Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Künstlerin Fröhlich dachte am folgenden Morgen lange nach, was sie in der Stadt zu besorgen haben könne, und als sie es gefunden hatte, ging sie. Sie schielte nach ihrem Spiegelbild in jedem Schaufenster; sie hatte für ihre Toilette zweiundeinehalbe Stunde gebraucht. In ihrem Pulsschlag war ein bißchen Erwartungsfieber. Am Anfang der Siebenbergstraße, vor der Buchhandlung von Redlien, blieb sie stehen – sie war noch nie vor der Buchhandlung stehengeblieben –, senkte den Kopf über die Auslage und spürte im Nacken einen angstvollen Kitzel, als sollte sogleich jemand hineingreifen. Da sprach es ihr in den Nacken: »Gnädige Frau? Sieht man sich mal wieder?«
Sie zwang sich, indem sie sich wendete, zu anmutiger Langsamkeit in der Bewegung.
»Ach? Herr Lohmann? Sind Sie auch wieder im Lande?«
»Wenn ich dadurch nicht Ihr Mißfallen errege, gnädige Frau?«
»Wieso denn. Aber wo haben Sie bloß Ihren Freund gelassen?«
»Sprechen Sie vom Grafen Ertzum? Nun, der hat seine eigenen Wege ... Aber gehn wir nicht weiter, gnädige Frau?«
»So? Und was macht er denn für gewöhnlich, Ihr Freund?«
»Er dient als Avantageur, gnädige Frau. Augenblicklich weilt er auf Urlaub hier.«
»Ach nee, was Sie sagen. Is er denn noch so nett wie früher?«
Daß Lohmann auch gar nicht aus seiner Ruhe kam, obwohl sie sich immer nur nach seinem Freund erkundigte. Sie hatte sogar das Gefühl, als machte er sich lustig. Das Gefühl hatte sie auch damals im Blauen Engel meistens gehabt bei Lohmann, und sonst bei niemand. Ihr ward ganz heiß. Er forderte sie auf, in die Konditorei einzutreten. Sie erwiderte ärgerlich: »Gehn Sie man alleine. Ich muß weiter.«
»Wir stehen schon etwas zu lange an dieser Ecke, gnädige Frau, für die scharfen Augen der Kleinstädter.«
Er machte die Tür vor ihr auf. Sie seufzte und ging raschelnd hinein. Er blieb auf dem Wege ins Nebenzimmer ein Stück hinter ihr und wunderte sich nochmals darüber, wie vorteilhaft ihre lange Taille zur Geltung kam; wie sie gut frisiert war; wie damenhaft sie ihren Rock schleppen ließ; was seither aus ihr geworden war. Dann bestellte er Schokolade.
»Sie sind ja inzwischen eine bekannte Persönlichkeit hier geworden?«
»Es geht«, sagte sie; und ablenkend: »Aber Sie? Was haben Sie eigentlich gemacht? Wo haben Sie gesteckt?«
Er berichtete bereitwillig. Er war ein wenig auf der Handelsschule gewesen in Brüssel und darauf in England als Volontär bei einem Geschäftsfreund seines Vaters.
»Sie haben sich gewiß mächtig amüsiert«, meinte sie.
»Nein. Nicht mein Fall«, sagte er dürr, sogar verächtlich, und mit dem bekannten schauspielerischen Faltenwurf im Gesicht. Sie betrachtete ihn von der Seite mit scheuer Achtung. Er war ganz schwarz angezogen und hatte den schwarzen runden Hut auf dem Kopf behalten. Sein Gesicht war noch etwas gelber und schärfer geworden; es war glattrasiert; und es richtete sich mit halbgesenkten Lidern, dunkeln und merkwürdig dreieckigen, irgendwohin, wo nichts los war. Sie wollte ihn nötigen, sie anzusehen. Auch drängte es sie, sich zu überzeugen, ob er noch seinen Schopf habe.
»Warum nehmen Sie denn Ihren Hut nich ab?« fragte sie.
»Gnädige Frau haben recht«, und er gehorchte. Jawohl; sein Haar stieg noch als Wirbel in die Höhe und fiel als Locke auf die Stirn zurück. Er betrachtete sie endlich mit ganzem Blick.
»Im Blauen Engel legten gnädige Frau noch nicht soviel Wert auf die Formen. Wie man sich verändert. Wie wir alle uns verändern. Und in der lächerlichen Zeit von zwei Jahren.«
Er sah wieder weg und dachte so sichtlich an etwas anderes, daß sie gar nichts mehr zu sagen wagte, obwohl seine Äußerung sie ein wenig gestochen hatte. Aber er hatte dabei vielleicht nicht mal sie gemeint! So hatte es geklungen.
