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Valentin ging in die Tiergartenstraße schon seit Wochen. Wenn er das Gittertor öffnete, sah er jemand am Fenster ihn erwarten. Wenn er den gelben Gartenweg dahinging, vorüber an groß gezeichneten Anlagen und der Rampe, die prachtvoll auslud, sah er im Haus schon Bewegung. Die Villa, niedrig, mit großen Fenstern, ließ alle Sonne ein, die sie fassen konnte. Vorhänge wurden gerafft, Schatten eilten. Er kam an, schon war die Tür geöffnet von den vertraulich lächelnden Dienern.
Es waren zwei, Franz und Herr Tietge. Sie schienen ihn längst gekannt zu haben, sie waren so von Herzen beflissen, daß seine gute Natur dazu gehörte, einfach zu bleiben und kein verwöhntes Gesicht zu bekommen. Dies erinnerte ihn an verlorene Sicherheit des Lebens und an vergessene Pflege.
Oben auf dem dicken Teppich des Vorraums stand die Zofe Kläre und hielt beglückt die Wange hin, er mochte mit dem Finger darüberstreichen. Dann ließ sie ihn hinein zu Frau von Hartmann, die ebenso schlicht wie ihre Dienerschaft zeigte, daß sie sich freute und daß sie alles nur natürlich fand. Sie gab ihm seinen Platz beim geöffneten Fenster, sein Buch und seine Zigaretten. So kommt man von einem Ausgang heim. Sie entschuldigte sich nicht mehr, um vor dem Essen ihn eine Zeitlang allein zu lassen.
Hinter sich im Fenster die leis wispernde Baumkrone, sah er die Tiefe des flachen, hellen Sitzraumes übergehn mit weitgeöffneter Wand in das weiße Eßzimmer und zuletzt im Terrassenfenster wieder Grün stehen. Kein hohes Möbelstück beschränkte das Auge. Flach, zart und gemessen entfernten die Gruppen der Möbel sich vor dem Blick wie eine Gesellschaft, die sich findet und wieder teilt. Nur Blumen überragten sie rot und gelb – nicht viele Blumen. Der einzige sehr große Farbenstrauß blieb an der Wand das Bild der Hausfrau, gemalt von Renoir.
Es blühte rot und gelb. Der Schal war gelb, die Haare waren rot. Gelb und rot waren Goldtapete und der große Rubin. Das Licht war gelb und rot, der Glanz des dargestellten Wesens gelb und rot. Aber Glanz und Licht übersonnten durchsichtig doch nur ein vollkommen weißes Gesicht und das tiefe Dunkel der stumm und fest gesinnten Augen. Dies war die Jugend der Frau, die für viele der Maler hatte strahlen gesehen in den stärksten Farben des Lebens. Es war ihre Jugend. Was noch übrigblieb, was Valentin kannte, war Nachglänzen, Alleinbleiben, wenn die Sonne sinkt, das Insichgehen und Lauschen.
Er dankte seinem Schicksal, daß es ihn nicht früher hergebracht hatte. Baronin Hartmann in voller Pracht – Valentin kannte sich, es wäre zu stark gewesen für ihn. Valentin von Lambart war nicht demütig, nur muß man wissen, wo man der Herr ist. Die Mädchen und Frauen, die vor einigen Jahren nach dem jungen Offizier die Augen lenkten, als strahlte ein ganzes Fest sie an, rückten dadurch ihrerseits halbwegs in Schatten. Sie konnten reich gewesen sein und Namen getragen haben, auf keinen Fall hatten sie die Machtstellung der Frau in Gelb und Rot. Denn die feierte ihr Künstler im Namen einer Welt von Siegern. Die behauptete sich im unvergänglichen Bildnis bei den Siegern des Lebens, Valentin von Lambart hatte unter ihnen nur ein kurzes Gastspiel gegeben.
Jedesmal bei längerer Betrachtung des Bildes fühlte er sich hier auf verbotenen Wegen – noch jetzt, da er monatelang die Frau und schon manche Woche ihr Bild kannte. Erstens verschwieg er der Baronin Hartmann die Prinzessin Adele und dieser die schöne Dame. Wenigstens die Prinzessin hätte sich gekränkt. Aber auch er selbst hätte sich vor ihr schämen müssen. Er, so gnädig bei der sanften Adele, ließ sich hier zum Pflegling machen. Dort war er freigebig, hier nahm er Wohltaten. Mit Adele, seiner Prinzessin, die noch spielte wie ein Kind, führte er ein verträumtes zweites Leben abseits der unerfreulichen Geschäfte des Lebens. Hier dagegen machte eine andere sich über ihn Illusionen, und was für welche. Hier nützte er eine Verirrung aus. Sie war unerhört, war gefährlich, und er nützte sie aus. Man durfte daran nicht denken. Dies Haus war ein Vulkan.
Die Hausfrau hätte ihn doch nicht allein lassen sollen. Solche Gedanken kamen, wenn sie fort war. Nun kehrte sie aber wieder, war mit vollkommenem Takt angezogen und ließ sich so ruhig, so selbstverständlich von ihm zu Tisch begleiten, daß niemandem Zweifel an der Berechtigung seines Hierseins geblieben wären. Während Herr Tietge den weißen Lehnsessel und sein rotes Kissen unter Frau von Hartmann schob, tat Franz es für Valentin. Wenn die Diener serviert hatten, verschwanden sie im Hintergrunde durch eine weiße Tür. Sie brachte jedesmal die Rede von den beiläufigen Gegenständen auf den allein wichtigen, ihn selbst. Er fürchtete sich vor dem Augenblick des Erzählens, bis er da war. Dann ergab sich wider Erwarten leicht, bis wohin man gehen durfte. Sie hatte bei weitem zuviel Welt, um Vertrauen über den bis jetzt gegebenen Punkt hinaus zu fordern. Mehr würde sie nicht einmal zugelassen haben. Manchmal wiegte ihre klassische Beherrschtheit ihn ein, er vergaß, was in ihrem Kopf saß, unverrückbar, wie er sogleich wieder sehen sollte.
Es tat wohl, gegen ihre glatte, breite Stirn zu sprechen, ihr gegenüber, nach dem Essen. Sie saß aufgestützt, unter ihrem Kinn hingen von den klaren Händen diese zugespitzten, vorn aufwärts gebogenen Finger, auf denen Steine glühten. Sie hatte die völlig grade Nase mit breiter Wurzel, die einzige, die ihn in seiner Lage nicht einschüchtern konnte. Angesichts der gebogenen, blassen der Generalin würde er kein Wort vorgebracht haben. Ihre stumm eindringenden Augen standen weit auseinander, sein Blick hatte zwischen ihnen Raum, sich zu bewegen. Er fühlte die schönen dunklen Bogen der Brauen ihm zuhören. Eine Ohrmuschel verschob sich merklich, weil ein spannendes Wort sie traf. Die Lippen lösten sich schließlich unbewußt und feucht.
