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Es war achteinviertel und Unrat noch immer nicht da. In der Gier, ihre Freiheit auszunutzen, lärmte die Klasse bis zur Selbstbetäubung, bis zur Verblödung. Alles schrie, ohne noch darum zu wissen: »Unrat! Unrat!« Die einen waren davon unterrichtet, er sei tot. Die andern schwuren, er habe seine Wirtschafterin zu Haus ins Kabuff gesperrt und sie verhungern lassen und befinde sich zu dieser Stunde im Zuchthaus. Lohmann, Ertzum und Kieselack schwiegen dazu.
Unversehens schlich Unrat langen Schrittes auf das Katheder zu und ließ sich mit Vorsicht, als schmerzten ihn seine Knochen, in den Sessel hinein. Viele hatten seine Gegenwart noch nicht bemerkt und brüllten weiter: »Unrat!« Aber es schien Unrat nichts daran zu liegen, ob er es ihnen »beweisen« könne. Er sah sehr grau aus, wartete geduldig, bis man ihn reden ließ, und betrug sich bei der Beurteilung der Antworten mit geradezu kränklicher Grillenhaftigkeit. Einen, dem er sonst leidenschaftlich nachzustellen pflegte, ließ er zehn Minuten lang die falscheste Übersetzung liefern. Einem andern fiel er giftsprühend ins erste Wort. An Ertzum, Kieselack und Lohmann sah er wieder standhaft vorbei – aber er dachte nur an sie. Er fragte sich, ob sie gestern nacht auf seinem mühseligen Heimwege nicht an einer Hausecke gestanden hätten, an der er sich, beide Hände auf der Mauer und grade sehr üblen Mutes, vorbeigetastet hatte. Er meinte sogar, sie angestoßen und Pardon gesagt zu haben ...
Aber sein Denken war auch noch damals unverwüstlich klar geblieben, und er hatte keinen Augenblick das Verständnis dafür eingebüßt, daß nicht alles, was er in jener Verfassung sah und spürte, der Außenwelt anzugehören brauchte.
Er litt großes Bangen, weil er über diese Sache nicht im reinen war. Was wußten die drei Verworfenen? ... Und was mochte gestern noch geschehen sein, nachdem Unrat selbst aus den Vorgängen ausgeschieden war? Waren sie zurückgekehrt in den Blauen Engel? War Lohmann in das Kabuff zurückgekehrt? ... Die Künstlerin Fröhlich hatte geweint; es war möglich, daß sie sogar schon geschlafen hatte. Aber Lohmann hatte sie vielleicht aufgeweckt? ... Unrat schmachtete danach, Lohmann die allerschwierigste Stelle zu erklären zu geben. Aber er wagte es nicht.
Lohmann, Graf Ertzum und Kieselack betrachteten ihn unablässig. Kieselack hatte dabei sehr wohl ein Gefühl für das Spaßige, Ertzum für das Erniedrigende, Lohmann für das Armselige in alledem; aber davon unabhängig berührte alle drei eine Art Grauen, eine gewisse schreckliche Weihe durch ihr dunkles Einverständnis mit dem Tyrannen.
Im Schulhof, während der Pause, lehnte sich Lohmann gegen die sonnige Mauer, verschränkte die Arme und hörte innerlich, wie gestern an der rauchigen Saalwand, sein Unglück erklingen in seinen Versen. Ertzum trat wie von ungefähr heran und fragte unterdrückt: »Auf dem Tisch lag sie und schlief? Das kann doch nicht sein, Lohmann.«
»Wenn ich dir sage, daß sie schnarchte. Er hat sie betrunken gemacht.«
»Der Gauner! Sobald ich ihn noch mal –!«
Ertzum schämte sich, seine Prahlerei zu beenden. Er knirschte stumm im Joch der Schule. Mehr Abscheu als Unrat machte ihm seine eigene Ohnmacht. Er war Rosas nicht würdig! ...