Lohmann hatte Frau Dora Breetpoot gemeint, und daß er sie so anders wiedergefunden hatte, so anders als das Bild von ihr, das seine Seele mit fortgenommen hatte. Er hatte sie als große Dame geliebt. Sie war die große Dame der Stadt gewesen. Einmal in der Schweiz hatte sie die Bekanntschaft einer englischen Herzogin gemacht, und etwas rituelle Weihe war von dieser Berührung an ihr haftengeblieben. Sie vertrat in der Stadt eigentlich die Herzogin. Daß der englische Adel der erste der Welt sei, daran durfte hier niemand zweifeln. Später auf einer Reise nach Süddeutschland war ihr von einem Rittmeister aus Prag der Hof gemacht worden; damals trat die österreichische Aristokratie gleichberechtigt neben die englische ... Wie Lohmann von dem allen sich hatte einschüchtern lassen, es gutgläubig mitgemacht hatte: es war erstaunlich. Es war vor allem erstaunlich, daß das keine zwei Jahre her war. Jetzt kehrte er in die Stadt zurück – sie hatte sich zusammengezogen, als sei sie aus Gummi. Das Breetpootsche Haus war nur noch halb so groß – und drinnen saß eine kleine Provinzdame. Nicht viel mehr als Provinzdame. Gewiß, sie hatte immer noch den Medaillenkopf der Kreolin; aber im Munde der Medaille die Dialektausdrücke! Die Mode vom Vorjahr, und nicht ganz richtig verstanden. Schlimmer noch, Abstecher ins Persönlich-Künstlerische, die mißlangen. Und der Empfang des aus fernen Gesellschaften Wiedergekehrten, als habe er ihr Grüße zu bringen; und der irritierende Anspruch, nicht hier hineinzupassen. Ja, daß ihn das früher nicht irritiert hatte? Zwar hatte er damals kaum ein Wort von ihr erhalten, war kaum bemerkt worden. Er war ein Schüler gewesen. Jetzt war er ein Herr, man kokettierte, man trachtete ihn zu fesseln in dem »Kreis« um die eigene kleine Person herum ... Er war mit Bitterkeit erfüllt worden bis an den Hals. Er dachte an die alte Flinte, die damals immer bereitgelegen hatte, ernsthaft bereit für den Fall, daß er entdeckt ward. Er empfand noch heute melancholischen Stolz auf die Knabenleidenschaft, die bis an die Schwelle seiner erwachsenen Jahre gedauert hatte, durch Scham, Lächerlichkeit, ja ein wenig Ekel hindurch immer noch gedauert. Trotz Knust, von Gierschke und den andern. Trotz der zahlreichen Nachkommenschaft der geliebten Frau. Wie er in der Nacht nach ihrer letzten Entbindung das Tor ihres Hauses geküßt hatte! Das war noch etwas gewesen, davon mußte man zehren. Er erkannte, daß er damals so viel besser gewesen war, so viel reicher. (Wie hatte er sich damals müde vorkommen können. Jetzt war er's.) Das Beste, was er in seinem Leben zu verschenken gehabt hatte, die Frau da hatte es ahnungslos bekommen. Nun, da er leer war, warb sie um ihn ... Lohmann liebte die Dinge vor allem um ihres Nachklangs willen, die Liebe der Frauen nur wegen der ihr nachfolgenden bitteren Einsamkeit, das Glück höchstens der würgenden Sehnsucht zuliebe, die es in der Kehle zurückläßt. Diese kleine schattenlos gegenwärtige Snobdame war ihm schwer erträglich, denn sie entstellte ihm die Wehmut des einst Gefühlten. Er nahm ihr alles übel, auch die Spuren des Verfalls, die sich in ihrem Salon – noch nicht an ihrer Person – verrieten. Er wußte von Breetpoots schlechtem Stande. Welche Lasten von Zärtlichkeit würde ihr das ehemals eingetragen haben von ihm. Nun sah er bloß, wie ihre Bemühungen um Grazie von der um sie her einreißenden Knappheit anspruchsvoll abstachen, und schämte sich im voraus für sie, wegen der etwas würdelosen Gespreiztheit, mit der sie die Armut hinhalten und verleugnen würde. Er war beleidigt, wenn er sie ansah; beleidigt und gedemütigt, wenn er sich klarmachte, wie er selbst sich nun innerlich aufführte. Was das Leben aus einem machte. Gesunken war er. Sie war gesunken. Als er ging, fühlte er mit ängstlicher Genauigkeit das Entweichen von Lebensjahren, und daß hier die Tür sich schloß hinter einer Liebe, die so viel gewesen war wie eine Jugend.
