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Fünftes Kapitel

»Allzu deutliche Erinnerungen sind kein gutes Zeichen«, hatte der Präsident ihr gesagt. Offenbar sah er es ungern, daß sie sich seiner in der Rolle des Mannes ohne Hemdkragen entsann. Aber sie fühlte sich von ihren Erinnerungen wirklich bedroht. Ihre Vergangenheit war bis jetzt doch wesentlich getrennt gewesen von ihrem anerkannten Leben, war versteint und kalt dort hinten zurückgeblieben, indes sie selbst hier atmete. Sie bemerkte zu spät, daß es anders nicht sein darf: die Gegenwart im Licht, und von allen Seiten begrenzt Schatten sie. Statt dessen entsteht dort hinten jetzt Halbdunkel, Gestalten stapfen hervor. Sie war nicht mehr allein, ein Vorhang konnte sich immer heben. Man sah ihr zu, wer bleibt da unbefangen.

Sie führte selbstvergessen in ihrem Winkel ein Gespräch mit einem, der vor mehr als dreißig Jahren in Abgründen der Gesellschaft verschwunden war. Aufschreckend schlich sie sich dann an die Türen, ob jemand horche. Schauer durchliefen sie langsam, und umfaßt von Kälte, mußte sie suchen, wahrhaftig suchen, wer sie war, Dame, Kapitalistin, an internationalen Unternehmungen beteiligt, ein Mitglied der guten Gesellschaft, in allem nüchtern und über der Lage. Was war dazwischengetreten, warum zitterte die Weltdame? »Ach! Ich zittere um mein Kind.« Erst die Wiederkehr des Kindes hatte das andere erhellt. Von dem Blut, das sie dem Kinde gab, leckten die andern. Die Not um das Kind machte sie schwach gegen längst Vergessene. Sie hatte nun Gewissen, denn sie wußte um das Kind.

Zwei Tage lang zwang sie sich, ihn nicht kommen zu lassen. Dann meldete er ihr aber, daß seine Eltern die Absicht hätten, ihren Besuch zu erwidern. Er sagte: seine Eltern, als hätte sie noch nicht deutlich genug gefühlt, daß er schon wieder ferner war. Sie hatte das Geld angewiesen. Er hing am Telephon, er fand kein Ende mit Dank und Schmeichelei, aber er sagte: seine Eltern. Da ward ihr gegeben, statt seiner wirklichen Worte andere zu hören. Es war der junge Pfarrer aus ihrem Traum. Er war eins mit ihrem Sohn, war der Sohn. Mit der Stimme des Sohnes, wie in ihrem Traume, rief er »Mutter Marie!«

Für denselben Nachmittag hatte sie die ganze Familie gebeten. Sie sah der Stunde zuerst mit Verwirrung entgegen. Sich ihm zeigen nach dem Erlebten, der scharfäugigen Generalin die Spuren zeigen! Mit aller Kunst stellte sie ihr Gesicht wieder her – gleichviel, dies war nicht mehr das Gesicht der Gesättigten, Gesicherten. Das blieb unwiederbringlich, die unruhigeren Gedanken schufen sich schon ihr erregtes Gesicht, so viel zarter, so viel matter. Dies sind Augen, die Uneingestehbares miterlebt haben, daher in der Abwehr, voll flüchtiger Reize – sogar vor ihrem Spiegelbild. »Ich werde mager!« Welch eine Überraschung! »Das Gesicht ist schmaler, aber auch die Figur. Was fehlt noch, ich kann es mit der Prinzessin aufnehmen.«

So zog sie das Kleid an, das sie am meisten entblößte – in der Hoffnung, innere Blößen leichter verdecken zu können, und ihren Gästen trat sie lebhaft entgegen. Das erste Wort der Generalin war denn auch: »Sie werden jünger, Baronin.«

Die junge Prinzessin küßte ihr die Hand. Baronin Hartmann umarmte sie, sie fragte leise: »Auf wann die Hochzeit?« Die Prinzessin antwortete nur mit ihrem schönen Blick. Merkwürdigerweise tat die Generalin, als habe sie nichts gehört – indes dem jungen Valentin die Verlegenheit unverkennbar auf der Stirn stand. Was bedeutete dies?

Der General aber nahm den Professor beim Arm. »Sie müssen wissen, Baronin, daß der Professor gegenüber dem herzoglichen Hause eine stille Hochzeit wünscht. Er denkt an eine Trauung fern von Berlin – im Sommer, vielleicht in einem Seebad.«

»Ah!« machte sie und sah den Professor an, den seine eigenen Absichten offenbar in Erstaunen setzten. Die Generalin ging beiseite, durch das Lorgnon schätzte sie die Einrichtung ab. Ihr Gatte hatte ihre Anweisung befolgt.

Sie war nicht ohne Unruhe, denn der große, von Baronin Hartmann angewiesene Betrag, der für die Prinzessin hätte sichergestellt werden sollen, war Gläubigern in die Hände gefallen, nur wenig konnte gerettet werden. Was tun? Ähnliche Mittel nochmals verlangen! Da war die Generalin in der Not auf den Gedanken verfallen, eine Villa in Heringsdorf zu kaufen. Der Trauung der jungen Leute als Gast des neuen Hauses beiwohnen zu dürfen, von Baronin Hartmann war zu erwarten, daß sie dafür sogar das Haus bezahlte. Nach der Hochzeit konnte man es einfach wieder verkaufen.

Die Generalin weihte ihren Gatten nicht vorzeitig ein, er hätte sie kaum begriffen. Sogar Valentin, dem sie ein Wort hatte sagen müssen, trug Bedenken wegen der Transaktion. Wenn die Generalin ihn und den General sah, ward sie noch stolzer auf ihr Schollendorffsches Erbe. Was dieses Geschäft von denen älterer Schollendorffs vielleicht unterschied, betrachtete sie als zeitbedingt. Die Erfordernisse dieser Tage traten an sie, Ina Schollendorff, heran. Sie selbst hielt ihnen achselzuckend stand – nur besorgt, man könnte bemerken, daß sie im Grunde viel zu vornehm blieb für den Wettbewerb, in den sie gestellt war.

Die andern unterhielten sich lebhaft, die Stimme der Baronin Hartmann klang erregter als sonst. Einen Augenblick stand sie Schulter an Schulter mit der jungen Prinzessin – unter ihrem eigenen Jugendbilde. Sie forderte kühn den doppelten Vergleich heraus, was aber für sie ausschlug, den Herren war es anzusehn. Sogar Valentin! sah die Generalin, sie wußte noch nicht, was davon zu halten sei. Mit dieser Frau war voraussichtlich trotz allem nicht leicht fertig zu werden. Sie blieb gefährlich, noch wenn sie zahlte … Der Generalin ging klar auf, daß es sich um Fertigwerden handelte. »Sie darf nicht mehr Zeit haben, gegen mich vorzugehn, dann wäre ich verloren, es ist zu weit gekommen. Sie muß früher fallen.«

Aus der lachenden Gruppe löste die Frau des Hauses sich. Sie begleitete den Teewagen, den Herr Tietge neben die Generalin schob. »Frau Generalin, liebe gnädige Frau, verzeihen Sie mir nur heute den schlecht servierten Tee. Wir setzen uns nicht einmal, die jungen Leute wollen tanzen.«

Die Generalin hielt in Händen zwei goldene Dosen. Sie waren gleich, nur daß die kleinen Rubine, die sie zierten, auf der einen F, auf der anderen L zeichneten. Der Blick der Generalin fragte zu deutlich, Baronin Hartmann mußte erklären. »Das ist von zwei Freunden, aber sie teilten sich meinen Namen. Der eine nannte mich Feli, der andere Lissy.«

»Und Sie heißen?«

»Marie«, sagte sie, bevor es bedacht war. Hier ward ihr bewußt, daß sie errötet der Generalin Rechenschaft gab. Kalt und knapp schloß sie: »Aber so heiße ich nur für mich.« Womit sie sich abwandte.