Zuerst war einige Male nur vom Spielklub die Rede gewesen, dem Boden, auf dem sie einander gefunden hatten. Neutraler Boden, sie mußten noch nicht von sich selbst sprechen, denn natürlich spielten beide nur »zum Vergnügen«. Sie einigten sich auf Geringschätzung der geschminkten Schönheiten mit Hornbrille, die das Geld ihrer Begleiter verloren, auf Mißtrauen gegen die russischen Emigranten mit tiefen Stimmen, die abwechselnd die Bank hielten. Der gute kleine Musiker, der, wenn nicht in Zoppot, hier seine Gagen verspielte, bewog sie zum gleichlautenden Bedauern. Valentin aber gewann doch? Mit dem Geld, das sie ihm lieh, hatte er doch Glück? … Sie erfuhr, dies helfe nichts, er müsse alles sofort in andere Klubs tragen, wo er bei einem Croupier in Schulden saß. Er sagte gleich: beim Croupier, damit sie nicht an Frauen denke. Sie fragte dennoch nach Frauen.
Hier hatte er an einem Tage, der wieder eine Schranke zwischen ihnen aufhob, seine Gönnerin ein für allemal gebeten, sie möge nicht glauben, er sei gewohnt, Frauen in Anspruch zu nehmen. Nur ganz erstaunliche Umstände hätten es ihm in einem einzigen Fall zur Not verzeihlich erscheinen lassen.
Nach einem Schweigen ward er leicht und lachte. Zu Hause gelte er als Don Juan – er sagte es, als sei die Frage hier nicht das Geld der Frauen, nur das Glück bei ihnen … Leichtsinnig erklärte er auch, seit wann besonders. Man hatte einst in der Berliner Straße nach ihm gefragt, zwei Herren, denen scheinbar der Ehrenhandel im Gesicht geschrieben stand. Die Generalin hatte ihn verleugnet, er sei abgereist, verschollen, tot. Er war dann wirklich eine Zeitlang aus dem Verkehr verschwunden. Jahre waren es her, aber er behielt die Generalin im Verdacht, daß sie die beiden Kartellträger noch immer fürchtete. Dann hatte sie sie freilich wohl nie für echte Kartellträger gehalten – und ihn nicht für den Don Juan. Nur sagte man im Hause Berliner Straße selten, was man wirklich voneinander dachte. Gewisse Leute hatten damals mit ihm etwas ganz anderes als galante Händel vorgehabt. Noch immer hatten sie es im Grunde vor … Dies klang trotz Lachen wohl dennoch ernster, denn ihm klopfte das Herz. Leichtsinnig hatte er angefangen, war aber jetzt auf dem Punkt, die selbstgeschaffene Gelegenheit zu benutzen, um endlich einmal seine schwerste Sorge zu äußern. Er trug schon zwei Jahre lang die schwerste Sorge allein. Kein Gedanke daran, zu Hause je sich auszusprechen. Aber hier? Ja, vielleicht hier! Er suchte in ihren Augen. Da kam sie ihm zuvor, sie fragte, ob er mit den Seinen nicht vertraut genug stehe, sie einzuweihen. Waren es im wahrsten Sinne die Seinen? Hatten sie ihn denn glücklich gemacht? Hatte er das Gefühl, im Leben am rechten Platz zu stehen? Hatte er es je gehabt?
Ihr ständiger Gedanke. Er sollte nicht der Sohn seiner Eltern sein. Nur dies hörte sie aus allem, was er sagte von sich und seiner Sorge. Sie dachte nur an ihre eigene. Wenn er am wenigsten darauf vorbereitet war, verriet sie sich wieder. Er verzichtete, auch sie konnte ihm seine schwerste Sorge nicht tragen helfen. Er sagte schonend und als habe er ihre Absichten nicht erfaßt, daß die Gegenwart, wie die meisten, auch ihn vorwiegend enttäusche und falsch verwende. Als Beamter eines Industrieunternehmens könne er augenscheinlich nicht leisten, wozu er geboren sei. Sie unterbrach, sie wollte wissen, wozu er geboren sei. Er zögerte. Sie fragte nachdrücklich. Er wußte es nicht.
»Wie sollte ich es wissen«, sagte er bitter, und dann mit Pausen, die sie nicht störte: »Man wird doch nicht für den Krieg geboren? Das war aber grade die Zeit, in der ich an mich glaubte. Ich war ein schmutzbedecktes, verfolgtes wildes Tier, keine Stunde des bloßen Lebens sicher, und grade damals hatte ich Selbstvertrauen. Nicht, daß ich den ganzen Krieg im Schützengraben verbracht hätte, es kam nur vor. Ich war auch in der Etappe und durchsuchte unter anderem für meinen Kommandeur so lange die Stadt nach bestem Kognak, bis ich ihn im Bordell fand. Das war nicht rühmlich, trotzdem glaubte ich noch an meine Sendung hienieden. Unter dem Präsidenten Seehase glaube ich nicht mehr daran, aber es ist nicht nur seine Schuld. Jede Gesellschaft macht, glaube ich, den Anfängern, die in ihr leben sollen, entweder Mut, oder sie entmutigt sie. Diese heutige Gesellschaft entmutigt nur. Sie versteht es nicht besser, was soll man ihr sagen.«
Diese Pause entstand, weil er errötete und zu seiner Beruhigung ein ganzes Glas Wein trank.
»Mich hat niemand an irgendeiner Dummheit gehindert, denn wer sollte voraussehen, was später bestraft werden würde oder was ganz im Gegenteil zu Macht und Erfolg führte. Konnte Seehase sein Glück voraussehen? Jeder setzte auf seine Karte, wozu sind wir alle Spieler. Ich habe bisher nicht gewonnen … Als Papa Generaldirektor wurde, kam viel Geld. Aber es war der schlechteste Zeitpunkt, viel Geld zu haben, man stieg nur um so sicherer in falsche Abenteuer. Was sollte ich tun, ich hielt mich zu meinesgleichen, ich hatte Standespflichten – erst recht, als die Republik in ihrem Vertreter Seehase meinen Alten das viele Geld verdienen ließ. Flauheit wäre Verrat gewesen. Ich tat, was meine Leute wollten. Ich machte nur mit. Aber sie bekamen mich in die Hand, und leider sind sie die Leute, das auszunutzen. Davon mußte ich mich überzeugen.«
Jetzt hatte er dennoch viel gesagt. Er atmete aus, er wartete, ob sie fragte. Sie schwieg, er sprach weiter.
»Papa verlor die Stellung, wir wurden arm wie nie – was aber meine eigenen Kameraden nicht hinderte, weiter Geld von mir zu fordern. Sie wußten zuviel, ich zahlte. Dafür spielte ich. Ach so, wir spielen zum Vergnügen. Gewiß, und dann, weil man in Abhängigkeiten verwickelt ist, und auch, weil ich doch nicht unbegrenzt Eintänzer bleiben konnte.«
Er schlug sich vor den Mund.