Dies war ihm am Morgen nach seiner Ankunft geschehen. Gleich darauf traf er mit Ertzum zusammen und dann sie beide in der Siebenbergstraße mit den Unrats. In dieser Enge konnte das nicht lange ausbleiben. So kurz Lohmann auch in der Stadt war, er hatte doch schon von ihnen sprechen gehört; und des alten Unrat Taten hatten seine Liebhaberei für menschliche Seltsamkeiten lebhaft angesprochen. Er stellte fest, daß Unrat alles erfüllt habe, was sich vor zwei Jahren in ihm angekündet hatte; eher mehr als weniger. Aber noch großartiger fast erschien ihm die Entwicklung der Künstlerin Fröhlich. Von der Chanteuse des Blauen Engels zur Demi-Mondaine hohen Stils! Denn schließlich, auf den ersten Anblick war sie's. Bei näherem Hinsehn drang dann das Kleinbürgerliche durch. Immerhin, es war alles mögliche, was hier geleistet war. Und die vielen gezogenen Hüte auf dem Wege des Ehepaars! Und all die demütige Begehrlichkeit, wo immer die Künstlerin Fröhlich ihr Parfüm hinwehte! Zwischen ihr und ihrem Publikum, der Stadt, hatte augenscheinlich eine Art von gegenseitiger Beschwindelung stattgefunden. Sie hatte sich als repräsentative Schönheit gebärdet, war allmählich dafür angesprochen worden und hatte es selbst wieder den Leuten geglaubt. So ähnlich mußte es wohl seinerzeit mit Dora Breetpoot zugegangen sein und ihrem Anspruch auf mondänen Schick? Lohmann fand es von prickelnder Ironie, wenn er sich jetzt mit der Fröhlich befaßte. Er konnte ja der Zeit gedenken, wo er Verse gemacht hatte auf beide; wo er, in der Rachsucht seines Leidens, Dora Breetpoot hatte beschmutzen wollen dadurch, daß er, mit ihr im Herzen, den Liebkosungen der andern den Geschmack düstern Lasters zu geben sich vornahm. Laster? Jetzt, da er keine Liebe mehr hatte, begriff er auch kein Laster mehr. Keine Bitterkeit seines Herzens gegen Frau Breetpoot kam Frau Unrat zugute. Nichts würde sich in ihm regen, wenn er mit ihr am Breetpootschen Haus vorbeiging. Er führte einfach eine elegante Kokotte durch die entgötterte Stadt.
Ertzum nahm er dabei lieber nicht mit. Ertzum hatte, sobald er das gute Mädchen zu sehen kriegte, kopflos mit dem Säbel zu rasseln angefangen und eine ganz rauhe Stimme bekommen. Ertzum war imstande, gleich wieder mit schweren Gefühlen loszulegen. Für Ertzum war immer alles Gegenwart – wohingegen Lohmann in der vormittäglich leeren Konditorei, an der Seite der Künstlerin Fröhlich, aus seinem Gläschen, das nie leer ward, nichts anderes nippte als den nebelhaften Nachgeschmack der Stimmungen von einst.
»Soll ich Ihnen etwas Kognak in die Schokolade gießen?« fragte er. »Das ist nämlich sehr gut.« Dann: »Was man von Ihnen aber alles hört, gnädige Frau!«
»Wieso?« fragte sie wachsam.
»Nun, Sie und unser alter Unrat sollen ja die Stadt auf den Kopf stellen und massenhaftes Unheil anrichten.«
»Ach das meinen Sie. Na ja, man tut, was man kann. Die Leute amüsieren sich bei uns – obschon ich mich als Hausfrau nich selber loben will.«
»Das sagt man. Auch ist über Unrats eigentliche Beweggründe wohl niemand im klaren. Man denkt, er benutze das Spiel für den Lebensunterhalt. Ich glaube anderes. Wir zwei, gnädige Frau, kennen ihn ja besser.«
Die Künstlerin Fröhlich war bestürzt und schwieg.