Da mußte sie sehn, daß aus dem Kristalltischchen, über das Valentin und die Prinzessin Schläfe an Schläfe gebeugt standen, der rote Schein brach. Der Rubin! Valentin hatte die Feder spielen lassen, er kannte den Griff! Schon näherten sich General und Professor, auf der anderen Seite senkte die Generalin ihre große blasse Nase in das Licht des Steines. Valentin machte ihnen die Angaben über seine Herkunft und Geschichte. Er brauchte ihre eigenen Worte. »Den Leutenberg galt er als Talismann. Die neue Besitzerin denkt vernünftiger« – wobei Valentin ihre Augen suchte, denn er hatte abzubitten, er verriet sie. Sie stand verlassen, verraten.

»Sie hat ihn nur bekommen, weil sie katholisch ist«, selbst dies sagte Valentin noch, da war sie zu sich gekommen, sie ließ das Grammophon spielen. Sofort umfaßten die jungen Leute einander. Hoch aufgerichtet tanzten sie ernst und genau, ihr Anblick war verläßlich wie sonst nichts Organisches, er befriedigte. Ihnen selbst konnte unmöglich mehr zu wünschen bleiben. Man versammelte sich um sie, Baronin Hartmann konnte ungesehn ihren Rubin verstecken.

Als sie sich setzte, kam der General zu ihr. Er begann sofort, ihr Angenehmes zu sagen – über ihr Haus, ihre Person, ja, daß ihre Atmosphäre verjünge. Sie erwiderte herausfordernd, daß sie wisse, wieviel er träume. Er möge sich eine junge Freundin nehmen. Darüber ward er rot, sein Kopf lag schiefer … Plötzlich gestand er alle seine Unruhe. Er suchte, so gestand er, und wußte nicht, was. Er trat in ein gewisses Alter wie in unbekanntes Gebiet, alles ward neu, die Sorgen, der Eindruck der eigenen Persönlichkeit, vor allem das Pflichtgefühl.

Baronin Hartmann ließ hier sein Gesicht los. Sie sah vor sich hin. Sie schwiegen. Die Generalin beobachtete sie – obwohl sie außerdem sowohl dem Tanz der Kinder zusah wie auch den Wert des Eßzimmers abschätzte.

Der General sagte, den Kopf schief: »Die größte Frage wird jetzt aus den Kindern. Man weiß nichts. Nicht, wer sie sind. Nicht, was für sie zu tun.«

Sie sah langsam auf. »Doch«, sagte sie. »Ich weiß es.«

Er trat um einen Schritt zurück, aus Erstaunen oder um sich in Sicherheit zu bringen.

Gleich darauf zog er es vor, leichter zu werden. »Mein Freund, der Professor, löst die Rätsel auf seine Art«, meinte er achselzuckend. »Er hat aus der Prinzessin, die ihn nicht das geringste anging, sein eigenes Kind gemacht. Da er aber immer noch, wie Sie sagen, träumte, hält er sich ein zweites kleines Mädchen zu anderem Gebrauch – zu ganz überraschendem Gebrauch.« Er sagte ihr etwas ins Ohr, sie lachten.

»Er erzählt Ihnen das?« fragte Baronin Hartmann.

»Doch nicht. Aber ich trieb kürzlich Nachforschungen in eigener Sache. Da fand ich nur, was ich nicht suchte.«

Sie sagte: »Ihr Freund folgt jedem Schritt der Kinder. Tanzt er nicht selbst?« Sie ging zu dem Professor. Nein, er tanzte nicht. Aber Valentin, der gehört hatte, ließ die Prinzessin los und umfaßte Baronin Hartmann. Die Generalin war es, die ihnen das Grammophon aufzog.

Die Generalin sah mit tiefer Freude, daß Baronin Hartmann schlechter als die Prinzessin tanzte. Im Match vor gefüllter Halle wäre sie glatt abgefallen, die Generalin machte die Feststellung im Sinne Valentins. Er führte seine Tänzerin korrekt, glich ihre Fehler aus, ohne daß sie es merkte, aber nicht im mindesten ging er auf ihre Absichten ein, die eher gefühlvoller Art waren. Sie suchte durch Hingabe zu erreichen, was ihre Kunst nicht vermochte. Dafür war Valentin, bei aller seiner Weichheit, nicht zu haben. Die Generalin beurteilte ihn einfach. »Im Zweifel ist er für die bessere Tänzerin. Die Prinzessin hat nichts zu fürchten.«

Neu blieb nur, daß Baronin Hartmann den Vergleich mit der Prinzessin suchte. Soviel dies an weiteren Entwicklungen auch versprach, die Generalin schloß zunächst das eine, daß es an der Zeit sei, die Heringsdorf er Transaktion zu besprechen. Auf das Wort Transaktion legte sie Wert. Sie wartete gespannt, daß der Tanz ende. Statt dessen verlängerte der General ihn, er forderte die Prinzessin auf. Er tat es, damit Baronin Hartmann weniger kritische Zuschauer habe, die Generalin erkannte auch dies. Um so unerbittlicher wurden ihre geschäftlichen Absichten.

Valentin erlaubte sich über die Schulter seiner Tänzerin in Richtung der Generalin einen Blick, der ihr ziemlich alles zugab, was sie von ihm und der Lage dachte. Sie durchschaute Valentin, den General, schon längst den Professor, bald restlos Baronin Hartmann. Der General, der sich einbildete, unentdeckt zu bleiben auf seinen Abwegen! Der armselige Schulmeister, der in seinem Doppelleben gleich bis zur Peitsche ging! … Das bittere Leben hatte die Generalin gelehrt, daß jedes Dasein einen Abgrund barg, noch das klarste ward von dorther verdunkelt. Wie wäre man Gegnern sonst beigekommen. Einblicke machten gefürchtet, sie wurden die Waffe einer vom Schicksal ungerecht Benachteiligten. Der Präsident sogar, einst Schrecken der Generalin, fürchtete jetzt sie.

Übrig war die junge Prinzessin, noch gestern das einfältige Kind, dessen ihm selbst unbekannte Innenwelt die Generalin bis jetzt stolz übersehen hatte. Seitdem auf vernünftig nicht erklärbare Art der Verstand der Prinzessin erwacht war, spürte die Generalin dort den Widerstand, den die Persönlichkeit leistet. Jenes Wesen, das ernst und stumm hier Bewegungen machte wie aufgezogen, konnte zur Gefahr werden, denn es hatte Tiefen. Die Generalin versprach sich, sie auszuheben, sie unschädlich zu machen. Nur wer von ihr beherrscht ward, konnte sie nicht schädigen. Auf ihrem Herzensgrunde war die Generalin gegen alle in Abwehr. Sie blieb überzeugt, in der Welt, wie sie letzthin sie leider kennengelernt hatte, noch immer schlecht wegzukommen, sogar bei ihren Geschäften mit Baronin Hartmann.

