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Die Erschütterung, mit welcher der Kahn gegen das Ufer stieß, weckte Lucien. Sie hatte heimlich ihre Tränen getrocknet und erhob sich wie vom Schlafe. Renzo stieg zuerst hinaus und reichte Agnesen die Hand, welche diesen Dienst der Tochter erwies; dann dankten alle drei dem Fährmann mit trauriger Miene. – »Hat nichts zu sagen,« erwiderte der Mann; »wir sind hier unten, um einer dem andern zu helfen.« – Der Karren stand bereits reisefertig da; der Führer begrüßte die drei Erwarteten, ließ sie einsteigen, rief seinem Tiere zu, gab ihm einen Hieb mit der Peitsche, und so ging's fort.
Unsere Reisenden kamen in Monza wenige Minuten nach Sonnenaufgang an; der Fuhrmann kehrte in einen Gasthof ein, schien des Ortes kundig und mit dem Schenkwirt bekannt zu sein, denn er ließ ihnen ein Zimmer anweisen.
Nach einem Abend, wie wir ihn beschrieben, und einer Nacht, wie jeder sie leicht sich denken kann, deuchte es unsern Pilgern gar sehr behaglich, sich in einem Zimmer, so gering auch seine Bequemlichkeit sein mochte, auf eine kleine feststehende Bank niederlassen zu können. Hier frühstückten sie ein wenig, wie die Dürftigkeit der Zeiten es gestattete; die Eßlust war gering, die Mittel im Verhältnis zu den Bedürfnissen einer ungewissen Zukunft kärglich abgemessen. Renzo hätte gern diesen ganzen Tag hindurch wenigstens dort bleiben wollen, er wünschte die Frauen untergebracht zu sehen und ihnen die ersten Dienste im Orte leisten zu können; Bruder Cristoforo aber hatte den Frauen geraten, ihn bald seines Weges wandern zu lassen. Sie führten daher diesen Befehl und hundert andere Gründe an; die Leute würden davon reden; je länger man die Trennung verschiebe, um desto schmerzlicher würde sie sein; er könnte ja bald wiederkehren, um neue Nachrichten zu geben und zu empfangen. So entschloß sich der Jüngling endlich zum Aufbruch. Nun verabredete man genauer, wie man sich verhalten wollte; Lucia verbarg ihre Tränen nicht; Renzo hielt die seinen mit Anstrengung zurück, drückte Agnesen ungestüm die Hand, sagte: »Auf baldiges Wiedersehen!« und ging.
Indessen hätten sich die beiden Frauen gar bald in Verlegenheit gesehen, wenn der Fuhrmann sich nicht bei ihnen eingefunden hätte. Diesem war geboten worden, sie nach dem Kloster zu führen und ihnen mit der Anleitung, mit der Hilfe beizustehen, die etwa erforderlich sein würde. Unter seiner Begleitung machten sie sich also auf den Weg nach dem Kloster, welches, wie jedermann weiß, eine kleine Strecke außerhalb der Stadt lag. Nachdem sie an die Pforte gekommen, zog der Führer die Klingel und ließ den Pater Guardian herausrufen. Er kam und nahm den Brief in Empfang.
»O, Bruder Cristoforo!« sagte er, indem er die Schrift erkannte. Der Ton der Stimme, wie die Bewegungen im Gesicht verrieten deutlich, daß er den Namen eines großen Freundes aussprach. Wir müssen bemerken, daß unser wackerer Cristoforo die Frauen in seinem Schreiben mit hoher Wärme empfohlen hatte; ihr Unglück war mit vielem Gefühl erzählt, denn der Guardian gab hin und wieder Zeichen des Erstaunens und des Unwillens zu erkennen, erhob die Augen von dem Blatte und betrachtete das harrende Paar mit dem Ausdruck des Mitleids und der Teilnahme. Nachdem er zu Ende gelesen, stand er einige Sekunden gedankenvoll da und sagte dann für sich: »Es bleibt uns hier niemand anders als die Edelnonne übrig; wenn die würdige Dame die Verbindlichkeit auf sich nehmen will...«
Alsdann nahm er Agnesen auf einige Schritte nach dem Platze vor dem Kloster mit sich, tat verschiedene Fragen an sie, welche befriedigend beantwortet wurden, wandte sich dann auch an Lucien und sagte zu beiden: »Ich will versuchen, gute Frauen, und hoffe, einen Zufluchtsort, der mehr als sicher, mehr als ehrenvoll ist, für euch ausfindig zu machen, bis Gott auf eine bessere Weise für euch gesorgt hat. Wollt ihr mit mir kommen?«
Die Frauen bejahten seine Frage mit ehrfurchtsvoller Verbeugung.
Dann ging er voraus, und die andern drei folgten. Die beiden Frauen wandten sich unterwegs an den Fuhrmann mit einer Frage, die sie an den Pater Guardian nicht gewagt hätten, wer nämlich die edle Dame wäre.
»Sie ist eine Nonne,« lautete seine Auskunft; »aber nicht eine Nonne wie die andern. Ebensowenig ist sie Äbtissin oder Priorin; sie soll sogar, wie ich mir habe sagen lassen, eine von den Jüngsten sein. Sie ist aber aus uraltem Adel, aus Adams Rippe selber, und die Ihrigen sind in alter Zeit gar vornehme Leute gewesen, aus Spanien hergekommen, wo die Herrschaften alle her sind, die jetzt hier im Lande zu befehlen haben. Und darum nennen sie alle die Edelnonne; das soll heißen, sie ist eine sehr vornehme geistliche Dame. Alles Volk ringsumher hält sie gar hoch in Ehren, und wenn sie sich einer Sache annimmt, so setzt sie's durch. Wenn's also der gute Geistliche da so weit bringt, daß er euch in ihre Hände gibt und sie nichts dawider hat, so kann ich euch sagen, ihr seid so sicher wie auf dem heiligen Altar in der Kirche selber.«
Man kam endlich ans Tor des Fleckens, an dessen Seite damals ein alter Turm stand; daneben ein verfallenes Schloß, dessen sich vielleicht noch einige unserer Leser in seinem unbeschädigten Zustande erinnern. Der Guardian stand still und sah zurück, ob sein Gefolge auch nachkäme; dann trat er hinein und begab sich nach dem Kloster. Hier hielt er zum zweitenmal auf der Schwelle an und erwartete die kleine Schar. Den Führer bat er, später nach dem Kloster zu kommen und sich die Antwort abzuholen; dieser versprach's und verabschiedete sich von den Frauen, welche ihm nochmals dankten und Aufträge an Pater Cristoforo mitgaben. Der Guardian ließ Mutter und Tochter in den ersten Hof des Klosters treten, führte sie in die Kammer der Schwester Wirtschafterin und empfahl sie derselben; dann machte er sich allein auf, um sein Gesuch anzubringen. Nach wenigen Augenblicken kehrte er fröhlich zurück und sagte ihnen, sie möchten nur mit ihm kommen. Er kam zur rechten Zeit, denn Mutter und Tochter wußten kaum mehr, wie sie sich den zudringlichen Fragen der Wirtschafterin entwinden sollten. Während es sodann durch den zweiten Hof ging, gab der Guardian den Frauen einige Unterweisung, wie sie sich gegen die hohe Nonne zu benehmen hätten.