»Er ist der Tyrann, der lieber untergeht, als eine Beschränkung duldet. Ein Spottruf – und der dringt noch nachts durch die Purpurvorhänge seines Bettes und in seinen Traum – verursacht ihm blaue Flecke auf der Haut, und er braucht, um sich davon zu heilen, ein Blutbad. Er ist der Erfinder der Majestätsbeleidigung: er würde sie erfinden, wenn es noch zu tun wäre. Es kann kein Mensch sich ihm mit so wahnsinniger Selbstentäußerung hinwerfen, daß er ihn nicht noch als Empörer haßte. Der Menschenhaß wird in ihm zur zehrenden Qual. Daß die Lungen ringsumher einen Atem einziehn und ausstoßen, den nicht er selber regelt, durchgällt ihn mit Rachsucht, spannt seine Nerven bis zum Zerreißen. Es braucht nur noch einen Anstoß, eine zufällige Widersetzlichkeit von Umständen – ein beschädigtes Hünengrab und alles, was damit zusammenhängt; es braucht nur noch die Überreizung seiner Anlagen und Triebe, zum Beispiel durch eine Frau –, und der Tyrann, von Panik erfaßt, ruft den Pöbel in den Palast, führt ihn zum Mordbrennen an, verkündet die Anarchie!«
Die Künstlerin Fröhlich hatte den Mund offen; was Lohmann zufriedenstellte. Er unterhielt solche Damen immer in einer Weise, daß ihnen nichts anderes übrigblieb, als den Mund offenzubehalten. Übrigens lächelte er zweiflerisch. Er glaubte ja nur eine abstrakte Möglichkeit auf die Spitze zu stellen. Die Geschichte des alten lächerlichen Unrat zu erzählen, glaubte er denn doch nicht. Dazu sah er ihn noch zu sehr aus der Perspektive von unterhalb des Katheders; hatte es zu schwer, sich Ungeheuerlichkeiten als ganz wirklich vorzustellen, geschehen an dem, der ihm blöde Pfuschereien über die »Jungfrau von Orleans« zudiktiert hatte.
»Ich habe die größte Sympathie für Ihren Gemahl«, setzte Lohmann mit Lächeln hinzu und vervollständigte dadurch die Verblüffung der Künstlerin Fröhlich.
»Ihre Häuslichkeit wird wirklich überall gerühmt«, sagte er darauf.
»Naja, wir sind nämlich ganz himmlisch eingerichtet. Und auch sonst –«
Sie belebte sich von Ehrgeiz.
»Für unsere Gäste is uns nischt zu viel. Die Leute stehn manchmal kopp bei uns, Sie würden lachen. Ach, wenn Sie kämen, Ihnen zu Ehren sing ich überhaupt das ›Affenweib‹, das tu ich sonst nich, weil es doch 'n bißchen zu sehr rausfällt.«
»Gnädige Frau sind unwiderstehlich.«
»Sie wollen woll wieder ulken?«
»Sie überschätzen mich. Das Scherzen ist mir vergangen, als ich Sie wiedergesehen habe. Gnädige Frau müssen ja wissen, daß Sie das einzige sind, was hier am Orte in Betracht kommt.«
»Na und?« machte sie befriedigt, aber ohne sich zu wundern.
»Allein schon Ihr Anzug. Das resedagrüne Tuchkleid ist selbstverständlich durchaus auf der Höhe. Den schwarzen Hut haben Sie sehr mit Recht dazu gewählt. Wenn ich einen einzigen Einwand vorbringen darf: die Stola aus point-lacé wird dies Jahr nicht mehr getragen.«
»Ach nee.«
Sie rückte näher.
»Wissen Sie das auch sicher? Denn hat der Ekel mich doch mit angeschmiert. Ein Glück, daß sie nich bezahlt is.«
Sie errötete; und rasch: »Bezahlen will ich sie meinswegen. Aber tragen, nee. Heut zuletzt, verlassen Sie sich drauf.«
Sie war glücklich, ihm recht geben, sich ihm unterwerfen zu können. Seine Beschlagenheit in betreff Unrats erhöhte ihre Achtung vor Lohmann bis zur Fassungslosigkeit. Nun wußte er auch noch in der Mode Bescheid. Er redete wieder so fein: »Was Sie, gnädige Frau, diesen Kleinstädtern geworden sein müssen! Eine Herrscherin über Gut und Blut, eine angebetete Verderberin. Eine Semiramis, was weiß ich. Alles stürzt sich, von Taumel gepackt, ungebeten in den Abgrund, nicht wahr?« Und da sie sichtlich zu weit zurückblieb: »Ich meine, die Männer lassen sich nicht lange bitten, und Sie haben von ihnen mehr, als Sie brauchen können, von allen ohne Ausnahme, wenn ich mich nicht irre, gnädige Frau.«
»Nu übertreiben Sie aber bedeutend. Daß ich hier Glück habe und ziemlich viel geliebt werde, na ja.«
Sie trank erst; das mußte er wissen.