»Vergebung! Das durfte nicht kommen. Ist es auch nur als Einblick lohnend? Ich war nicht der erste, der seine gute Erziehung zu Geld machte, in die großen Hotels ging und die Damen richtig führte. Die Damen zahlten, je nachdem ich ihr Geschmack war, im ganzen brachten sie mir mehr als der Klub oder als Seehase. Dazu kommt die dort geübte Gelenkigkeit, die Kunst, mich anstandslos vor jedermann zu verbeugen, auch vor den Herren der zahlenden Damen.«
Zum erstenmal bekam er harte Augen, gepreßten Mund.
»Es war die reich-bürgerliche Gesellschaft. Jede Gesellschaft weiß, was sie von den ihr unterworfenen Menschen zu halten hat und wozu sie sich ihrer bedient. Ich habe mit ihr getanzt und bin bezahlt worden, ich fordere nichts nach. Ich kann zu dem allen nur sagen, daß es eine Erfindung der reich-bürgerlichen Gesellschaft ist, ihre Frauen und Töchter mit bezahlten Angestellten tanzen zu lassen. Auch der Adel hat Abhängige mißbraucht – aber noch nicht dazu.«
Seine Züge verloren schon wieder die Schärfe, höflich entschuldigend war das Lächeln, mit dem er sich verbeugte. Er trank der Dame gegenüber zu. Ach! zu viel Weichheit. Es waren die widerstandslosen Knochen des Bezahlten.
Sie empfanden es beide und ließen die größte Pause kommen. Er murmelte nur noch: »Bin doch genau besehn erst fünfundzwanzig. Habe dafür schon reichlich Leichen hinter mir.«
Plötzlich hörte er das Wort, er erschrak. »Keine wirklichen! Die meine ich nicht. Die sind das wenigste. Aber bis aus einem Leutnant, dem die Welt gehört, der Eintänzer wird und aus dem großen Helden der kleine Schieber – da hat das Leben aufgeräumt. Ich fühle mich manchmal als nichts sicher Gegebenes, nur als Durchgang für Zwischenfälle. Da verlangt die Welt noch Willen! Mein einziges Selbstgefühl ist, daß ich den Tod kenne – und diese Gesellschaft fürchtet ihn. Ich würde mich über gar nichts wundern, auch nicht, wenn ich ihr mal mit Handgranaten gegenüberstände.«
Er hatte viel getrunken und bereute es angstvoll. Vor ihm eine Dame, diese Dame – und sein verantwortungsloses Schwatzen! Er hielt es mit Gewalt an. Nur sein Ohr hörte immer noch jenes Wort. Leichen! Da ging weit ein Bild vor ihm auf – nicht aus dem Krieg, es war nachher, ein Wald ging auf, der Wald vor zwei Jahren. Sie schritten dahin zu dreien, der kleinste inmitten. Sie sangen, denn auch die Vögel sangen. Alle Büsche blühten, blauer Himmel schien durch die frisch belaubten Bäume. Als der Weg aber am engsten ward zwischen den Buchen, winkte der dritte Kamerad Valentin, vorauszugehn mit dem Kleinen. Valentin tat es. Er legte den Arm um den Kleinen, er beugte sich hinter ihn, um ihn zu schützen, hielt ihn dadurch aber auch ab, sich umzusehn. Hätte er in jenem Augenblick noch zurück gekonnt? Es gewagt haben! Dann wäre nicht, was jetzt war.
Valentin hatte nicht gewagt, sich aufzulehnen, er warnte nur flüsternd das Opfer, schon fiel aber der Schuß. Der Große hatte den Kleinen von hinten erschossen. Dort lag das Kind, denn er war ein Kind noch gewesen, und zuckte so leise, daß das alte Laub, in das er gefallen war, kaum davon raschelte. Der Kleine war ein Verräter gewesen, wenn auch wahrscheinlich nur ein kindischer. Gleichviel, diese einzige kleine Leiche war unerträglicher als die unermeßlich vielen, gräßlich zugerichteten des ganzen Krieges. Valentin war vor ihr geflohen – einige Schritte, und hingebrochen unter der Buche. Der dritte Kamerad kam nach, sah seinen Zustand, sein Gesicht – und griff noch einmal zur Waffe. Da war Valentin auf und auf ihm. Die Waffe flog ins Dickicht, schwer stürzte der Mann … Valentin hatte ihn nicht wiedergesehn. Aber seitdem erpreßten sie ihn.
Sie glaubten nicht, daß er immer schweigen werde. Solange er Geld gab, glaubten sie sich seiner ungefähr sicher. Wenn er aufhörte, drohten sie. Sie waren nicht einfach Schufte. Hatten sie im Grunde sogar recht, ihn zu verachten? Ihn aber trennte von ihnen jene kleine Leiche – und auch, daß er mit Gegenwart und Gesellschaft, mochten sie auch nur Zwischenspiel sein, sich doch nun abfand als was immer, sogar als Eintänzer.
Worauf er wieder die Hotelhalle und seine eigenen Verbeugungen sah. Zwischen Leiche und Verbeugungen wanderte sein Gedanke.
Sein Gegenüber fühlte nur: der Arme! Sie fühlte: der Arme, ist dies seine Jugend? Ich hätte dasein sollen. Ich hätte ihn besser verstanden … Indes bemerkte sie, daß dies nicht sicher war. Wer versteht eine andere Jugend – wäre auch die eigene ihr vielleicht nicht unähnlich gewesen.
Baronin Hartmann erblickte sich in dem Salon einer Gesandtschaft unter äußerst gesitteten Menschen, denen sie seit langen Jahren bekannt war. Ein Herr überließ ihr ehrfurchtsvoll den Platz neben der Gesandtin. Von hier zurück in die alten Zeiten war ein weiter, peinlicher Weg, sie vermied ihn und hatte ihn so gut wie verloren. Sie fand aus ihrer Vergangenheit auch jetzt nichts wieder als höchstens vereinzelte, zufällig beleuchtete Bilder, und eine Vorrichtung der Seele blendete sie sogleich wieder ab. Ein Verhandlungszimmer erschien, noch gestern sie selbst darin und mit ihr Gesichter darin, denen das ihre an geschäftlicher Kälte gleichen wollte. Da glitt aber das Verhandlungszimmer von gestern über in ein längst vergangenes Sterbezimmer. Jemand starb darin lieber, als daß er sie verlor – und hatte sie doch nie berühren dürfen trotz Ehevertrag.
