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Quel cielo di Lombardia, così bello quand' è bello, così splendido, così in pace. (Dieser lombardische Himmel, so schön, wenn er freundlich ist, so glanz-geschmückt, so friedlich-sanft.)
Manzoni, Die Verlobten, T. I, Kap. 17.
Wem es jemals vergönnt war, die Sonne des also gefeierten lombardischen Himmels zu fühlen, wer je die Wunder der oberitalienischen Seen, das Wunder des Mailänder Domes erlebt hat, wird die Landschaft, in der die mailändische Geschichte von den »Verlobten« spielt, niemals wieder vergessen. Sie bleibt die ewige Sehnsucht des Nordländers, der nach einem reineren Himmel, nach hellerer Klarheit und wärmerer Sonne verlangt; sie war aber in gleicher Weise das Land, das auch der Südländer von jeher mit besonderer Liebe umfing. Aus sehnsüchtiger Erinnerung heraus fragte Plinius d. J. in einem Briefe an Caninius Rufus: »Was macht Como, deine und meine Wonne? Was das reizende Landhaus? Was die Säulenhalle mit dem ewigen Frühling? Was der schattige Platanenhain? Was die grüne, kristallklare Flut? Was das sonnenbestrahlte Bad?«
Dieses Bild könnte auch heute noch ein moderner Italienfahrer im Gedächtnis haben, wenn er an Como und seinen See denkt: das ist ganz das Abbild des einen, südwestlichen Armes des dreizipfligen Sees mit seiner Perlenschnur von weißen Villen, die am Ufer entlang in das dunkle Grün der Gärten eingebettet liegen. Manzonis Werk nimmt seinen Ausgang aber vom Winkel des südöstlichen Armes, in dem die Seidenspinnerstadt Lecco liegt und die Adda aus dem See austritt. Dieser Teil, einsamer und weniger besucht von Fremden, aber darum nicht minder reich an landschaftlichen Schönheiten, trägt ein anderes Gepräge. Wer aus dem Comoarm kommend das Paradies von Bellaggio umfahren hat und in den See von Lecco kommt, ist überrascht von der Grelle dieser Gegensätze: eben noch anmutige Hügel, immergrünende Gärten in lieblicher Landschaft, jetzt eine ragende Bergwelt mit schroffen und kahlen Felswänden, die romantische Gebirgsszenerie einer Dolomitenkette, die nur schlichte Dörfer und Weiler am schmalen Seeufer duldet. Die künstliche Welt der Villen und Parks hat aufgehört, eine herbere, einfachere, aber in der Großartigkeit der Bergeinfassung um so eindrucksvollere beginnt. Dort, wo am Südende bei Lecco und Malgrate die Berge mehr zurücktreten und größeren Raum für die Olivenhaine und Weingärten der Dörfer lassen, lebt die Lieblichkeit des westlichen Armes noch einmal auf, aber sozusagen unvermischt, ohne die künstliche Zugabe prunkvoller Villen und Zierparks, in ihrer ganzen natürlichen Schönheit. Dort, in jener »lieblichen Mannigfaltigkeit«, die von der schroffen, sägenartig gezackten Felswand des Monte Resegone durch grünende Fluren an das helle Ufer des Leccosees, der Adda, des Sees von Pescarenico führt, dort sind die Gestalten Manzonis zu Hause. Dort ist auch des Dichters Familie beheimatet: Sie stammt aus der Valslássina und hatte sich im Gebiet von Lecco bei Pescarenico niedergelassen. Der Graf Alessandro Manzoni selbst wurde am 7. März 1785 in Mailand geboren und ist am 22. Mai 1873 dort gestorben. Seine Jugend verbrachte er in jenem Seengebiet, in Merate, Lugano und Mailand.
Das Leben Manzonis entbehrt größerer äußerer Begebenheiten. 1805 bis 1807 weilte er in Paris und geriet dort ganz ins klassizistische Fahrwasser. Die Jahre 1809/12 sind von entscheidender Bedeutung für Manzonis inneres Leben. Nach seiner Rückkehr aus Paris heiratete er die kalvinistische Schweizerin Henriette Blondel nach protestantischem Ritus; beide aber traten im Mai 1810 wieder zum katholischen Glauben über. In dieselbe Zeit fällt auch die Bekehrung Manzonis zur Romantik. Er schrieb die Inni sacri (Heilige Hymnen, 1812 begonnen, Gesamtausgabe 1823), die zu den herrlichsten Liedschöpfungen zum Preise des Katholizismus gehören, dazu gleichsam die erste lyrische Manifestation der Romantik in Italien sind; er verfaßte die ersten romantischen Dramen (1816/22), die sich über die klassischen Einheiten hinwegsetzen, aber heute, weil in ihnen die Geschichte die Poesie überwuchert, vergessen sind. Sein berühmtestes, noch heute lesenswertes Gedicht ist »Der fünfte Mai« (1821), eine Ode auf den Tod Napoleons, die von Goethe mit Recht gerühmt wird.