Als der Tanz endlich aus war, forderte die Generalin ihre Gegnerin auf, ihr das Haus zu zeigen – in einem Ton, daß die Besitzerin erschrak und sich beeilte. Die beiden Damen verließen die Gesellschaft. Aber schon im Schlafzimmer der Hausfrau machte die Generalin halt. Ohne Umschweife begann sie. Das Schlafzimmer mit seiner Pracht, dies goldglänzende, niedrige Bett voll quellender Seide erbitterten sie. Diese Luft der erfüllten Wünsche schrie ihr zu, wie klein und ungewiß jeder Vorteil blieb, den sie selbst so schwer erkämpfte.

Im Salon drehten sich schon wieder Valentin und die Prinzessin. Sie setzten die Füße genau aneinander, nichts in Zeit und Ewigkeit konnte sie ablenken. Der General sah seinen Freund den Professor in dies Schauspiel tiefer versunken, als natürlich schien. »Sie sind traurig, lieber Freund?« fragte er ihn.

Der Professor, ohne den Blick von dem Tanzpaar zu trennen: »Ich bestaune die Nichtigkeit menschlicher Vernunft.«

»Ihrer eigenen?«

»Meiner eigenen. Die Prinzessin tanzt. Mich hat sie niemals ganz verstehen können, obwohl ich doch meiner Intelligenz das Äußerste abgewann an Erfahrung und an Opfermut, um die ihre zum Leben zu erwecken. Seit einiger Zeit nun beobachte ich wirklich ihr Erwachen. Aber ich habe schärfsten Verdacht, daß keineswegs meine erzieherische Vernunft, die noch so herrliche Kraft meiner Vernunft es bewirkt hat – sondern der Tanz.«

Der General zuckte auf. Er hatte sagen wollen: »Liebe! Nicht Tanz, sondern Liebe!« – bemerkte aber gerade noch, daß der Freund seine Gründe haben mußte, dies nicht zu sehn.

Der Professor, immer an dem Tanzpaar hängend: »Der Mensch taugt für die Verrichtungen der Glieder und der Sinne. Er ist nicht ausgestattet für Erfolge des Geistes, denn er liebt zu wenig den geistigen Gewinn, ist zu sehr geneigt, jeder Leidenschaft, die ihn anfällt, sein bißchen Denken preiszugeben, schläft auch zu viel. Er ist als Geisteswesen nur halb gelungen. So ist er, seit man ihn kennt, und wird immer so bleiben. Wer auf sein Wissen und Gewissen zählte, wäre schon betrogen. Die arme Menschheit ist verurteilt, ihre Übel, die alle vom schwachen Geist herkommen, bis an ihr Ende weiterzutragen. Dies sagen Höhere als ich, der ich nur ein alter Lehrer bin.«

Das Grammophon spielte schwermutsvoll, was aber die beiden Tanzenden nichts anging. Sie bewegten sich gradeso sicher und unbeteiligt, als wäre es um sie her lustig gewesen. Der General fand nicht gleich Worte. Erschüttert bedachte er, er habe seinen Freund vorhin leichtsinnig verraten, wenn auch nur an Baronin Hartmann, die nicht weiter darauf achtete. »Wir verraten unaufhörlich«, bedachte er. »Mein Freund hat ein Laster, eine Art von lächerlichem Gebrechen, aber auch bei meinem Freund fällt mir nicht ein, daß Laster und Gebrechen bis in die Tiefe der Seele führen können.« … Laut sagte der General:

»Professor, Sie sind ein außerordentlicher Mensch, ein großer Erzieher und mein Freund.«

Hier hielt er an. Wenn noch so unbestimmt, erwartet man doch immer eine Gegengabe. Nein, der Professor war zu sehr bedrängt im Gemüt, nur Philosophie bot ihm Zuflucht.

Der Professor, unverwandt an dem Tanzpaar hängend: »Wir sind Wesen ohne Gedächtnis, sage ich Ihnen, Wesen, die nichts verantworten. Einst hat uns dieser elende Zustand noch gequält. Die Herkunft keiner unserer Handlungen wirklich zu kennen! Nie versprechen zu können, was wir im nächsten Augenblick tun werden! Unsere Vorfahren klammerten sich an das Leben nach dem Tode. Sie hofften, wenigstens vor Gott würden sie die Kraft finden, sich endlich zu verantworten. Wir aber haben uns abgefunden. Uns quält kein Drang nach Verantwortung mehr. Kaum das Wort ist übriggeblieben.

Uns vom Gewissen zu befreien ist der Sinn der gesamten Wissenschaft. Sie entlastet den einzelnen auf Kosten von Herkunft, Kreis, Gesellschaft, Massenwillen. Dem entspricht eine Form der Macht, in der die Verantwortung von den Parteien derart zersplittert wird, daß nichts mehr zu erkennen ist. Wem ist ein heutiger Machthaber, so stolz er die volle Verantwortung übernimmt, wirklich verantwortlich?«

Der General unterbrach nun doch. »Lieber Freund, muß ich, ein Hofgeneral, Ihnen sagen, daß Sie in Paradoxen sprechen? Ihr Machthaber würde sich tatsächlich verantworten müssen, sobald seine Klasse nicht mehr die Macht hätte. Ich übernehme die Verantwortung, heißt immer und überall: ich habe die Macht.«

»Und kein Gewissen«, sagte der Professor.

»Gewissen ist persönliches Verdienst«, sagte der General. »Sie haben es gehabt, als Sie die Prinzessin zu Ihrem Kind machten.«

»Der Himmel bewahre mich!« sagte der Professor mit geschlossenen Zähnen; sein ganzer, ratlos erbitterter Schmerz ward hörbar.

Der General für sich: »Die Kinder sind schwächer als wir. Durch unsere Schuld? Wir dürfen es nicht wissen. Besser nicht mit ihnen sprechen, da könnte man viel erfahren. Ihr Liebesleben! Ich habe Valentin im Verdacht, daß er mit keiner Frau mehr tut als tanzen.«

»Was sollte er mit der Prinzessin denn sonst auch tun?« fragte der Professor entsetzt. Der General legte nur den Kopf schief, es konnte heißen: »Oh! auch Prinzessinnen.« Er selbst war verwundert, daß es so heißen konnte.

Nach der Pause sagte der General, lange zögernd: »Merkwürdig, ich selbst ahne jetzt manchmal von fern, was Verantwortung wäre. Oh! es kommt nicht dazu, ich überschätze mich nicht. Ein menschliches Wesen, das sich anmaßte, zu verantworten, wie es gelebt hat – reden wir lieber nicht von seinem Ende!«

Hier schwieg er. Auch das Grammophon schwieg, die Tanzenden standen. In der Tür erschien Baronin Hartmann.

 

Sie strahlte Sieg, denn sie hatte der Generalin die Heringsdorfer Villa abgerungen. Die Villa sollte ihr Hochzeitsgeschenk an das junge Paar sein, die Generalin wurde ein für alle Male verhindert, sie zu Geld zu machen. Die Verhandlung hatte Kräfte gekostet, die Generalin war mitgenommen, sie erholte sich noch im Schlafzimmer.