»Sie ist vortrefflich für euch gestimmt,« sagte er, »und kann viel Gutes für euch tun. Seid bescheiden und ehrfurchtsvoll, antwortet mit Aufrichtigkeit auf alle Fragen, die 's ihr etwa an euch zu richten belieben wird, und wo ihr nicht gefragt werdet, überlasset die Sache nur mir.«
Man kam in ein unteres Gemach, aus welchem es ins Sprechzimmer ging. Lucia, welche niemals ein Kloster gesehen, blickte nach dem Eintritt ins Sprechzimmer umher, wo die edle Nonne, welcher sie ihre Verbeugung machen wollte, sich befände, und da sie niemanden bemerkte, stand sie wie in verlegener Einfalt da; als aber der Mönch nach einem Winkel ging und Agnese ihm folgte, sah sie hin und gewahrte eine viereckige Öffnung, etwa einer Fensterhälfte ähnlich, durch zwei große und feste Eisengitter versperrt, welche eine Handbreit voneinander entfernt waren; dahinter stand eine Nonne. Ihr Anblick, welcher auf ein Alter von etwa fünfundzwanzig Jahren schließen ließ, gewährte im ersten Moment die Wirkung der Schönheit, aber einer matten, verblühten und, ich möchte sagen, zerstörten Schönheit. Ein schwarzer Schleier, wagerecht über den Kopf hingezogen, fiel sodann zur Rechten und Linken, vom Gesicht etwas abstehend, hernieder; unter dem Schleier kränzte eine blendend weiße Linnenbinde fast bis zur Mitte die Stirn, die von einer andern, aber nicht geringeren Weiße glänzte; eine zweite umgab gefaltet das Gesicht und endigte unter dem Kinn als ein Halstuch, welches sich ein wenig zur Brust herabsenkte und den oberen Saum des schwarzen Gewandes deckte. Doch die Stirn zog sich, wie durch eine schmerzliche Empfindung, jeden Augenblick in Runzeln zusammen, und in schneller Bewegung näherten sich dann die beiden schwarzen Augenbrauen. Zwei ebenso schwarze Augen hafteten bisweilen mit musterndem Stolze am Angesicht eines andern und senkten sich dann schnell wieder, als suchten sie sich zu verbergen; manchmal würde ein aufmerksamer Beobachter geschlossen haben, sie spähten nach Zuneigung, nach Mitteilung und Liebe umher; dann hätte er wieder plötzlich einen alten, unterdrückten Haß, eine wilde Sinnesart wahrzunehmen geglaubt; sooft sie aber ohne Aufmerksamkeit unbeweglich starrten, hätte dieser eine hochmütige Verdrossenheit darin erkannt, jener das Wühlen eines verborgenen Gedankens, die Unterdrückung einer Sorge geargwöhnt, welche das Gemüt erfüllt und mächtiger als die umherstehenden Gegenstände es beschäftigt. Die bleichen Wangen stellten sich in zarten Umrissen dar, schienen aber eingefallen in blutloser Mattigkeit zu kränkeln. Nur der leise Anflug eines lebendigen Rotes verkündigte sich auf den blassen Lippen; ihre Bewegungen waren, wie die Bewegungen der Augen, schnell, lebhaft, voller Ausdruck und geheimnisvoll. Der schöne Wuchs ihrer Gestalt verschwand durch die angenommene Gesenktheit der Haltung oder erschien durch gewisse plötzliche, unregelmäßige Bewegungen entstellt, welche für eine Dame, um so mehr für eine Nonne, zu entschieden waren. Selbst in ihrer Kleidung lag hier und da etwas Gesuchtes, eine Nachlässigkeit, in welcher sich eine seltsame Braut des Heilands verkündigte; die Mitte des Leibes war mit einer Art von weltlicher Sorgfalt gegürtet, und zur Binde trat an der einen Schläfe eine schwarze Locke hervor, als vergäße oder verachtete sie die Regel, welche den Nonnen vorschrieb, das Haar, wie es bei der Zeremonie des Bekenntnisses geschnitten worden, versteckt zu tragen.
Sie stand in diesem Augenblick, wie wir gesagt, aufrecht hinter dem Gitter und lehnte sich nachlässig mit der einen Hand daran, indem sie die zarten weißen Finger in die Öffnungen legte. Ihr Angesicht war ein wenig zur Seite geneigt, und in dieser Stellung beobachtete sie die Herankommenden. – »Verehrte Schwester und erlauchte Gebieterin,« sagte der Guardian mit gesenkter Stirn, die rechte Hand über die Brust gebreitet, »das ist das arme Mädchen, für welches Sie mich Ihren wirksamen Schutz haben hoffen lassen, und dies ist die Mutter.«
Die beiden Vorgestellten bückten sich, so tief sie nur konnten, zur Erde; die Nonne gab ihnen ein Zeichen mit der Hand, es sei genug, und sagte dann, zum Pater gewendet: »Ich betrachte es als eine erfreuliche Fügung, daß ich unsern guten Freunden, den Vätern Kapuzinern, eine Gefälligkeit erweisen kann. Aber,« fuhr sie fort, »machen Sie mich doch mit der Lage des jungen Mädchens ein wenig genauer bekannt, damit ich um so besser überlegen könne, was sich für sie tun läßt.«
»Sie müssen wissen, verehrte Mutter ...« fing Agnese an; der Guardian aber unterdrückte ihr durch einen Seitenblick das Wort im Munde. – »Das Mädchen hier,« sagte er, »erlauchte Schwester, ist mir soeben, wie schon gesagt, von einem Mitbruder empfohlen worden. Um sich einer dringenden Gefahr zu entziehen, hat sie sich verstohlen aus ihrem Dorfe entfernen müssen. Jetzt bedarf sie auf einige Zeit einer Schirmstätte, wo sie, ohne gekannt zu sein, leben mag und keiner sie zu beunruhigen wagen darf, selbst wenn ...«
»Was für Gefahren?« fragte die Nonne. »Bitte, Pater Guardian, geben Sie mir die Sache nicht so in Rätseln zu verstehen. Sie wissen, daß wir Nonnen nun einmal uns jede Geschichte gern recht ausführlich erzählen lassen.«
»Es sind Gefahren,« antwortete der Guardian, »welche den keuschen Ohren der verehrten Schwester auch nicht von fern einmal angedeutet werden wollen.«
»O gewiß,« sagte die Nonne schnell, nicht ohne ein wenig zu erröten. War es Scham? Wer den raschen Ausdruck eines unwilligen Hohnes, der diese Röte begleitete, beobachtete, hätte daran zweifeln können, und würde sie um so überraschter mit dem Purpur verglichen haben, welcher sich von Zeit zu Zeit über Luciens Wangen ergoß.
»Genug, wenn ich sage,« fuhr der Guardian fort, »daß ein gewalttätiger Edelmann – nicht alle Großen dieser Welt bedienen sich der himmlischen Geschenke, wie meine erlauchte Schwester, zum Ruhme Gottes und zum Vorteil des Nächsten; ein gewalttätiger Edelmann hat lange Zeit hindurch das arme Geschöpf mit unwürdigen Anträgen verfolgt, und wie er endlich gesehen, daß alles nichts fruchtete, hatte er das Herz, sie mit offener Gewalt zu verfolgen. So hat das arme Kind am Ende aus dem Vaterhause fliehen müssen.«
»Kommt her da, Mädchen!« sagte die Nonne zu Lucien und winkte ihr mit dem Finger. »Ich weiß, daß der Mund des Paters Guardian eine Quelle der Wahrheit ist; aber keiner kann besser als Ihr selbst über die Sache berichtet sein.« – Was das Herantreten betraf, gehorchte Lucia auf der Stelle; mit dem Antworten aber war's ein anderes. Wenn eine Nachfrage über diesen Gegenstand auch von einer Person ihres Standes gekommen wäre, sie würde dennoch in Verwirrung geraten sein; aus dem Munde einer solchen Dame aber, begleitet von einer spöttischen Zweifellust, benahm sie ihr allen Mut zum Redestehen. – »Edle Frau ... Mutter ... verehrte ...« stammelte sie, und es war, als hätte sie weiter nichts vorzubringen. Nun glaubte sich die Mutter, die nächst ihr allerdings am besten unterrichtet war, vollkommen befugt, ihr zur Hilfe zu eilen.
»Erlauchte Schwester,« sagte sie, »ich kann das reinste Zeugnis ablegen, daß diese meine Tochter vor dem Edelmann wie der Teufel vor gebenedeitem Wasser Scheu hatte; der Teufel, will ich nämlich sagen, war er; Sie werden mir aber verzeihen, wenn's mir schlecht vom Munde geht; wir sind nun einmal Leute nach Gottes Willen. So viel ist sicher, das arme Mädchen war mit einem jungen Menschen von unserem Stande versprochen, ein Mensch voll Gottesfurcht und rechtlichen Wandels, und wenn der Herr Pfarrer ein bißchen mehr Mann gewesen wäre ... was wollt' ich doch sagen? – ich weiß, daß ich von einem Geistlichen rede, aber der Pater Cristoforo, ein Freund vom Pater Guardian hier, ist auch ein Geistlicher; das nenn' ich aber einen Mann, der ein mitleidiges Herz hat, und wenn er hier stände, könnt' er mir's bezeugen ...«
»Ihr seid stark vorwärts mit der Zunge, Frau, ohne daß man Euch gefragt hat,« fiel ihr die Nonne ins Wort, wobei eine stolze unwillige Miene sie fast häßlich erscheinen ließ. »Ich weiß recht gut, daß die Eltern im Namen ihrer Kinder immer eine Antwort in Bereitschaft haben.«
Agnese schwieg gekränkt und warf einen Blick auf Lucien, der sagen wollte: Du siehst, wie schlimm es mir bekommt, daß du für dich nicht selbst sprechen kannst. – Der Guardian winkte dem Mädchen bloß mit dem Auge und nickte ihr mit dem Kopf zu; denn dies war der Augenblick, rasch bei der Hand zu sein und das arme Kind nicht im Stich zu lassen.
