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Marie hätte wohl schon am nächsten Morgen in ihre Pension gebracht werden können, aber der Arzt war dagegen in Anbetracht ihres allgemeinen Zustandes. Da sie ohnehin äußerste Ruhe brauchte, konnte man auch der leichten Wunde die Zeit lassen, um auszuheilen. Das Zimmer bei Bäuerleins ersetzte ein Sanatorium, draußen lag ein Hof mit mehreren grünen Bäumen, das Fenster blieb der Sonne offen. Marie versuchte einmal aufzustehen und hinauszusehen.
»Hüten Sie sich!« rief die große knochige Pflegerin und verstellte mit ihrer ganzen Breite das Fenster.
Sie sagte: »Erstens sind Sie zu schwach. Ihre Nerven haben gelitten. Wenn Sie nicht vernünftig sind, müssen Sie in eine Anstalt. Außerdem denken Sie mal an Ihre Wunde! Es ist die Hüfte, sie könnten lahm werden. Geht das in Ihrem Beruf?«
Auch an ihre erste Begegnung im Eingang des Hauses erinnerte sie Marie. »Sie waren schon reichlich aufgeregt. Sehen Sie, das müßte ich eventuell bezeugen. Nun haben Sie abgekriegt, was Sie wollten.«
»Wo ist mein Kind?« fragte Marie unermüdlich. »Bringen Sie mir mein Kind! Es muß hier sein!«
»Ich kann in der ganzen Wohnung kein Kind finden. Das werden Sie sich wohl auch nur einbilden.«
»Warum kommt Mingo nicht?« fragte sie am Abend, als das Fieber stieg. »Er ist hier gewesen, aber ihr habt ihn fortgeschickt. Einmal werdet ihr mich doch wieder hinauslassen müssen, dann sage ich alles. Bestellen Sie es Vicki! Wenn sie Mingo nicht sofort hereinschickt, bald wird sie Herrn Kirsch zu sehen bekommen!«
»Wer ist Kirsch?« Die Pflegerin wartete die Erklärung nicht ab, mit bedenklichem Gesicht verließ sie das Zimmer. Vorher hatte sie nach Lissie geklingelt. Diese kam und legte sogleich los.
»So schnell kann ich Ihnen nicht alles erzählen, Fräulein, die Olle kommt gleich zurück. Natürlich war Ihr Herr Mingo hier und wollte Sie sehen. Die Gnädige ist ihm aber nicht von der Pelle gegangen, erst Cocktail, dann Abendbrot, und sonst noch Wünsche. Da ist er getürmt.«
»Mein Kind! Mein Kind!« flehte Marie.
»Fräulein, darüber schweigt der Abgrund.«
Wirkliches Mitleid klang aus den unernsten Worten. Schon wurde die Tür geöffnet, herein trat Bäuerlein. Mit dem Kopf wies er Lissie hinaus, dann zeigte er sich, wie immer, ohne sozialen Abstand und verhältnismäßig aufrichtig. »Ich bedaure den Vorfall, ohne daß ich ihn vom Standpunkt der Logik mißbilligen darf. Vicki und Sie konnten nur so zu dem vorgesehenen Ergebnis gelangen. Ganz wenig Blut – Sie werden zugeben, daß sie Ihnen nur ganz wenig Blut genommen hat; aber die Folge ist: Vicki liebt Sie, Marie!«
»Mein Kind! Mein Kind!« flehte Marie.
»Sie möchte vor Ihrem Bett hinknien, sie möchte Sie mit Küssen bedecken. Das hindert nicht, daß ich das Kind in ein Heim bringen mußte, um es vor ihr zu retten.« Er wiederholte stark: »Damit Vicki nicht schließlich doch mit Ihrem Kind nach der Schweiz verschwand. Sagen Sie selbst, was Sie dann gemacht hätten?«
»In ein Heim?«
»Wo Sie es besuchen werden. In acht Tagen stehen Sie auf.«
»Besuchen? Ich werde es mitnehmen! Es ist meins!«
»Das sind spätere Sorgen.« Als die Kranke noch stürmischer wurde, entschied Bäuerlein, dies sei nicht mehr seine Sache. »Bei aller meiner Sympathie, die Sie kennen, der Nächste, um Ihre Interessen mit Ihnen zu besprechen, ist natürlich Ihr Verlobter. Soll ich Verlobter sagen?«
»Er ist nicht zu mir gelassen worden.«
»Ich möchte feststellen, daß nur die ärztlichen Vorschriften befolgt worden sind. Übrigens kommt er morgen um zehn Uhr vormittag. Davon abgesehen habe ich Ihnen zu eröffnen, Marie – –«
Plötzlich setzte er sich auf den Bettrand und sah sie nahe an.
»Daß ich Geld im Auslande habe und nur mit Ihnen zusammen jemals zu meinem Bankkonto reisen werde. Begleiten Sie mich nicht, dann lasse ich mich lieber hier einsperren – bildlich gesprochen. In Wirklichkeit bin ich unantastbar. Gleichviel – geschäftlich von den Ereignissen unabhängig, habe ich menschlich meine Sache ganz auf dich gestellt, Marie aus Warmsdorf!«
Er konnte viel reden, Marie lag in Ohnmacht. Bemerkte Rechtsanwalt Bäuerlein es nicht, oder zog er sogar vor, nicht gehört zu werden? Er bekam Gelegenheit, ohne Zeugen sein ganzes Innere zu öffnen, es wurde eine Orgie, und dennoch spielte der bewußtlose Leib Maries darin mit. Sie beide, Bäuerlein und Marie, wären endlich dem großen und wilden Leben gewachsen! Was er bei Vicki vergebens gesucht und was sie ihm mühselig vorgespiegelt hatte, Marie besaß es von selbst, das Verbrechen sollte ihr vollendeter Ausdruck werden! »Ich rieche es, ich atme es, du ziehst mich in diesen mörderischen Dunstkreis, und ich blühe darin auf! Vicki – mit ihren falschen Liebhabern, ihren Streifschüssen und entführten Kindern! Diese altmodische Frau hofft noch, mich vermittels einer Scheidung melken zu können. Das ist ihre Grenze. Nie brächte sie mich um, auch bei bester Konjunktur nicht. Du aber, Marie aus Warmsdorf, lockst mich hinab, Verführerin zum Chaos, und ich folge dir!« fühlte der Syndikus, dessen Geld in Sicherheit war.
Zuletzt hatte er aufgehört, sein Chaos laut auszusprechen, es arbeitete stumm in seinem Rückenmark und verursachte dort einen reißenden Schmerz. Er gab sich ihm hin und war davon erbleicht. Mit kaltem Schweiß bedeckt, schwindlig verließ er das Bett Maries, er mußte ein Glas Wasser trinken. Hierauf machte er sich federnd und ging schnell ab.
Pünktlich um zehn erschien Mingo. Er lehnte sich erschüttert an den Türpfosten, die Pflegerin verließ unaufgefordert das Zimmer.
»Das haben sie mit dir gemacht, und ich hab nicht aufgepaßt! Jetzt laß ich mich nicht wieder versetzen«, beteuerte er und trat vor. »Marie, steh auf, wir wollen nach Hause!«
»Erst holen wir das Kind ab!«
»Das bring ich dir später. Jetzt mußt du nach Haus mitkommen zu meinen Leuten. Steh auf, der Zug geht.«
»Du lügst auch schon!« Sie stützte sich empor und starrte ihn an. Er wurde klein, er bettelte. »Laß doch man, mine Marie, laß doch man!« Unter ihrem Blick mußte er dennoch gestehen.
Das Kind war vom Vormundschaftsgericht der Mutter entzogen worden. Rechtsanwalt Bäuerlein hatte geltend gemacht, daß die Mutter auf Grund ihres Gewerbes ungeeignet sei, es zu erziehen, er trage übrigens anstatt seines Schwagers die Kosten des Unterhaltes.
Marie schüttelte den Kopf. »Nein. Auch nicht wahr.« Ihre Stimme blieb vorsichtig leise.
Mingo drückte ihre Hand, die eisig kalt war. »Komm erst mal mit nach Haus! Wenn wir verheiratet sind, müssen sie es dir zurückgeben. Gesetz ist Gesetz.«
»Hast du denn Fischblut?« Sie fing zu keuchen an. Er sah etwas Schreckliches herannahen. »Ich will es nicht wieder tun«, versprach er, wie als Kind.
»Die Wanzen!« Marie schrie gellend. »Ich bringe sie um. Die Wanzen müssen dran glauben! Her mit ihnen!« schrie sie, während ihr Mingo beide Arme hielt. Aber sie wand sich, er brauchte seine ganze Kraft.
»Vicki! Kurt! Bäuerlein! Adele!« Sie rief mit verwilderter Stimme nach denen, die sie haßte. Er erkannte ihr Gesicht nicht mehr, er erschrak, – in dem Augenblick, als sein Griff nachließ, sprang sie aus dem Bett. Sie stürzte umher; die Gegenstände, auf die sie einschlug, fielen hin und zerbrachen.
»Ich bin auch ein Mensch! Ich bin ein Mensch! Keine Barfrau, keine Schneiderin, keine Landarbeiterin! Die Mutter von meinem Kind bin ich auch nicht, sie haben es mir weggenommen. Im Winter werden die Landarbeiter entlassen!« schrie sie. »Ich bin kein Mensch mehr!«
Mingo drehte in der Tür den Schlüssel um und hängte ein Taschentuch drüber. Er wußte: ›sogleich wird angeklopft werden, sie werden eindringen, und was Marie tut, wird Zeugen haben; dann ist sie verloren. Das soll nicht geschehen!‹ Er überlegte schnell und kaltblütig unter dem Antrieb der äußersten Gefahr. ›Noch eine Dummheit von mir, und alles ist aus für Marie.‹
Daher lachte er schallend, um lauter zu sein als ihr Geschrei. Er machte eine Stimme aus dem Rundfunk nach, das konnte er täuschend; dazwischen gluckste er wie ein Neger, das hatte er von der Seefahrt mitgebracht. Seine beiden Arme warf er um die Tobende und versuchte mit ihr zu tanzen, während er sie übertönte mit Gesang. Beim Tanzen fiel ihr der Schlafanzug vom Leibe, sie hatte ihn mit ihren Nägeln zerfetzt, und Marie war nackt.
Sie tanzten an dem Spiegel vorbei, sie erblickte sich darin, und ab brach ihr Geschrei. Er führte seinen Gesang, allmählich abgeschwächt, zu Ende. Sie wurde in seinen Armen schlaff, er ließ sie in einen Sessel gleiten und hielt sie darin aufrecht. Der Spiegel zeigte eine Liebkosung, aber es war die letzte Hilfe, sie starb ihm!
Sie sah in ihr eigenes widergespiegeltes Gesicht. Die Schatten unter den ausgelöschten Augen verdunkelten die Wangen bis zur Mitte, und es war um die Hälfte kleiner geworden. ›Weiß sie noch?‹ dachte er. ›Die Zimmer, wo wir uns geliebt haben!‹ Als wär es wieder so! Er wollte seine Lippen auf ihre Schulter drücken.