Baronin Hartmann hatte in ihrem Leben größere Geschäfte gemacht, ohne so auffällig zu triumphieren. Aber ihre Lage kurz vorher war demütig gewesen. Unter den Augen der Generalin hatte sie ihre Blöße mit Hermelin bedeckt. Plötzlich ließ sie den Kragen fallen, ging schnell auf Valentin los und küßte ihn. Er roch den Duft ihrer erhitzten Haut, errötet tat er einen Schritt rückwärts. Er sah von General und Professor zur Prinzessin, die wie gelähmt dabeistand. Dann überzeugte er sich wieder, daß Felicie tatsächlich in diesem Augenblick die unvergleichlich strahlende Schönheit war.

Endlich begriff sie, was sie zu tun hatte. Sie küßte auch die Prinzessin. Alle wollten erleichtert aufatmen – das junge Mädchen aber wich heftig zurück, als wäre sie nicht geküßt, vielmehr gebissen. Baronin Hartmann, die gestrahlt hatte, erschien auf einmal gequält und hart.

Die zurückkehrende Generalin wünschte sogleich aufzubrechen, das große blaue Automobil fuhr vor. Der Besitzerin ins Gesicht sagte die Generalin: »Wir sind im Begriff, wieder ein Auto zu kaufen. Unsere Geschäfte gehn besser.«

Im Dahingleiten bemerkte der General: »Auf der Scheibe hinter euch ist eine Tänzerin gemalt.« – »Aus Aberglauben«, sagte die Generalin, sie öffnete das Fenster. »Dagegen hängt über ihrem Bett eine Madonna.« Sie zuckte die Achseln. »Eine Madonna mit einem zu großen Kopf – und das Bett ist in gelber Seide, auch die Kissen.«

Valentin behauptete: »Sie ist wirklich gläubig«. Sofort aber die Generalin: »Autofahren – und katholisch. Ich habe nie begriffen, wie das geht. Im Lauf unserer Unterredung, die manchmal gehoben war, berief sie sich einmal auf ihr Seelenheil.« Achselzucken.

Valentin: »Schließlich – man hat auch Seele.«

Die Generalin: »Wichtigtuerei! Wem hat sie schon ihre Seele gezeigt? Eher alles andere – wie heute.«

Valentin, herausfordernd: »Mir.«

Dies reizte die Generalin: »Sagen wir ruhig; eine Abenteurerin.«

Vergebens warnte der General sie: »Laß, bitte –«, die Generalin ging weiter. »Genügt ihr Bild nicht, das sie in ihrem ganzen extravaganten Glanz zeigt? Dann sehe ich noch, wie sie tanzen wollte. Nur keine Umstände, Valentin! Wie ich recht hatte, der Rückfall in sinnliche Abenteuer bleibt bei alternden Schönheiten nicht aus.«

Schluchzen ward hörbar. Alle stutzten, niemand hatte bemerkt, daß die Prinzessin schon längst weinte. Valentin, der sich hinüberbeugte, fühlte ihr Gesicht und ihren Hals naß. Er tröstete sie leise, er sagte: »Nur du kannst tanzen.« So langten sie an.

Zur selben Zeit, als es dunkel ward, erschien bei Baronin Hartmann Bankier Kappus. Er mußte warten, dann trat sie ein, in Schwarz, und ihr Gesicht sah er bleich und verfallen. »So ist es«, sagte er vorwurfsvoll.

Sie verstand, sie sagte: »Noch vorhin fühlte ich mich im Gegenteil sehr angeregt. Es wechselt jetzt so schnell.«

Kappus gebrauchte ein Gleichnis: »Liebe Freundin, ich trage meinen Zylinderhut bei schönem Wetter schon lange, und er hält sich. Werde ich ihn nun, im Vertrauen auf seine Dauerhaftigkeit, unter die Traufe halten?«

Sie erkannte in dem mißhandelten alten Hut sich selbst. Sie sah sich nach dem elektrischen Kontakt um, zögerte aber, Licht zu machen. Auch Kappus schien dagegen. »Im Dunkeln ist gut munkeln«, sagte er – und hieran anschließend: »Frau Baronin, Sie geben zu viel aus, Sie ruinieren sich.« Da er sie auffahren sah, sprach er gleich weiter.

»Es ist in unserm ganzen Geschäftsverkehr, ich darf wohl auch sagen, in unserm ganzen Freundschaftsverhältnis das erstemal, daß Sie dies von mir hören, Frau Baronin. Aber wer soll es Ihnen sagen. Ich bin dafür da. Sonst wäre ich heute auf mein Gut hinausgefahren, wo die Vögel singen. Außerdem mach ich es doch noch aktiv.« Absichtlich erging er sich über sein Gut, sie sollte Zeit haben, den Stoß zu verwinden.

Endlich gedämpft: »Nachmittag rief ich schon an, da hatten Sie aber Gäste. Das – sind sie. Wie?«

»Das sind sie«, wiederholte sie traurig.

Er fragte eindringlich: »Muß es denn sein?«

»Es muß sein«, sagte sie.

Er besann sich. »Ich kenne doch das Leben. Was Ihnen, Frau Baronin, jetzt zustößt, hätte ich haben können, wenn ich gewollt hätte. Einmal habe auch ich geliebt, wo es gefährlich war – und zu Hause saßen Frau und Kinder. Ich habe es der Dame nie gesagt, es kam mir nicht zu. Aber sie weiß es. Sie weiß, daß ich ihr kein unwandelbarer Freund hätte werden können, wenn damals die Leidenschaft mich meine Existenz gekostet hätte«.

Sie ließ ihn ganz schweigen, bevor sie sagte: »Ich weiß. Aber so steht es diesmal nicht. Er ist mein Kind.«

»Was – was denn?« Kappus stand auf, er machte Licht. Er sah ihr nahe ins Gesicht. Ihr zerstörtes, dennoch erglänzendes Gesicht sagte, daß es wahr sei. Kappus mußte sich setzen.

Sie sagte sanft und so wohllautend, als spräche nur ihr Inneres: »Ich habe es wiedergefunden. Ich hatte es ein ganzen Leben lang verloren. Was habe ich inzwischen an ihm versäumt, wieviel bin ich ihm schuldig geworden! Das wäre nie zu bezahlen, selbst wenn ich mich ruinierte.«

»Sie lästern«, rief Kappus, tief erschreckt. Ihn drängte es, vieles zu sagen, was ihr die Familie Vogel von Lambart samt ihren eigenen Verpflichtungen in ein anderes Licht rücken konnte. Wie, wenn sie erführe, daß die Generalin mit ihrem Geld spekulierte, daß der Sohn auf ihre künftigen Zahlungen schon Geld aufnehmen wollte. Kappus hatte sogar beschlossen, es ihm zu geben – zu hohem Zinsfuß und in der Voraussicht, an dem Geschäft auf die Dauer so viel verdienen zu können, wie Baronin Hartmann verlor. Die Gewinne schrieb er ihr dann gut, sogar, dies beschloß er in diesem Augenblick, wenn Generals nicht zahlten.

Von allem schwieg er aber, denn er sah: ihr Kind! Kappus liebte seine Kinder. Gern wäre er für sie schwach gewesen, nur aus Pflichtgefühl hielt er sie streng. »Frau Baronin«, sagte er, »wir leben in unsern Kindern, aber zuerst müssen wir leben. Denken Sie an sich! Wir haben gearbeitet. Das Geld ist ebenso unser Kind, wir haben es auch gemacht«, sagte er liebevoll.