»Aber wie Sie sich einbilden, daß ich hier losgehn soll – nee ... Glauben Sie man nich«, und sie sah ihm in die Augen, »es geht jedermann so gut, daß er mit mir alleine bei Schokolade und Kuchen sitzen darf.«
»Aber ich darf das? Dann bin wohl ich jetzt daran?«
Er legte den Kopf zurück und bekam Falten. Sie konnte, betreten, nur noch auf seine niederhängenden Lider blicken.
»Aber«, fuhr er fort, »ich sollte bei Ihnen, wenn ich mich recht erinnere, der Letzte sein? Haben Sie mir das seinerzeit nicht des öftern in Aussicht gestellt, gnädige Frau? Dann sind also –«, und er öffnete ganz unverschämt die Augen, »alle andern bereits abgemacht?«
Sie war nicht gekränkt, nur gequält.
»Ach Mumpitz, Sie haben ganz falsche Begriffe, die Leute quasseln. Zum Beispiel, mit Breetpoot. Den soll ich weiß Gott wie ausgelutscht haben. Jetzt heißt es, er hat auch noch dem Ertzum sein Geld – ach Gott.«
Sie merkte zu spät, was sie gesagt hatte, und sah erschrocken in ihre Tasse.
»Das ist allerdings das Schlimmste«, versetzte Lohmann hart und düster. Er wandte sich halb weg, und es entstand Schweigen.
Die Künstlerin Fröhlich wagte endlich schüchtern zu bedenken zu geben: »Ich bin es doch nich alleine gewesen. Wenn Sie wüßten, wie der gebettelt hat. Wie 'n Kind, sag ich Ihnen. Die olle Zahnlücke. Der ganze Kerl is eine Zahnlücke. Sie werden es nich glauben, aber durchgehn wollt er mit mir. Der mit seiner Zuckerkrankheit, danke.«
Lohmann bedauerte es schon, eine moralische Anwandlung gehabt zu haben, bei einem so unterhaltenden Theater. Er sagte darum: »Ihre Soireen möchte ich mir tatsächlich einmal ansehen.«
»Also Sie sind eingeladen!« sagte sie rasch und freudig. »Kommen Sie man, ich rechne bestimmtest drauf. So nu muß ich aber weiter, bleiben Sie man sitzen. Ach Gott nee!«
Sie wandte sich klagend hin und her, faltete die Hände.
»Es geht ja nich, weil Unrat gesagt hat, nu sind wir komplett, un neue will er nich. Das vorige Mal hat er mir schon Krach gemacht. Darum, Sie verstehn –«
»Vollkommen, gnädige Frau.«
»I wo, markieren Sie nu man nich gleich die gekränkte Leberwurscht, darum können Sie mich ja doch besuchen, wenn niemand da is. Zum Beispiel heut nachmittag um fünf. Nu aber raus.«
Und sie rauschte, mit allen Zeichen höchster Eile, durch die Portiere.
Lohmann wußte gar nicht, wie das gekommen war; wie es gekommen war, daß er sogar Lust hatte. Er vermutete dabei die Anziehung, die das Verderben ausübt. Grade weil Ertzum nun eigentlich durch diese spaßige kleine Kypris mit dem gutmütigen Zynismus ihres Volkstons seinem Verderben nahe gebracht war. Und Ertzum liebte sie noch immer. Ertzum konnte für sein Geld wenigstens glücklich werden. Lohmann ging ganz kahl hin, ohne einen Funken. Er ging an Stelle seines Freundes, der sie sich durch langes Leiden verdient hatte. Wie unmöglich das vor zwei Jahren gewesen wäre. Er erinnerte sich, daß er damals mit Unrat der Alte, selber schon ganz verloren, wollte ihn noch von der Schule jagen – Mitleid empfunden hatte, aufrichtiges, gar nicht boshaftes Mitleid. Jetzt dagegen ging er zu seiner Frau. Was das Leben aus einem machte, meinte Lohmann nochmals, melancholisch und stolz.
Es empfing ihn, aus dem Innern der Wohnung, ein lautes Schelten. Das Mädchen öffnete ihm verlegen die Tür zum Salon. Lohmann erblickte der Künstlerin Fröhlich gegenüber, die sehr erregt war, einen schwitzenden Mann mit einem Blatt Papier in der Hand.
»Was wollen Sie denn?« fragte er den Mann. »Ach so. Wieviel ist es. Fünfzig Mark! Und darum das Geschrei.«
»Tjä, Herr«, erwiderte der Gläubiger, »ich bin man schon fumzigmal gekommen, wegen jede Mark einmal.«
Lohmann bezahlte und entließ ihn.