»Verehrte Schwester,« sagte Lucia, »was meine Mutter Ihnen gesagt hat, ist die reine Wahrheit. Der junge Mensch, der um mich warb,« und hier ward sie über und über Purpur, »den nahm ich aus freiem Willen. Sie verzeihen, wenn ich so frei spreche; ich möchte aber von meiner Mutter nicht gern Übles denken lassen. Und was den andern Herrn betrifft – Gott verzeih' ihm seine Sünden – so wollt' ich lieber sterben, als ihm in die Hände fallen. Und wenn Sie die Barmherzigkeit haben, uns unter Ihrem Schutze sicher zu wahren – da wir doch nun einmal dahin gebracht sind, um ein Unterkommen zu bitten und edlen Menschen zur Last zu fallen – aber der Wille des Herrn geschehe! – so seien Sie überzeugt, verehrte Schwester, daß keiner auf Erden inbrünstiger zum Himmel für Sie beten kann als wir armen Frauen.«
»Euch glaub' ich,« sagte die Nonne mit sanfterer Stimme. »Aber es wird mir lieb sein, Euch unter vier Augen sprechen zu hören. Es braucht weiter keiner andern Erklärung noch anderer Beweggründe, um den Bemühungen des Paters Guardian entgegenzukommen,« fügte sie schnell hinzu, indem sie sich mit gesuchter Höflichkeit nach ihm hinwandte. »Ja, ich hab' es schon überlegt, und sieh da, mir ist schon das Beste, was sich tun lassen kann, eingefallen. Die Schwester Wirtschafterin hat vor einigen Tagen ihre jüngste Tochter untergebracht. Die beiden Frauen können in dem Zimmer sich aufhalten, wo das Mädchen gewohnt hat und allenfalls ihre Geschäfte im Kloster versehen. Wahrhaftig« – hier winkte sie dem Guardian, näher ans Gitter zu treten, und raunte ihm dann ins Ohr: »Wahrhaftig, wegen der teuren Zeit hatte man nicht daran gedacht, ein anderes Mädchen anzustellen, ich werde aber mit der Mutter Äbtissin sprechen, und auf ein Wort von mir, um dem Verlangen des Paters Guardian sich willig zu zeigen ... genug, ich melde Ihnen die Sache als geschehen.«
Der Guardian wollte seine Dankrede beginnen, als die Nonne ihn unterbrach: »Keine Umstände! Auch ich würde, in Fällen, wo es nötig wäre, auf der Stelle meine Zuflucht zu den Vätern Kapuzinern nehmen. Und am Ende,« fuhr sie mit einem Lächeln fort, durch welches ein Zug von Spott und Bitterkeit schimmerte, »sind wir nicht am Ende Brüder und Schwestern?«
Nachdem sie so gesprochen, rief sie eine Laienschwester – zwei derselben waren als eine seltene Auszeichnung zu ihrer besonderen Bedienung angewiesen – und trug ihr auf, die Äbtissin davon zu benachrichtigen. Dann ließ sie die Schwester Wirtschafterin kommen und nahm mit ihr und Agnesen die nötigen Maßregeln. Diese letztere entließ sie, empfahl sich dem Guardian und behielt Lucien zurück. Der Guardian begleitete Agnesen zur Türe, gab ihr unterwegs neue Winke und begab sich weg, um für seinen Freund Cristoforo einen Bericht aufzusetzen.
Die Edelnonne, deren Gebärden und Worte in Gegenwart eines bejahrten Kapuziners einen künstlichen Stempel der Klugheit trugen, sah sich nun einem jungen unerfahrenen Landmädchen ohne Zeugen gegenüber und hielt es nicht mehr für notwendig, sich länger in so beschränkendem Zügel zu halten; ihre Gespräche hörten sich allmählich so seltsam an, daß wir, anstatt sie mitzuteilen, es für passender erachten, die vorhergehende Lebensgeschichte dieser Unglücklichen in gedrängtem Berichte zu erzählen. Indessen verspreche sich der Leser nur so viel, als hinreicht, um das Ungewöhnliche und Geheimnisvolle, welches wir an ihr bemerkt haben, zu erklären und die Beweggründe ihres Benehmens in den Ereignissen, die wir mitteilen, begreiflich zu machen.
Sie war die jüngste Tochter des Fürsten von ***. Dieser, ein bedeutender mailändischer Edelmann, durfte sich zwar zu den reichsten in der Stadt zählen; doch der unbeschränkte Hoheitsbegriff, welchen er von seinem fürstlichen Namen hatte, mißleitete ihn dergestalt, daß ihm seine Mittel kaum hinreichend, ja um in seiner Würde sich mit Ehren zu erhalten, viel zu kärglich schienen. Daher seine ganze Sorgfalt dahin ging, sie wenigstens, wie sie waren, zu behaupten und sie für ewige Zeiten, soweit er es vermochte, beisammenzuhalten. Wie viele Söhne er gehabt, erhellt aus der Erzählung nicht deutlich; nur so viel läßt sich ersehen, daß er die jüngeren vom einen wie vom andern Geschlechte sämtlich dem Kloster bestimmt hatte und die unberührte Masse des Vermögens dem Erstgeborenen zugedachte. Dieser sollte für die Fortdauer der Familie Sorge tragen und sich quälen, indem er seine Kinder auf dieselbe Weise quälen würde. Unsere Unglückliche hatte das Licht der Welt noch nicht erblickt, als ihr Los schon unwiderruflich festgesetzt worden. Nur mußte noch abgewartet werden, ob es ein Mönch oder eine Nonne sein würde; zu dieser Entscheidung bedurfte es nicht der Einwilligung des Kindes, nur seiner Gegenwart. Als ihre Geburt dem Fürsten, ihrem Vater, gemeldet worden, sann er auf einen Namen, welcher unmittelbar den Gedanken an das Kloster wecken möchte und zugleich von irgendeiner Heiligen adeligen Geschlechtes geführt worden sei. Er nannte sie also Gertrude. Puppen, nach Nonnenart gekleidet, waren das erste Spielzeug, welches man ihr in die Hände gab; dann erhielt sie Nonnenbilder, und jedesmal begleitete das Geschenk die Ermahnung, sie als kostbare Dinge wohl in acht zu nehmen. »Nicht wahr, das ist schön?« war die gewöhnliche Frage dabei, in welcher auch schon die bejahende Antwort lag. Wollten Vater und Mutter, oder der kleine Fürst, der allein von den Söhnen im Hause erzogen ward, die glückliche Gestalt des kleinen Mädchens loben, so schienen sie, um ihre Gedanken auszudrücken, keine passenderen Worte zu finden als: »Was für eine Mutter Äbtissin!«
Alle Reden dieser Art setzten mit der Zeit im Geiste des jungen Mädchens den unausgesprochenen Gedanken fest, daß sie eine Braut des Heilands werden müsse; mehr als alle übrigen aber wirkten die Winke, die aus dem Munde des Vaters kamen. In der ganzen Art und Weise des Fürsten verriet sich, durch Gewohnheit ein strenger Herr seines Hauses; wenn aber vom künftigen Stande seiner Kinder die Rede war, so bezeugten jede Miene seines Gesichtes und jedes Wort seines Mundes eine Unbeweglichkeit der Beschlüsse, eine finstere Eifersucht des Herrschbestrebens, welche im Gemüte der übrigen die Empfindung einer vom Schicksal bestimmten Notwendigkeit entstehen ließen.