Sie erwiderte: »Ich habe es schlecht erworben.«

»Verstehe ich nicht«, sagte er niedergedrückt, denn seine Freundin schien ihm abzuirren. »Sie haben gegen kein einziges Gesetz verstoßen, Frau Baronin.«

»Denkt das auch mein Sohn?« fragte sie. »Er denkt, daß ich genossen habe, während er arm war, daß ich kalt blieb, und er kämpfte um sein Leben. Er hat den Krieg, das Leiden, die Welt gekannt – und noch nicht seine Mutter.«

Kappus seufzte.

»Was tat ich?« sagte sie, »anstatt mein Kind zu lieben? Alles, was ich tat, Kappus, kommt jetzt wieder, die Gesichter kommen wieder. Ich bin nie mehr allein.« Sie atmete gepreßt, ihre Augen erblickten Unsichtbares. »Das war der«, sagte sie flüsternd, »der sich in der Sitzung vor unseren Augen erschoß.«

Kappus erlag dem Eindruck, auch er brachte nur gepreßt hervor: »Unsere Gruppe hatte ihn geschlagen. Er hätte lieber uns geschlagen.«

»Das ist ein Toter, Kappus, das sind Waisen.«

»Die Verantwortung verteilt sich auf unsere ganze Gruppe« – was ihn immerhin aufrichtete. »Wer sind wir – vor den Notwendigkeiten der Wirtschaft. Ich persönlich war von Jugend auf sozial gesinnt, seit siebenunddreißig Jahren bin ich bei der Partei. Sie kommen noch jetzt und fragen mich. Ich rate ihnen, ich tue, was ich kann.« Er wischte sich die Stirn. Nur an ganz schlechten Börsentagen war ihm so beklommen.

»Das sind erst die Opfer unserer Geschäfte«, hörte er sie sagen. »Unser Leben hat noch andere gefordert.«

»Wem sagen Sie das«, äußerte Kappus, froh, wenigstens von den Geschäften fortzukommen. Baronin Hartmann mißverstand heute sogar seine Redensart, sie antwortete darauf.

»Ja, wem?« fragte sie.

Aufstehend, abgewandt: »Nur einer.«

Kappus hielt sich für entlassen. Er verharrte noch hinter ihr, in der Hoffnung, sie werde ihm die Hand reichen. Begütigend murmelte er: »Wer liebt, sieht alles anders.« Da fuhr sie schroff herum.

»Liebe ich? Vielleicht könnte ich hassen – muß aber lieben.«

So vieler Verwirrung trotzte Kappus nicht, er ging ohne Handkuß. Sie stand mitten in ihrem erleuchteten Salon, sah ihn aber nicht gehn, ja, hätte wohl niemand gesehn, der ging oder kam.

»Verrückt«, dachte Kappus draußen – mit Widerstreben gegen seine Unehrerbietung, sogar draußen. Aber Vernunftwidrigkeiten hielt er für sträflich, im Grunde übrigens für unmöglich. Er ließ sich nach der Bank fahren, er ging hinauf in sein Arbeitszimmer. Es war still, um das Zimmer her schwieg das ganze Haus. Kappus blieb, seinen grauen Zylinder auf dem Kopf, inmitten stehn, nicht weniger versunken als dort hinten seine Freundin. Versunken ging er zum Schreibtisch, der blank und aufgeräumt war. Er setzte sich, er faltete auf der Platte seine Hände.

Seine welken Hände spannten sich, bald füllten sie sich mit Blut. Die Macht, die sie belebte, arbeitete hinter der Stirn des alten Mannes, hinter seinen gesenkten, verhängten Augen … Er saß lange. Als er endlich unter Seufzen aufsah, war er gewiß, der junge Valentin werde kommen, denn er war gerufen. Er werde eingehn auf alles, er werde das gesamte Geld, das er der Frau Baronin Hartmann entlockt hatte, von Kappus sich wieder entreißen lassen. Im Spiegel vor sich erblickte Kappus unter seinem grauen Zylinderhut das Gesicht eines Zauberers, erkannte es aber nicht.

 

Mitten in ihrem erleuchteten Salon stand Baronin Hartmann. Die Hausglocke schrillte, da ward sie unruhig. Noch war der Tag nicht zu Ende.

»Ein Herr«, meldete Tietge. »Ein kleiner Herr. Ist gut gekleidet. Heißt Wernawe, wir kennen ihn nicht.«

Ein junger Mann trat ein, er trug einen Tanzanzug, nicht schlechter als der Präsident. Sein Gesicht war beim Eintreten ironisch, aber vor der schönen Frau ward es sofort anerkennend. »Ich komme wegen Valentin«, sagte er bescheidener, als zu erwarten gewesen war. Da sie deutlich erschrak, beruhigte er sie: »Ihm geschieht nichts«. Mit Betonung: »Wir – haben ein Auge auf ihn.«

»Wer sind Sie?«

»Ein alter Freund von Valentin.« Wernawe lächelte wieder witzig, er wippte auf den Fußspitzen. Er trug einen sauber geschnittenen Kopf, die Stirn hatte von allen Maßen dieser gespannten kleinen Gestalt die ausgedehntesten. Plötzlich sah sie, wer er war.

»Sie haben mit Valentin geistig gestritten, als ihr beide Knaben wart. Sie sind sein Jugendfreund«, sagte sie mißtrauisch aus Eifersucht. Seine Antwort war Nicken und lustiges Wippen. Sie sagte noch mißtrauischer: »Jetzt sind Sie Kommunist.«

»Das sowieso«, sagte Wernawe. »Zuerst müssen wir aber etwas für unseren Valentin tun. Er soll von hier entführt werden.«

»Er ist nicht hier.«

»Aber kommt. Ich habe ihn herbestellt.«

»Herr Wernawe, das konnten Sie lassen. Sie mischen sich in Dinge, die Sie nichts angehn.«

»Bei mir – Einmischung. Ich bin mit Valentin auseinander, meinetwegen könnten seine lieben Kameraden mit ihm machen, was sie wollen. Aber ich schulde es der Sache, ihn zu retten, denn eines Tages kommt er zu uns. Jede Energie kommt früher oder später zu uns.«

»Er hat wenig Energie«, sagte sie auf einmal flehend. »Verschonen Sie ihn doch! Was kann er Ihnen nützen. Ich will ihn warnen.« Schnell ging sie zum Fenster, sie öffnete es.

Wernawe sprach von hinten nicht lauter, als stände er neben ihr. »Sie können das Fenster offenlassen. Aber kommen Sie zurück, der Posten sieht, daß hier etwas vorgeht.«

Sie kam. »Der feindliche Posten? Dann fangen sie ihn ab?«

»Beruhigen Sie sich, gnädige Frau«, sagte Wernawe. »Die andern werden von uns beobachtet. Wir erfuhren, was sie vorhatten, und wir sind zur Stelle.«

»Was wollen die andern von Valentin?« fragte sie entsetzt, in diesem Augenblick erinnerte sie sich seiner eigenen Andeutungen. Sie hatte damals träumend drüber hingehört – in jener Zeit langsamen Wiederfindens, da die Vergangenheit, seine wie ihre, nur zur Erhöhung des Genusses als dunkle Musik hereinklang, aber noch nicht Form und Nähe hatte, noch nicht Gefahr war.

»Sie wollen mit ihm abrechnen.« Die Ironie Wernawes war im Grunde voll kräftigen Ernstes. »Geschichten sind vorgefallen, die auch – wir«, betonte er, »uns nicht gefallen ließen. Nur würden wir das Abrechnen nicht ganz so wörtlich verstehn. Seine früheren Kameraden wollen von ihm Geld. Sie haben ihn schon viel gekostet. Er kann nicht genug verdienen.« Wobei Wernawe ihr deutlich mit den Augen winkte.