Da bemerkte er in ihrer Hüfte eine Narbe, aus der Blut sickerte. Der Verband war abgerissen. Er ließ den Blick an ihrem Körper niedergleiten, auch nahe dem Fußknöchel traf er auf eine gezackte rauhe und rote Stelle, sonst verdeckte der Strumpf sie. Das Rad einer Lokomotive hatte sie hinterlassen. Noch eine andere Spur jenes Sprunges auf ein Bahngeleise war sichtbar geworden, da nun die rechte Seite des Schädels von den nassen, verwirrten Haaren unbedeckt blieb. Aber das weiße Mal am linken Unterarm rührte aus dem letzten Tag ihrer Kindheit her, als die See den Katen fortriß, die Geschwister den abstürzenden Damm sich hinaufkämpften und die niedersausenden Äste der Tannen ihnen Löcher ins Fleisch rissen. Die Narben ihres Lebens – sie konnte alle betrachten, wenn diese ausgelöschten Augen sahen.
Er fühlte ihren Körper heißer und schwerer werden; bevor sie aus dem Stuhl fiel, trug er sie auf das Bett. Er suchte im Zimmer, zog ihr ein Hemd über, er hatte es einer schwerfälligen Gliederpuppe anzulegen. Marie lallte unverständlich, ihre Schläfen glühten, die Hand, soeben noch eiskalt, brannte. Mingo tauchte ein Tuch in kaltes Wasser und legte es ihr um den Kopf, dann ging er so geräuschvoll als möglich zur Tür. Infolgedessen war draußen niemand zu sehen, aber Lissie kam, als er sie rief, sofort. Er verlangte, sie sollte ihn mit dem Arzt verbinden, dann sprach Mingo in das Telefon sehr breit und ernst.
»Herr Doktor, hier ist die Wohnung des Rechtsanwalts Bäuerlein, ich bin der Verlobte der Marie Lehning, die Sie wegen einer Schußwunde behandeln. Sie sagen, es ist keine Schußwunde? Na ja, hier sind auch sonst Irrtümer unterlaufen, zum Beispiel, daß die Kranke gegen ihren Willen im Hause festgehalten wird. Dadurch ist sie wehrlos, während das Gericht ihr das Kind fortnimmt. Sie nicht? Aber mich, Herr Doktor, mich geht das an! Gleich werden Sie selbst sehen, wie viel! Sie interessieren sich doch auch für Ihre Patientin. In diesem Augenblick hat sie schlecht gerechnet vierzig Grad Fieber, und das hängt schließlich damit zusammen, daß Sie den an ihr verübten Mordversuch der Polizei nicht gemeldet haben.«
Er hörte den heftigen Widerspruch des anderen bis zu Ende an, dann sprach er weiter als ob nichts geschehen wäre. »Wir sind doch nicht unterbrochen? Dann wollen Sie wohl wissen, was ich vorhabe? Jetzt verlange ich, daß Marie hier im Hause die allerbeste Pflege und Behandlung genießt, denn um weggeschafft zu werden, ist sie zu krank, und in drei Tagen soll sie wieder gesund sein. Sonst bringe ich Sie samt dem Ehepaar Bäuerlein zur Anzeige; ich kenne jemand, der nur darauf wartet. Sehr richtig, Herr Doktor, ich bin man bloß vom Lande, sogar von der See. Darum grade.«
Er war fertig und drehte sich um, in einigem Abstand verweilte Bäuerlein; er schien nur zufällig aus einem der Zimmer getreten. »Sie suchen den Ausgang?« fragte er.
Es fiel Mingo auf, daß der Rechtsanwalt starre Pupillen hatte und beschwerlich sprach. Das Ganze wirkte gefährlich, man wußte nur nicht, für wen. Bäuerlein konnte nach Wahl lang hinschlagen, oder auch seinerseits einen Mordversuch unternehmen. »Hier, bitte«, sagte er. Aber Mingo, der aufpaßte, folgte ihm nur zum Schein nach der Tür, die jener ihm öffnen wollte. Sie führte wirklich in eine Kleiderablage, und die Toilette dahinter hatte kein Fenster. Bäuerlein wünschte den lästigen Ausländer, wie er ihn nannte, darin aufzubewahren, bis er Marie aus dem Hause geschafft hatte. Statt dessen bekam er einen Stoß ins Gesicht und flog selbst über seine Kleiderablage hinweg bis in den Sitz seiner Toilette.
Auf der Treppe begegnete Mingo dem jungen Kurt, der in keinem besseren Zustande war, als er selbst. »Meier«, sagte Mingo, »ich weiß, daß du hinter Marie her bist. Jetzt hat sie aber vierzig Grad und solange sind wir gut Freund. Einverstanden?«
Kurt setzte sich auf die Stufe und brach in Tränen aus. Mingo benutzte sein Taschentuch, um nur etwas zu tun. Beide erschöpft und verzweifelt, ließen sie die Zeit verstreichen, bis jemand heraufstieg. Dann wurde eine kurze, eilige Verabredung getroffen. »Du bleibst in der Wohnung«, stellte Mingo fest. »Du kannst es eher als ich herausbekommen, wenn sie etwas gegen uns vorhaben.«
»Ich hasse Vicki!«
»Daß du mir aber Marie nicht belästigst! Du, die verträgt augenblicklich nicht mehr die kleinste Gemeinheit von irgendwem. Paß auf!«
»Ich passe auf.«
Mingo sah sie nicht wieder, und das währte vier Wochen. Nur durch Kurt, den er jedesmal aus dem Hause rufen ließ, erfuhr er, wie es um sie stand. Sie war mehrere Tage lang aufgegeben, Kurt wagte selbst nur zwischen den Türangeln auf ihr Bett zu blicken. Noch ist sie sehr, sehr rot, so berichtete er dem anderen. Beide begriffen: ›Bald wird sie ganz weiß sein.‹ Aber das Sterben zog sich hin, bis es Weiterleben genannt wurde. »Wie kriegen wir sie nun hoch? Sie wird noch lange nicht in die Bar kommen können.«
»Das soll sie auch nicht«, erwiderte Mingo unvorsichtig, denn was ging es Meier an. Aber der glückliche Sieger konnte nicht mehr an sich halten. »Marie erholt sich bei uns zu Hause in Warmsdorf, und wenn wir erst geheiratet haben, hole ich ihr das Kind!«
»Das tust du nicht«, sagte Kurt durch die Zähne und mit seinem wilden Gesicht. »Dafür strenge ich mich nicht so an. Das mit Adele! Herr Chef sagen sie, und Kuli bin ich! Entweder Marie –!« Er brach ab. »Du wirst ja sehen, was sie selbst macht.«
Sein Achselzucken gab zu verstehen, wieviel er, und nicht der abwesende Mingo, mit Marie jetzt teilte, das Kind, die Bar, das Erbe Adeles und alles, was sie inzwischen erlebt hatten, sogar seine Gemeinheiten – seine, nicht Mingos!
Mit Adele hatte Kurt über Marie eine Auseinandersetzung, die ihr eigenes Befinden nicht verbesserte. »Wenn sie stirbt, hast du die Schuld. Mach dich auf was gefaßt!«
»Wir müssen alle sterben«, behauptete sie, als sie genug gerungen hatte, um die Verantwortung abzustoßen. »Und mein Myom! Ich kann mich nicht mehr operieren lassen. Das Herz ist geschwächt – durch meinen Beruf, meint der Arzt. Wenn ich mich in die Klinik lege, tue ich es für meine Rechnung und Gefahr. Marie ist jung, was sagt ihr der Tod, und geht es mit ihr schief, um sie wird geweint!«
Ihre Angestellten fand sie damit ab, daß Marie verreist sei, obwohl niemand es glaubte. Kurt erlaubte sich Andeutungen nur, wenn er betrunken war, aber auch dann blieben sie unzuverlässig. Unter dem Einfluß des Alkohols log er sogar noch besser. Dennoch drangen Gerüchte durch. Die Barfrauen verbreiteten sie heimlich unter den Stammgästen, die nach Marie fragten; sie war so beliebt. Andererseits mißtrauten sie Fremden, die sich neugierig zeigten. Gewisse Spitzelgesichter kehrten wieder in der Menge der Laufkundschaft. Adele konnte bemerken, daß der Erfolg ihres Unternehmens wuchs, je mehr unbekannte Hintergründe man ihm nachsagte. Dies war keine Angelegenheit des Hauses und engeren Kreises mehr. Der »Harem« wurde dank den Abenteuern eines seiner Mitglieder zu einer Berühmtheit des Westens.
Was Myom! Was Tod und was Polizei! Adele gab dem Drängen ihres Pianisten Ernst Radlauf nach, denn der empfängliche und ehrgeizige Junge war durch das Schicksal Maries zu einem neuen Schlager angeregt worden und wollte ihn unbedingt herausbringen, wenn nicht hier, dann anderswo. Anderswo! Den Gedanken ertrug Adele nicht, Radlauf war ihr Geschöpf. Seine »Seemannsbraut«, von ihr zuerst gesungen, hatte ihren Weg aus dem Hause gefunden, schon ging sie sogar in die Provinz. Keine als nur ich allein soll »Die Stimme des Kindes« uraufführen!
Mehrere Wochen vergingen mit den Vorbereitungen. Sie war sicherer in der Wirkung als er, der Schlager wurde nach ihren Absichten umgeschrieben, sie probten ihn zuerst allein, dann mit Orchester, an den Nachmittagen, hinter verschlossenen Läden, – aber eines Abends endlich stieg er.
Um elf war die Bar ausverkauft, der Portier ließ niemand mehr ein. Spannung herrschte; für die kleine Freundin des Kapellmeisters ging sie bis zur Angst, Lotte versteckte sich. Anders Adele, sie sicherte sich einen großen Auftritt. Das Ballett war abgegangen, eine Weile wurde nicht getanzt, keine Musik gemacht, ja, nicht serviert; da kam sie.
Schweigen, – man sah eine Frau von unförmlicher Gestalt, sie schien zu handeln, weil ihre letzte Kraft danach schrie, verbraucht zu werden. Ob sie noch bis auf das Podium gelangte? Das Lachen grausamer junger Leute wurde vom Publikum unterdrückt. »Erni, das ist meine größte Sache«, flüsterte sie ihrem Partner zu. In diesem Augenblick erlosch im ganzen Lokal das Licht, und der Scheinwerfer traf einzig auf das Gesicht Adeles.
Sie hatte es hergerichtet wie die Karikatur ihrer selbst. Die Stirn wurde bewegt von lebendem Gewürm, in blutende Linien war das weiße Kinn gefaßt, die halb geschlossenen Augen glitzerten faulig. ›Die gute Adele als Giftblume!‹ dachten ihre Bekannten, und dennoch ließen sie es sich vormachen. Da öffnete sie auch den Mund, er war durch Schminke unwahrscheinlich vergrößert, Zähne sah man nicht, und er sagte heiser: »Ich hab mein Kind für schnödes Geld verkauft.« Hierauf erst folgte das Vorspiel Ernis mit dem Orchester.
Der grelle Kopf, rothaarig und von Dunkelheit eingefaßt, ein Schrecken der Finsternis, sang, wenn das Singen hieß. Es war nur zu erwarten, daß er eine große, grobe, versoffene Stimme hatte. Sehr bald hellte sie sich dennoch auf, sie klang fortan ungedeckt und furchtbar hemmungslos.
»Ich hab mein Kind für schnödes Geld verkauft.
Es war so klein und noch nicht mal getauft,
Da haben sie es schnell davongetragen
In einen Zwölfzylinder-Chryslerwagen.
Haut ab mit ihr, macht Schluß!
Es ist ja ganz egal,
Wenn eine doch nun mal
Ihr Kind verkaufen muß.
Das Geld hat bald ein Junge klein gemacht.
Jetzt laure ich wohl in beschnapster Nacht
Dem Kinde auf, verzweifelt und mit Grimme,
Und höre aus dem Chrysler seine Stimme:
Hau ab, Mama, mach Schluß,
Weil ich bei General-
Direktors doch nun mal
'ne Lady werden muß!
Das macht mich herzverfettet und vergrämt!
Das ist der Schmerz, den Alkohol nicht lähmt!
Die Stimme, die mir folgt! Um Gottes willen,
Ich hör's schon wieder aus dem Chrysler schrillen:
Hau ab, Mama, mach Schluß,
Weil ich bei General-
Direktors doch nun mal
Auf alle spucken muß!«
Die Sängerin wurde nicht unterbrochen, und der herrschende Lichtmangel diente ihrem Publikum merkwürdigerweise keinen Augenblick dazu, sich unerkannt mit Witzen hervorzutun. Soweit beherrschte Adele es. Zuletzt schloß ihr abgeschnittener Kopf langsam und ausdrucksvoll den Mund und die Augen. Die Schlangen ihrer Stirn standen jetzt aufgerichtet über der Nasenwurzel und erstarrten. Der Kopf war tot. Gleich darauf ging die Beleuchtung an.
Die ältere, beliebte Dame dort oben bekam Beifall, teils echten, und teils bestand die Absicht, zu übertreiben. Die erfahrene Adele wußte trotzdem, daß ihre Wirkung gelungen war; sie sagte zu Erni: »Wir haben es geschafft«, und ließ ihn sich immer wieder mitverneigen. Der Erfolg artete notwendig in Unfug aus, aber sie erklärte ihrem Partner: »Erni, laß man, jetzt ulken sie, deshalb hat ihnen doch geschuddert.« Im Grunde war sie sicher, daß ihre Hörer, solange sie sang, das Leben begriffen hatten. Nachher war das wieder weg!
Da Adele alle Gesichter im Lokal absuchte, begegnete sie auch dem ganz unerwarteten. Marie! Dort saß sie, auf einem Hocker vor dem Stand Ninas, wie ein Gast, und hatte sich das Lied von ihrem Kind angehört. Außer Nina nahm bisher nur Adele von ihr Kenntnis, und Adele zweifelte sogar. Sie ging hin. »Marie?«
»Warum denn nicht?« antwortete Marie. »Ich bin ja nicht gestorben. Bald trete ich wieder bei Ihnen ein. Noch muß ich im Sanatorium bleiben, im Grunewald.«
»Dann geht's ja wieder. Das freut mich.«
»Das bezahlen sie mir.«
»Haben sie dir wirklich dein Kind abgenommen?«
»Das krieg ich schon wieder. Erlauben Sie noch einen Kognak?«
»Trinkst du jetzt, Marie?«
»Nein. Ich hab mein Kind auch nicht verkauft. Es soll auch keine Lady werden, denn es ist ein Junge.« »So was singt man.«
»Ich wollte es nur hören und Ihren schönen Erfolg mit ansehen, Frau Fuchs. Deshalb bin ich aufgestanden und hab mich angezogen.«
Sie trug ein Herbstkostüm wie für die Straße, und es saß faltig; Marie war abgemagert. Sie hatte jetzt ganz schmale Wangen und feine, lange Beine. »Du kannst so bleiben«, äußerte Adele, aber sie wechselte einen Blick mit Nina. Beiden gefiel weder das Aussehen Maries, so hübsch es war, noch ihr Wesen, besonders die Stimme nicht. Sie blieben im unklaren über die Art der Veränderung, man wurde geradezu verlegen.
»Hast du Kurt gesehen?«
»Wer ist Kurt? Ach so. Unser Kurt.«
»Ich glaube, daß er mir den Erfolg nicht gönnt, darum läßt er sich heute abend nicht blicken. Er will hier schon ganz allein der große Mann sein. Das werden wir noch sehen. Wo ist dein Mingo?«
»Der? Zu Haus bei uns.«
»Während du krank bist? Der Junge benimmt sich falsch. In der Hinsicht ist Kurt Kavalier, er geht mir nicht von der Pelle. Hat er dich inzwischen auch nur ein einziges Mal besucht?«
»Doch«, sagte Marie, aber mit der neuen Stimme, – man wurde nicht klug. Adele verlor jede Sicherheit.
»Dich anschießen! Das war nun aber bestimmt nicht ausgemacht zwischen mir und – ihr!« Unvermittelt begann sie ein lautes Gespräch mit Gästen.
»Tatsächlich«, sagte Marie zu Nina. »Es ist so, ich kann den Leuten ansehen, wenn sie sterben müssen.«
»Den Schlager hast du miterlebt«, entgegnete die Freundin. »Fahre jetzt lieber in dein Sanatorium! Wenn die andern dich erst entdecken –!«
Aber die Barfrauen waren überaus beschäftigt, und niemand im Lokal beachtete Marie. ›Liegt es an ihrem faltigen Herbstkostüm?‹ fragte Nina. ›Unter ihrem Hutrand sieht sie immer bloß den Kognak an, aber es ist nicht nur das. Kein Mensch erkennt sie‹, – stellte Nina fest, sie bekam Furcht und rief einen Pagen, er sollte einen Wagen besorgen.
»Du brauchst etwas mehr Gewicht, Marie. Du denkst sonst zu viel. Woran denkst du eigentlich?« »An nichts. Ich döse. Landarbeiter werden im Winter entlassen, – solche Sachen fallen mir ein. Mein Kind ist in Fürsorge, wegen meines Berufes. Haben sie dir deinen Sohn auch weggenommen?«
»Er ist schon groß, wie du weißt. Als er klein war, da war ich verheiratet. Du mußt Mingo heiraten, Marie.«
»Das sagt er auch.« Sie glitt vom Hocker und folgte dem Pagen.
Erst später in der Nacht sprach es sich herum, daß sie dagewesen war. Lotte zeigte sich beleidigt, weil Marie kein anerkennendes Wort für Erni gefunden hatte. Nina entschuldigte sie mit ihrem rätselhaften Zustand. Ob sie so bald wieder in Ordnung kommt?
»Die ist mit sich im reinen«, behauptete dagegen Adele mit einer Betonung, als wüßte sie viel.
Im Sanatorium aber empfing Marie den Besuch Vickis. Diesmal war es die andere, die auf der Couch lag, und Vicki saß auf dem Rand eines Stuhles. Draußen wogte mit hellblauer Luft und goldrotem Laub der letzte schöne Herbsttag.
»Hier kannst du es wohl noch etwas aushalten«, bemerkte Vicki. »Was ist denn auch geschehen. Wir haben schon mehr zusammen gehabt, bei dir muß ich mich nicht groß entschuldigen. Du tust es auch nicht.«
»Wir verstehen uns«, äußerte Marie.
»Das freut mich. Kurt kommt nicht mehr«, sie ließ es Wort für Wort hinfallen. »Das hast du erreicht, Marie. Ich bekümmere mich um dich, aber nicht aus Angst. Das glaubst du hoffentlich nicht. Angst habe ich keine.«
»Wozu auch, Vicki. Du tatest nur, was du mußtest.«
Sie sah sie an. Früher kam die mir verrückt vor – jetzt nicht mehr! Wie ist das jetzt? Sie suchte, sie zog die Stirn kraus. Vicki neigte sich vor. »Und du?«
»Ich weiß nicht«, sagte Marie.
»Etwas mußt du schließlich tun. Du willst doch etwas.« Der Blick Vickis versuchte in diese gekrauste Stirn einzudringen. Zuletzt atmete sie auf, wurde leichter auf ihrem Sitz und sagte schnell irgendwohin: »Was kann mir schon geschehen?«
Marie nickte. Ihre Stimme blieb farblos, wie sie jetzt geworden war. »Ja. Ich glaubte auch immer: dir kann nichts geschehen, denn so wie du warst, Vicki, merktest du gar nicht, was du anderen antatest. Dir – nichts«, wiederholte sie, und gleich anschließend: »Ich war dumm.«
»Wieso?« Vicki zitterte doch, während sie lachte. »Nur nicht den Mut verlieren! Kurt kommt schon nicht mehr. Kannst du nicht noch mehr gegen mich tun? Etwas ganz Schlimmes? Los! Das Halsbrechen ist nur angenehm. Das brauch ich zum Leben. Was soll aus mir werden, wenn du versagst, Marie!«
»Wozu redest du eigentlich? Das Kind könntest sogar du mir nicht zurückgeben.«
»Nein, das kann ich nicht mehr.« Vicki verließ ihren Platz, scheinbar, um fortzugehen.
Plötzlich fiel sie auf die Knie und küßte Marie. Sie drückte ihre Lippen in das Kleid und in die Haut Maries, wie eine Verlorene. Marie rührte sich nicht. Zuletzt stand Vicki auf und stieß heftig hervor:
»Ich hielt mich für hart. Härter als alle, und solange ging es noch mit mir. Du aber – jetzt – du –!«
Sie stammelte, kniete nochmals hin, und das Kleid Maries auseinanderfaltend, küßte sie auf ihrer nackten Hüfte die Narbe. Dann verschwand sie wirklich.
Wenige Tage nach diesem Wiedersehen verließ Marie das Sanatorium und nahm ihren Platz in der Bar ein. Niemand hatte sie so früh erwartet. Hedi und Stella fanden sogar, daß sie ganz hätte fortbleiben können, sie paßte nicht mehr hierher. Was sah man statt der kräftigen Hamburgerin mit den frischen Farben! Marie war jetzt feiner und blasser; sie benahm sich so unauffällig, daß es geradezu vornehm war. Damit brauchte man aber keine Barfrau zu sein, und den Erfolg entzog sie anderen! »Pech!« sagte Lotte. »Dafür strengt Erni sich an!«
Sie meinte seinen Erfolg mit der »Stimme des Kindes«. Der war unbestritten, Erni konnte es wagen, seine Stellung aufzugeben, er ergriff den Beruf eines Schlagerkomponisten und zahlte auch schon einen Wagen ab. Im »Harem« aber, wo Radlauf jeden Abend auftreten mußte, war nicht er die große Anziehung, sondern Marie, der einfach ihr Kind entführt war. Das hat man davon, wenn man sich mit der Kunst an die Wirklichkeit hält!
Adele äußerte vielmehr zu Nina: »Jetzt gefällt sie mir. Sie lächelt so rein.« Damit meinte Adele vor allem die tiefe Gleichgültigkeit, auf die Kurt bei Marie stieß. »Als ob sie gar nicht da ist«, setzte Adele hinzu – nicht ohne ein heimliches Angstgefühl. Nina drückte den Grund aus. »Ein Automat – finden Sie nicht? Was man immer hört von künstlichen Menschen, die nicht ausweichen und alles niedertrampeln.« Sie wünschte ihre Worte abzumildern. »Das ist nur ein Eindruck. Grade ich hatte Marie so gern.«
Adele wußte durchaus, was es bedeutete, wenn ihre beiden andern Lokale den allgemeinen Niedergang mitantraten und nur der »Harem« nicht. Das Geschäft geht besser als je, und Marie macht es. Jeden Abend rechnet sie allein hundert Manhattan ab, aber warum? Sie fragt den Kunden: Manhattan? Ein Automat, wie du sagst. Manhattan, und läßt auch schon mixen. Der Gast will verlegen werden, wird lieber frech, fragt sie etwas und sie antwortet, als ob sie in Hamburg wäre und er in New York.
»Aber immer nett dabei. Mir tut das Herz weh«, gestand Nina, denn ihr Herz blieb gütig, trotz allem Schaden, den die ungerechte Beliebtheit Maries ihr selbst wie den anderen Frauen bereitete. Genaugenommen ergab sich noch ein Nutzen, der Andrang war groß genug, daß auf jede ihr Anteil fiel. Nina, die von allen das meiste Vertrauen erweckte, hatte sogar bekannte Leute zu bedienen. Sie waren hier in Jahren nicht gesehen worden, jetzt wurden sie neugierig, und wenn sie sich an Marie nicht herantrauten, sprachen sie mit Nina, die jedem irgendwann schon begegnet war. Unbestimmt erinnerte sie sich auch des massigen Herrn mit den großen Wangen, der genau am Abend des zweiten November, Allerseelen, bei ihr eine Menge Getränke verzehrte. Er machte nicht einmal den Versuch, sich der stark besetzten Marie zu nähern, verlor sie aber nie aus den Augen. Er hatte eine sonderbare Glatze, sie saß oben und war von Locken umstanden. Außerdem benahm er sich federnd und umsichtig.
»Dort am Pfeiler sitzt einer von der Polizei«, sagte er. Nina leugnete natürlich, dem Ruf des Hauses zuliebe, aber sie wußte nur zu gut, daß im Gedränge der Gäste immer auch ein Beobachter untergebracht war, ja, manchmal unterschied sie ihn aus alter Erfahrung. Ihr massiger Gast betrank sich übrigens, und er redete. War Nina mit anderen beschäftigt, er sprach trotzdem weiter. Manchmal stand er auf, machte sich in den Hintergründen des Lokals zu schaffen, kehrte aber bald auf seinen Hocker zurück.
Er erzählte Nina, daß er ein Mann der festen Entschlüsse sei. Früher war er dafür eingetreten, seiner Frau treu zu bleiben, sie konnte machen, was sie wollte. Heute hatte er sich auf ein neues Leben umgestellt. Das war der Polizei auch schon bekannt, daher ihre Anwesenheit. Wer aber bewog ihn, mit ihr das neue Leben anzufangen? Marie. »Kennen Sie denn Marie?« fragte Nina.
»Lange Zeit hat sie ein Doppelleben geführt. Am Tage trug sie wollene Strümpfe. Ich werde mit ihr unter die einfachen Menschen zurückkehren, es wird Zeit. Mein Vater war ein armer Kirchendiener, er nahm Trinkgeld.« Der Gast schluckte auf und drückte Nina einen Schein in die Hand. Plötzlich stürzte er sich mit seinem vollen Gewicht auf den Mann, den er für einen Kriminalbeamten hielt. »Ich habe es satt, ohne Grund verdächtig zu sein«, erklärte er keuchend und dreinschlagend. »Ihr sollt endlich Ursache haben!«
Der Mann erschien gegen ihn klein und schmächtig – um so überraschender die Kraft, die er zeigte. Der massige Gast bedeckte mit ganzer Länge die Tanzfläche, und dies in weniger Zeit, als die Tänzer brauchten, um Platz zu machen. Der Portier und die Pagen trugen ihn unter Musikbegleitung zu seinem Wagen, der vor der Tür stand. Der Beamte sagte zu Adele:
»Ihr Geld bekommen Sie sowieso. Aber ich will Sie noch auf etwas hinweisen, was er hier getrieben hat.« Er zeigte ihr, daß auf vier oder fünf Tischen alle Streichhölzer abgebrannt in den Behältern steckten. »Er hat überall eins angezündet und es brennend dazwischen geschoben. Ich kann darüber aussagen. Wir würden es gern sehen, wenn Sie Anzeige erstatten; aber wie Sie wollen. Die Sache ist unbedeutend, – obwohl so etwas nicht jeder tut. Aber wenn Sie Anzeige erstatten, können wir es in anderer Hinsicht benutzen.«
»Wer war eigentlich der Gast?« fragte Nina.
Der Beamte sah Adele an, aber sie beherrschte ihr Gesicht. »Ach so, Sie wissen es auch nicht!« meinte er. Da beugte Marie sich über das Büfett. »Rechtsanwalt Bäuerlein«, verkündete sie ruhig. »Der muß mal sicher dabei sein.«
»Wobei?« fragte Nina sie leise. Marie antwortete:
»Du hast doch selbst in den Karten gelesen: es steht Verdruß zum Haus in der Morgenstunde.«
»Unsinn. Jetzt ist die Morgenstunde und Zeit, schlafen zu gehn. Alle sind schon fort, sogar der Polizist.«
»Auch Kurt«, hörten sie Adele murmeln. In ein Sofa gesunken, gealtert nach den aufgepeitschten Stunden, äußerte sie für sich allein ihren Gram: »Allerseelen, Kurt geht überhaupt seiner Wege, und ich lebe immer noch!« Sie rief nach Marie, die andern Angestellten sagten gute Nacht.
»Marie«, begann Adele. »So mache ich nicht weiter. Du mußt hinaus. Ich entlasse dich.«
»Das kannst du nicht.« Marie sagte du, es war das erste Mal, aber die Chefin beachtete es gar nicht.
»Du bist von mir abhängig. Kein Betrieb nimmt dich auf, wenn ich angebe, daß deinetwegen hier die Polizei verkehrt.«
»Du hast recht, der Kriminaler bleibt dann weg, aber auch Kurt; und das weißt du.«
»Es soll mir gleich sein«, murmelte Adele und sank tiefer ein.
»Er vergißt sogar das Testament und verläßt dich.«
»Es wäre das beste für mich. Leider ist es nicht wahr.«
Auch Marie erinnerte sich wohl, daß es so nicht stand. Mit dem Testament hatte Adele damals ihr Todesurteil unterschrieben – gleichviel wieso und warum. Es war ein Eindruck von einst; heute gelangte Marie über nichts zur Klarheit. Sie hatte keine Gegenwart, und wie die andern es auffaßten, lag es wirklich. Marie war nicht da, – obwohl sie handelte. Sie wurde bewegt von alten Antrieben und wunderte sich selbst, daß sie weiterschritt wie ein Element.
Adele wackelte mit dem Kopf. »Das Testament will ich ändern. Zuerst dachte ich an Radlauf und Lotte; wenn sie das Lokal führen, sparen sie den Kapellmeister. Aber bin ich dazu da, erfolgreiche Leute noch glücklicher zu machen? Marie, nimm mal an, du wärest meine Erbin, was tust du?«
»Was ich will.«
»Natürlich. Dir verbiete ich auch nicht, Kurt mit hineinzunehmen. Aber davor hütest du dich.«
»Wer weiß.«
»Auch an den Seemann kannst du im Ernst nicht denken. Ich rate dir: verkaufe den ›Harem‹ und heirate Bäuerlein! Dann hättest du deine Rache an Vicki, – und ich müßte mich nicht mehr fürchten vor Kurt.«
»Weil du schon tot bist«, warf Marie hin wie die gleichgültigste Tatsache. Adele belebte sich ein wenig und äußerte etwas Auffallendes, aber vielleicht war es nur eine Redensart.
»Vorher bringe ich euch noch einen Schlager.«
Damit brach sie auf. Sie konnte sich nicht fortdenken. Sie sagte wohl Tod, Furcht und Testament, aber ihr wirklicher Gedanke war nur, daß sie Schulden gemacht hatte und damit weiter auf Erden blieb. Absichtlich hatte sie den gut gehenden »Harem« belastet, anstatt die beiden anderen Lokale noch vor ihrem Zusammenbruch abzustoßen. Ihrem Erben, wer es auch war, standen aussichtslose Kämpfe bevor. Die Geschäftsfrau Adele schätzte ihn in keiner besseren Haut, als sie selbst war, mit der Klinik und mit Kurt. Ein Trost bleibt immer noch.
Zu Hause sah sie Kurt im seidenen Schlafrock durch die vier Zimmer laufen. Er war von Wut verzerrt. »Dich hab ich erwartet!« rief er ihr entgegen und reckte sich, um in die Luft zu springen.
»Gut, daß du nicht ins Lokal gekommen bist! Polente war drin. Deinen Schwager Bäuerlein haben sie hinausgeworfen.«
»Du verstehst dein Geschäft.« Er wurde unheimlich ruhig. »Bei dir verkehrt Polente und Bäuerlein, und was hast du mit Marie gemacht?«
»Mit ihr ist nichts los. Noch sind die Leute neugierig auf sie, aber lange kann sie nicht mehr ziehen. Blutleere, und hat einen Knall.«
»Deine Arbeit! Wer hat ihr Kind entführt? Und du singst die Stimme des Kindes. Wie du sie singst! Ich wundere mich nur immer, daß niemand nach dir schießt!«
»Sie haben mehr Kunstsinn als du.«
»Grausig«, sagte er und schloß die Augen. Er war noch bleicher geworden. »Mein Magen verträgt dich nicht mehr«, erklärte er und betrachtete ihren Leib.
»Wie du mich haßt!« Es kam in einem Seufzer; aber sie war auch froh, gehaßt zu werden, wenn man sie schon nicht mehr liebte. Das merkte er ihr an und antwortete drohend: »Ich habe Marie verloren.«
»Hattest du sie denn?«
»Ja, solange sie mein Kind hatte. Du hast es entführt, darauf haben sie es ihr fortgenommen.«
»Kurt! Das war Vicki. Alles geht von Vicki aus. Sieh mich nicht so an!« Adele bekam Furcht, sie zog sich hinter das Bett zurück. Während sie ihre Kleidung ablegte, ging er hinaus. Sie horchte lange, aber er kehrte nicht zurück. Endlich schlich sie ihm nach, da war er dort hinten auf dem Diwan eingeschlafen.
Sie fand keine Ruhe. Als statt dessen zuletzt eine Art jagender Betäubung entstand, wurde sie aufgeschreckt. Das Zimmer war voll beleuchtet, Kurt stand da und betrachtete sie grübelnd, ihr Erwachen bemerkte er nicht.
»Was hättest du jetzt getan?« fragte die alte Adele und zog sich unter ihren Decken zusammen wie ein kleines Mädchen. Er verließ, ohne zu antworten, das Zimmer.
Sie frühstückten mittags in bester Eintracht. Auch hinsichtlich Maries kamen sie überein, die Krankheit müsse lange in ihr gearbeitet haben bis zu diesem Ausbruch. Kurt erzählte von dem Katen ihrer Kindheit, dem Elend der zahllosen Familie.
»Ich bin in einem Weinberg zur Welt gekommen«, stellte Adele fest. »Mir ist nichts abgegangen. Das beste, damit die Kinder kräftig werden, ist Rotwein.« In demselben Zuge fragte sie: »Haßt Marie mich sehr? Ich werde aus ihr nicht klug. Was will sie?«
»Uns alle zugrunde richten, und das gelingt ihr auch noch«, behauptete er, wieder verdüstert.
»Um Gottes willen, Kürtchen, mach dir nichts draus! Was ist denn geschehen? Einmal muß die liebe Marie sich doch erholen und ihren Süßen wieder erkennen. Dann liegt Adele am Rhein begraben, du mußt mich dorthin überführen, es steht in meinem Testament.«
Er bestätigte es ihr nicht, aber auch sie verlor das Grab am Rhein sofort aus dem Auge. Der Durchblick nach dem Schlafzimmer nahm sie in Anspruch.
»Wir stellen eine Couch hinein«, beschloß sie. »Betten sind nicht mehr möglich. Die Couch muß so breit wie lang sein und in der Mitte des Zimmers auf einem Podest stehen. Trotzdem liegen wir höchstens fünfzig Zentimeter über dem Fußboden.«
Kurt zündete sich eine Zigarette an. »Könnte ich heute Marie gesund machen –. Sie soll nur so zu mir stehen, wie vorher, das wäre nicht viel. Aber ich wäre dafür imstande, dein Testament zu zerreißen.«
»Mach keine Dummheit! Wer will dich hindern, später mal mit Marie zu leben. Kein Testament jedenfalls. Aber dann werdet ihr beide nicht mehr Lust haben – oder nur sie, auf dein Geld. Lerne von Adele! Man soll sich nicht ausbeuten lassen, es endet schlimm. Ich – bin gewarnt – bin gewarnt«, sagte sie mehrmals vor sich nieder; denn auch ihre Gedanken kehrten unabwendbar in den Kreis zurück. Einen letzten Versuch wagte die Arme, leichtsinnig zu scheinen.
»Noch bin ich da, und schon tust du dir keinen Zwang an und betrügst mich mit der Neumann vom Ballett. Ich habe dich beobachtet in dem Umkleidezimmer, wie du ihr Kleid anhattest.« Dabei stieß sie ihn vertraulich mit dem Ellbogen.
Er fuhr aber auf seinem Stuhl hoch, er ballte die Fäuste. »Schlag mich nicht!« jammerte sie. Fassungslos überrascht von dieser Wirkung ihrer Worte schielte sie in seine verwilderten Augen, auf den verkrümmten Mund mit spitzen Zähnen, – die rechte Hälfte des Gesichts war schief geworden. Eine Minute später knallte er die Tür der Wohnung zu.
Eine Stunde lang lief er durch die Straßen und übersah sogar die Wettbüros. Er wäre hinausgefahren zu seinem Sohn, aber um diese Zeit fand er dort die Mutter, und Kurt wünschte keine Begegnung. Er liebte kein Wesen, das aus einer Bäuerin unversehens zu vornehm wurde, – und vornehm war nicht das Wort. Es mußte heißen: fremd, mindestens auf Besuch, vielleicht sogar Astralleib oder wie man sagt. Ich kann alle Frauen lieben, restlos alle, sogar Adele; warum kein Gespenst? Aber es darf nicht Marie sein! Zum erstenmal in seinen zwanzig Jahren beklagte er eine Liebe, die dahinging, und so unheilvoll war ihm dabei zumute, als löste er sich selbst vom eigenen Leibe.
Schließlich bestieg er doch den Vorortzug. Marie inzwischen hatte grade diese Stunde bei ihrem Kind verbringen dürfen. Die Erlaubnis wurde nicht immer gewährt. Übrigens mußte sie die Gegenwart der Pflegerin ertragen, ihr blieb nur das Recht, zuzusehen, wie Mi genährt und gekleidet wurde. »Mi!« sagte sie und bettelte um sein Lächeln, um einen Griff der Ärmchen, die einst sich um ihren Hals schmiegten, sooft sie es wollte.
Sie sah zu und war nicht einmal wirklich bei der Sache. Ihren Sinn ergriffen Ahnungen, – Erinnerungen und Vorgefühl, alles entstand nur hier, angesichts des Kindes. Sonst ging Marie dem Unbekannten entgegen wie eine Unbeteiligte. Vor dem kleinen Bett hier wußte sie. Die Bilder Vickis und der anderen waren, ihr allein sichtbar, hier versammelt; so unerträglich drängten sie sich sonst nicht auf; und Marie haßte. Alles war gegenwärtig, wieviel jeder getan hatte, der ganze Zusammenhang, – ja, lebendig wurde, was Marie selbst vorhatte und beschloß. Das stürzte als Welle über sie herein. Sie schluckte, ihr Blut erstickte sie, der Rausch ihres Hasses ließ sie taumeln.
Die Pflegerin starrte sie an, breitete die Arme aus und schützte das Bett. Marie kam denn auch zu sich, sie erklärte, daß ihr nicht wohl sei, sie ging fort. Die Pflegerin rief sofort ihre Vorgesetzte herbei und bat sie, die Mutter des Kindes nicht wieder zu ihm zu lassen. Die Person sei gefährlich, sie müsse unbedingt etwas Schreckliches begehen. In Wahrheit ist Marie grade jetzt erschöpft und unschädlich gemacht durch den Rausch ihres Hasses. Wenn sie immer so sehr fühlt, wird sie niemals etwas tun. Ihr Unglück ist, daß sie meistens weder fühlt noch weiß, sondern nur die ihr vorgeschriebenen Bewegungen vollführt.
Bis zum Bahnhof hatte sie sich erholt, und gerade trat Kurt heraus.
»Du kommst von unserem Kind? Ich gehe zu ihm. Nein. Da ich dich einmal getroffen habe, fahre ich mit dir zurück.« Marie war einverstanden, sie sprach so höflich und gelassen, wie jetzt gewöhnlich.
Sie saßen allein, aber erst kurz vor der Ankunft wagte Kurt die entscheidenden Worte.
»Wie lange soll das noch dauern, Marie? Was willst du? Ja, du! Wundere dich nur nicht! Von uns allen willst du allein etwas. Auch wenn ein anderer es schließlich tut, – du bist es gewesen!«
»Ich fürchte, du kommst noch ins Zuchthaus, Kurt. Den Eindruck hatte ich schon gleich zuerst. Weißt du noch? Wir arbeiteten auf dem Kartoffelacker, und plötzlich stand Kirsch da.«
Er wiederholte: »Was willst du?«
»Ich bin auch eine Diebin, wir kennen uns ja. Wenn man so arm ist! Dich konnte man nicht wirklich arm nennen mit deiner Verwandtschaft. Mir half auf der Welt kein Mensch, und ich hatte das Kind. Wer einmal die Not kennt –« Sie sagte her, wie ein Schulmädchen: »So groß ist keine Not, daß sie nicht ihren Meister fände, und wär es selbst der Tod.«
Er fragte gespannt: »Du denkst an Selbstmord?«
»Das möchtest du wohl?« sagte sie und lächelte. »Nein. Jetzt nicht. Zum erstenmal in meinem Leben hab ich eine Chance. Adele will mich erben lassen.«
»Was denn? Wieviel? Du allein?«
»Alles ich. Den ›Harem‹ und das Geld. Ich darf es sogar mit dir teilen, sie stellt mir keine Bedingungen. Aber ich bin vom Lande. Auf einem Hof muß einer allein der Herr sein. Laß man! Was ich kriege, behalte ich, und einen Freund, der nicht erwarten kann, daß ich abgehe, den will ich auch nicht haben.«
Er atmete auf; in diesem Augenblick hatte sie ihr bäuerliches Gesicht von einst zurück, es war wieder ernst und hart, nur seine Jugend milderte es. Er erkannte endlich Marie und schlug sie auf den Schenkel; da sagte sie:
»Wenn Adele aber nicht bald stirbt, dann fang ich mit Mingo eine Fischerei an. Dann ist das aus.« Sie hielt ihn fest im Auge, – und plötzlich sah sie weg.
Der Zug stand schon, in dieser äußersten halben Minute flüsterte er inständig:
»Komm fort mit mir! Gleich, ganz fort! Ich will nichts haben, keine Erbschaft, ich will arbeiten für dich, aber rette mich.«
Bei »rette mich« bewegten seine Lippen sich nur noch, und sie waren weiß. Kurt bat, und er hatte nie gebeten. Marie indessen öffnete die Tür, sie stieg aus ohne ein Wort. Ihn konnte sie nicht absichtlich im Gedränge verlieren; sie wandte sich aber um, und er war fort.
Noch vierzehn Tage geschah nichts. Marie hörte in ihrer bereitwilligen, aber abwesenden Art die Pläne Bäuerleins an. Er hockte die meisten Abende vor ihr und setzte auseinander, daß er in Wirklichkeit nur Vicki lieben könne. Allerdings eine unglückliche Neigung, denn beide müssen für immer neue Erlebnisse sorgen, sonst erlahmt die Ehe, und er selbst bekommt Lust, mit Marie durchzugehen. Marie ist seine größte Versuchung, sie soll ihn erhören! Sie gab ihm recht, wie einem Gast, der viel verzehrt. Vicki konnte etwas erleben! Das versprach Marie ihm.
Kurt benahm sich als Chef, er legte sogar seine Launenhaftigkeit ab und wurde sachlich. Um so weniger traute ihm Adele. Sie hatte ihn damals doch beobachtet im Umkleidezimmer, während drunten das Ballett arbeitete. Er zog das Straßenkleid der Neumann an, sie kannte es. Die Neumann war die Längste, ihr Kleid paßte ihm. Mit der Kappe sah er besser aus, als das Mädchen selbst, das ihn so sehr zu reizen schien. Adele dachte: ›Wie komisch! Trägt sie dann seinen Sakko? Und warum wurde er so wild, als ich es ihm sagte?‹
Einmal fing sie die Tänzerin ab und eröffnete ihr, sie dürfe als Solonummer auftreten. Sie setzte hinzu: »Ich tue es wegen des Chefs, damit er wenigstens für eine Solonummer den Leuten etwas zu reden gibt.«
Das Mädchen, das sich bedanken wollte, erschrak.
»Ich weiß manches: – das mit dem Kleide«, erklärte Adele ohne Übelwollen. Wenn Kurt diese Person liebte, wer hatte den Schaden? Marie! Marie – und nicht mehr Adele, die hier einmal mit Erleichterung ihren Tod vorwegnahm. Bald sollten andere seinetwegen leiden.
Fräulein Lucie Neumann blickte ernst und gut auf die Kranke herab; das waren die Augen ihrer eigenen Welt, die wenig zu tun hatte mit ihrem Glitzerkleid. Sie dachte, daß Adele Fieber habe, und in ihrer volksmäßigen Tonart, die das Lokal niemals hörte, denn Fräulein Neumann tanzte Anmut, Hoheit und Versuchung, alles stumm, äußerte sie: »Ihnen wird wohl mulmig?«
Dann kehrte Mingo zurück, es war den siebzehnten November, und er betrat das Pensionszimmer Maries – »wie ein Lord«, sagte sie bei seinem Anblick. Sogar das seidene Hemd war wieder da. Er zeigte festliche Stimmung, zuerst ließ er Kaffee und Kuchen heraufkommen. »Ich bin nicht mehr der arme jüngere Bruder«, berichtete er, »und ein Ziel im Leben hab ich jetzt auch. Mein alter Herr beteiligt mich an der Fischerei, sie geht wieder besser, natürlich erst, seit ich drin bin! Und Mama ist einverstanden, daß ich dich heirate, min Marie!«
Er holte den Brief hervor, einen Brief seiner Mutter an seine Braut. Er überreichte ihn feierlich und Marie las: »Meine liebe Marie!« Das übrige unterschied sie nicht mehr deutlich, die Augen wurden ihr heiß. Einzelne Worte traten aus dem Nebel. »Er tut es nun mal nicht ohne dich. Er wollte schon wieder auf lange Fahrt gehn und zwei Jahre fortbleiben. Du bist ein ordentliches Mädchen, sagt er, und arbeitest, und so muß es denn wohl sein. Wir haben dich auch lieb, du kannst gleich herkommen.«
Er wartete. »Gott ist mit der deutschen Jugend«, versicherte er, da sie schwieg. »Jetzt müssen sie dir auch das Kind geben.«
»Schön«, sagte sie endlich. »Aber erst nachher. Hier bin ich noch nicht fertig.«
»Was meinst du damit?« Er ließ sie nicht erst antworten. »Du bist grade blaß und dünn genug. Mit dir haben sie hier allerlei angestellt, es langt. Sofort packen wir deine Sachen und reisen noch heute abend nach Haus!«
»Langsam«, sagte Marie. »Wenn dir jemand sein ganzes Vermögen verschreiben will, läßt du es einfach im Stich? Adele muß jetzt operiert werden, es ist höchste Zeit, aber ihr Herz hält es nicht mehr aus. Wenn sie stirbt, verkaufen wir das Lokal und haben Geld für unser Fischereigeschäft. Vor deinen Leuten steh ich dann anders da.«
»Wann sollte die Operation sein?«
»Nächsten Dienstag.«
»Solange können wir warten. Aber nachher machst du Schluß, ob du geerbt hast oder nicht?«
»Verlaß dich darauf!« sagte Marie.
Später besann er sich wieder. »Ich glaube die Geschichte nicht. Jetzt ist die Fuchs wohl mit Meier auseinander, aber was meinst du, was die angibt, wenn sie leben bleibt? Dann setzt sie ihren Kurt wieder in alle seine Rechte ein, und wir fliegen. Es wäre mir auch lieber. Das alles kann uns kein Glück bringen.«
»Sei nicht abergläubisch!« sagte Marie. »Komm nur mit in die Bar, Adele muß dich sehn.«
Adele bekundete großes Vergnügen, den Seemann wiederzusehn. Ihm zu Ehren sang sie »Die Stimme des Kindes«. Kurt saß mit Mingo am Tisch und lud ihn ein. Er raunte ihm zu: »Das geht auf Marie, falls du es nicht gemerkt haben solltest.« Mingo war zuerst starr. Er hatte getrunken, er schlug auf den Tisch und sagte laut: »Das alte Scheusal muß man umbringen!« Das hörten viele, auch der Aufpasser, den Kurt in der Nähe wußte.
Mingo ging herausfordernd durch das Lokal. In ein höhnisches Gesicht würde er hineingeschlagen haben. Auch hätte er Adele zur Rede gestellt; sie war aber gleich nach ihrem Auftritt verschwunden – vielleicht infolge einer Warnung, oder auch weil sie sich erschöpft fühlte, wie jetzt so oft.
Marie fragte ihren Freund, als sie allein zu Hause Kaffee tranken: »Na, willst du mit solchen Leuten sünig umgehn?« Sie meinte: rücksichtsvoll und zart. Er fürchtete: »Das Lied soll bloß nicht die Runde machen bis nach Warmsdorf!«
Sie wendete ein: »Wenn es mal hinkommt, sind wir reich, dann nehmen sie es uns nicht übel. Deshalb mußt du mit Adele nett sein.« Grade das paßte ihm nicht.
Er weigerte sich sogar, am Abend die Bar zu betreten. Er langweilte sich, wollte schlafen gehn und schlug doch zu später Stunde den Weg noch ein. Grade erschien auch Adele. Sie hatte schon zu Hause gelegen, aber bei der Abrechnung war sie trotz allem zur Stelle. Sie sagte: »Seemann! Sein Sie mal nicht so!« und setzte sich mit ihm abseits.
»Du gefällst mir, Seemann«, erklärte sie und legte ihre blitzende Hand auf seinen Arm. »Zehn Jahre jünger, – was sage ich, noch vorigen Winter wäre mit uns vielleicht etwas geworden. Das ist nur Scherz«, flüsterte sie, damit er sich ruhig verhielt. »Im Ernst sollst du mir versprechen, daß du Marie immer lieb behältst. Versprich es grade mir – und achte mal auf ihre Gesichter!«
Alle Frauen schielten, außer Marie. Kurt wendete den Rücken her, aber er beobachtete den Tisch in seinem Taschenspiegel. Er hatte angefangen, gelbroten Puder auf sein Gesicht zu legen; es wurde nachgrade so bleich, daß es ihm selbst nach Unheil aussah; und auf welche Gedanken mochte es andere bringen? Sooft Adele sprach, hörte er auf, zu tupfen.
Ihre Augen bekamen noch einmal Glanz, weil sie ihn ängstigen konnte. Sie hatte Macht und Gewalt, sie lebte! Zu Mingo sagte sie:
»Die Leute glauben, man ist schon tot. Ich werde niemals ganz tot sein, mein Junge. Schwander ist es auch nicht, denn ich habe Angst vor ihm.«
»Wer ist Schwander?« fragte Mingo.
»Einer, der mal Hunde verkauft hat. Und dort sitzt ein anderer, der soll dasselbe, es liegt nur an mir, an Adele. Ich kann das!« rief sie laut.
»Was kannst du?« fragte Kurt in seinen Spiegel hinein. Sofort erschrak Adele. Der belebende Kitzel, den sie während dieses Gespräches gefühlt hatte, verließ ihren armen Leib, schwerfällig stand sie auf, um einer schlimmen Nacht mit ihrem Süßen entgegenzugehen.
Die letzten drei Tage vergingen in einer lähmenden Schwüle, alle empfanden sie und hatten Mühe, den Gästen keine besorgten Mienen zu zeigen. Unbefangen blieb nur Marie. Sie sagte zu ihren gewöhnlichen Kunden, darunter Bäuerlein: »Der Chef spielt nächstens in einem Kriminalfilm mit. Erzählen Sie es aber nicht weiter! Er ist schon ganz in seiner Rolle.« Sie lachte leichthin.
Jeden Abend einmal machte er ihr einen Auftritt wegen eines vorgeblichen Versehens. Sein Zweck war einzig, ihre Aufmerksamkeit ganz auf sich zu lenken. Sie sah ihn denn auch eine Weile an und schüttelte den Kopf. Es konnte ein Zeichen sein: noch ist nichts geschehen. Oder hieß es einfach: warum regst du dich auf?
Mingo starrte in sein Glas. Der Zusammenstoß Maries mit Kurt entging ihm nicht; nachher ließ er wieder den Kopf sinken. Ihn drängte sein dumpfer Sinn, aufzuspringen und um Hilfe zu rufen. Scheu stellte er fest, daß niemand in dem munter lärmenden Lokal ihn begreifen werde. Wochenende, Hochbetrieb, – und er hätte aus dem Revier drüben zwei Schupos geholt, wäre mit ihnen unter das Publikum gedrungen und hätte gefordert: Verhaften Sie –! Wen eigentlich? Mingo starrte in sein Glas, während ein Schauder über ihn hinlief.
Nina allein erteilte ihm einen Rat. Sie äußerte Besorgnisse für sein Mädchen und sogar eigene Befürchtungen. »Kündigen Sie im Namen von Marie! Sie sind ihr Verlobter. Nennen Sie als Grund, daß der Chef ungerecht ist. Hauen Sie ihm eine herunter. Gehn Sie mit Krach ab und lassen Sie Marie nicht los! Ich selbst habe Adele zum Ersten aufgesagt und werde froh sein, wenn ich draußen bin.« Sie rechnete nach. »Noch neun Tage bis zum Ersten. Werden wir die alle erleben?«
Mingo bemerkte, daß sie die Karten gelegt hatte. »Steht was drin?« Er lachte zu herzlich. »Nein«, sagte Nina und lachte ebenso.
Was die Kündigung betraf, Adele selbst machte sie ihm leicht. Am Sonntag besuchte sie die jungen Leute des Nachmittags in ihrer Pension.
»Jetzt brauche ich euch nur noch morgen«, bestimmte sie. »Endlich ist mein richtiges Testament in allen Punkten vorbereitet. Ich bestimme, daß ihr beiden jeder die Hälfte erbt; aber wenn sie dich heiratet, bekommt Marie das Ganze. Morgen gehen wir drei zum Notar, es darf keine Anfechtung möglich sein.«
»Heute«, berechnete sie, »haben wir Sonntag Cäcilia, da singe ich noch mal und ihr hört mich im ›Harem‹ zuletzt. Morgen, nach der Unterzeichnung, lege ich mich in die Klinik, dort sollt ihr mich nicht ansehn, ich werde nicht schön sein. Aber ich kann noch dreißig Jahre leben, und so ist mir auch. Das müßt ihr nicht abwarten. Fahrt, gleich nach unserem Geschäft beim Notar, zurück in eure Heimat!«
Auch diesen Sonntagabend, den zweiundzwanzigsten, fand der Chef wieder einen Vorwand, Marie beiseite zu rufen. »Fräulein Lehning!« befahl er schroff und ging ihr voraus nach dem Hofausgang. Gewohnheitsmäßig wollte er seinen Mantel vom Haken nehmen. Während er hinlangte, mußte ihm wohl einfallen, daß sein Mantel heute nicht dort hing. Auch Marie achtete darauf. Sie fand den Mantel Mingos neben ihrem eigenen; sie selbst hatte dafür gesorgt. Der Mantel Kurts fehlte.
Beide traten unbedeckt an die kalte Luft. Der Chef hatte den Fehler der Barfrau ganz vergessen; er fragte: »Nun?«
Sie erwiderte: »Morgen beim Notar.«
Er schwieg, – wollte sich an die Wand lehnen, rechtzeitig erinnerte er sich seines Abendanzugs. Im Hof war es dunkel, Marie unterschied nur diese Bewegung.
»Dann heute abend!« sagte Kurt, der wieder grade stand. Sie hatte schon die Hand auf dem Türgriff, um hineinzugehn. Sie hörte ihn raunen:
»Versprich wenigstens – nachher –! Dann hast du doch erreicht, was du wolltest!« Dies endete wie ein unterdrückter Hilferuf.
Aber sie wandte sich nicht zurück.
Um elf ein Viertel, wie gewöhnlich, bestieg Adele das Podium. Besonders stürmischer Beifall begleitete sie, man hörte gar nicht auf. Sie stützte sich schwer auf den Stuhl des Kapellmeisters, aber das Lächeln des Erfolgs überstrahlte den Schmerz, den ihr Körper litt. Noch einmal vergaß sie ihn und sang – alle ihre Schlager, nur nicht »Die Stimme des Kindes«, obwohl danach gerufen wurde. Als man sie noch immer nicht herunter ließ, schien es, als wollte sie nachgeben. Dann irrte ihr Blick hinüber zu Marie. Dann beugte sie sich gegen die nächsten Gäste vor und sagte:
»Das ist zu anstrengend, ich muß mich auch mal ausruhn.«
Damit ging Adele ab durch das ganze Lokal. Die fünfzehn Stufen der Treppe herab schwebte soeben das Ballett – glitzernd, blühend, große Scheiben aus Flitter hinter den süßen Köpfen, langbeinig, jung. Die alte Adele befahl, während Fräulein Neumann an ihr vorbeihüpfte:
»Ihr arbeitet volle zwanzig Minuten. Ich will so lange oben allein sein.«
Dann benutzte sie den Augenblick, als alles den Tänzerinnen entgegensah, um hinter ihnen, gebückt und mühevoll, aber so schnell sie konnte, sich mit Händen und Füßen über die fünfzehn Stufen zu hissen. Fast allen entging der Anblick. Marie verlor ihn nicht.
Schon drei oder vier Minuten später hörte sie den Schrei und fiel hinter dem Büfett hart auf die Knie. Die Musik spielte laut, das Lokal schallte vom Lärmen, an welches Ohr konnte ein so schwacher Schrei dringen! Seine Herkunft war weit entfernt und hinter einer dicken Tür.
Rechtsanwalt Bäuerlein suchte auf seinem Hocker nach Marie, er redete dabei weiter, hemmungslos und ins Leere. Marie kam sogleich wieder zum Vorschein, sie herrschte Bäuerlein an. »Los! Laufen Sie hinauf! Adele hat gerufen, hören Sie nicht? Ihr ist etwas geschehen!« Sie stieß ihn von seinem Sitz. »Machen Sie doch!«
Endlich setzte er sich in Bewegung. Aber jemand überholte ihn – langte droben schon an und verschwand. Mingo! Einzig Marie hatte ihn gesehen, und jetzt schrie sie selbst.
»Mingo! Nicht du!«
Der Schrei gellte. Dennoch konnte man ihn auch für Gelächter halten, die hier ausgestoßenen Laute waren gegen zwölf Uhr nicht mehr alle deutlich zu bestimmen. Marie fiel einer Anzahl von Personen erst auf, als sie sich in die Arme Ninas stürzte, sie umklammerte und immer wieder um Hilfe rief. Die anderen Barfrauen hatten ihre Plätze verlassen, sie drückten sich in die Ecken, manche Gäste sprangen auf. Die Tänzerinnen hielten auf dem Fleck an, die Musik setzte aus.
In diesem Augenblick erschien auf der Treppe ein Mann, dem von den Fingern Blut troff. Er hielt sie gespreizt, so daß man es sah. Außerdem hatte der Scheinwerfer das Ballett verlassen und fiel genau auf ihn. Er war ein Gast, die Eingeweihten kannten ihn als den Freund der Barfrau Marie. In der nächsten Sekunde sprang er schon aus dem Bereich des grellen Lichtes, und in der um so tieferen Dunkelheit nebenan verschwand er sofort.
Jetzt brachen alle los, sie stürmten – nicht dem Entflohenen nach, sondern durcheinander. Auch ihre Rufe verwirrten sich, keiner verstand mehr. »Geschäftsführer! Wo bleibt die Direktion! Ein Mädchen ist fort! Hinten raus mit dem Mörder!« Sie wußten auf einmal: ein Mord! »Er hat ein Mädchen ermordet! Polizei!«
Die nächsten an der vorderen Tür tobten, aber der Portier gab sie ihnen nicht frei. »Niemand verläßt das Lokal!« Er hielt ihnen stand, er war stärker. Das kostete Zeit, – während derer ein Kriminalbeamter fruchtlos umherarbeitete im Gewühl. Als er sich bis zum hinteren Ausgang durchgekämpft hatte, fand er ihn von außen verschlossen. Dort waren Marie und Mingo geflüchtet. Vorn wurde er abgedrängt, ihm blieb endlich nichts übrig, als zu telefonieren nach der Polizeiwache, die gleich gegenüber lag.
Längst saßen Mingo und Marie im Wagen Bäuerleins. »Gehen Sie schnell hinein, Edgar!« rief Marie dem Chauffeur zu. »Ihrem Chef ist etwas zugestoßen!« Er war kaum erst beim Eingang der Bar angelangt, da rasten sie schon davon. In der Seitenstraße sahen sie noch Kurt laufen – nicht überstürzt, und auch seinen Mantel hatte er an, so gut, wie sie die ihren.
Der Kriminalbeamte untersuchte inzwischen die oberen Räume des »Harem«. Das Umkleidezimmer ist verschlossen. Im Schlüsselloch findet er kein Licht. Er hat vorhin doch aufgepaßt, niemand ist dort eingetreten außer einer Tänzerin und der Eigentümerin selbst, Adele Fuchs. Vor zwölf oder dreizehn Minuten hat er hier oben schon einmal nachgesehen. Das Ballett verließ grade die Garderobe; er wollte nicht auffallen und versteckte sich in der Herrentoilette. Zur gleichen Zeit ging hinter den Rücken der letzten Tänzerinnen über den kleinen Flur ein einzelnes Mädchen. Er konnte nicht feststellen, woher das Mädchen kam. Die Treppe herauf? Aus der Damentoilette? Aber er erkannte sie von der Seite am Kleid und am Hut, es war die Tänzerin Neumann.
Sie öffnete schnell das Umkleidezimmer, das damals beleuchtet gewesen war. Eine Minute später folgte ihr Adele. Erst nachdem auch sie hinter der Tür verschwunden war, fiel es dem Beamten ein, sich drunten selbst zu überzeugen, daß die Tänzerin Neumann im Ballett wirklich fehlte. Das kam jetzt tatsächlich vor, sie hatte eine Einzelnummer. Dennoch zweifelte er nachträglich – mit Recht übrigens, denn die Neumann tanzte inmitten der andern. Er hatte nur die Zeit, nahe heranzutreten, da ereignete sich schon der Vorfall mit Mingo, der bluttriefend die Treppe herunterstolperte.
›Seine Freundin Marie hat das vorher gewußt‹, sagte der Beamte sich, während er jetzt vor der verschlossenen Tür des Umkleidezimmers stand und im Schlüsselloch kein Licht fand. ›Sie hat sich auffällig benommen, noch bevor ihr Freund auf der Treppe erschien. Dann ist sie mit ihm geflüchtet. Andererseits – wo steckt der Geschäftsführer?‹
»Hier herauf!« rief er von der Treppe. »Habt ihr den Schlosser mit?«
Die Tür wurde erbrochen, aber der Inspektor befahl den Sipo-Beamten, draußen zu bleiben, bis er das Licht angedreht habe. Dies erwies sich als richtig, denn im Dunkeln hätte man in Blut gefaßt. Um den Lichtschalter zu finden, stieß jeder Eintretende notwendig an den Tisch, gleich seitwärts von der Tür; der Tisch aber und die Kleidungsstücke, die darauf lagen, waren bedeckt mit Blut, sie schwammen darin. Der Inspektor, ein Fünfziger, der früher als Schutzmann an der Ecke gestanden hatte, neigte sich hinüber; die herabhängenden Kleidungsstücke verdeckten, was dahinter am Boden lag. Als er es erblickt hatte, wendete er sich, das Gesicht plötzlich weiß wie seine Haare, den Leuten wieder zu und sagte:
»So scheußlich macht das nur ein Gelegenheitsarbeiter!«
Hierauf bemerkte er, daß es kalt war im Zimmer und das Fenster weit offenstand. Blutspuren an der äußeren Wand kennzeichneten den Weg des Täters bis zu der Feuerleiter, die in den schwach beleuchteten Hof hinabführte. Wie weit konnte er kommen? Zweifellos hatte er sich bei seiner Arbeit so zugerichtet, daß der nächste Schupomann ihn anhielt. Nein! Anders! Dort im Winkel lag, naß von Blut, das Kleid, das er während der Tat getragen hatte. Der Inspektor erkannte es wieder und ebenso die Kappe.
Die gefundenen Tatsachen genügten ihm; er verließ das Umkleidezimmer und stellte einen Posten davor auf. Drunten im Lokal fragte er nach dem Geschäftsführer. »Nicht wieder aufgetaucht? Na schön. Die Herrschaften sind sofort erlöst«, verhieß er den Gästen, die nicht mehr lärmten und drängten, sondern stumme, erbitterte Gruppen formten. »Nur Ihre Namen müssen wir feststellen, soweit wir sie nicht schon kennen – wie Herrn Rechtsanwalt Bäuerlein, – den ich trotzdem bitte, zu unserer Verfügung zu bleiben.«
Das Weitere überließ er seinen Untergebenen. Er selbst überquerte die Straße, und vom Revier aus sprach er im Präsidium mit dem Kriminalkommissar Kirsch. Als sein Bericht zu Ende war, aber keine Antwort erfolgte, sagte er noch: »Ich glaube, Herr Kommissar, daß ich meine Pflicht getan habe. Drei Minuten vor der Tat kontrollierte ich den Tatort. Das – das konnte niemand vermuten!« Er hörte nichts, merkte endlich, daß eingehängt war, und ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen.
Kurt war längst bei seiner Schwester. Er hatte eine Taxe genommen, und jedesmal, wenn ein hellerer Schein in das Innere des Wagens fiel, hatte er an seinem Gesicht gewischt und seine Kleider geordnet. Er gelangte geräuschlos bis in die Wohnung; auf der Treppe, die er im Dunkeln hinaufschlich, war er niemandem begegnet und mußte bei Vicki nicht anklopfen, ihre Tür stand halboffen. Sie erhob sich sofort und ging ihm entgegen. Drei Schritte voneinander entfernt hielten beide an.
»O Kurt!« sagte Vicki leise und mit Entsetzen.
Seine Augen schweiften ab, er machte ein verstocktes Gesicht, wie vor dem Weinen.
»Sie hat dich dahin gebracht!« war das erste Wort seiner Schwester. »Du hast es getan, weil sie es wollte!«
Seine unruhigen Augen hafteten kurz auf ihr; sie bestätigten: Es war nichts zu machen, ich mußte.
»Wärest du trotz allem hergekommen, Kurt! Hättest du mich grade jetzt nicht liegen gelassen! Ich würde dich gehalten haben! Was auch immer zwischen uns getreten war, ich bin Vicki, du bist Kurt!«
Sie sprach in furchtbarer Eindringlichkeit, ihr ganzes Innere kehrte sich ihm offen zu. Bei ihren ersten Worten zuckte er die Schultern. Bei ihren letzten brachen seine Tränen aus. Er winselte, kreischte leise dazwischen und schluchzte endlos – dies alles auf den Knien und in seine beiden Hände hinein. Sie bewegte sich indessen von einer der Türen zur andern, schloß sie alle, drehte die Schlüssel um und schob Riegel vor. »Ich wollte es nicht glauben, obwohl ich mir alles vorher ausrechnen konnte«, sagte sie während ihrer Tätigkeit. »So viel Bösartigkeit schien mir märchenhaft – selbst bei Marie!«
Hier kehrte sie zu ihm zurück und hob ihn an beiden Armen vom Boden auf. »Sieh mich endlich an! Hier frißt dich niemand. Was wird schließlich sein!«
Er faßte sich soweit, um eine Grimasse zu schneiden, darin lagen die leicht vorauszusehenden Ereignisse, die allerdings sein mußten. »Nein!« rief sie im Ton des Befehls. Er strengte sein Gesicht an, damit es sich noch einmal zur Ironie verzog. »Wollen wir auch das nicht ernst nehmen?« fragte er.
»Ganz ernst, Kurt! Endlich mal ernst aus voller Kraft!« Sie reckte sich auf und erbebte unter dem Druck ihres Willens. Er hielt den Atem an, – ohne sein Dazutun strömte ihr Mut in ihn über. Als er sich selbst zurief: »Ich muß die Nerven behalten«, – hatte er sie auch schon zurück. Er sah seine Schwester tiefbraun und wußte, wie weiß sein eigenes Gesicht war. Blick in Blick mit ihr, merkte er, daß er Farbe bekam.
»Sage mir alles!« Sie legte ihm ihre Hände auf die Schultern, aus solcher Nähe hörte sie ihm zu. Endlich behauptete sie:
»Mingo ist genau so verdächtig wie du.«
Er überbot sie. »Mehr! Im Lokal hat er schon längst laut ausposaunt, daß man die Alte umbringen müsse.«
»Jedenfalls ist er geflüchtet – mit Marie, und die hat sich mal sicher verraten! Wie sie haargenau alles festgelegt hatte! Aber etwas ist ihr fehlgegangen, sonst wäre Mingo nicht in das dunkle Zimmer getappt! Sie hat damit gerechnet, daß du es verdunkeln würdest. Jemand sollte sich darin blutig machen, nur nicht ihr Mingo. Ein anderer sollte es sein. Wer denn? Weißt du, wer!« rief sie aus. »Bäuerlein! Dann wären wir alle mit drin, dann hat sie uns alle.«
»Wir waren Kinder«, bemerkte Kurt, auf einmal fühlte er sich mehr durchdrungen von den Taten Maries als von seinen eigenen.
Seine Schwester erinnerte ihn: »Auch mich hat sie dahin getrieben, daß ich auf sie schießen mußte.«
»Mich hat nur sie zu der Sache gezwungen. Die bringt einen um den Verstand.«
»Ich hatte keine Schuld. Du hast auch keine.«
»Wir sind unschuldig!« schwuren sie einander zu, aufgehoben von Leidenschaft und mit vermischtem Atem. Plötzlich stießen ihre Gesichter zusammen im Kuß. Sie küßten lange, sie schlossen die Augen, beide erfüllt vom gemeinsamen Geschick. Wir haben einander wieder! Endlich sind wir nicht mehr die Überlegenen und Halben. Zum erstenmal steht es ernst bis ins letzte. Wir sind Zwillinge, allein auf der Welt, verkettet, gefangen, ohne Ausweg, am äußersten Rand. Jetzt aber küssen wir – und werden stark. Das ist die Liebe. Da es nicht Haß hat werden können, bleibt es wie je unsere einzige Liebe.
Dies festgestellt, wurden die Geschwister sachlich und knapp.
»Wir werden uns wehren.«
»Bäuerlein kommt nicht. Den halten sie wohl auf der Wache fest. Er ist mitverdächtig.«
»Auch gut. Er hätte uns Schwierigkeiten gemacht. Merke dir eins, Kurt: du leugnest! Was auch kommt, du leugnest!«
»Sie werden an mir kein Blut finden, wie an Mingo.«
»Ich belaste Marie«, sagte Vicki. »Sie hätte mich damals erwürgt, wenn ich nicht geschossen hätte.«
»Was sie mit mir gemacht hat, heißt intellektuelle Urheberschaft oder ähnlich.«
»Du leugnest die Tat. Sie konnte dich dazu nicht bringen. Da mußte Mingo ran.«
»Wir werden mit unseren Aussagen sogar Kirsch verrückt machen. Gleich wird er hier sein.«
»Sie haben nur das Haus umstellt. Sie holen dich erst morgen früh. Schlafe solange! Du sollst vollkommen ausgeruht sein.«
»Wenn sie mich verhören, denke ich an dich. Während des ganzen Prozesses – Vicki, immer an dich!«
»Du kommst los!«
»Und wenn nicht!«
»Du kommst los!«
»Auch im Zuchthaus denke ich an dich und leugne weiter.«
»Und ich bin da. Wenn es dahin käme, kämpfe ich für die Wiederaufnahme des Verfahrens. Das Leben ist lang.«
Jedenfalls vergaßen sie schnell, und nur das eine blieb ihnen unwandelbar gegenwärtig: sie selbst.
Marie, an der Seite Mingos, der den Wagen Bäuerleins mit achtzig Kilometer Geschwindigkeit über Land steuerte, was erblickte sie? Die Treppe, das Blut, es tropfte mitten in den Flitter des Balletts, und dazwischen stahl sich ein entfernter Schrei. Ein unheilvoller Nebel aber trennte sie von den Vorgängen, den Menschen.
Sie nahm sich vor, den Arm ihres Freundes zu berühren, ob er wirklich wäre. Aber sie regte sich nicht. Ein schwarzer Himmel lag auf den Straßen, der umgrenzte Schein der beiden Lampen flüchtete vor ihr her, und sie dachte nicht anders, als daß sie einsank in diese Nacht immer tiefer und für ewig.
Mit hinein nahm sie eine Welt. Sie hörte ihren alten Schullehrer sprechen: Marie soll allein singen! Sie wollte wahrhaftig singen in ihrem Nebel: Lütt Matten de Haas, – aber eine Lokomotive brauste heran, es verschlug ihr den Atem. De mok sick een Spaß, sang ihre innere Stimme, – da brach die Flut über den Katen herein. Marie sang tapfer in tiefer Nacht: He wier bit studiren, dat Danzen to lieren. Un danz ganz alleen op de achtersten Been. Schon verlor sie den Boden, fiel hin und ein Schuß traf sie. Auf! Fliehen! Du hast die Schuhe gestohlen! In einem erschien ihr verlorenes Kind, in einem das Gesicht Adeles.
Mingo! wollte sie rufen. Vergebens, er betritt die Treppe, von seinen gespreizten Fingern rinnt wieder das Blut. Das arme Gesicht Adeles, Scheinwerfer, ringsum Nacht. Mein Kind! Einen Augenblick kam sie zur Besinnung, sie hörte ihn sagen: »Mach das Fenster zu, du klapperst mit den Zähnen!« Plötzlich spürte sie auch den Sturm an den Wagen prallen. Feuchter Sturm, Eissturm, – Mingo, wohin fährst du? Sie brachte die Frage nicht mehr vor. So schnell, wie aufgewacht, versank sie in ihre eigenen Stürme. Die Wanzen! Ich bringe sie um! Die Landarbeiter werden im Winter entlassen! Dabei dreht sie sich, alles dreht sich, sie und Mingo tanzen. Die Wanzen, wir tanzen! Vor dem Spiegel hingesunken, keucht sie: Lütt Matten gev Pot, de Voß bet em dot, im Winter entlassen, wir müssen uns hassen, – alles nach derselben alten Melodie, aber Jazzmusik.
Der Lärm wurde schwächer, das Lokal leerte sich, nur noch die Abrechnung! Dumpfes Erwarten im Dunkeln, was für Stimmen jetzt herannahen. Noch flüstern sie. Essen! Gib mir zu essen! Ich hab nie satt gegessen! Das war Mutter Lehning aus dem Armenhaus in Brodten. Ihre Stimme erhob sich, kreischte – und wurde dennoch übertönt von der entfernten, längst vergessenen Stimme eines Kindes, eins der kleinen Geschwister, die geholt worden waren von der See. Die kleinen Pantinen! Da stehen sie noch nebeneinander auf dem Bollwerk! An der Friedhofsmauer stößt Frieda ihren Schrei aus. Du bist doch in der Krankenkasse? Aber nicht dafür! He sett sick in Schatten, verspies denn lütt Matten. De Krei, de kreeg een von de achtersten Been, – sang immer jemand dazwischen. Das Herz Maries sang endlich allein, nur leise, leise, und sie entschlief mit ihrer ganzen Welt.
Sie war halb erwacht, wollte nicht weiter erwachen, da schrak sie auf. Es liegt Verdruß zum Haus in der Morgenstunde! Morgens zwischen vier und fünf mußt du auf dich aufpassen! »Mingo?« fragte sie.
»Min Marie!« antwortete er.
Der Wagen fuhr durch den Sturm wie je, sie aber erkannte jetzt die Luft, die See war nahe.
»Ist es zwischen vier und fünf?«
»Nein, min Marie. Das Schlimmste hast du verschlafen. Is all söß. Nu föhr ick di na Hus.«
Indessen ahnte sie in der undurchsichtigen Dämmerung einen Strand, der nicht Warmsdorf war. »Du fährst man um«, sagte sie, und er leugnete nicht. Beide fürchteten, heimzukehren, wußten nicht, wohin, und Marie widersprach nicht, weil sie fortwährend die Richtung änderten, langsamer wurden und ohne Ziel blieben. »Fahr zu dem Hof, wo ich gedient habe! Der Bauer versteckt uns.«
Als dann der Hof in Sicht kam, bog er ab, und sie ließ es geschehn. Jetzt war der Weg erreicht, der schlechte Feldweg nach Warmsdorf, es gab keinen andern mehr. Den waren sie gefahren und gegangen vereint durch Glück und großes Leid vor Zeiten wie heute, und einmal ist das letzte. Angelangt vor dem Dorf, hielt endlich der Wagen. Er hatte sie dahin getragen ohne Unterlaß seit dem Augenblick, als in Berlin ein Mord entdeckt war. Sie hielten und sahen einander an.
Marie hatte Augen, die er erst später verstand. Er fühlte allein: Marie und mein Arm, der sie schützt, Marie an meiner Brust! Dort lag sie reglos, endlos, – aber wenn Mingo nichts wahrnahm, als das Klopfen ihrer Herzen, Marie hörte auch die See, die hochging, immer höher, mächtiger, unausweichlicher. Komm, Marie!
Sie öffnete den Wagenschlag, sie stieg aus. »Ich weiß was. Warte hier!« Sie setzte sich in Bewegung, sie lief schon und rief noch: »Töw man! Ick weet all.«
Sie nahm die Abkürzung über die Wiesen, sie stieß auf die Strandpromenade von rückwärts, durch den schmalen Gang bei Köhns Hotel. Zuerst mußte sie sich an der Mauer des Hauses festhalten gegen den Sturm. Die Wellen schlugen bis über das Bollwerk, und jeder Anlauf türmte die donnernden Massen. Marie betrat das Bollwerk, sie kämpfte um jeden Schritt. Dort drüben ist der Platz, steil steht das Wasser davor, aber sie sieht hindurch, es hat den Katen verschlungen. Es hat alles verschlungen, auch mich! Hinab an derselben Stelle! Hinab!
Sie kämpfte, da bemerkte sie, daß eine Gestalt sie schon erwartete dort drüben. Sie wußte auch sofort, welche es war, obwohl sie gegen den fahlen Himmel dastand wie ein Stein, schwarz und von Wind und Wellen unbewegt. Sie erinnerte sich des Steines aus einer anderen, fernen Morgenfrühe. Schon damals floh sie, er verstellte ihr den Weg, wie jetzt. Seitdem hatte er nach und nach ein Menschengesicht bekommen, einmal vor kurzem hatte er zu ihr gesprochen wie du und ich. Kommt eins nach dem andern, aus Stein wird Mensch, aus Mensch wieder Stein. Wir sind zurückgekehrt, ich und er, die Füße stocken, die See will mich holen, aber ich muß zu ihm!
So kam sie denn hin, die wenigen Schritte wurden zum meilenweiten Abstand, sie schwankte, verlor den Boden, aber bevor sie in die Welle stürzte, fing Kommissar Kirsch sie auf.
Er brachte sie zu seinem Wagen, grade stellte ein anderer sich daneben, und Mingo sprang heraus.
»Da bin ich, Herr Kommissar. Verhaften Sie mich! