit Frau Hellwig zu verderben – hast du nicht daran gedacht?«

»Ich glaube gar, du willst deine alte Tante aufs Eis führen!« rief die alte Mamsell bitterböse, aber der Schalk leuchtete aus ihren Augen. Sie fuhr leicht mit den Fingern über die Wange des jungen Mädchens. Beide lachten und schritten nach dem Glasschranke.

Dies schwerfällige, altväterische Möbel hatte auch seine Geheimnisse. Tante Cordula drückte auf eine harmlos scheinende Verzierung, und an der äußeren Seitenwand sprang eine schmale Thür auf. Der sichtbar werdende Raum war die Bank der alten Mamsell, und in früheren Zeiten hatte er für Felicitas' Kinderaugen den Nimbus einer Christbescherung gehabt; denn nur selten durfte sie einen scheuen, halbbefriedigten Blick auf all die hier aufgespeicherten Kostbarkeiten und Raritäten werfen. Auf den schmalen Regalen lagen einige Geldrollen, Silberzeug und Schmucksachen.

Während die Tante eine Rolle anbrach und die Thaler bedächtig zählte, ergriff Felicitas eine in der dunkelsten Ecke stehende Schachtel und öffnete sie neugierig. Es lag ein goldener Armring, weich auf Watte gebettet, darin; kein edler Stein blitzte an dem Reifen, allein er wog schwer in der Hand und mußte wohl massiv von Gold sein. Was aber ganz besonders an ihm auffiel, das war sein Umfang – einer Dame wäre er sicher über die Hand geglitten, er schien somit weit eher für das derbe Handgelenk eines kräftigen Mannes bestimmt zu sein. Nach der Mitte zu wurde er bedeutend breiter, und hier hatte der Grabstichel in wundervoller Weise Rosen und feines Gezweig zu einem Medaillon ineinander geschlungen. Der Kranz umfaßte folgende Verse:

»Swa zwei liep ein ander meinent
herzelichen âne wanc
Und sich beidiu sô vereinent,«

Das junge Mädchen drehte den Ring nach allen Seiten und suchte eine Fortsetzung; denn wenn auch des Altdeutschen nicht mächtig, übersetzte sie doch mit Leichtigkeit den letzten Vers in die Worte: »Und sich beide so vereinen,« – das war aber kein Schluß.

»Tante, kennst du das weitere nicht?« fragte sie, immer noch eifrig suchend.

Die alte Mamsell hielt den Finger auf einen eben hingelegtem Thaler und sah mitten im Zählen auf.

»O Kind, über was bist du da geraten!« rief sie heftig – es lagen Unmut, Schrecken und Trauer zugleich in ihrer Stimme. Sie griff rasch nach dem Armbande, legte es mit bebender Hand in die Schachtel und drückte den Deckel darauf. Ein feiner, roter Fleck brannte plötzlich auf der einen Wange, und die gerunzelten Augenbrauen gaben ihrem Blick etwas düster Brütendes – ein nie gesehener Anblick für das junge Mädchen. Ja, es schien fast, als versänke die Gegenwart völlig vor einer gewaltsamen Flut plötzlich heraufbeschworener Erinnerungen, als wisse die alte Dame gar nicht mehr, daß Felicitas neben ihr stehe, denn nachdem sie mit fieberhafter Hast die Schachtel in die Ecke gestoßen hatte, ergriff sie einen danebenstehenden, mit grauem Papier beklebten Kasten und fuhr streichelnd und liebkosend mit der Rechten über die abgestoßenen Ecken desselben; ihre Züge wurden milder, sie seufzte und murmelte vor sich hin, während sie ihn gegen ihre eingesunkene Brust drückte. »Es muß vor mir sterben . . . und ich kann es doch nicht sterben sehen!«

Felicitas schlang ängstlich die Arme um die kleine schwächliche Gestalt, die in diesem Augenblick wie hilf- und haltlos vor ihr stand. Es war zum erstenmal seit ihrem neunjährigen Verkehr, daß die Tante die Herrschaft über sich selbst verlor. So zart und hinfällig in der äußeren Erscheinung, hatte sie doch unter allen Umständen einen merkwürdig starken Geist, eine unerschütterliche Seelenruhe gezeigt, die kein äußerer Anlaß aus dem Gleichgewichte zu bringen vermochte. Sie hatte sich mit jeder Faser ihres Herzens liebend an Felicitas angeschlossen und alle ihre Kenntnisse, ihren ganzen Schatz kerngesunder Lebensansichten in die junge Seele niedergelegt, aber vor ihrer Vergangenheit lagen heute noch wie vor neun Jahren Siegel und Riegel. Und nun hatte Felicitas in unvorsichtiger Hast an dies scheu verschlossene Stück Leben gerührt – sie machte sich die bittersten Vorwürfe.

»Ach, Tante, verzeihe mir!« bat sie flehentlich – wie kindlich rührend konnte dies junge Mädchen bitten, das Frau Hellwig einen Starrkopf, ein Stück Holz genannt hatte!

Die alte Mamsell fuhr sich mit der Hand über die Augen.

»Sei still, Kind, du hast nichts verbrochen, aber ich, ich schwatzte kindisch wie das Alter!« sagte sie mit erloschener Stimme. »Ja, ich bin alt, alt und gebrechlich geworden! Früher, da biß ich die Zähne zusammen, die Zunge lag still dahinter, und ich stand stramm nach außen – das will nicht mehr gehen – es ist Zeit, daß ich mich hinlege.«

Sie hielt den kleinen schmalen Kasten noch immer zögernd in den Händen, als ringe sie nach Mut, das ausgesprochene Todesurteil jetzt gleich zu vollziehen. Allein nach einigen Augenblicken legte sie ihn rasch an seine frühere Stelle und schloß den Schrank. Und damit schien auch die äußere Ruhe zurückzukehren. Sie trat an den runden Tisch, der neben dem Schranke stand, und auf welchem sie das Geld hingezählt hatte. Als sei nicht das mindeste Störende vorgefallen, nahm sie die Rolle wieder auf und legte noch zwei Thaler zu den blanken Reihen.

»Das Geld wollen wir in ein sauberes Papier wickeln,« sagte sie zu Felicitas – an ihrer Stimme hörte man freilich noch den schwer bekämpften inneren Aufruhr – »und das Päckchen in die kleine rote Mütze stecken, da ist doch schon etwas Segen darin gewesen, ehe das junge Köpfchen hineinkommt . . . Und Heinrich soll heute abend punkt neun Uhr auf seinem Posten sein – vergiß das ja nicht!«

Die alte Mamsell hatte nämlich auch ihre großen Eigenheiten – sie war lichtscheu, und zwar in ihren Thaten. Sie wurden, wie die Fledermäuse, erst mit der Nacht lebendig und klopften an die Höhlen der Armut, wenn die Straßen leer und die Menschenaugen müde waren . . . Heinrich war seit langen Jahren die rechte Hand, von der die linke nicht wissen sollte, was sie thue; er trug die Unterstützungen der alten Mamsell mit einer Schlauheit und Unsichtbarkeit in die armen Wohnungen, als könne er für dergleichen Wege seine schwerfällige Hausknechtshülle völlig abstreifen – so kam es, daß viele in der Stadt unwissentlich das Brot der alten Mamsell aßen, von der sie die ungeheuerlichsten Dinge glaubten und nötigenfalls beschworen . . . Das war gewiß eine schwer verständliche Eigenheit für jene frommen Seelen, die mit Inbrunst das Bibelwort festhalten, das da heißt: »Lasset euer Licht leuchten!«