»Gnädige Frau mögen mir meinen Übergriff nicht verübeln«, äußerte er, nicht mehr ganz frei. Er fand sich in falscher Lage; was er jetzt etwa bekam, war ein Entgelt für das Geleistete. Wenigstens durfte es dann nicht bei fünfzig Mark bleiben; hiergegen wehrte sich Lohmanns Eitelkeit.
»Da ich einmal begonnen habe, dreist zu sein – gnädige Frau, man schildert Sie mir, ich weiß nicht, ob mit Recht, als in einige peinliche Geldfragen verwickelt.«
Die Künstlerin Fröhlich schlang krampfhaft die Finger ineinander und löste sie wieder. Sie wendete den Kopf ratlos hin und her auf dem steifen Kragen ihres tea-gown. Die tausend Plackereien ihrer von Lieferanten, Liebhabern und Wucherern gehetzten Tage stürzten ihr alle auf einmal durch den Sinn – und dort, in der ihr hingehaltenen Brieftasche, war ein dicker Packen brauner Scheine.
»Wieviel?« fragte Lohmann ruhig; und immerhin vorsichtig: »Ich würde so weit gehen, wie ich kann.«
Sie hatte ausgekämpft. Sie wollte nicht gekauft sein, von Lohmann nun mal grade nicht. »Nee, es is überhaupt nich wahr«, sagte sie. »Ich brauche nischt.«
»Um so besser. Andernfalls hätte ich mich geschmeichelt gefühlt, gnädige Frau –«
Er dachte flüchtig an Dora Breetpoot, und daß nun auch sie geldbedürftig und, wer weiß, für Geld zu haben sei? ... Um der Künstlerin Fröhlich noch die Wahl zu lassen, legte er die Brieftasche geöffnet auf den Tisch.
»Platzen wir uns man endlich«, sagte sie, und heiter ablenkend: »Haben Sie aber 'n gespicktes Portefölch!« Da er in kühlem Schweigen blieb: »Wie Sie all das Pinke-Pinke bloß loswerden. Sie tragen ja nich mal Ringe an den Fingern.«
»Ich werde es auch niemals los.«
Und er erklärte, unbesorgt, ob sie verstehe: »Ich bezahle keine Frauen, weil ich mich nicht selber demütigen möchte. Übrigens ist es unnötig. Es geht wie mit den Kunstwerken, für die ich Gott weiß was hingeben würde. Aber kann man die eigentlich besitzen? Man sieht eines im Laden, man trägt einen Traum fort. Dann kehrt man vielleicht um und kauft? Was kauft man? Die Sehnsucht bedarf keines Geldes, die Erfüllung ist es nicht wert.«
Und er drehte sich von seiner Brieftasche schmollend weg. Zugleich übersetzte er ins Populäre: »Ich will sagen, daß ich schon tags darauf genug davon habe.«
Die Künstlerin Fröhlich, von Ehrfurcht berührt und zugleich ein ganz wenig spottsüchtig im Angesicht ihres Idols, bemerkte: »Denn kaufen Sie sich woll nischt wie Essen und Trinken.«
»Können Sie mir etwas anderes anraten?« Und er sah ihr auf einmal mit gefalteter Stirn so unverschämt in die Augen, als fragte er: Soll ich Sie kaufen, Sie? Achselzuckend, als Antwort auf das Unausgesprochene: »Die körperliche Liebe ist schlechthin widerlich.«
Sie war ganz betreten. Dann wagte sie schüchtern, es komisch zu finden und sagte: »Ach nee.«
»Man muß sich herausheben«, bestimmte Lohmann, »sich rein und hoch machen. Reiten, wie Parsifal. Ich werde wahrscheinlich bei der Kavallerie dienen und gleichzeitig die Hohe Schule erlernen. Es gibt, von den Zirkusleuten abgesehn, in ganz Deutschland keine hundert Personen, die Hohe Schule reiten können.«
Nun lachte sie ganz offen.
»Aber denn werden Sie ja selber 'n Zirkusfritze, 'ne Art entfernter Kollege von mir. Wie ich das finde.«
Seufzend: »Wissen Sie noch, der Blaue Engel? Das war doch das Beste.«
Lohmann stutzte.