Sein Haupt- und Lebenswerk ist jedoch I promessi sposi, »Die Verlobten«, an dem er immer wieder arbeitete und verbesserte. Die erste Ausgabe in drei Bänden 1825/27 ist stark mit Lombardismen durchsetzt; nach einem Aufenthalt in Florenz machte er sich an die Ausmerzung derselben (1840) und schenkte damit seinem Volke ein Beispiel für reine Prosa, die von der Akademie der Crusca für vorbildlich erklärt wurde.
Den Rest seines Lebens verbrachte Manzoni, hochgeehrt von seinen Landsleuten, zum Teil in seinem vornehmen Hause in Mailand, zum Teil auf seinem Landgut Brusuglio in der Brianza. Wir hielten es für notwendig, die Leser umständlicher in die Landschaft des Romans einzuführen. Denn diese Landschaft ist der belebende Atem, der durch das ganze Werk weht. Klarheit, Lieblichkeit und einfache Größe, sie geben seinem Geschehen und seinen Personen das Gepräge. Daher ist das Werk echte Heimatkunst im besten Sinne des Wortes. Selten vielleicht stehen Landschaft und Dichtung in so engem Zusammenhange wie hier. Sie bedingen einander so sehr, daß sogar nachträglich Landschaft und Örtlichkeit nach dem Roman gedeutet wurden. Die eigentliche Handlung nämlich, die Geschichte der Verlobten Renzo und Lucia, deren Vereinigung ein gewalttätiger Machthaber Don Rodrigo zu hindern sucht, ist vom Dichter frei erfunden, aber das lesende Volk, das seine Welt in dem Werke wiederfindet, seine Örtlichkeiten und sein Denken und Fühlen mit solcher Meisterschaft und Naturwahrheit geschildert sieht, glaubt an die wirkliche Existenz der erfundenen Personen. Hier mußte Don Rodrigo in seinem Raubneste gehaust haben, dort standen die Hütten der unglücklichen Liebenden, hier mußten die Bravi dem furchtsamen Don Abbondio aufgelauert haben, dort mußten die flüchtigen Verlobten über die Adda gesetzt sein: So wird noch jetzt dem wissensdurstigen Reisenden berichtet.
Aber Manzonis Werk ist nicht nur Heimatkunst, es ist mehr als das. Echte Dichtung kann vielleicht nur in dem fruchtbaren Boden des – in weitestem Sinne – heimischen Volkstums keimen, aber sie muß darüber hinaus in allgemein menschliche Bezirke wachsen. Viele lieben mit uns diese so trefflich geschilderte Landschaft, übervölkische Bedeutung jedoch als ein Roman der Weltliteratur erhält es erst durch die Wahrheit der Empfindung und die Tiefe des Gefühls, die jeden Empfänglichen ergreifen, und durch die künstlerische Vollkommenheit, mit der sie in Sprache und Charakterschilderung zur Darstellung gebracht werden.
Daß diese Eigenschaften in schönster Harmonie unseren Roman schmücken, wird nicht nur durch seine Volkstümlichkeit in ganz Italien bewiesen, wo er eine Art Weltbibel, geistiger Besitz von fast jedermann ist, sondern vor allem durch die Wertschätzung, deren er sich in ganz Europa erfreut. Er ist sehr oft und in alle Kultursprachen übersetzt worden, er wird von vielen für ein schlechthin vollkommenes Buch gehalten, das den übrigen Romanen der Weltliteratur in nichts nachsteht und viele übertrifft.
Als Kronzeugen für die Weltgeltung des Werkes müssen wir zunächst Goethe anführen. Er erhielt den Roman gleich nach Erscheinen im Jahre 1827 mit einer eigenhändigen Widmung vom Verfasser zugesandt. Seine Begeisterung nach der ersten Lektüre gibt Eckermann in seinen »Gesprächen mit Goethe« unter dem 18. Juli 1827 wieder: »Ich habe Ihnen zu verkündigen, war heute Goethes erstes Wort bei Tisch, daß Manzonis Roman alles überflügelt, was wir in dieser Art kennen. Ich brauche Ihnen nichts weiter zu sagen, als daß das Innere, alles, was aus der Seele des Dichters kommt, durchaus vollkommen ist, und daß das Äußere, alle Zeichnung von Lokalitäten und dergleichen gegen die großen inneren Eigenschaften um nichts zurücksteht. Das will etwas heißen. Der Eindruck beim Lesen ist derart, daß man immer von der Rührung in die Bewunderung fällt und von der Bewunderung in die Rührung, so daß man aus einer von diesen beiden großen Wirkungen gar nicht herauskommt.«
Etwas später, nach Beendigung der Lektüre, schwächt Goethe sein Lob in etwas ab. Er meint, daß die allzu breite und allzu genaue Darstellung der historischen Ereignisse der poetischen Wirkung Schaden tue; darüber berichtet Eckermann unter dem 23. Juli 1827: »Ich sagte neulich, daß unserem Dichter in diesem Roman der Historiker zugute käme, jetzt aber im dritten Bande finde ich, daß der Historiker dem Poeten einen bösen Streich spielt, indem Herr Manzoni mit einemmal den Rock des Poeten auszieht und eine ganze Weile als nackter Historiker dasteht. Und zwar geschieht dieses bei einer Beschreibung vom Krieg, Hungersnot und Pestilenz, welche Dinge schon an sich widerwärtiger Art sind und die nun durch das umständliche Detail einer trockenen chronikenhaften Schilderung unerträglich werden ... Hätte Manzoni einen ratgebenden Freund zur Seite gehabt, er hätte diesen Fehler sehr leicht vermeiden können. Aber er hatte als Historiker zu großen Respekt vor der Realität ... Doch sobald die Personen des Romans wieder auftreten, steht der Poet in voller Glorie wieder da und nötigt uns wieder zu der gewohnten Bewunderung.«
Ohne Zweifel liegt in diesem Tadel, abgesehen natürlich von der Abneigung des Klassikers Goethe gegen die Darstellung des Häßlichen, eine gewisse Berechtigung. Die Verbindung der romanhaften Teile mit der Schilderung der historischen Ereignisse namentlich in unserem zweiten Teile ist oft recht lose. Dieser Fehler in der Komposition ist indessen fast Allgemeingut des romantischen historischen Romans. Über dessen Entstehung und Sinngebung ist bereits in dieser Reihe von Werken der Weltliteratur anläßlich von Victor Hugos »Notre-Dame von Paris« gehandelt worden, und dort wurde auch Manzonis Werk bereits in die historische Entwicklung eingefügt; es sei dafür also auf jene Ausführungen verwiesen. Jedenfalls zeigt Manzonis Roman eine ähnliche Kompositionsart wie der Victor Hugos: Eine frei erfundene romanhafte Handlung wird in einen historischen Hintergrund gestellt.
Unser Roman führt den Untertitel »Eine Mailänder Geschichte aus dem siebzehnten Jahrhundert«. Italien stand in jener Zeit zum größten Teil unter spanischer Herrschaft. Karl der V., deutscher Kaiser und König von Spanien, hatte seinen Nebenbuhler um die Weltherrschaft, König Franz I. von Frankreich, 1525 bei Pavia geschlagen, gefangen genommen und zum Verzicht auf seine Ansprüche in Italien gezwungen. 1527 sprengte er durch die denkwürdige Erstürmung Roms die »Heilige Liga« zur Vertreibung der Fremden aus Italien und befestigte so seine Herrschaft in Neapel, Sizilien und Mailand, die er seinem Sohne, dem düsteren Philipp II., überließ. Fremdes Recht, fremde Soldaten, fremde Sprache herrschten fortan in diesem größten Teil von Italien und lasteten auf der Bevölkerung. Die kulturelle Entwicklung, im sechzehnten Jahrhundert zur höchsten Blüte gebracht, sank unter dem Drucke der spanischen Fremdherrschaft und der orthodoxen Hierarchie der Kirche immer tiefer und zehrte im siebzehnten Jahrhundert nur von dem geistigen Kapital der Vergangenheit. Dazu ließen dauernde kriegerische Verwicklungen das Land nicht zur Ruhe kommen und minderten den materiellen Wohlstand. Der alte Widersacher der spanischen Macht, Frankreich, schürte öffentlich und heimlich vor allem in Norditalien gegen den Madrider Hof. Manzoni greift aus dieser Zeit die Jahre 1628-1631 heraus und schildert die wachsende Teuerung, die drohende und ausbrechende Hungersnot, die Volksrevolution in Mailand und als Folge des allgemeinen Elends die Pest.