Warum? dachte sie jetzt. Hatte das Leben an Liebe denn zu viel geboten? Sie erinnerte sich, es sei im Gegenteil bestimmt gewesen von dem Zwang, sich aller zu erwehren, unnachgiebig durchzudringen. Der eine hatte sie geliebt, Hartmann, obwohl er ihr nur für Geld seinen Namen geben sollte. Aber Liebe hielt damals nur noch auf, sie hatte davon nichts wissen wollen. Zum Ausgleich saß sie hier machtlos vor ihrem eigenen Kind, das seine Mutter nicht kannte! Sie hatte Geld, das Ziel aller ihrer Kämpfe. Sie konnte auch ihm Geld geben, darum erkannte er noch nicht seine Mutter. So war es gerecht. Ein Wort formte sich gegen ihren Widerstand. »Ich habe schuld. Ich büße meine Schuld. Es ist Schuld.«
Ihr Stolz sagte nein, er wollte schroff wegtreten und nichts mehr hören. Das Leben war rauh für alle, wer hatte denn auch nur das Glück, im Haus des Generals von Lambart aufzuwachsen. Worauf die Antwort kam: »Dafür kann ich nicht, ich habe ihn dem Zufall ausgeliefert. Ich bin nicht genug bestraft, denn er lebt noch. Meine Strafe ist, daß ich ihm nicht mehr abnehmen kann, was schon geschehen ist. Daß er schon enttäuscht ist. Schon haßt … Ist es zu spät? Komme ich für seine Errettung schon zu spät – ich, die ich mich kaltherzig neben die Gesandtin setzte, indes mein Kind in Gefahr war? Und alle Gefahren waren mir aus eigenem Erleben bekannt!«
Da wollten aber Bilder hervordringen aus der Tiefe, wo sie bleiben mußten. Was nie mehr Lebenszeichen gab, war doch noch übrig. Weit hinter ihrem gesellschaftsfähigen Bestand, hinter ihrer Heirat, ihrem geglückten Erwerb, winkte aus der Vergangenheit ein ganz anderes Leben: auch das warst du. Dort gab es nicht Bestand noch Würde, dort fehlte die kalte Klarheit, es ging kopfüber zu, so schien ihr. Sic begriff nicht mehr die Gestalt, die dort hauste, noch die Schicksale, die herfielen wie toll über die Gestalt. Sie selbst in ihrem bekannten Dasein hatte ihr Schicksal gezähmt.
Die Gestalt zuckte durch vergessene Schreckensräume, durch einen Gerichtssaal. Dort fand sie den, den allein sie geliebt hatte und den sie nun verurteilen ließ. Auch sein Mitschuldiger, der ihn ihr verraten hatte, zeigte nach Unendlichkeiten wieder ein Gesicht … Spielsäle, blaue Meere, die ganze ungedämpfte Belichtung des einstigen Lebenskampfes wollte beschworen sein, nur weil jene untergegangene Gestalt darin ihre Gesten machte. Die wurden wilder, je weiter entlegen, wurden sie um so greller in ihrem Dunkel. Abgeblendet, nichts mehr! Wir wünschen die fremde Person nicht zu empfangen, unser Verkehr ist gewählt. Nur einen letzten Griff tat noch die Erscheinung der Fremden, er war nicht abzustellen. Sie legte ein Kind auf einen Brunnenrand.
Baronin Hartmann streckte heftig die Hand aus – nach dem Kind, sie wollte es zurücknehmen. Ein Glas fiel um, der junge Herr ihr gegenüber deckte das Tuch über den verschütteten Wein. Dies rief ihn aus seinen Gedanken ab. Auch Baronin Hartmann war zurück aus den ihren; beherrscht, ja mit dem gütigen Lächeln der Hausfrau stand sie vom Tisch auf.
Valentin sagte: »Ich fürchte sehr, zu schmeicheln. Ich mußte nämlich oft schmeicheln. Aber Steine auf Ihren Händen, Felicie, ich kenne nichts, was so gut aussieht.«
»Danke. Aber Sie irren. Ich liebe Steine nicht nur als Vorwand für meine Hände. Sie sind meine Leidenschaft.«
Sie kamen zu einem niedrigen Tischchen, es war ein Kristallkästchen mit zart geschweiften Füßen aus Rosenholz. Im Glas luden zwei oder drei kleine Gegenstände ein, auf sie einen Blick zu werfen, wenn man sich hier setzte. Das Tischchen stand inmitten anderer Möbel unter dem Bildnis der Hausfrau, gleich an der Wand.
Sie setzten sich hier. Das Kristallkästchen und seine kleinen Gegenstände klirrten leicht, da sah man einen neuen erscheinen. Es war eine kleine Truhe aus mattem Metall, sie glitt hervor aus dem Behälter, der in der Wand sich öffnete, glitt in das Kristallkästchen und stand da wie in Erwartung. Der Gast sah die Dame an, aber sie hatte starr versonnene Augen, die nichts fortbewegte von der kleinen Truhe. Sie tastete an einem der Füße des Glaskästchens, schon sprang mit hörbarem Schlag die Truhe auf, ein rotes Feuer sprühte.
Es brach sich in den Kristallwänden, das Feuer des Steines strahlte wie aus Bergestiefen. Es sandte seinen sichtbaren Schein auf die Gesichter, die ihm nahe kamen. Sahen sie aber um, schien auch noch das Zimmer erfüllt – vom Wunder unzugänglicher Gebiete. Valentin erinnerte sich des arabischen Reisenden, der eine vollkommen steile, glatte Felswand hinunter blickt, und drunten liegen frei wie Kies die Zauber wirkenden Steine. Baronin Hartmann sagte: »Es ist der größte Rubin, dem ich begegnet bin« – und als begegnete sie ihm erst jetzt, hielt sie große, stumme Tieraugen starr auf ihn gerichtet.
»Ich sah ihn bei der Herzogin von Leutenberg, es stand sogleich fest, daß ich ihn haben mußte. Es war in Nizza, sie hatte sich halb ruiniert, ich kaufte ihre Villa mit der ganzen Einrichtung, dieser Salon kommt von dort. Aber ich versprach ihr, alles umsonst zurückzugeben, wenn sie mir den Stein verkaufte.«
»Sie tragen ihn auf dem Bild!«
»Alles ist schon lange her. Die Herzogin wollte nicht, der Rubin galt bei ihr als Talisman. Als sie gestorben war, hat mein alter Geschäftsfreund den jungen Herzog so lange im Auge behalten, bis die Gelegenheit erschien. Endlich hatte ich den Stein. Wie gut, daß ich katholisch war! Er durfte nur in katholische Hände gelangen.«
War dies zu glauben? Hände – was für Hände? Valentin besah sie ungewiß. Sie zeigten alles andere eher als Gefühl, ob katholisches oder profanes. Sie wirkten so wohlgeformt, grade weil sie ein Wesen ausdrückten, das bewußt, kühl, sicher auch stark in Geschäften war. Täuschte er sich? Er hatte doch gelernt, seines Vorteils wegen darauf zu achten, was das Aussehen der Leute bedeutet.
»Der Herzog hat seither alles getan, um seinen Talisman zurückzubekommen. Er würde ihn sogar stehlen lassen, ich muß ihn gut behüten.« Sie sah auf und lächelte. »Er bekommt ihn nicht. Wer ihn bekäme, müßte mich schon ganz in der Hand haben.« Ihr langsamer Blick traf seine Augen und ließ sie nicht mehr.