Mit sechs Jahren ward Gertrude zur Erziehung oder eigentlich, um für die auferlegte Bestimmung vorbereitet zu werden, nach dem Kloster gebracht, woselbst wir sie gesehen haben. Die Wahl des Ortes war nicht absichtslos. Der Fürst war nämlich ein Lehnsträger in jener Stadt, er genoß dort ein ganz außerordentliches Ansehen; daher war er der Meinung, hier werde ohne Zweifel, besser als irgendwo anders, seine Tochter mit jener Auszeichnung und Feinheit behandelt werden, welche ihr die Lust einflößen könnten, dieses Kloster zu ihrem ewigen Aufenthalt zu wählen. Er täuschte sich nicht. Die damalige Äbtissin und einige andere geschäftige Nonnen, welche den Löffel, wie man zu sagen pflegt, beständig in Händen führten, sahen sich in manchen Wettstreit mit andern Klöstern oder mit umherwohnenden Familien verwickelt; sie waren also sehr erfreut, eine solche Stütze zu erwerben, sie nahmen die Ehre, die ihnen dadurch erzeigt ward, mit lebhafter Erkenntlichkeit auf und entsprachen vollkommen allen Absichten, welche der Fürst, da er ihnen seine Tochter für lange Zeit übergab, hatte durchblicken lassen. Auch stimmten diese Absichten sehr passend mit ihrem Vorteil. Kaum war Gertrude ins Kloster eingetreten, ward sie, mit Übergehung ihres Eigennamens, die kleine Edeldame genannt; am Tisch, im Schlafzimmer hatte sie ihre besondere Stelle; ihr Betragen ward den andern Mädchen als Muster vorgehalten; dazu kamen tagtägliche süße Worte und Liebkosungen, mit jener ehrfurchtsvollen Vertraulichkeit gewürzt, wodurch Kinder so schnell gewonnen werden, wenn sie sie an Personen bemerken, welche sie die übrigen Kinder mit dem herkömmlichen Ernste der Hoheit behandeln sehen. Unter Gertrudens Gespielinnen im Hause der Erziehung aber gab es einige, die wohl wußten, sie seien für einen Gemahl bestimmt. Die kleine Gertrude, mit den Begriffen von ihrem höheren Stande genährt, sprach mit prächtigen Worten davon, wie sie dereinst die Äbtissin, die Fürstin des Klosters sein werde; sie wollte auf jede Weise ein Gegenstand des Neides für die andern sein; doch sah sie mit Verwunderung und verachtendem Stolze, daß einige derselben ihr diese hohe Bestimmung durchaus nicht beneiden mochten. Den erhabenen, aber beschränkten und kalten Bildern, welche die Herrschaft in einem Kloster gewähren kann, pflegten diese Mädchen die mannigfaltigen, schimmernden Bilder des ehelichen Lebens entgegenzusetzen, und sprachen von Gastmählern und Abendgesellschaften, von Landhäusern und ritterlichen Festen, von verehrenden Begleitern, stattlichen Kleidern und prächtigen Wagen. Gespräche dieser Art brachten in Gertrudens Seele jene Bewegung, jenes gärende Gewühl hervor, welches ein Korb mit frisch gepflückten Blumen, vor einen Bienenstock hingestellt, hervorbringen würde. Eltern und Erzieherinnen hatten die natürliche Eitelkeit in ihr genährt und zur Reife gebracht, damit sie am Klosterleben Gefallen fände; als aber diese Leidenschaft durch Vorstellungen, die ihr verwandter waren, in einem andern Sinne angefacht ward, überließ sie sich ihnen freiwillig mit weit lebhafterer Glut. Um nun hinter ihren Gefährtinnen nicht zurückzubleiben und zugleich ihrer neuen Geistesrichtung Genüge zu leisten, gab sie zur Antwort, es könne, wenn die Rechnung endlich gezogen werden solle, ohne ihre Einwilligung keiner den Schleier ihr übers Haupt werfen, auch sie dürfe einen Gemahl wählen, einen Palast bewohnen, der Welt sich erfreuen, und das glänzender als die übrigen alle; sie könne es, sobald sie nur wolle; sie würde es wollen, sie wolle es – und sie wollte es in der Tat.
Der Gedanke, daß ihre Einwilligung notwendig sei, ein Gedanke, welcher bis dahin unbeachtet und gleichsam in einem Winkel ihres Geistes verborgen gelegen, fing jetzt sich zu entwickeln an und stellte sich in seiner ganzen Gewichtigkeit dar. Hinter diesem Gedanken fand sich jedoch unfehlbar immer auch ein zweiter ein: diese Einwilligung mußte dem fürstlichen Vater, der sie bereits als gegeben annahm oder anzunehmen schien, verweigert werden, und hier fußte die Hoffnung der Tochter bei weitem so zuverlässig nicht, wie ihre Worte es zeigten. Dann verglich sie sich mit ihren Gefährtinnen, welche solchen Aussichten weit sicherer sich überlassen durften, und so empfand sie in schmerzlicher Verzweiflung den Neid, den sie anfangs in ihnen zu erregen geglaubt hatte. Indem sie sie beneidete, haßte sie sie; dieser Haß brach bisweilen in Verachtung, in unhöflicher Begegnung, in stichelnden Spottreden hervor, wiewohl manchmal die Gleichförmigkeit der Neigungen und Wünsche ihn einschläferte und eine scheinbare, vorübergehende Vertraulichkeit entstehen ließ. Um indessen sich schon eines wirklichen, eines gegenwärtigen Genusses zu erfreuen, gefiel sie sich hin und wieder in dem Vorzuge, der ihr bewilligt ward, und ließ alle übrigen diese höhere Stellung empfinden; sooft sie aber die Einsamkeit ihrer Furcht und ihrer Sehnsucht nicht zu ertragen vermochte, suchte sie, sich erniedrigend, die andern wieder auf, als wollte sie sie um Wohlwollen, um Rat und Ermutigung bitten.