Sie ward bleich, sie hörte Valentin wieder sagen: »Sie haben mich in der Hand und nützen es aus.« Dem hatte sie seither zugesehn. Das Schlimmste ging für ihn weiter, als hätte er nach wie vor keine Mutter! Andere hatten gewacht … Sie gab Wernawe die Hand. »Sagen Sie, was wir tun müssen!«

»Ihnen etwas zu stehlen hinlegen«, sagte Wernawe knapp.

»Sind sie so?«

»Sie sind nicht so, aber sie können so werden. Bekommen sie nicht Valentin, was wir verhindern, werden sie statt seiner gleich Geld oder Sachwerte nehmen, worauf es ihnen schließlich nur ankommt. Folgen fürchten sie nicht, sie wissen, daß Valentin hier wie das Kind im Hause ist«, sagte er ohne Ironie, mit leichter Verbeugung. »Wir sorgen aber für Folgen.«

»Anzeige? Skandal?«

»Kein Gedanke. Zwischen uns und ihnen geht alles privat vor sich, als ob die Polizei noch nicht erfunden wäre, genau wie in Detektivromanen. Hauptsache, daß wir sie erwischen, wie sie lange Finger machen. Lassen Sie das Weitere unsere Sorge sein!«

Ein unwiderstehliches inneres Sträuben sagte ihr, daß sie in Wahrheit vorgezogen hätte, Geld zu geben, ohne viel zu wissen. Was für Menschen, welche Verwirrung! Hier sich einzulassen kostete am Ende sogar die bürgerliche Wohlanständigkeit, die erste, schwerste Errungenschaft ihres Lebenskampfes. Was denn sollte der Sohn noch fordern? Darum der Sohn, damit es mit ihm in Abenteuer hineinführte, wie zur dunkelsten Zeit der Geliebten? Fragwürdiger Aufruhr hob ihr Herz – Liebe, nur zu bekannt, Haß, ja Haß wie je im Kampf mit Geliebten, das Ganze aber unbegreiflich, noch nie erlebt.

Ihr Gesicht war längst nicht mehr in Ruhe undurchdringlich. Wernawe erkannte wohl, daß sie sich wehrte. »Es geht vorbei, gnädige Frau, dann haben Sie ihn zurück. Besser, mit der Sache einmal Schluß zu machen.« Er tröstete nicht ohne Zartheit. Sogleich aber kam er wieder auf seine Grundidee. »Wenn Valentin dann die Arme frei hat, ist er unser Mann. Ich kenne ihn, er ist nicht nur energisch, das sind auch die andern. Aber was bedeutet leere Energie zur Rettung von Mißständen. Wen kann die glücklich machen. Er will auch sauber handeln – nach der Idee. Die haben wir – als einzige nur wir. Alles andere ist toter Mechanismus, der noch abläuft …«

Wernawe, so klein er war, hielt den Kopf hoch, er blickte lustig und entschlossen aus hellen, schiefgestellten Augen. »Mit mir werden sie nicht fertig«, versicherte er. »Ich war verschüttet – und hab noch meinen ausgeruhten Kopf.« Er war seiner Sache sicher, er hätte hier sogar die längste Wartezeit ausgefüllt. Da erschien Valentin.

Sie standen nahe der Tür, er war sofort unter ihnen. Er sprach gedämpft, denn er hatte sich draußen umgesehn, er war im Bilde. »Keine Zeit verlieren! Der Gegner denkt an Rückzug. Gibt's nicht! Diesmal will ich Kampf.« Seine Kraft war ihr neu, sie bewunderte ihn.

»Nur eine Minute, Wernawe!« Zu ihr gebeugt, eröffnete er ihr halblaut, das Opfer dieser Nacht werde ihr letztes sein. Sie solle sich seiner nicht schämen müssen. Nie wieder! »Glaube nicht, ich hätte vergessen, daß ich dir versprach, deiner würdig und ein Mann zu sein. Ich weiß, daß du mich heute für einen Lügner hieltest. Warum erschienst auch du mir heute so vergeßlich?« Heftiger: »Das soll nicht mehr vorkommen, denn jetzt ist Gefahr da. Dich erpressen, mein Leben von dir erpressen lassen? Lieber fallen!« Worauf sie nur stand und schwieg.

Wernawe hatte sich in Deckung bis gegen das offene Fenster geschlichen. Er kehrte zurück, er raunte: »Schnell! Was legen wir ihnen zu klauen hin? Einer will schon auf den Baum steigen.«

Sie stand und schwieg. Wie zufällig trat sie zu einem Tischchen aus Kristall, sie spielte daran, als ob nichts wäre. Wernawe sah zuerst nur das rote Feuer, das hervorbrach. Sie hob es aber heraus, sie stellte er auf die Platte. Wernawe näherte sich dem großen Rubin so vorsichtig, als traute er sich selbst und seiner Moral nicht. »Nehmen Sie das Ding weg«, verlangte er. »Auch ich stehe mitten im Erwerbsleben.«

Er kicherte wie ein Kind. Dann gab er aber Valentin Weisungen. »Vor allem der gnädigen Frau ihren Stein zurückholen! Verstanden? Jetzt sprich laut!«

Worauf Valentin laut sagte: »Wir gehen schlafen, Felicie?« – »Mach das Licht aus!« raunte Wernawe. Im Dunkeln streckte er den Arm gegen das Fenster. Die Äste des Baumes, der davorstand, schwankten deutlich.

Die beiden verschwanden wie Schatten. Sie hätte nach ihm noch gerufen, aber sie war allein … Nein, schon enthielt der Fensterrahmen einen Umriß. Sie glitt in das Vorzimmer. Von dort erblickte sie Streifen Mondlichtes auf dem Teppich. Manchmal wurden die Streifen verdunkelt, daraus entnahm sie, was vorging. Sie entnahm die Überraschung des Eingedrungenen, sein unschlüssiges Hin und Her, den Griff … Als sie ihn den Baum wieder hinuntersteigen hörte, kehrte sie zurück. Schnell zum Fenster – er lief schon, außerhalb des Grundstückes stießen andere Gestalten zu ihm. Sie wollten untertauchen drüben im Tiergarten, prallten aber zurück, als wären sie an Bäume gestoßen. Sogleich stob alles auseinander, Verfolgung, jagende Füße in der Parknacht, eine Waffe, die aufblitzte, aber kein Laut.

Sie bedachte gebannt, daß sie zugestimmt hatte, als Valentin fallen wollte. Sie hatte sogar den Rubin geopfert dafür, daß er fiel. Sie wollte nicht weniger darbringen als er, ihr Leben. Der Rubin stellte ihr Leben vor, Erwerb, Erfolg. Er war der harte, kalt glühende Talisman ihres Herzens, damit es sich nicht verirrte. Nun es sich dennoch verirrt hatte – Sie fühlte: »Es naht das Äußerste. Weiche aus, rette dich noch! Wirf selbst dein Leben hin samt dem seinen, auch das ist immer noch gnädiger!«

Da, ein Schrei, in der unbewegten Stille ein vereinzelter Schmerzensschrei – unterdrückt wie von jemand, der sogar in letzter Not nicht gehört werden will. Sie taumelte rückwärts in den dunkelsten Winkel, über sich gebeugt, bedeckte sie die Augen. So stand sie, als Schritte kamen.