Dies verwirrte ihn, er mußte nachhelfen, um sein offenes Gesicht zu behalten. Wäre es Schwüle gewesen, was sie jetzt wieder verriet! Nein, ihre Verirrung war seltener, peinlicher. Eine Frau, die, gelinde gesagt, die Welt kannte – aber in ihrem Kopf stieß die gesunde Vernunft auf ein gewisses Hindernis. Niemand hätte es beseitigen können.
Sie stand auf, um den Tee zu bestellen. Im Vorbeigehen strich sie durch sein Haar, ihre Finger kämmten es, dabei tasteten sie unter dem dichten Haar die Kopfhaut ab. Er hielt still. Er wußte schon, was sie suchte: ein Mal. Sogar die Form hatten ihre tastenden Finger ihm schon verraten. Sie sprach nichts aus, sie sprach nie etwas aus. Er sollte selbst wissen. Er sollte verstehen. So mußte er in seiner unwiderstehlichen Beschämung sich denn nichtsahnend stellen. Er hielt still und fühlte nur die falsche Lage.
Herr Tietge setzte den Tee auf die Kristallplatte, der Rubin mitsamt seiner Truhe war daraus verschwunden. Sie tranken schweigend, dann ging Valentin, er zitterte nun schon von verlegenen Qualen.
Er wollte ohne Aufenthalt zur Treppe, von der anderen Seite des Vorraumes kam aber doch noch die Zofe Kläre. Sie hielt einen auffallenden grauen Zylinderhut, den sie bürstete. Dies nötigte Valentin, den älteren Herrn zu bemerken, der dort hinten vor dem Spiegel verweilte. Er wandte einen durchgezogenen Scheitel her. Seine Bewegungen waren alt, die Perücke aber schwarz. Auch überragten die ausgezogenen Spitzen eines dunklen Schnurrbartes seine großflächigen Wangen. Valentin kannte diese untersetzte Gestalt, er verschwand schnell. Baronin Hartmann hatte einen merkwürdigen Geschäftsfreund.
Bankier Kappus hatte die Pension des Generals Vogel von Lambart auf lange Jahre hinaus beliehen, er hatte solche Geschäfte von seinem früheren Beruf her noch beibehalten. »Man soll nicht hochmütig werden«, sagte er dabei zu Valentin, der vermittelte. »Ich stocke jetzt auf, wie die Deutsche Bank, aus mir ist bei diesen Zeiten ein richtiges Bankhaus geworden. Aber wenn ein Herr General zu mir kommt, der schon als Leutnant kam, muß es mich nicht rühren? Früher gab er mir einen wenig schmeichelhaften Namen, man nannte das so. Bin ich jetzt nicht glänzend gerechtfertigt? Ich nahm zwanzig Prozent. Heute nehmen alle hundert.«
Der hatte ihr den Rubin verschafft. Valentin sah ihn. Er ging in Richtung Berliner Straße und hatte Kappus vor Augen, wie er in Hotels, Spielsälen und sogar auf Überseedampfern hinter dem Herzog von Leutenberg her war. Er scheute keinen Zeitverlust, wie ergeben war er der Baronin Hartmann! Wahrscheinlich fand er sich mit ihr in der Leidenschaft für Edelsteine. Solchen Menschen war der Rubin kein Familientalisman, dafür aber kamen sie ihm persönlich näher an Härte, Lebensglut und Dauer. Er bemühte sich, Kappus fallenzulassen, ihn von Felicie zu trennen. Dennoch blieb sie die fremde, halb abenteuerliche Erscheinung, nerverschlagen aus nicht ganz unverdächtigen Erlebnissen an häufig wechselnden Schauplätzen. Wer war sie im Grunde? Ob die diplomatischen Kreise, in denen sie verkehren sollte, sie im Grunde kannten? Andere Auskünfte waren nicht zu haben – am wenigsten von ihr selbst, die nicht sprach. Er horchte auf: ihm fiel ein, daß sie fast stumm war. Er begriff nicht, wie sie es machte, ihn zum Sprechen zu bringen, so wenig sprach sie selbst.
Hier erinnerte er sich, daß er gern zu ihr sprach, gern sich ihr eröffnete und gegen ihre breite, glatte Stirn, in ihre stummen, großen Augen sprach, indes sie aufgestützt saß und unter ihrem Kinn die Hände mit den Steinen hingen. Die Hände hatten sich selbst, wer weiß, woher, herauf- und durchgeschlagen. Die Frau war stark, sie lehrte ihn Vertrauen, ihn, den seine kleine Prinzessin nur Mitleid lehrte. Mit fünfundzwanzig Jahren war er dank den Taten der Welt schon voll Furcht und Abneigung. Er begnügte sich schon dort, wo er ungestraft gut sein durfte. Nun trat die starke Person auf, die ihn in ihren Schutz nahm, als wäre es nichts. Die verlangte, ohne Wort nachdrücklich verlangte, daß er wieder Mut faßte und alles einfach glaubte – dem Leben, vor allem aber ihr.
Was er ihr glauben sollte –
Er ging und atmete tief den abendlichen Duft des Gartens. Widerstände wollten nachlassen in ihm, er atmete. Was er ihr glauben sollte, hatte am Ende doch wohl Sinn? Wenn nicht Wahrheit, doch Sinn? Und wo war Wahrheit! Berliner Straße – wo keiner dem andern je seine wirkliche Lage eingestand? Der gute Ton in äußerster Folgerung hebt jede Gewißheit auf. Valentin von Lambart fragte sich heute abend: »Wenn meine Eltern nicht meine Eltern wären, könnten sie anders mit mir sein? Korrekter? Gehaltener? Und würden sie es mir ins Gesicht sagen? Sie waren zu taktvoll«, entschied er. »Sie würden es mich langsam erraten lassen. Vielleicht bin ich auf dem Wege?«
Baronin Hartmann war eine Frau von weniger guter Erziehung, sie hatte eine ganz wilde Geschichte, kaum verkleidet, glatt herausgesagt. Sie nahm rundweg ihren verlorenen Sohn an sich, beschenkte und liebte ihn. Das Erstaunlichste aber: auch er! Auch er fühlte diese Hinneigung, dies Vertrauen, das keine Fremdheit litt. Wie, ein preußischer Generalssohn hätte sich auch nur einen Augenblick verwandt gefühlt einer Abenteurerin?
In Wirklichkeit hätte er sie höchstens zu seiner Geliebten gemacht! So lag es aber: Valentin fühlte diese schöne, diese am Punkt der Reife gerade erst angelangte, schöne Frau nie als Frau. Als was dann? … Hier ließ er sich auf eine Bank nieder.
Er saß lange, den Kopf in den Händen, wie ein Obdachloser. Zeitweilig hielt er es für ausgeschlossen, noch zurückzukehren nach der Berliner Straße. Wie, wenn er einfach zu seiner echten Mutter ginge?