Unter diesen bejammernswerten Kämpfen mit sich und andern war ihre Kindheit vorübergegangen. Sie näherte sich nun jenem entscheidenden Alter, mit welchem in die Seele eine geheimnisvolle Macht zu treten scheint, um alle Neigungen und alle Gedanken zu erheben, zu schmücken und zu stärken, sie umzugestalten und ihnen eine unerwartete Richtung zu erteilen. Was Gertruden bisher in diesen Träumen der Zukunft am entschiedensten geschmeichelt hatte, waren äußerer Glanz und Staatsprunk; das Weiche und Gefühlvolle, welches anfangs durch ihr Gemüt flüchtig ergossen gewesen und gleich einem Nebel die deutlicheren Gestalten eingehüllt hatte, fing nun an, in ihren Traumgebilden sich zu entwickeln und das vorherrschende Element zu werden. Sie hatte sich aus dem entlegensten Teile ihres Geistes gleichsam eine glänzende Zurückgezogenheit geschaffen; hierher flüchtete sie sich aus der umgebenden Gegenwart, hier fand sie sich mit einer Gesellschaft, aus den verworrenen Erinnerungen ihrer Kindheit seltsam gestaltet, glücklich zusammen; das wenige, welches sie von der äußeren Welt gesehen, was sie in den Gesprächen mit ihren Gefährtinnen gelernt hatte, mußte das Gebäude vollenden. Mit dieser Gesellschaft unterhielt sie sich, sprach mit ihr und antwortete sich in ihrem Namen; hier gab sie Befehle und empfing Huldigungen aller Art. Von Zeit zu Zeit trübte diese glänzenden, ermüdenden Feste der Gedanke an die Religion. Aber die Religion, wie sie unserm armen Mädchen gelehrt und von ihr empfangen worden, verbannte den Stolz nicht; sie heiligte ihn vielmehr und stellte ihn als ein Mittel auf, um einer irdischen Glückseligkeit habhaft zu werden. Ihres wesentlichen Charakters also beraubt, war es nicht mehr die Religion, es war eine Maske wie jede andere. In den Stunden, da diese Maske in Gertrudens Einbildungskraft den Vordergrund behauptete und wachsend sich erhob, erlag die Unglückliche einem Gewühl von verworrenen Schrecken und ward von einem undeutlichen Bewußtsein der Pflichten ergriffen; dann bildete sie sich ein, es sei ein sträfliches Beginnen, dem Kloster entsagen zu wollen und dem Gebote der Eltern in der Wahl des Standes sich zu widersetzen; dies sträfliche Beginnen zu büßen, ward auf einige Zeit ihr ernstlicher Vorsatz, und freiwillig wolle sie sich im Kloster verschließen.
Es war Vorschrift, daß ein junges Mädchen nicht als Nonne aufgenommen werden konnte, wenn ein Geistlicher, welcher der Vikar der Nonnen hieß, oder sonst jemand, dem das Amt aufgetragen worden, sie nicht vorher geprüft hatte; man wollte sich dadurch von ihrer freien Wahl überzeugen. Erst ein Jahr darauf, nachdem sie ihren Wunsch durch eine schriftliche Vorstellung dem Vikar eröffnet hatte, durfte diese Prüfung stattfinden. Die Nonnen, welche das traurige Geschäft übernommen, Gertruden zur unauflöslichen Verpflichtung zu bewegen, während sie von dem, was dieser Schritt bedeutete, eine so geringe Kenntnis wie möglich haben sollte, ergriffen eine jener trüben Stunden, ließen sie eine solche Bittschrift abschreiben und brachten sie so weit, daß sie ihren Namen darunter setzte. Und um sie desto leichter zu diesem Schritte zu verleiten, ermangelten sie nicht, ihr wiederholt zu sagen, daß eine solche Schrift, wie es auch wirklich der Fall, am Ende eine bloße Formalität sei und nur durch andere spätere Handlungen, die ja doch gänzlich von ihrem Willen abhingen, ihre Wirksamkeit erhalten müßte. Dessenungeachtet wäre die Bittschrift vielleicht noch nicht zu ihrer Bestimmung gelangt; denn schon bereute Gertrude, sie geschrieben zu haben. Bald darauf bereute sie diese Reue, und so verbrachte sie Tage und Monate in einem beständigen Wechsel von Wollen und Nichtwollen.
Ein anderes Gesetz befahl, kein junges Mädchen solle zu jener Prüfung ihres Berufes zugelassen werden, ohne vorher einen Monat wenigstens außerhalb des Klosters, in welchem sie erzogen worden, sich aufgehalten zu haben. Seit Absendung der Bittschrift war ein Jahr beinahe verflossen; Gertrude erhielt die Weisung, sie würde nächstens aus dem Kloster geholt und nach dem väterlichen Hause gebracht werden, um einen Monat daselbst zu verweilen und alle die notwendigen Vorkehrungen zu treffen, welche die Vollendung des begonnenen Werkes erforderte. Der Fürst und die übrigen Mitglieder der Familie zweifelten nicht und betrachteten alles als bereits geschehen; die Ansichten des jungen Mädchens aber hatten sich bedeutend geändert. Statt die übrigen Schritte zu tun, dachte Gertrude nur an ein Mittel, den ersten zurückzunehmen. In dieser ängstlichen Verlegenheit beschloß sie, sich einer ihrer Gefährtinnen zu eröffnen, der offenherzigsten, welche ihr jederzeit mit dem wirksamsten Rat entgegengekommen. Diese flüsterte ihr zu, sie möchte von ihrer verwandelten Gesinnung dem Pater Vikar schriftliche Nachricht geben; denn ihren Verwandten zurzeit ein entschlossenes: Ich will nicht! entgegenzurufen, dazu gebrach es ihr dennoch an Mut. Der Brief ward unter drei oder vier Vertrauten entworfen, heimlich geschrieben und durch listig ersonnene Mittel an seine Behörde befördert. In ängstlicher Spannung erwartete Gertrude eine Antwort. Sie kam nicht. Einige Tage später aber zog die Äbtissin sie beiseite, ließ in ihrem Benehmen Zurückhaltung, Unwillen und Mitleid merken, erwähnte ein dunkles Wort, das dem Fürsten im heftigen Zorne entfallen, und sprach von einer Übereilung, die Gertrude begangen haben müsse; indessen gab sie ihr zu verstehen, wie sie durch ein willfähriges Betragen gar wohl hoffen dürfe, den raschen Schritt in Vergessenheit zu bringen. Das junge Mädchen verstand den Wink und wagte nicht, weiter zu fragen.