Gewiß geht Manzoni bei der Erzählung dieser historischen Umwelt, vor allem in der Schilderung der Pest, allzusehr in die Breite; aber andererseits birgt dieser Teil der Erzählung für Liebhaber historischer Darstellung große Reize und ist mit vollendeter Kunst gestaltet worden. In prächtiger Steigerung erweitert sich die kleine Welt des Dorfes bei Lecco zum Staatsgeschehen, die Dorfgeschichte wird zur Weltgeschichte, und die kleinen Bedrängnisse der uns lieb gewordenen Personen münden in dem großen Leiden jenes entsetzlichen Sterbens, das einen ganzen Staat heimgesucht hat. »Alles einzelne ist mit einer solchen Genauigkeit und mit so plastischer Geisteskraft gezeichnet, daß wir uns in ferner Zeit und in dem fremden Lande mit einemmal heimisch fühlen und an den Leiden und Freuden dieser Menschen einen so lebhaften Anteil nehmen, als ob das Erzählte sich vor unsern Augen zutrüge.«
Wenn Manzoni uns Fremden so ans Herz greift und unser Mitleid weckt, wie mußte er erst an die Seele seiner eigenen Landsleute rühren! Und das beabsichtigte er vielleicht nicht ohne Grund. Indem er ihnen die Heimat unter dem Joche spanischer Fremdherrschaft seufzend zeichnete, mußten sie notgedrungen an ihre eigene Zeit denken, die wieder ein anderes fremdes Land, Österreich, über die Lombardei und Venezien herrschen sah. Manzoni war ein guter, aber auch ein bedächtiger Patriot; er forderte seine Landsleute mit diesem Werke nicht zu gewalttätiger Erhebung auf, sondern ermahnte sie, indem er ihnen ein Beispiel der Geduld und Ergebung gab, das politische Elend zu ertragen im Vertrauen auf den endlichen Sieg der gerechten und guten Sache. Fanatischen Freiheitskämpfern von damals war das freilich nicht genug; sie sahen in solcher Ergebung mehr den Verzicht auf politische Freiheit als die Hoffnung auf zukünftige Besserung. Settembrini meint z. B., ein solcher Ratschlag in solcher Zeit bedeute die Unterwerfung in die Knechtschaft und die Preisgabe des geeinten Italiens.
Offenbar wird diese Auslegung der Absicht Manzonis nicht gerecht. Dem Dichter geht es hier allerdings nicht um aktuelle politische Ziele, aber um etwas anderes, das vielleicht damals wichtiger war: den Geist zu bereiten, das Volk mit wahrem Gefühl und echter Vaterlandsliebe zu erfüllen und so seinen Teil an der Zukunft des Volkes zu wirken.
Von den Einzelpersonen des Romans sind nur wenige wirklich geschichtlich. Zu ihnen gehört der Kardinal Federigo Borromeo, diese wunderbare Mischung aus Heiligem und Weltmann, der neben feinstem Herzenstakt und eindringender Menschenkenntnis die überzeugende Kraft des reinen und guten Kirchenfürsten besitzt. Der Chronist Ripamonti, aus dem der Dichter viele Züge geschöpft hat, berichtet von dem großen »Ungenannten«, einem Visconti, der von dem Kardinal bewogen wurde, sein bisheriges Räuberleben aufzugeben. In derselben Quelle fand Manzoni auch die Gestalt Gertrudens, der »Dame von Monza«, einer gewissen Marianna de Leyva aus gräflicher Familie, die als Nonne im Margaritenkloster zu Monza mit einem lasterhaften Schurken in Beziehungen trat. Fra Cristoforo endlich, jener ideale Held der Nächstenliebe, der dennoch voll männlichen Mutes ist, eine der schönsten Gestalten des Romans, ist scheinbar nach einem Bruder Christophorus aus Cremona geformt, von dem berichtet wird, daß er auf die Kunde von der Pest nach Mailand eilte und dort als Krankenpfleger im Dienste seiner Nächsten starb.