Kieselack drückte sich, im Hin und Her der Schüler, an den zwei Mitwissern vorbei und wisperte hinter der Hand, schiefen Mundes und heimlich geschüttelt von grauenvollem Jubel: »O Mensch, er fliegt ja rein, sag ich euch, er fliegt ja mächtig rein!«
Er fragte, ehe er vorüber war, noch rasch: »Kommt ihr wieder hin?«
Die beiden hoben die Schultern. Das war wohl eine verächtliche Selbstverständlichkeit.
Für Unrat war es Pflicht, und sie ward täglich erfreulicher, je mehr er sich einlebte bei der Künstlerin Fröhlich. Er war, damit Lohmann ihm nicht zuvorkäme, immer der erste im Blauen Engel. Dann ordnete er die Toilettengegenstände, suchte die saubersten Unterröcke und Höschen hervor, legte, was zu flicken war, auf einen Stuhl abseits. Die Künstlerin Fröhlich erschien spät, denn sie fing an, sich auf Unrat zu verlassen. Er verstand bald, seine grauen Finger ganz spitz zu machen und die Knoten an ihr damit aufzulösen, ihre Schleifen geradezuziehen, die Nadeln aus den Verstecken an ihrem Körper hervorzuholen. Wenn sie sich schminkte, löste sich ihm das rosablaßgelbe Spiel ihrer eiligen Arme allmählich in sinnreiche Griffe auf. Er fand sich auf der Palette ihres Gesichts zurecht, erlernte Namen und Nutzen der farbigen Stangen und Fläschchen, der stäubenden Säckchen und Schachteln, der fettigen Büchsen und Töpfe; übte sich still und eifrig in ihrer Anwendung. Die Künstlerin Fröhlich bemerkte seine Fortschritte. Eines Abends lehnte sie sich vor dem Spiegel auf ihrem Stuhl zurück und sagte: »Nu los.«
Und er richtete ihren Kopf so vollkommen her, daß sie den Finger in keine Salbe mehr zu tauchen brauchte. Sie wunderte sich über seine Fertigkeit und verlangte zu wissen, wie er sie so rasch erworben habe. Er errötete wolkig und stotterte irgend etwas; aber ihre Neugier blieb ungestillt.
Unrat erfreute sich der Bedeutung, die er in der Garderobe erobert hatte. Lohmann durfte nicht mehr hoffen, ihn zu ersetzen. Würde Lohmann etwa behalten haben, daß der rosa Bolero dort zum Färber sollte? Ja, wenn Lohmann durch eifrigeres Memorieren der aufgegebenen Homerverse sein Gedächtnis geübt hätte! Nun stellten sich die Folgen des Müßigganges heraus! ... Und zwischen den weißen Wäschestücken am Boden und auf den Möbeln schlich Unrat umher wie eine große schwarze Spinne, behende ausgreifend mit dünnen, gekrümmten Gliedmaßen. Unter seinen grauen, eckigen Händen glätteten sich mürbe Stoffe, raschelnd und knisternd. Andere glitten unversehens zu Formen auseinander, die sie im Verschwiegenen bewahrt hatten – zu einem Arm, einem Bein, das Unrat befangen anschielte, mit dem Gedanken: ›Freilich nun wohl – immerhin.‹
Dann stahl er sich an den Türspalt und lugte nach ihr aus, deren Stimme pfiff und kreischte unter dem Donnern des Klaviers, deren Glieder Würfe machten durch den Rauch, und nach den dummen Köpfen, wie geblähte Tulpen in einem Beet, die sie begafften. Er war stolz auf sie, verachtete den Saal, wenn er klatschte, spritzte auf in Haß gegen ihn, wenn er schwieg – und ein ganz eigenes Gefühl widmete er ihm, wenn er vor Vergnügen gluckste, weil die Künstlerin Fröhlich sich tief gegen ihn verneigt und ihm die Öffnung ihrer Korsage freigebig zugewendet hatte. Dann stand Unrat eine kribbelnde Angst aus ... Nun wehte sie, in einem Windstoß von Beifall, zur Tür herein, und Unrat durfte ihr einen Abendmantel umlegen und ihr den Hals ein wenig pudern.