Endlich erschien der Tag, der so gefürchtet und so gewünscht worden. Gertrude wußte wohl, daß es zu einem Kampfe ging; doch das Kloster auf einige Wochen verlassen zu können, die Mauern, in denen sie acht Jahre hindurch eingeschlossen gewesen, hinter sich zu haben, durchs offene Feld in der Kutsche hinzurollen, die Stadt, den Palast wiederzusehen – es waren Empfindungen, welche sie mit stürmischer Freude erfüllten. Was den Kampf betraf, so hatte sie unter der Leitung jener Vertrauten bereits ihre Maßregeln genommen und war mit ihrem Plan im reinen. – Entweder versuchen sie es mit Gewalt, dachte sie; dann ertrag' ich alles, bin demütig und ehrfurchtsvoll, bleibe aber bei meiner Weigerung; es kommt bloß darauf an, kein zweites Ja auszusprechen, und das werde ich nicht aussprechen – oder sie schlagen milde Wege ein; dann werde ich mich noch milder als sie zeigen, werde weinen, bitten, sie zum Mitleiden bewegen; endlich werde ich bloß verlangen, nicht aufgeopfert zu werden. – Wie es aber oft mit solchen Vorbereitungen geht, traf hier weder die eine noch die andere Annahme ein. Die Tage verflossen; der Vater so wenig wie sonst jemand ließ ein Wort über die Bittschrift oder das Zurücktreten fallen; weder mit Schmeicheleien noch mit Drohungen ward ihr ein Vorschlag gemacht. Die Eltern waren ernst, mißmutig und zeigten ihr nur ein mürrisches Angesicht; doch keine Silbe deutete die Ursache an. Nur ließ sich bemerken, daß sie die Tochter als eine Schuldige, als eine Unwürdige betrachteten; ein geheimnisvolles Verdammungsurteil schien über ihr zu schweben und sie von der Familie zu trennen. So ward sie selten, und in gewissen festgesetzten Stunden nur, zur Gesellschaft der Eltern und des erstgeborenen Bruders zugelassen.
Eine so feindselige Gegenwart traf mit den lachenden Bildern, welche Gertrudens Einsamkeit so lange beseelt und noch immer in der Stille sie beschäftigten, schmerzlich zusammen. Im glänzenden und menschenreichen Hause des Vaters hatte sie wenigstens eine wirkliche Probe der geträumten Bilderwelt zu erleben gehofft; sie fand sich aber durchaus getäuscht. Streng und ununterbrochen blieb sie zu Hause wie im Kloster eingeschlossen; von einem Lustgange ins Freie war nicht einmal die Rede, und eine Halle, welche vom Hause nach einer daranstoßenden Kirche führte, benahm auch die einzige Gelegenheit, um den Fuß auf die Straße setzen zu müssen. Die Gesellschaft war trauriger, spärlicher und weniger mannigfaltig als im Kloster. Sooft ein Besuch sich melden ließ, mußte Gertrude hinauf in ihr Zimmer gehen und sich dort mit einigen alten Dienerinnen einschließen; hier mußte sie auch jedesmal, wenn es ein Gastmahl gab, ihre Tafel halten. Die Dienerschaft richtete sich im Betragen und Gespräch nach dem Beispiel und den Absichten der Herrschaft; Gertrude hätte sie aus Neigung gern mit der ungezwungenen Freundlichkeit einer Gebieterin behandelt, hätte es in dem Verhältnisse, worin sie sich befand, gern gesehen, daß sie gleichfalls mit einigen Beweisen von Wohlwollen ihr entgegenkämen, und ließ sich selbst so weit herab, darum zu betteln; dann aber stand sie erniedrigt da und erkannte mit Betrübnis, wie selbst der Geringste offenbar sie übersah. Für diese Kränkung konnte sie der oberflächliche Gehorsam, welchen der Anstand gebot, nicht entschädigen. Um so weniger konnte es ihr entgehen, daß ein Page, von allen übrigen sich unterscheidend, ihr eine ganz besondere Achtung bezeigte, ein ganz besonderes Mitleid mit ihr fühlen ließ. Das Benehmen dieses jungen Menschen hatte unter allem, was Gertrude bisher gesehen, mit den lockenden Vorstellungen ihrer Einbildungskraft die meiste Ähnlichkeit; er schien sich den Geschöpfen ihrer stillen Traumwelt verwandt zu nähern. Bald entdeckte man im Betragen des Mädchens etwas ungewöhnlich Neues; eine Ruhe und eine Unruhe, wie sie bisher niemals an ihr bemerkt worden; es war, als hätte sie etwas gefunden, wonach sie lange sich gesehnt, als suchte sie beständig es zu bewahren und fremden Blicken zu verbergen. Mehr als je ward sie beobachtet. Da überraschte sie eines Morgens eine Kammerfrau, wie sie ein Blatt, worauf sie besser getan hätte nichts zu schreiben, in aller Eile zusammenfaltete. Die Lauscherin wußte sie zu überlisten; das Blatt kam in ihre Hand und kurz darauf in die Hand des Fürsten.
Gertrudens Schrecken, als sie den Tritt seiner Füße vernahm, läßt sich weder beschreiben noch denken; es war der Vater, der erzürnte Vater, und sie fühlte sich schuldig. Als sie ihn aber mit jenen finsteren Augenbrauen, das Blatt in der Hand, herantreten sah, hätte sie hundert Klafter tief unter der Erde vergraben liegen mögen; ein Kloster dünkte sie in dem Augenblick ein Paradies. Des Fürsten Worte waren wenige, aber schrecklich; als Strafe ward ihr einstweilen nur auferlegt, unter der Hut der Kammerfrau, welche die Entdeckung gemacht, in ihrem Zimmer verschlossen zu bleiben; doch sollte dies nur eine Probe, eine augenblickliche Vorkehrung sein; man verhieß und ließ in rätselhaften Drohungen eine andere unbestimmte und daher um so furchtbarere Züchtigung merken.
Sie blieb also mit ihrer Niedergeschlagenheit, mit der Scham, der Kränkung und dem Schrecken vor der Zukunft allein; ihre einzige Gesellschaft jenes Frauenzimmer, welches sie als das Zeugnis ihrer Schuld und als die Ursache ihres Unglücks hassen mußte. Aber auch diese empfand einen ähnlichen Haß gegen Gertrude; denn ohne zu wissen, auf wie lange, sah sie sich zum langweiligen Leben einer Kerkermeisterin verurteilt und für ewige Zeiten die Wächterin eines gefährlichen Geheimnisses geworden.