»Licht!« rief eine muntere Stimme. Solange es noch dunkel war: »Alles planmäßig verlaufen! Der Vorgang hatte Dynamik!« Dann ward es hell. Sie sah Valentin und begann zu zittern. »Von jetzt ab lassen sie ihn in Frieden«, sagte munter Wernawe. »Er hat gezeigt, wer er ist. Umarmen Sie ihn!«

Mit äußerster Anstrengung gelang es ihr, ohne Zittern zu sprechen. Welch ein Glück, daß der andere gesagt hatte: »Umarmen Sie ihn!« Hätte das Wort sie nicht befreit, sie war in Gefahr, sich gegen ihn zu werfen, sich auf den Knien vor ihm über den Boden zu schleppen, ihn in ihren Tränen, ihren von Reue glühenden Küssen zu baden … Sie sagte ohne Zittern:

»Wirklich, Valentin, auch ich sehe erst jetzt, wer du bist. Ein Mann, wie, Herr Wernawe? Er ist gewachsen. Er macht finstere Augen.«

Valentin suchte ihre Hand, um sie zu küssen. Sie tat, als merkte sie es nicht. »Schnell den Rubin! Wernawe hat ihn?«

Wernawe öffnete die Hand. Von dem roten Stein rannen rote Tropfen auf seine Hand, als blutete der Stein. »Bitte um gütige Nachsicht« – Wernawe wippte. »Damit ist einer geprägt worden.«

»Nicht von mir«, sagte Valentin.

»Nein, von mir.«

»Geprägt im Gesicht?«

»Im Gegenteil. Er kann es seiner Lebtage nicht mehr ableugnen, daß er geklaut hat. Der Umriß stimmt zu genau.« Wernawe fuhr mit dem Finger um den Stein. Er hatte ihn gereinigt, er stellte ihn an seinen Platz zurück. Sie konnte die kleine Truhe schließen, sie konnte den geretteten Talisman ihres Herzens in seinem Versteck verschwinden lassen. Sie hätte nicht geglaubt, er würde wiederkehren.

Auch war er nicht wie vorher. Zwischen vorher und jetzt lag kein Boden, der Stein anders, das Herz anders. Valentin hatte dies verwandelte Gesicht. »Mein eigenes kenne ich schon nicht mehr. Ich wollte, daß er fiel. Dann war ich im Begriff, ihn mit mir niederzureißen.«

Wernawe inzwischen bearbeitete Valentin. »Hiernach, mein Bester, kannst du nicht mehr zurück. Du hast mit uns mitgemacht, du mußt bei uns bleiben. Das ist auch deine einzige Sicherheit.« Da Valentin noch ablehnte: »Was bist du zuerst? Soldat. Na, wir sind keine Pazifisten, du hast dich überzeugt, Mensch! Du lebst doch auf, seit wir zusammengehn. Frage Madame!«

»Zum Lachen«, sagte Valentin. »Das ist doch nicht die Tat, vor der Tat scheut ihr. Ihr – im Ernst handeln? Nie.«

»Oho!« – Wernawe nannte die Zahl der sicheren Wähler, die sogar 1924 treu geblieben waren. Das waren Stoßtrupps – und dazu eine neue Öffentlichkeit, durchdrungen und unaufhaltsam umgeformt auf Wegen, die Gegenwirkungen entzogen waren. »Wir sind größer, als du denkst.« Der kleine Wernawe reckte sich, seine Miene ward fest. »Wir sind das wirkliche Leben.« »Die Herren wollen sich aussprechen. Valentin, du weißt, wo du Wein findest. Gute Nacht.« Sie dachte: »Ich war im Begriff, ihn mit mir niederzureißen … Sein Versteck werde ich nie mehr öffnen.« Sie wußte nicht, ob Valentin oder der Stein.

Den Vorraum erreichte sie, dort mußte sie haltmachen. Stimme Valentins:

»Ich glaube euch nicht. Ich will handeln, daher will ich auch besitzen. Wer handelt, will als Zeichen den Besitz. Ihr nicht? Dann mißtraue ich euch.«

Stimme Wernawes:

»Kannst du hassen? Schon darum wirst du handeln. Und im Handeln wirst du erleben, wozu.«

 

Sie kam vom Stuhl auf, gelangte in ihr Zimmer – schloß ab und glaubte sich gerettet für diesen Augenblick. Sie badete, die Zofe half, die gewohnten Schritte und Griffe täuschten gewandt darüber hinweg, daß vom Bau des Lebens kein Stein mehr auf dem andern stand. »Der Rubin ist doch nicht wirklich?« dachte sie, erstarrend in einer Bewegung. »Dafür gelebt zu haben!«

Anstatt zu Bett zu gehn, saß sie schließlich im Lehnstuhl daneben. Sie rauchte Zigaretten, befremdet durch die Festigkeit der Hand, die einen seidenen Schlafrock auf der Brust zusammenhielt. Sie sah die Hand im Spiegel. Nur die Nachttischlampe brannte, tief im Spiegel lag ein Gesicht, weiß hervor trat nur die feste Hand. War das noch ihre? Sie fühlte doch die Kraft nicht, so zuzugreifen. Sie, die nicht wußte, ob sie sich opfern oder ob sie töten wollte! Die nicht mehr Liebe vom Haß unterschied! Hat Furcht gehabt, sich herzlos ihr Glück zu nehmen, wie doch der Präsident es ihr so klug empfahl. Aber auch das unbedankte Martyrium liegt ihr nicht. Sie kommt denn doch zu kurz dabei, das war sie nicht gewohnt. Sie würde hassen, es wäre ihre Natur – hassen den, der ihr an Leib und Seele zehrt, sie arm und alt macht: nur, daß sie seine Mutter ist. Man kann nicht Mutter sein und wollen, daß er fällt. Kann man Mutter sein und sich gegen ihn stürzen, um ihn in Tränen, in Küssen zu baden?

Schloß sie die Augen, drangen sofort ihre verwirrten Gefühle auf sie ein wie Menschen. Sie mußte ihr Spiegelbild festhalten, um noch zu wissen, sie sei ein Wesen, ein einziges, das sich nicht ändern kann. Wie will es denn noch anders werden nach so langer Zucht und Strenge. Der Rubin ist nicht härter. Dir ist unmöglich, dich selbst zu verlieren, das tun Schwächere. Du kannst dich auch nicht fliehen in der Not. Wohin wohl? Zu wem? Wo wärest nicht wieder nur du, deine Qualen, dein Kampf. Wer wollte sie zu den seinen machen. Wer wollte dir dulden helfen, wie er dir siegen half? Sie wußte, wer.

Sie drückte die Zigarette aus, entschlossen erhob sie sich zu einer wichtigen Verabredung, trat vor das Bett, vor die Himmelskönigin, die darüber hing – sie richtete sich höher auf. Die Gebete begannen. Sie betete, wie immer, zu ihrem Bild im Stehen, mit den Augen in seinen und ohne die Hände zu falten.

Die Gebete liefen ab. Das Bild blickte kalt dazu wie je. Sie merkte er lange nicht, sie war es zu lange gewohnt. Laute Stimmen klangen her aus der Nacht, von den Jungen dahinten, deren Geist sich streitend erhob. Sie betete gedämpft, das Bild blickte dazu kalt.