Manzoni ist der größte Charakterdarsteller in der italienischen Literatur. So reich diese auch an Werken mit fruchtbarer Erfindung ist, so arm ist sie an psychologisch wahr gezeichneten, eindringlich beobachteten Gestalten. Hier erstand ihr zum ersten Male ein Dichter, der seine Personen von innen heraus entwickelte und sie mit einfachem Griffel, aber sicher und natürlich zeichnete. Gerade die Reihe seiner frei erfundenen Personen stellt diese Gabe ins hellste Licht. Lucia ist vielleicht der liebenswerteste, aber auch der am wenigsten lebenswahre Charakter von ihnen. Sanft und schamhaft, rein und offen, aber zugleich von einer kaum glaublichen Passivität, ist sie eine Heldin des Leidens. Sie ist mit zu großer typischer Erhabenheit umkleidet, die sie uns fernhält wie eine Madonna, sie hat zuviel von einer Heiligen und zu wenig von der Art eines wirklichen, lebendigen Weibes an sich, die uns eine Julia oder ein Gretchen lieben lassen (De Sanctis). Ihrem Madonnenwesen steht der frische, volkstümliche Charakter ihres Verlobten Renzo gegenüber; seine impulsive Natur drängt zum Handeln und führt ihn gerade dadurch in die schlimmsten Lagen.
Man erlasse es uns, auf alle diese Gestalten im einzelnen hinzuweisen; sie sprechen für sich; sie stehen da, bewegen sich und fühlen wie wirkliche Menschen – und das ist vielleicht das Größte, was ein Dichter erreichen kann. Dabei zeichnet Manzoni sie nur mit wenigen Strichen und hält sich nicht mit überflüssigen Einzelheiten auf.
Seine Gestalten an Höhepunkten des Romans sind unvergeßlich: Die Begegnung Fra Cristoforos mit Don Rodrigo, Don Rodrigo auf dem Krankenbett, Ferrer in der empörten Menschenmenge Mailands, Renzo an der Adda, der Kardinal Borromeo und der Ungenannte im Gespräch, der Wagen, der die an der Pest Verstorbenen wegträgt, jene Mutter, die ihr totes Töchterchen selbst auf den Wagen legt und den Monatti sagt, sie möchten am Abend kommen, sie ebenfalls mit ihrer anderen Tochter zu holen – das sind Schöpfungen einer wunderbaren Kunst. Und hinter diesen seinen Schöpfungen taucht zuweilen der Dichter auf, der sie wie ein Vater kennt, sie liebt, sie leitet, sie handeln läßt – und väterlich lächelt über diese seine kleine Welt. »Dieses Lächeln ist echt italienisch, ist Einsicht und Vernunft, ist Güte und innerer Frieden der Seele, ist das Lächeln christlicher Erbarmung.« Aus ihm ist die Figur des Don Abbondio geboren, jenes hasenfüßigen Pfarrers, der wohl die populärste Figur der italienischen Literatur ist und eine der besten humoristischen Gestalten der Weltliteratur überhaupt, würdig, dem Don Quijote an die Seite gestellt zu werden. Gegenüber Don Rodrigo, dem Vertreter der Gewalt, ist er die Verkörperung der Furcht. Er wäre vielleicht sogar ein braver Mensch, ein Egoist vielleicht, aber ein Egoist friedsamer Ruhe, wenn ihm nicht immer die Angst im Nacken säße und ihm den ersehnten Frieden störte. Die Pflicht gebietet ihm zu handeln, die Angst verbietet es ihm: dieser Widerstreit ist eine Quelle unaufhörlichen Lachens.
Durch die ganze Handlung des Romans, durch die Schilderungen von Natur, geschichtlichen Ereignissen und sozialen Zuständen, durch die Zeichnung der Charaktere und durch den eigentümlichen Humor Manzonis zieht sich, verbindend und erhöhend, jenes echte, mitschwingende Gefühl hindurch, das dem Werke die warme Tönung gibt. Verstand und Phantasie verbinden sich mit Liebe zu den Menschen und ihrer Welt. Jene Liebe, sich offenbarend in Mitgefühl und Mitleid, mündet bei Manzoni ganz in der religiösen Sphäre, genauer und bestimmter gesagt: in der christlich-katholischen Religion. Aber sein Glaube ist nicht einseitig und orthodox, sondern, auf dem Grunde des Katholizismus fußend, allgemein und menschlich weit, so daß er über seine örtlichen und zeitlichen Bindungen zu höherer Geltung emporwächst. Er ist solcher Art, daß jeder Mensch, gleich von welchem Glaubensbekenntnis er sei, davon ergriffen werden muß, wenn er nur irgendein religiöses Gefühl besitzt.