Freilich, kaum angelangt im Hause des Generals, sagte ihm noch vor den Bewohnern das Haus, daß im Leben das Abenteuer nicht alles sei. Abenteuer blieben immer unglaubwürdig – selbst wenn das seit nunmehr zehn Jahren von den Familien Erlebte sich nicht durchaus wie bürgerliche Geschichte lesen sollte. Die Generalin erschien, da sah er allerdings, daß Felicie von Hartmann reine Romantik vertrat.
Er ging mehrere Tage nicht zu ihr, inzwischen entstanden doch wieder Zweifel. Er erinnerte sich, daß einst von seinem Dasein für die Generalin eine Erbschaft abgehangen hatte. Auf seine Frage zeigte sie Erstaunen. Gewiß – aber da das Geld natürlich mit allem übrigen entwertet war.
Die Antwort traf ihn wie ein Schlag. Er entdeckte, daß er sich vielleicht von hier fortzuschleichen suchte, um dort unterzukommen, wo das Geld noch nicht entwertet war! Hier sagte der junge Valentin: Aus. Kein Für und Wider mehr! Nur noch anständig. Das gewisse Hindernis ausnützen im Kopf der armen Frau? Ausnützen grade dies? Nie … Worauf ihm erst einfiel, daß er eigentlich hiervon schon seit Monaten lebte. So lange hatte er keine Bedenken gehabt. Auf einmal überfielen sie ihn. Was war geschehn? Stand sie ihm nicht also dennoch näher, als er gewußt hatte?
Er wies aber jede Versuchung ab, mied die Tiergartenstraße und beschloß, zurückzuzahlen, was er schuldete. Es war schon so viel, daß er in seinen jetzigen Verhältnissen den Rest seines Lebens gebraucht haben würde, um alles abzutragen. Das steifte ihm nur den Nacken.
Sie sah ihn nicht kommen. Sie schrieb ihm und blieb ohne Antwort. Sie spürte ihm nach, aber er wußte ihr auszuweichen. Sie hatte die wichtigsten Geschäfte ihrer ganzen Laufbahn durch Kappus gemacht. Auch in dieser Sache ging sie endlich doch zu ihm.
Sein Bankhaus erweckte Vertrauen durch polierte Täfelungen, gute Teppiche und eine maßvolle Abwicklung des Verkehrs selbst bei der einstigen Hochkonjunktur. So schien er nicht nachgelassen zu haben. Kappus hatte nicht mehr den bekannten Schriftsteller als Privatsekretär, die Zeiten waren wieder anders. Aber es war immer noch ein adeliger Name. Aus seinem Büro mit dem alten französischen Meistergemälde hatte er das eingerahmte Assignat entfernt, es bot keine passende Anspielung mehr.
Einleitend sagte sie: »Wie Sie es nur machen, Kappus, daß Sie jünger werden statt älter.«
»Weil die Zeit mir endlich nachgerückt ist, Frau Baronin. Ich fühle mich mit ihr in Harmonie.« Er setzte einen Finger auf den Scheitel seiner schwarzen Perücke. Früher war er fast schon kahl gewesen, war bartlos und erweckte gern als Gegengesicht zu dem, was er trieb, den Eindruck eines Geistlichen. Heute bekannte er sich zu seiner Natur. Er zeigte ihr das Bild seines Vaters. »Was sagen Sie? Ist es dasselbe Haar? Der ausgezogene Schnurrbart? So ging der alte Mann in der guten liberalen Zeit in Wien umher. Sie und ich, Frau Baronin, wir beide sind alter Reichtum.«
Sie sagte: »Kappus, wie bringt man Spielschulden herein?« Sie sagte es nur, um anzufangen, nur um den Namen zu nennen, den sie angstvoll mit sich trug. Spielschulden waren es längst nicht mehr, und sie dachte an keine Schulden. Übrigens wußte Kappus, daß sie weder spielte, noch Spielern Geld lieh. Er stutzte, fand aber den Ausweg in alte, vielgeliebte Erinnerungen. Er sagte, daß er einmal einem schlechten Kunden, dem er bis nach Monte Carlo nachgereist war, sogar noch Geld zum Spielen gegeben habe. Er habe es, der einzige Fall im Leben, nicht zurückverlangt – seine Bedingung war nur, einer gewissen Dame vorgestellt zu werden … Mit Blick aus feuchten, treuen Augen.
»Daß Sie mich grade heute besuchen!« Denn er hatte seine geheimen Gedenktage. Als er ihr damals vorgestellt worden war! Er glaubte mit Schüchternheit, mit verzweifelter Dreistigkeit den schlechtesten Eindruck gemacht zu haben. Er war gewiß, er werde sie nie wiedersehen. Diese einzige Begegnung hielt er für das Stück Poesie, das ihm auf Erden vergönnt war. Jetzt nach Haus zu Frau und Kindern. Ihr hatte er beileibe nicht gesagt, wer er war.
Kurz darauf aber trat sie in sein Berliner Geschäftszimmer. Sie wußte, wer er war. Sie verachtete ihn nicht. Übrigens fand er hier in seinem Geschäftszimmer weit weniger Grund zur Verachtung seiner Tätigkeit als in ihrer glänzenden Villa in Nizza. Aber er tat bedingungslos, was sie wollte, er verschaffte ihr den Rubin des Herzogs von Leutenberg. Immer blieb er ihr ergebener Agent, sie brauchte nur zu winken. Es war sein Dank dafür, daß eines Tages ein Menschengesicht sein ganzes Herz ergriffen hatte.
Jetzt saß seine alte Freundin ihm wieder gegenüber, aber zum erstenmal verstand er sie nicht. Sie fragte in aller Ruhe:
»Kennen Sie einen General von Lambart? Veit Vogel von Lambart?«
»Wieso nicht?« erklärte Kappus. »Er hat mir seine Pension verpfändet. Der ist es?« Mit schnellem Blick unter dem Gestrüpp seiner Brauen hervor.
»Ja«, sagte sie – worauf er den Sohn unerwähnt ließ. Er ging zu einer sachlichen Darstellung über, wie man die Leute zwingen könne, sogar Spielschulden zu bezahlen. Man paßte ab, ob die in Verlegenheit geratene Familie etwas verkaufte, zum Beispiel ein Schmuckstück. Dann erstand man es für echt, auch wenn es offensichtlich nur noch Nachahmung war. Kappus wußte zu gut, daß dies glückte. »Sie nehmen das Geld. Liebe Freundin, das Elend ist heute so, daß eine Frau Generalin sich falschen Schmuck für echten abkaufen läßt. Es sind empörende Zustände« – ja, er ächzte vor Empörung. »Dann haben Sie die Leute in der Hand«, schloß er.