»Es kann sein«, versetzte er mit Überlegung, »daß das das Beste war. Die Epoche im ganzen.«
»Zu der Zeit konnte man woll lachen, man brauchte sich noch nich rumzuschlagen mit der ganzen Bande. Wenn ich denke, wie wir zwei beide zusammen getanzt haben, un denn kam Unrat, und Sie mußten durch das rote Fenster ... Wissen Sie woll, daß er noch immer mächtig scharf is auf Sie« – sie lachte erregt – »und Wurst von Ihnen machen möcht?«
Sie horchte immer mit einem Ohr nach der Tür – und dabei sah sie Lohmann vorwurfsvoll an, weil er alles ihr überließ. Nun, dann wollte sie die Sache alleine machen. Sie hatte sich Lohmann in den Kopf gesetzt: vor allem, weil alle ihr erlaubt waren, und dieser einzige nicht. Das war ja nicht auszuhalten. Dann, weil ein bißchen trotzige Begierde noch aus den einfacheren Zeiten, deren sie jetzt mit Seufzen gedachte, dank Unrats Mißtrauen und seinem gräßlichen Haß wachgeblieben war und nun durch Lohmanns erhöhte Überlegenheit und seine fremdartige Distinktion gereizt ward bis zum Schwindel. Schließlich: weil es gefährlich war. Weil die Luft um sie her mit Katastrophen geladen war und die Herbeiführung ihres Platzens ein Kitzel war für die Künstlerin Fröhlich.
»Un wie Sie damals gefühlvoll gedichtet haben!« sagte sie. »Das tun Sie gewiß gar nich mehr. Wissen Sie noch, Ihr Lied vom runden Mond, was ich mal gesungen hab, und die Leute lachten so dämlich?«
Sie bog sich schwärmerisch über die Seitenlehne ihres Sessels, setzte die Finger ihrer Rechten auf die Brust und stimmte an, hoch und schwach: »Der Mond ist ruhnd, und alle Sterne scheinen –«
Sie sang die ganze Strophe und dachte sich dabei, daß dies das einzige Lied auf der Welt sei, das sie nicht singen dürfe; und hatte dabei fortwährend Unrats Gesicht vor Augen. Es war fürchterlich; aber es war ein bißchen komisch geschminkt, und die Büchse »bellet« mit dem Spiegel hielt Unrat in der Hand.
»Mein Herze weint, und alle Sterne lachen.«
Lohmann, peinlich berührt, versuchte ihr zu steuern. Aber sie brach unaufhaltsam die zweite Strophe an.
»Der Mond ist ruhnd ...«
Da krachte die aufgestoßene Tür, und Unrat stand, mit einem langen Schleichsatz, im Zimmer. Die Künstlerin Fröhlich kreischte hoch auf und flog in den Winkel, hinter Lohmanns Sitz. Unrat keuchte wortlos; und sie fand ihn genau so aussehend, wie sie ihn sich beim Singen vorgestellt hatte. Er machte wieder die scheußlichen Augen von gestern. Warum hatte er auch keinen Kamillentee gewollt, dachte sie in ihrer Angst.
Unrat dachte: nun sei es aus. Sein ganzes Werk, sein ganzes strafendes Vernichtungswerk sei umsonst, da zum Schlusse nun doch Lohmann bei der Künstlerin Fröhlich sitze. Er hatte sie ins Angesicht der ganzen Menschheit gestellt, daran gearbeitet, daß alles den andern Entrissene ihres werde – und inzwischen machte sie seine qualvollsten Gesichte zu Wahrheit, seine Gesichte von ihr und Lohmann, in dessen Zügen alles Schlimmste, Hassenwerteste sich zusammengedrängt hatte. Was blieb da noch? Es war aus mit der Künstlerin Fröhlich, und also aus mit Unrat. Er mußte sie zum Tode verurteilen, und damit sich selbst.
Er hatte nichts gesprochen – und plötzlich saß er ihr an der Kehle. Er gurgelte dabei, als sei er selbst der Gewürgte. Eine Sekunde hielt er inne, und schöpfte selber Atem. Sie benutzte die Sekunde, um zu schreien: »Ihm is die körperliche Liebe widerlich, hat er so gewiß gesagt.«
Unrat packte von neuem zu. Aber da zerrte es heftig an seinen beiden Schultern.
Lohmann tat dies nur versuchsweise. Er wußte nicht, ob ihm hier tatsächlich eine Rolle zufiel; ihm war, als träumte ihm. So etwas gab es ja eigentlich nicht. In seiner klugen Vorstellung ging Unrats absonderliche Entwicklung glatt vonstatten und gewissermaßen entrückt, wie in einem Buch. Etwas so Handgreifliches kam darin nicht vor. Lohmann hatte sich aus Anlaß seines alten Professors eine interessante Theorie zurechtgemacht; aber vor Augen hatte er Unrats Seele kaum – kaum ihre Abgrundflüge, ihr fürchterliches Auskohlen, ihr über alles hinaus zu sich selber Verdammtsein. Die Anschauung der Dinge, die Lohmann gefehlt hatte, nun kam sie zu jäh, und er hatte Furcht – die Furcht vor dem Wirklichen.