Während Tante Cordula das Geld mit peinlicher Genauigkeit einpackte, öffnete Felicitas die Glasthür, die nach der Galerie führte. Es war Ende Mai . . . O du vielbesungener Frühling, wie wenige wissen um dein Walten im Thüringer Lande! Du bist nicht jener blondlockige, ausgelassene Knabe des Südens, dem es wie Champagner durch die Adern braust und dessen Fußstapfen mühelos Orangeblüten und Myrten entsprießen. Hoheit liegt auf deiner Stirn und um deine Lippen blüht das ruhige Lächeln tiefsinnigen Schaffens. Du mischest die Farben bedächtig und untermalst deine Bilder in langsamer Behaglichkeit; wir folgen deinen Pinselzügen mit stiller Freude – sie sind nicht kühn und gewaltig, aber lieblich und voll sinniger Grazie. Den bräunlich grünen Flaum, der sich um die Brust der waldigen Berge legt, während droben noch unangetastet das Schneekrönchen auf ihrem Scheitel sitzt, das feine, grüne Spitzengewebe junger Halme und Gräser über braunen Erdschollen und auf dem verdorrten vorjährigen Graswuchse der Wiesen und Abhänge – das wandelst du allmählich und leise zu jungen Maienzweigen, zu Schneeglöckchen- und Veilchensträußen, und nach ruhigem Ueberlegen und Behüten holst du, wie der sorgsame Gärtner, endlich die tausendfältige Farbenpracht aus den geschützten Gärten und legst sie auf Hecken, Wiesen und Raine . . . Und der Hauch deines Mundes ist jene herbkräftige Luft, die Nerven und Sehnen des Thüringer Menschenkindes stählt, die sein Herz empfänglich macht für das Lied und es zähe ausdauern läßt im Festhalten poetischen Aberglaubens, die ihm erhält seinen Sinn für das Recht, seine Neigung zur Opposition, sein naiv treues Gemüt und – seine himmlische Grobheit!

Weit da drüben lösten sich die grünen Streifen der Saatfelder wie breite Bänder vom Waldessaume ab und liefen thaleinwärts. Das jüngste Kirschbäumchen, wie der wilde, knorrige Birnbaum standen weißflockig und leuchtend an ihren Grenzen, auf verschiedenem Piedestal ein gleich jugendliches Haupt – eine Unparteilichkeit der Natur, die der Mensch vergeblich ersehnt . . . Auf der Brüstung der Galerie blühten Hyacinthen, Maiblumen und Tulpen, und zu beiden Seiten der Glasthür standen mächtige Syringen- und Schneeballenbüsche in Kübeln.

Felicitas rückte den kleinen runden Tisch in den Vorbau und daneben den bequemen Lehnsessel der alten Mamsell. Sie legte eine frische Serviette auf und machte die kleine Kaffeemaschine zurecht; das noch zu vollendende Kinderzeug wurde daneben gelegt, und als es in der kleinen Messingkanne sang und zischte und ein köstlicher Mokkaduft auf die Galerie hinausströmte, da saß die alte Mamsell behaglich in ihrem Lehnstuhle und blickte träumerisch hinaus in die sonnenbeschienene Frühlingswelt.

Felicitas hatte ihre Arbeit wieder aufgenommen.

»Tante,« sagte sie nach einer kleinen Pause, jedes ihrer Worte betonend, »er kommt morgen.«

»Ja, mein Kind, ich weiß es aus der Zeitung; da steht die Notiz aus Bonn: ›Professor Hellwig geht zu seiner Erholung auf zwei Monate nach Thüringen.‹ . . . Er ist ein berühmter Mann geworden, Fee!«

»Ihm mag sein Ruhm leicht werden. Er kennt nicht die Qual, die das Mitleiden der Pflicht gegenüber verursacht . . . Er schneidet in das Fleisch und in die Seelen seiner Mitmenschen mit gleichem Behagen.«

Die alte Mamsell heftete erstaunt ihren Blick auf Felicitas' Gesicht; dieser Ton voll unsäglicher Bitterkeit war ihr neu.

»Hüte dich, ungerecht zu werden, mein Kind!« sagte sie nach einem momentanen Schweigen langsam und mit unbeschreiblicher Milde.