Sie hatte nur zugehört. Plötzlich sagte sie: »Können Sie das verantworten, Kappus?«
Hierauf sah er sie lange ratlos an. »Was heißt verantworten? Wir kennen uns doch. Wir haben doch immer nur Sachen gemacht, die andere schon längst gemacht hatten. Sollen die anderen sie verantworten! Ich kann nicht für den Zustand.«
Nun erhob sie sich sogar. Er fühlte in steigender Unruhe, sie seien immer weniger einig. Er wollte sich rechtfertigen. »Sie können über mich nicht klagen, Frau Baronin. Ihr Konto bei mir hat von der ganzen Inflation nichts gemerkt. Ich habe alten Männern den Ertrag ihres ganzen, arbeitsreichen Lebens glatt entwerten lassen, bin ich ihr Goldonkel? Sie aber sind wertbeständig geblieben durch dick und dünn … Daß Sie geschäftlich seriös sind, steht bei mir doch fest, Frau Baronin«, sagte er beim Abschied, als Trost für sie beide. Im stillen schob er die neuen Sonderbarkeiten seiner alten Freundin auf eine verliebte Laune. »Wo in Geldgeschäften einerseits ein junger, kecker Herr drin ist«, dachte Kappus, »und auf der anderen Seite die Frau in ein gewisses Alter kommt –«
Sie war nur froh, daß sie ihm Valentin hatte verschweigen können, so furchtbar allein sie jetzt wieder dastand. Sie stand vor der Bank und wußte in allem Gewühl des Gendarmenmarktes nicht mehr, wohin. Nach Haus? Sie zweifelte an ihrem Haus, wie Valentin nachts im Tiergarten, den Kopf in der Hand, an seinem Hause gezweifelt hatte.
Als sie aber heimkam, saß er dort.
Er hatte die Versuchung abgewiesen, solange er mit ihr allein war. Bis zu der Unterredung mit seinen Eltern war alles noch im ungewissen geblieben. Zweifel an der Echtheit seines ganzen bisherigen Lebensbestandes klangen auch wirklich zu falsch, solange man nur sich selbst im Spiegel vor sich hatte – auf der Suche nach Ähnlichkeiten. Dies war freilich die Nase der Generalin nicht, ihre Biegung hatte Weichheit, eine hier nicht heimische Sorglosigkeit. Die breiteren Lippen lieferten fast schon den Beweis … Er verzweifelte an den Augen. Dunkelgrau zum blonden Haar, sie wirkten hübsch, waren aber alles andere eher als groß und stumm. Baronin Hartmann war eine Fremde. Die belebende Neugier, in die sie ihn versetzt hatte, ließ nach. Sie selbst verblaßte.
Da stellten an jenem Abend die Eltern ihn über sie zur Rede. Ihr Auto hatte zu lange vor dem Hause gestanden, sie hatte sich sogar gezeigt! Er hätte die Aussprache nie erwartet, man ging hier über so vieles taktvoll hinweg. Verhalten hatte er sich in der Szene doch wohl diskret ablehnend? Er glaubte weder ihr noch sich selbst zu nahegetreten zu sein – was immer erste Pflicht blieb. Gleich darauf stellte sich dennoch heraus, daß sie im Gegenteil ganz nahe, jetzt wieder lebendig und nahe war. Es hatte genügt, von ihr zu sprechen, von seiner Stimme und der der anderen ihren Namen zu hören. Er begriff, daß Erwägungen nicht mehr stichhielten und daß er wieder hingehen werde. Er werde zu ihr gehn und erleben, was sie wollte.
Sie erblickte ihn, erschrak, schloß die Tür. Auch die Tür nach dem Eßzimmer schob sie zu in ganzer Breite. Er ließ sie es allein tun, er stand befangen. Erst die letzten zwei Schritte ging er ihr entgegen, er beugte sich über ihre Hand mit dem jähen Zusammensinken, das Reue bedeutet. Sie blieb so lange stumm, daß er schwankte wegen eines neuen Zeichens seiner Ergebenheit. Da sagte sie: »Ich konnte Sie doch nicht wieder, wie damals, in Spielklubs suchen gehn.«
Er erschrak. Gestand sie nicht ein, sie sei die Werbende? Mit großartiger Einfachheit gab sie zu, daß nicht der Zufall ihn ihr zugeführt habe. Sie dachte an ihn längst, sie war sogar unbekannt schon immer um ihn. Einen Augenblick sah er sich selbst als Heranwachsenden und sie an seinem Bett, wie eine Mutter, bevor man einschläft. »Woher weiß ich das? Mir tat es doch niemand.«
Als erriete sie alles, hätte alles mitgefühlt, sagte sie: »Ich bin nur zuviel gereist, mich hielt zu vieles ab. Ich hätte mich Ihrer viel früher erinnern sollen.« Hier sah sie an ihm vorbei und vergaß, die Lippen zu schließen. Warum, ja warum hatte sie des Kindes sich dann plötzlich erinnert? Das halbe Leben nichts – plötzlich aber stand alles vor ihr. Sie ging inmitten der Gesichte von einst, das Haus hatte noch keine Nachbarn, das Kind lag klein da, und ach! der Brunnenstrahl fiel gleich hinter seinem Kopf vorbei … Sie richtete ihre Augen groß auf ihn und fragte nach seiner Kindheit. Ob sie gut war? Ob er glücklich war als Kind?
»Und wie!« sagte er, sie konnte aufatmen. Sie setzte sich.
»Erzählen Sie mir davon!«
»Gern. Es war im Sommer. Oder ich sehe mich nur im Sommer auf Klein-Wendrin, unserem Gut. Es war Sonntag. Nein, ich sehe mich nur anstatt in Leinen am Sonntag in Seide.«
Sie beugte sich vor. »Wirklich?« fragte sie gespannt. »So wäre es bei mir nicht gewesen«, sagte sie – vielleicht enttäuscht, vielleicht erfreut. Grade hier ward aber die Schiebetür wieder geöffnet, sie sollten zu Abend essen.
Sie sprachen anderes während der Mahlzeit. Nachher aber, als sie still saßen, begann er von selbst wieder beim gleichen Wort: Sonntag, es sei Sonntag gewesen. Kinder von Gutsnachbarn waren gekommen mit ihrem Lehrer, sie hatten Turnspiele getrieben. Er hatte sich einer schwierigen Übung gerühmt, er war damals ein Prahlhans. Die Übung war ihm mißglückt, und alle lachten ihn aus. Auch liebte er unglücklich. Er war vierzehn, das kleine Mädchen erst zwölf, aber von früh an verlobt mit ihrem Vetter, den er nicht kannte. Er wußte noch deutlich, wie dies furchtbar gewesen war, die Eröffnung einer anderen Welt, zu der du nicht hinreichst, die mit sich nicht reden läßt. Er hatte eine Nacht in vollem Entsetzen gelegen – und tags darauf das geliebte Mädchen aus Stolz in einen Dornenbusch gestoßen.
»Aber ich erzähle lauter Unglück? Ich wußte gar nicht, daß so viel Unglück dabei war. Es sieht sich doch heiter an vom späteren Leben aus. Das Beste war wohl die Freundschaft gewesen – der man damals noch mit ganzem Vertrauen sich hingab«, sagte der Fünfundzwanzigjährige.