Es hatte einen zu großen Kopf, dennoch kleine Augen und fast keine Schultern. Der glatte blaue Mantel hing an goldener Kette, die Krone war golden, auch der ganze Thron. Die Himmelskönigin hatte kein Kind, dafür hielt sie das Zepter. Der Buntdruck war schon alt, war rissig, übrigens nur so groß wie ein Buch. Der Rahmen übertraf es bei weitem an Breite, Kunst und Geldwert, er war besetzt mit gelben und roten Steinen, Lichtern des Lebens.

Die Betende kannte dieses göttliche Gesicht seit ihrer Kindheit – ein junger Pfarrer, der erste Mann, den sie liebte, hatte es ihr gegeben. Geliebt hatte sie ihn seelenvoll verwirrt, in übertriebenem Vertrauen, das nur zusammenbrechen konnte, mit Zittern, Zagen und mit Jubel. So betete einst das Kind zu diesem selben Bild.

Im Leben später veränderte das Bild sich, bald wollte es anders verehrt werden. Es verschmähte Ekstasen, schimpfliche Geständnisse befremdeten es mehr und mehr. Es war nicht gesonnen, durch Sünden, Reue, Buße zu geleiten. Die Aussetzung ihres Kindes hatte es seiner Gläubigen nie vorgeworfen. Es hatte selbst kein Kind. Es hatte ein Zepter, damit half es der ihm Ergebenen, Erfolg zu haben.

Sie hatte es in jedem ihrer zahllosen Hotelzimmer aus dem Koffer geholt, über das Bett gehängt und angebetet. Die Tage erfüllt von Abenteuern, die nach dem Willen des Bildes immer kaltherziger wurden, mit Geschäften, Ehrgeiz und Geiz – noch in der Nacht aber die Rechtfertigung vor dem glatten Gesicht ihres Bildes. Es hörte sie immer an, nie hatte sie stocken müssen, es wollte ihre Scham nicht. Weltlich, zu weltlich handeln nannte es nie gegen Gott handeln, im Gegenteil. Gott unterschied sich nicht vom Erfolg, das Seelenheil vom guten Geschäft – weder für Beterin noch Bild. Sie verstanden sich. Es verzieh ihr sogar Taten, die ihre ungläubigen Genossen sich selbst vielleicht nicht ganz verziehen. Bei jeder Stufe, die sie höher stieg, vermehrte sie in seinem Rahmen die Edelsteine.

Dank ihrem Bilde, das stolz auf sein Geschöpf ihren Weg mitging, hatte sie seit gewiß zwanzig Jahren keinem Priester mehr gebeichtet, ohne deshalb in ihrem Innern mit der Kirche zu zerfallen. Sie beichtete nicht und war doch reingewaschen. Ja, beichten erschien ihr als frühe, wenig begnadete Art, sich zu reinigen. Sie besaß die Gunst einer göttlichen Macht, die sie überallhin im Koffer mitführte. Sie beichtete nicht.

Die Gebete liefen ab. Warum war heute das Bild unaufmerksam? Sie sprach doch den Wortlaut wie immer. Das Bild liebte, daß sie laut in hergebrachten Formeln betete. Was sie eigentlich meinte, durfte nur heimlich mitverstanden werden. Das Bild verstand, es sprach ebenso heimlich frei. Sein rotes Herz, das offen auf dem Mantel lag und strahlte, fühlte mit, hatte immer mitgefühlt. Heute zuerst blieb es unbewegt. »Ist es beleidigt? Ich habe schon, ich weiß nicht, wie viele Tage, nicht gebetet.«

Die Gebete liefen ab, das Bild wollte sie nicht hören, sein rotes Herz sich nicht rühren lassen. Es war nicht mehr auf dem laufenden, seit sie nicht betete, inzwischen hatten die Dinge sich verwirrt, die Beterin selbst verstand sie nicht mehr. Wie schwer, sie zu erklären – dort, wo ohnehin Mißbilligung drohte. Es war zu fürchten, das Bild liebe Valentin nicht. Die schlimmste ihrer Verirrungen hatte es freundlicher aufgenommen als diese Sühne am Kind, dies wiedergefundene Gefühl.

Gefühle freilich hatte es noch nie gebilligt. Es war für Erwerb, Verschwiegenheit, Selbstachtung. Es war durchaus gegen Selbstanklage, Verschwendung, Sichausströmen. Von Valentin hatte sie ihm gleich anfangs nur wenig, mit Zurückhaltung sprechen dürfen, daher dann die unerhörte Unterbrechung ihrer Gebete. Es war dagegen, daß der Sohn tiefer in ihr Leben trete. Nun dies dennoch geschehen war, hüllte es sich in Schweigen. Sie bat es, sein Schweigen zu brechen. Sie sagte Ave Maria und meinte ihm viel zu sagen. Ach! umsonst.

In diesen Nöten war ihr Bild ihr keine Hilfe. Es riet ihr im Grunde nur ab von allem, was doch nicht mehr zu ändern war. Sie beschwor es, wenigstens einen Blick auf ihr Inneres zu werfen, sie zu verstehen, sie nicht allein zu lassen. Der praktische Nutzen, dachte sie für sich, werde nicht ausbleiben, wenn sie erst verstanden sei … Hier kam von dem Bilde die erste Antwort. »Bekenne! Du bist schwach geworden.«

»Nein!« rief sie. »Ich verteidige mein Recht. Ich kämpfe um mein Kind, wie sonst um Geld und Gut!« Wozu das Bild aber schwieg – undurchdringlich.

Sie erregte sich, sie vergaß sogar die Gebetformeln, sie sprach gradeswegs. »Du glaubst doch nicht im Ernst –? Der Kampf ist teuer, ich habe große Kosten – nicht nur in bar, aber siegen will ich, wie immer … Nein, höre die Prahlerei nicht! Ich kann nicht mehr siegen, außer du hilfst!« Ihre nie gefalteten Hände rangen hingestreckt um die Hilfe des Bildes – das sie versagte. Nicht die aufrechte Haltung vor dem Verbündeten mehr, sie kniete, ihre Stirn war Demut, sie sah nicht auf. »Du glaubst im Ernst?« fragte sie. Das Bild sagte: »Du hast dich verloren.«

»Nein!« rief sie verzweifelt, sie sank in sich zusammen. Von jetzt ab sprach nur noch das Bild, sie war zusammengebrochen. »Du bereust«, sagte es. »Du bereust jetzt schon dein ganzes Leben. Gestehe, daß du wertlos geworden bist! Du bist reif, dich unter schwere Räder zu werfen und dich beerben zu lassen.« Hier schwieg das Bild, sie fühlte deutlich, es habe sich abgewandt, von ihr abgewandt für immer.

Sie stand auf, schwankte, sie rang nach Atem. Zwei laute junge Stimmen entfernten sich in der Nacht. Sie sah sich furchtbar allein. Hier fehlte, die noch nie gefehlt hatte: sie selbst.

Ihre wahre Person war auf der Flucht. Augen der Not blickten ihr nach, sie sahen wohl, wohin sie lief. Die Zuflucht erhob sich fern, noch war die Zuflucht klein. Dann wuchs sie aber, sie ward ungeheuer. Licht ging aus von jenem runden Bau, dem die Seele zulief, die Zurückgebliebene hoffte schon, es sei der Morgen, der so glänzte. Sie öffnete das Fenster – nein, noch immer verharrte die Nacht. Was blieb dem Rest, der sie war, übrig, als zu warten, bis auch der Rest der Nacht verging.


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