Indessen beruhigte sich der erste verwirrte Tumult dieser Empfindungen allmählich; bald aber kehrte eine jede der Reihe nach ins Gemüt zurück, breitete sich wachsend aus und befestigte sich darin, um es noch leichter und entschiedener zu quälen. Worin konnte jene dunkel gedrohte Züchtigung bestehen? Der glühenden Phantasie des unerfahrenen Mädchens stellte sich eine ganze Hölle von wechselnden und seltsamen Strafen dar. Am wahrscheinlichsten dünkte es sie, nach dem Kloster von Monza zurückgeführt zu werden, nicht mehr als das edle Fräulein, sondern als eine Schuldige daselbst auftreten zu müssen, und wer weiß bis zu welchem Tage, wer weiß mit welcher Behandlung in verschlossener Zelle zu schmachten. Was diese Lage, schon an sich schmerzensvoll, ihr noch schmerzlicher machte, war das zagende Gefühl der Schande. Die Zeilen, die Worte, die Buchstaben jenes unseligen Blattes zogen noch einmal in ihrer Erinnerung hin und her vorüber; sie dachte sich, wie der Leser, auf welchen sie am wenigsten gerechnet, ein Leser, so ganz verschieden von demjenigen, für den sie zur Antwort bestimmt waren, sie betrachtet und gleichsam gewogen habe; sie bildete sich ein, das Blatt habe auch unter die Augen der Mutter, des Bruders und wer weiß wie vieler andern geraten können; damit verglichen, schien ihr alles übrige Ungemach eine bedeutungslose Geringfügigkeit. Aber auch das Bild des jungen Menschen, welcher die erste Ursache des Ärgernisses gewesen, fand sich gleichfalls nicht selten in den Gramgedanken der armen Gefangenen ein; was dieses Bild unter den übrigen ernsten, kalten und drohenden Gestalten für eine seltsame Erscheinung machte, läßt sich kaum ausdrücken. Aber gerade, weil sie sich von diesen nicht losmachen konnte und zu jenen vorübereilenden Glücksbildern keinen Augenblick zurückkehrte, ohne zugleich die gegenwärtigen Leiden, welche die Folgen derselben waren, desto schneidender zu empfinden, fing sie allmählich an, seltener zu ihnen zurückzukehren, stieß die Erinnerung daran von sich und suchte sich von ihnen zu entwöhnen. Schon war es ihr unmöglich, in der fröhlichen, glänzenden Schöpfung ihrer ehemaligen Träume lange zu weilen; sie stand der Wirklichkeit wie der wahrscheinlichen Zukunft in zu feindseligem Widerspruche gegenüber. Die einzige Stätte also, woselbst sich Gertrude einen ruhigen und ehrenvollen Zufluchtsort denken konnte, das einzige Schloß, welches kein Feenschloß, war das Kloster, sobald sie den Entschluß faßte, für immer darin einzutreten. Solch ein Entschluß, daran konnte sie nicht zweifeln, mußte alles wieder in Ordnung bringen, mußte jede Schuld zahlen und in einer Stunde ihre Lage verwandeln. Freilich erhoben sich gegen diesen Vorsatz die Gedanken eines ganzen Alters, einer Reihe von durchgekämpften Jahren; doch die Zeiten hatten sich geändert, und in dem grauenhaften Abgrunde, darin sie hilflos lag, schien ihr im Vergleich mit dem, was sie in gewissen Augenblicken zu fürchten hatte, die Lage einer gefeierten Nonne, welcher die übrigen gehorchen und huldigen, eine tröstliche Zuflucht. Ihren alten Widerwillen spülten hin und wieder zwei ganz verschiedene Empfindungen hinweg: bald das plagende Bewußtsein ihres Vergehens und eine phantastische Stimmung der Andacht; bald der Stolz, welcher beleidigt gegen die Begegnung der Kerkermeisterin sich empörte. Denn diese, von Gertruden, um die Wahrheit zu sagen, oft dazu aufgefordert, rächte sich, indem sie ihr vor der gedrohten Strafe Furcht einflößte oder sie die Schmach ihres Vergehens empfinden ließ. Und wollte sie sich ein anderes Mal wieder wohlwollend zeigen, so nahm sie einen Ton der Vormundschaft an, der allerdings noch gehässiger als Beleidigungen war. Unter diesen entgegengesetzten Umständen bildete sich Gertrudens Wunsch, aus den Händen der Kammerfrau zu kommen und in eine Lage zu gelangen, wo sie über den Zorn und über das Mitleid derselben erhaben wäre, immer vollständiger aus; der Wunsch ward ihr zur Gewohnheit, ward lebhaft und spornend genug, um allem, was zu seiner Befriedigung führen konnte, einen erträglichen Anstrich zu geben.
Nach vier oder fünf langen Tagen der Gefangenschaft fühlte sich Gertrude eines Morgens heftiger als je über die Behandlung ihrer Wächterin erbittert, und gleich einem Gifte kochte es ihr im Herzen. Sie floh nach einem Winkel ihres Zimmers, verbarg das Gesicht mit beiden Händen und stand so einige Zeit, um ihren Grimm zu überwinden. Da empfand sie das dringende Bedürfnis, andere Gesichter zu sehen, andere Rede zu hören und eine andere Begegnung zu erfahren. Sie gedachte ihres Vaters, ihrer Verwandten; bei dem Gedanken schauderte sie erschrocken zurück. Doch fiel es ihr ein, es hänge von ihr ab, Freunde in ihnen zu finden, und eine plötzliche Freude beseelte ihr verarmtes Herz. Darauf folgte eine Bestürzung, eine ungewöhnliche Reue über ihr Vergehen und eine ebenso heftige Sehnsucht, es zu büßen. Nicht daß ihr Wille sich in diesem Vorsatze schon gänzlich befestigt hätte, nie aber hatte er sich demselben so weit genähert. Sie stand auf, ging nach einem Tische, nahm jene unselige Feder wieder zur Hand und schrieb dem Vater einen Brief voller Begeisterung und Niedergeschlagenheit, voller Betrübnis und Hoffnung; sie flehte um seine Verzeihung und zeigte sich auf unbestimmte Weise zu allem bereit, was dem Verzeihenden belieben würde.