Unrat wendete sich nach ihm um. Inzwischen entwischte die Künstlerin Fröhlich, floh kreischend ins Nebenzimmer und schloß geräuschvoll ab. Einen Augenblick sah Unrat wie betäubt aus; dann raffte er sich auf und fing an, Schleichsätze um Lohmann herum zu machen. Lohmann war, um sich eine Haltung zu geben, an den Tisch zurückgetreten, nahm seine Brieftasche und strich darüber hin. Er dachte verschwommen darüber nach, was sich etwa sagen ließe. Wie dieses Wesen dort aussah! Etwas zwischen Spinne und Katze, mit wahnsinnigen Augen, über die farbige Schweißtropfen rannen, und mit Schaum auf dem klappenden Kiefer. Es war keine angenehme Lage, es mit gekrümmten Fangarmen überall um sich her zu haben. Was keuchte es?
Unrat keuchte unverständlich: »Elender – wagen es – Fassen – endlich fassen – Hergeben, alles herausgeben!«
Und da entriß er Lohmann die Brieftasche und stürzte mit ihr hinaus.
Lohmann stand noch da, voll eines großen Schreckens: denn hier wurden Verbrechen begangen. Unrat, der interessante Anarchist, beging ausgemachte Verbrechen. Nun war der Anarchist eine moralische Seltsamkeit und ein wohlverständliches Extrem; das Verbrechen eine Steigerung allgemein menschlicher Neigungen und Affekte, die nichts Auffallendes hatte. Unrat aber hatte bei Lohmanns körperlicher Gegenwart seine Frau zu erwürgen versucht, und er hatte an Lohmann selbst einen Raub begangen. Da geriet denn der Kommentator ins Stocken, dem Zuschauer versagte das wohlwollende Lächeln. Lohmanns Geist, der durch so unglaubwürdige Erlebnisse noch nie erprobt worden war, warf alle Eigenart ab und antwortete auf »Verbrechen« ganz bürgerlich mit »Polizei«. Wohl bewahrte er das Bewußtsein, dies sei kein besonders seltener Einfall, aber er sagte sich: ›Da hört's auf‹ und schritt stramm über das Bedenken hinweg. Ja, Lohmanns Schritt ward stramm, als er sich an die Tür zum Nebenzimmer begab, um daran zu rütteln. Er hatte deutlich gehört, wie die Künstlerin Fröhlich sich eingesperrt hatte; aber es war seine Pflicht, sich vollends zu überzeugen, daß sie nach seinem Weggang nicht in die Gewalt ihres mörderischen Gatten fallen könne ... Darauf verließ Lohmann das Haus.
Ein Stündchen verrann; dann wälzte sich ein immer noch anschwellender Haufe um die Straßenecke. Die Stadt war in Jubel, weil Unrats Verhaftung beschlossen war. Endlich! Der Druck ihres eigenen Lasters ward von ihr genommen, da die Gelegenheit dazu entfernt ward. Man warf, zu sich kommend, einen Blick auf die Leichen ringsumher und entdeckte, daß es höchste Zeit sei. Warum man eigentlich so lange gewartet hatte.
Ein Bierwagen, hoch voll Fässern, versperrte schon die halbe Straße, da mußte noch eine Droschke hindurch; und darin kamen die Beamten. Die Obstfrau von der Ecke lief mit; Herr Dröge, der Krämer, schleppte den Gummischlauch herbei.
Vor Unrats Hause johlte das Gedränge. Endlich erschien er, inmitten der Beamten. Die Künstlerin Fröhlich, wirr, zerzaust, ganz in Tränen, zuckendem Jammer, Reue und unerhörter Unterworfenheit, klammerte sich an ihn, lag über ihn hingehängt, löste sich auf in ihn. Sie war mitverhaftet worden, was Lohmann nicht vorausgesehen hatte. Unrat hob sie in den geschlossenen Wagen, der ganz verfinstert war mit Gardinen; und er suchte zerfahren umher im Geheul. Einer hinterm Lederschurz, der Bierkutscher, reckte seinen bleichen Schlingelkopf heraus und quäkte: »'ne Fuhre Unrat!«
Unrat warf sich herum, nach dem Wort, das nun kein Siegeskranz mehr war, sondern wieder ein ihm nachfliegendes Stück Schmutz – und erkannte Kieselack. Er schüttelte die Faust, er schnappte, den Hals vorgestreckt, in die Luft: aber Herrn Dröges Strahl prallte ihm grade in den Mund. Er sprudelte Wasser, empfing von hinten einen Stoß, stolperte das Trittbrett hinan und gelangte kopfüber auf das Polster neben der Künstlerin Fröhlich und ins Dunkel.