Felicitas sah rasch auf – ihre braunen Augen erschienen in diesem Augenblicke fast schwarz.

»Ich wüßte nicht, wie ich es anfangen sollte, nachsichtiger über ihn zu denken,« entgegnete sie; »er hat sich schwer an mir versündigt, und ich weiß – ich würde es nie beklagen, wenn ihm ein Leid widerführe, und wenn ich ihm zu einem Glücke verhelfen könnte, ich würde keinen Finger bewegen –«

»Fee –«

»Ja, Tante, das ist die Wahrheit! . . . Ich habe stets ein ruhiges Gesicht zu dir heraufgebracht, weil ich dir und mir die kargen Stunden unseres Beisammenseins nicht vergällen wollte; du hast oft an den Frieden meiner Seele geglaubt, während es in ihr stürmte . . . Lasse dich in den Staub treten, täglich, stündlich – höre, wie deine Eltern geschmäht werden, wie man sie Gottverfluchte nennt, denen du alle dir angedichteten Fehler verdanken sollst – fühle das Streben nach Höherem in dir und lasse dich unter Hohnlachen hinabstoßen in die ungebildete Sphäre, weil du arm bist und kein Recht hast an höherer Bildung – siehe, wie diese deine Peiniger den Nimbus der Frömmigkeit tragen und dich ungestraft im Namen des Herrn geistig vernichten dürfen und trägst du das alles ruhig, empört sich nicht jeder Blutstropfen in dir, kannst du verzeihen, so ist das nicht die Duldsamkeit eines Engels, sondern die feige, sklavische Unterwerfung einer schwachen Seele, die es verdient, daß man ihr den Fuß auf den Nacken setzt!«

Felicitas sprach fest, mit tiefer klangvoller Stimme. Welche Gewalt hatte dieses merkwürdige, junge Geschöpf über sein Aeußeres! – kaum, daß es die Hand hob bei den leidenschaftlichen Worten, die über seine Lippen strömten.

»Der Gedanke, daß ich jenem Steingesichte wieder gegenüber stehen soll, regt mich mehr auf, als ich dir sagen kann, Tante!« fuhr sie nach einem tiefen Atemholen fort. »Er wird mit der Stimme ohne Herz und Seele alles wiederholen, was er seit neun Jahren schriftlich an mir verbrochen hat . . . Wie der grausame Knabe, der ein armes, geflügeltes Geschöpf am Faden flattern läßt, so hat er mich an dies schreckliche Haus gebunden und dadurch den letzten Willen des Onkels in einen Fluch für mich verkehrt . . . Kann es etwas Grausameres geben, als seine Handlungsweise mir gegenüber? Ich durfte keine geistigen Fähigkeiten, kein weiches Herz, kein empfindliches Ehrgefühl haben – das alles war unstatthaft bei einem Spielerskinde; seine schmachvolle Abkunft konnte nur gesühnt werden dadurch, daß es eine sogenannte Magd des Herrn werde, eines jener armen Geschöpfe mit möglichst engbegrenztem Gesichtskreise.«

»Nun, darüber sind wir hinausgekommen, mein Kind!« sagte Tante Cordula mit einem feinen Lächeln. »Uebrigens wird jedenfalls mit seiner Ankunft ein Wendepunkt für dich eintreten,« fügte sie ernst hinzu.

»Nach verschiedenen Kämpfen sicher – Frau Hellwig gab mir heute den Trost, es werde dann alles ein Ende haben.«

»Nun, und dann werde ich dir nicht mehr zu wiederholen brauchen, daß du drunten ausharren müßtest, um den letzten Willen dessen zu ehren, der dich in sein Haus genommen und wie ein eigenes Kind geliebt hat . . . Dann bist du völlig frei und wirst die Pflegerin deiner alten Tante vor aller Welt, und wir dürfen nicht mehr fürchten, auseinander gerissen zu werden, denn die drunten haben sich ihres Rechtes begeben.«

Felicitas sah mit leuchtenden Augen auf, sie ergriff rasch die kleine, welke Hand der alten Mamsell und zog sie an ihre Lippen.