Sein Freund kam aus der Stadt zu ihm – weither zu Fuß, wenn er das Geld zur Fahrt nicht hatte. Denn er war arm. Er brachte sich durch die Schulzeit mit eigenem Broterwerb, bevor er dann sogar Geschwister unterhielt. Was aus ihm geworden sei, fragte sie. Ein Kommunist. Er hatte zu früh und über seine Kraft arbeiten müssen, sagte Valentin zu seiner Entschuldigung. Er sollte jetzt einer der Gefährlichsten sein. Sie verkehrten nicht mehr.
Damals war Wernawe der Vernünftigere von ihnen beiden. »Ich war für Nachtwachen und für Schwärmen, unser richtiges Leben fing erst an, wenn in Klein-Wendrin alles schlief. Ich ließ ihn den letzten Zug versäumen, dann blieben wir auf der Welt allein, und die Zeit war gekommen, zu sprechen, was sonst niemand sprach. Das hohe Getreide hörte unsere Meinung vom Leben, der schwarze Teich am Waldrand nahm Verse auf, die wir hineinsprachen, und bewahrte sie als Spiegelbild wie die Sterne. Bei grauendem Morgen gingen wir, die Arme unseren Gedanken nachwerfend, nebeneinander zur Stadt, und obwohl im Grunde todmüde, fuhr ich gleich wieder heim.«
Er überlegte, ob auch dies noch auszusprechen sei.
»Ja«, sagte er, »eine jener Heimfahrten war das Merkwürdigste von allem. Ich hatte ihn, wie gewöhnlich, angefleht, doch alles im Stich zu lassen und wieder mit mir zurückzukommen. Diesmal hatte er nachgegeben. Er stieg zu mir ein. Da befiel mich eine solche Freude, daß ich erschrak über mich. So darfst du nicht lieben, dachte ich. Es ist sträflich. Du wirst ihn verlieren. Damit stellte ich mich abgewendet an das entgegengesetzte Fenster, horchte aber eifersüchtig, was er täte. Ich hörte nichts. Als ich endlich hinsah, war er fort. Ich traf ihn dann noch oft, aber eigentlich verloren habe ich ihn doch schon damals … Eigentlich verloren«, wiederholte er.
Sie sagte in sein nachhallendes Gedenken hinein: »Ich kannte als Kind einen jungen Pfarrer.«
Sie sprach leise, sein Gedenken störte es nicht.
»Die Täler dort unten waren deutsch oder welsch. Ein Soldat hatte von jenseits des großen Gletschers, der sie trennte, ein Mädchen geholt. Dann ging er seine Dienstzeit beenden und kam nie wieder. Die Fremde war allein in der Hütte, als sie mich gebar. Sie war allein im ganzen Dorf, denn vor dem heranschwellenden Märzwasser waren alle geflüchtet. Wir hatten Glück, der Bach hielt an vor unserer Tür. Die Heilige, deren Tag war, hieß Felicitas. Ich heiße nach ihr und nach meiner Mutter Felicitas Marie.
Wir hatten die Zuflucht, zum Leben aber nur den Dienst bei anderen. Ich trug als Kind hin und her über die steile Stufengasse den Krug mit Wasser auf meinem Kopf in die Häuser. Dafür lehrten sie mich, daß meine Mutter eine schlechte Frau sei. Ich durfte arbeiten für die Bauern, bis ich ins Stroh sank. Als eines Tages der Gendarm meine Mutter zurückbrachte, erwartete ich, mit ihr fortgejagt zu werden bis in das Schneefeld. Uns rettete der junge Pfarrer.
Er glich dabei einem Engel, ich glaubte jetzt in ihm den Engel zu erkennen. Fortan war ich sein Geschöpf, das an ihn glaubte. Ich hütete die Ziegen und fuhr, um ihm die Hand zu küssen, plötzlich aus dem Busch. Ich glaube, daß er erschrak. Ich aber hatte grenzenloses Vertrauen. Je strenger er vom Laster sprach, um so größer ward, was er dennoch an uns getan hatte. Ich lag vor ihm auf den Knien. Wie ward mir erst, als ich erfuhr, daß er mich auch sah, wenn ich allein war.
Er hatte sein Haus halb im Felsen, so waren bei uns viele. Zu dem seinen ging es hinter der Kirche durch den dunklen Berg. Ich wagte mich in den Gang erst mit fünfzehn Jahren. Mir schlugen die Zähne zusammen vor allem Zauber, den ich sah. Lange brauchte ich, bevor ich in zwei grünen Lichtern den Kater des jungen Pfarrers erkannte. Um vorbeizukommen, beschwor ich ihn: Gog, weiche! – und in der Angst riß ich die Tür zu seinem Haus auf. Ich sah nur Glanz, nicht ihn. Ich war geblendet von der unvermittelten Helligkeit, so schien er mir unsichtbar. Gleichwohl fand ich den Mut, zu erfinden, weshalb ich gekommen sei. Ich müsse beichten – einen Diebstahl, ich erfand ihn. Er aber: ›Glaubst du denn, Gott lasse sich täuschen?‹ Er wußte das Verborgene!
So viel Macht darf niemand bekommen, er kann sie nicht halten. Ich weiß noch, daß ich entrückt war. Ich hatte das Gesicht gesenkt, er strich mir die Haare aus dem Gesicht, davon fiel der Kopf mir in den Nacken und lag, die Augen geschlossen, für ihn da. Ich war aber entrückt und glaubte weder ihn noch die Welt je wiederzusehn. Als ich aufsah, war er wirklich fort.«
»Wie mein Freund?« sagte Valentin.
»Ich kam aber noch einmal, da war sein Zimmer fast dunkel. Unter dem Gekreuzigten lag über dem Stuhl ein schwarzes Gewand, das faltig, arm und leer aussah. Ich schlich hin, ich küßte es. Seine Stimme fragte: ›Bist du es, Gog?‹ Er war es, nicht nur sein Kleid – und ich miaute, damit er mich weiter für Gog halte. Leise miauend, entkam ich. Ich hatte ihn dennoch getäuscht.
So war das Ende. Ich hielt es für mein eigenes, ich wollte sterben. Der Todeskampf, bevor ich ihm alles gestand! Er aber hielt, was mir geschehen war, für eine ihm widerfahrene Gnade. Er hatte bewahrt bleiben sollen vor einer großen Versuchung. Dunkel begriff ich, wer seine Versuchung gewesen war und daß auch er nicht nur zu täuschen war, nein, Täuschung brauchte … So fing das Leben an«, sagte sie, sagte es in Pausen noch zweimal abklingend – und sah auf, erstaunt, was alles nun gesprochen sei.
Da bemerkte sie, daß auch seine Augen in die Tiefen spähten, aus denen sie zurückkam. Sah er die eigenen Anfänge? Nicht auch ihre? Beide wunderbar verwebt? Sie stand auf. Sie strich ihm über die Augen.