Als Quintessenz des Romans soll die Erfahrung der beiden Verlobten gelten, die sie am Schluß aussprechen und die wohl aus Manzonis eigenem Glauben geboren ist: »Das Unglück stellt sich oft ein, weil der Mensch ihm die Gelegenheit gibt; aber auch das vorsichtigste und unschuldigste Benehmen genügt nicht immer, es fernzuhalten; die Leiden mögen indessen mit oder ohne Schuld uns treffen, das Vertrauen in Gott mildert sie und macht sie für ein besseres Leben nutzbringend. Diese Folgerung, wenn auch nur von ungebildeten Leuten gefunden, dünkte uns so passend, daß wir sogleich bedacht waren, sie als den Kern unserer ganzen Geschichte hierherzusetzen.«
Das Vorbild des Italieners Manzoni waren die historischen Romane Walter Scotts. Es schwebte ihm vor, für seine Heimat das zu schaffen, was der große Schotte für sein nordisches Land erstrebt hat: die Verherrlichung der heimatlichen Geschichte (und Sage) im volkstümlichen Roman. Manzoni hat sein Vorbild erreicht, das ist sicher; er hat in mancher Beziehung, weil er langsam und gründlich arbeitete, sogar den Vielschreiber Walter Scott übertroffen. Bei solcher Gleichartigkeit der Ziele und Gleichwertigkeit des dichterischen Gehalts im ganzen ist es reizvoll und aufschlußreich zugleich, zu fragen, inwiefern sich beide Dichter unterscheiden. Die Antwort liegt in den Verschiedenheiten der Landschaft und des Volkes begründet. Der italienische Literaturhistoriker Luigi Settembrini findet dafür einen treffenden, wundervollen Vergleich. Er sieht, wenn er an Manzonis Roman denkt, im Geiste ein Dorfkirchlein von reiner italienischer Bauart vor sich, neu, sauber und leuchtend im blendenden Weiß, mit Kirchengerät von feinster Arbeit, mit den zwei prächtigen Gemälden von der Hungersnot und von der Pest darin; rüstige Fratres walten in dem Kirchlein ihres Amtes, singen und predigen und veranstalten Prozessionen, und bedeuten alles im Ort, und die Dorfbewohner verehren sie; und wer ihnen bei der Messe behilflich sein darf, dünkt sich Wunder was zu sein; auch ein paar Edelherren lassen sich dort sehen, aber nur Sonntags, um ihre Andacht zu halten. Die Romane Walter Scotts dagegen erinnern an den großen gotischen Tempel von Westminster, wo die Gräber der Könige und Königinnen sind und viele andere Nationalheiligtümer, mit den langen Fenstern, geschmückt mit Glasmalerei, und den vielen zwar nicht schönen, aber alten, reichen und ehrfürchtig aufbewahrten Geräten; Bauern und Fremde kommen dahin und sehen die ganze Geschichte eines großen Volkes. Der Italiener hat religiöses Gefühl und schafft ein Werk in reinsten Ausmaßen, der Schotte hat Nationalgefühl und schafft ein vielseitiges Werk, das wohl in manchem ein wenig seltsam, aber immer bewunderungswürdig ist. Der Italiener hat mehr Verstand, der Schotte mehr Phantasie; der Italiener lächelt, der Schotte bricht bisweilen in ein grobes Lachen aus; der Italiener kennt besser das Menschenherz, der Schotte kennt besser die Welt: Beide sind wahre Künstler, jeder groß in seiner Art, und wer sagen wollte, der eine sei größer als der andere, würde gänzlich falsch urteilen, denn sie sind nicht vergleichbar, und die Kunst hat nicht nur eine Seite, zeigt nicht immer das gleiche Gesicht.
Wer empfänglich ist für eine Dichtung voll echten, einfachen, natürlichen Gefühls, wer noch nicht durch die Lektüre moderner, psychologisch verworrener Werke voreingenommen ist, der lese also dieses Buch: es gibt Erquickung und Labsal, wie die Sonne des Südens sie gibt. Ein Ausspruch Goethes über den Roman enthält vielleicht alles, was über ihn zu sagen ist und gesagt werden kann:
»Eine durchaus reife Frucht; und eine Klarheit in der Behandlung und Darstellung des einzelnen wie der italienische Himmel selber.«
Mit diesem Worte übergeben wir diese Neuausgabe der alten Übersetzung (vgl. dazu das Nachwort des Herausgebers) dem Leser. Möge das Werk in dieser Gestalt sich viele neue Freunde werben.
Hamburg, im Januar 1929.
Dr. Hermann Tiemann.