»Und denke nicht schlimmer von mir, Tante, seit du tiefer als bisher in mein Inneres gesehen hast,« bat sie mit weicher Stimme. »Ich liebe die Menschen und habe eine sehr hohe Meinung von ihnen, und wenn ich mich so energisch gegen geistigen Tod gewehrt habe, so hat mich zum Teil auch der Gedanke angetrieben, in ihrem Kreise mehr zu sein, als ein gewöhnliches Lasttier . . . Werde ich auch durch einzelne mißhandelt, so bin ich doch weit entfernt, meine Anklage über die gesamte Menschheit auszudehnen – ich habe nicht einmal Mißtrauen gegen sie . . . Dagegen bin ich nicht im stande, meine Feinde zu lieben und die zu segnen, die mir fluchen. Ist das ein dunkler Punkt in meinem Charakter, so kann ich's nicht ändern, und, Tante – ich will auch nicht, denn hier ist die haarscharfe Grenze zwischen Milde und Charakterlosigkeit!«

Tante Cordula schwieg und heftete den trüben Blick auf den Boden . . . Hatte sie auch einen Moment in ihrem Leben, wo sie nicht oder nur mit unsäglicher Ueberwindung verzeihen konnte? . . . Sie ließ das Gespräch absichtlich fallen, nahm selbst Nadel und Faden zur Hand, und nun wurde ununterbrochen gearbeitet, und als der Abend hereindämmerte, war ein stattliches Bündel fertig. Tief in seinem Innern steckte der silberne Kern, jenes kleine Kapital, das der arme Tischlermeister von den »Gottbegnadeten« vergebens erfleht hatte und welches er nun unbewußt empfing aus den Händen der sogenannten Ungläubigen.

Als Felicitas die Wohnung der alten Mamsell verließ, war es schon lebendig im Vorderhause. Sie hörte das Kind der Regierungsrätin, die kleine Anna, lachen und plaudern, und der Vorsaal im zweiten Stockwerke hallte wider von kräftigen Hammerschlägen. Das junge Mädchen flog durch den Korridor, der in den Vorplatz mündete. Dort stand Heinrich auf einer Leiter und befestigte Guirlanden über einer Thür. Bei Felicitas' Erblicken schnitt er eine urkomische Grimasse, in welcher Grimm, Spott und Laune um die Oberhand stritten, und schlug noch einigemal heftig auf die unglücklichen Nägelköpfe, als sollten sie zu Brei zermalmt werden, dann stieg er herunter.

Die kleine Anna hatte mit feierlichem Ernste die Leiter gehalten, damit sie nicht umfallen sollte, als sie aber Felicitas erblickte, da vergaß sie ihres wichtigen Amtes, wackelte schwerfällig auf sie zu und schlang zärtlich die Aermchen um deren Knie. Das junge Mädchen hob sie vom Boden auf und nahm sie auf den Arm.

»Thun die Leute nicht, als ob morgen eine Kopulation im Hause wäre,« sagte Heinrich halblaut und geärgert, »und derweil kommt einer, der nicht rechts, noch links sieht und den ganzen Tag ein Gesicht macht, als ob er Essig verschluckt hätte« . . . Er hob das eine Ende der Guirlande auf. »Gucke da, Blümelein Vergißmeinnicht ist auch d'rin . . . na, die das Dings da gebunden hat, die wird schon wissen warum . . . Aber Feechen,« unterbrach er sich ärgerlich, als er sah, daß das Kind seine Wange an Felicitas' Gesicht legte, »thue mir doch den einzigen Gefallen und nimm das kleine Scheusälchen nicht immer auf den Arm – es hat ja keinen gesunden Tropfen Blut im Leibe, und vielleicht steckt's doch an.«

Felicitas legte rasch die Linke um die kleine Gestalt und drückte sie voll tiefen Erbarmens an ihre Brust. Das Kind fürchtete sich vor Heinrichs feindseligem Blicke und versteckte sein häßliches Gesichtchen, man sah nur den kleinen Lockenkopf, und so war das junge Mädchen mit dem Kinde auf dem Arme in diesem Augenblicke das schönste Madonnenbild.