Dabei bekam er ihre Launen zu spüren. Je nachdem sie ihm gnädig die Schultern hinhielt oder ihm den Puderquast gegen das Gesicht schlug, daß er nichts mehr sah, brach eine gute Stunde an für Unrat oder eine schlechte. Seine Blicke unter die weibliche Oberfläche führten tiefer als nur bis dort, wo die Kleider aufhörten. Er bekam heraus, daß sich mit den Stoffen und Pudern beinahe auch die Seele handhaben und riechen lasse; daß Puder und Stoffe schon nicht viel weniger seien als die Seele ...
Die Künstlerin Fröhlich zeigte sich ihm bald ungeduldig und bald freundlich. Und es brachte ihn aus dem Geleise, wenn sie sich mit unvorhergesehenem Ruck auf ihre Freundlichkeit besann. Ihm war viel unbefangener zumute, wenn sie schalt ... Sie besann sich aber von Zeit zu Zeit auf einen Plan in seiner Behandlung, dessen Durchführung sie erheblich langweilte; auf Verhaltungsmaßregeln, die sie empfangen hatte und denen sie sich fügte, aber ohne rechte Überzeugung. Dann ward sie auf einmal gesetzt, mit einem kleinen Stich ins Gefühlvolle und einer Miene, als säße sie zu seinen Füßen; der Miene, die man aufsetzen muß, wenn man bei einem ernsten Mann was machen will ... Aber bald, und das erleichterte Unrat, ohne daß er sich klar ward weshalb – schob sie ihn wieder vom Stuhl fort, wie einen Packen Unterröcke.
Einmal gab sie ihm sogar einen Backenstreich. Darauf zog sie hastig ihre Hand zurück, betrachtete sie, roch daran und versetzte starr: »Sie sind ja fettig.«
Er errötete, hilflos. Und sie brach aus: »Er schminkt sich! Nu schlag einer lang hin! Darum hat er es so rasch herausgehabt. Er lernt es heimlich an sich selber! O Sie – Unrat!«
Unrat machte ein entsetztes Gesicht.
»Jawoll: Unrat!« Sie tanzte um ihn her.
Und darauf lächelte er glücklich ... Sie wußte seinen Namen, sie wußte ihn von Lohmann und den andern und wahrscheinlich schon die ganze Zeit: es schüttelte ihn heftig um, aber nicht peinlich, sondern zu Lustgefühl. Dies gab ihm einen kurzen Verdacht und eine schwache Scham ein, wieso es ihn glücklich machen könne, daß die Künstlerin Fröhlich ihn bei seinem nichtswürdigen Namen nenne. Aber, er war nun einmal glücklich. Außerdem durfte er nicht nachdenken, sondern sie schickte ihn nach Bier.
Unrat bestellte es nicht nur; er ließ den Wirt, der die Gläser trug, durch den Saal vor sich hergehen; und dadurch, daß er den Transport des Getränkes von hinten deckte, ward verhindert, daß andere es unterwegs wegfingen. Einmal mutete der Besitzer des Blauen Engels es Unrat zu, das Bier gleich selber mitzunehmen. Die befremdete Würde, womit Unrat ablehnte, hinderte den Mann, seinen Irrtum zu wiederholen.
Bevor die Künstlerin Fröhlich trank, sagte sie: »Prost, Unrat.«
Dann, innehaltend: »Komisch, was, daß ich Sie Unrat nenne? Ja, eigentlich ist es komisch. Wir haben doch gar nischt miteinander. Wie lange kennen wir uns nu schon? Was die Gewohnheit alles macht ... Aber nee, ich will Ihnen was sagen: Kiepert und Frau, die können mir alle Tage gestohlen werden, denen wein ich keine Träne nach. Mit Ihnen is es was anderes ...«
Ihre Augen waren allmählich sinnlich und starr geworden. Sie fragte ganz vertieft: »Aber was soll es, was wollen Sie?«