Sie war eben im Begriff, unwillig zu antworten, als die bekränzte Thür aufging; sie mochte nur angelehnt gewesen sein, denn langsam und allmählich fiel sie zurück und ließ die Draußenstehenden ins Zimmer sehen. Es war in der That, als solle eine junge Braut ihren Einzug halten; auf dem Sims des einzigen Fensters da drin standen Vasen voll Blumen, und die Regierungsrätin hatte eben eine lange Guirlande in zierlichen Festons über den Schreibtisch gehangen. Sie trat zurück, um das Werk ihrer Hände von fern zu betrachten, dabei wandte sie den Kopf und erblickte die draußen stehende Gruppe. Vielleicht mißfiel ihr die Madonnenähnlichkeit, sie runzelte mißmutig die feinen Brauen, rief ihr Dienstmädchen herbei, das mit dem Staubtuche über die Möbel fuhr, und zeigte nach der Thür.

»Wirst du denn gleich 'runtergehen, Aennchen,« schalt Rosa herauseilend, »du sollst dich ja von niemand auf den Arm nehmen lassen, hat die Mama gesagt . . . Die gnädige Frau sieht es gar nicht gern,« sagte sie schnippisch zu Felicitas, während sie die Kleine nahm und auf den Boden stellte, »wenn Aennchen zu allen Leuten geht und sich küssen und hätscheln läßt – es sei nicht gesund, meint sie.«

Sie führte das bitterlich weinende Kind ins Zimmer und schloß die Thür.

»Ei, du heiliges Kreuz, ist das ein Volk!« knirschte Heinrich, indem er die Treppe hinabstieg. »Siehst du, das hast du nun von deinem guten Willen, Feechen! – Solche Leute denken, ihre Krankheiten seien ebenso vornehm, wie sie selber, und man müsse Gott danken, wenn man mit seinen gesunden Händen ihre elenden Leiber anrühren darf.«

Felicitas schritt schweigend neben ihm. Als sie die Hausflur betraten, rollte draußen ein Wagen über den Marktplatz und hielt vor dem Hause. Ehe Heinrich die Thür erreichen konnte, wurde sie mit einem kräftigen Rucke geöffnet. Es dämmerte bereits stark in der Flur; man konnte nur an den Umrissen erkennen, daß es eine gedrungene Männergestalt war, welche auf die Schwelle trat. Mit wenigen raschen Schritten stand der Herr vor der Thür des Wohnzimmers, die von innen aufgemacht wurde. Den Ausruf der Ueberraschung von Frau Hellwigs Lippen und die trockenen Worte: »Ei, du bist unpünktlich geworden, Johannes, wir erwarteten dich erst morgen!« schollen heraus, dann wurde die Thür geschlossen, und nur der draußen harrende Wagen und das zurückgebliebene Aroma einer feinen Zigarre bewiesen, daß die Erscheinung wirklich gewesen war.

»Das war er!« flüsterte Felicitas und legte die Hand auf ihr erschrockenes Herz.

»Nun kann's losgehn!« brummte Heinrich zu gleicher Zeit, aber er schwieg alsbald wieder und horchte lächelnd nach dem Treppenhause.

Da droben kam es herabgebraust wie die wilde Jagd. Die Regierungsrätin flog förmlich über die Stufen, die blonden Locken flatterten, und das weiße Kleid umwogte die schwebende Gestalt wie eine Wolke. Sie ließ Rosa und das langsam herabpolternde Kind weit hinter sich und stand nach wenigen Augenblicken im Wohnzimmer.

»Gelt, Feechen, nun wissen wir doch auch, warum Blümelein Vergißmeinnicht in der Guirlande steckt?« lachte Heinrich und ging hinaus, um die Effekten des Ankömmlings in Empfang zu nehmen.


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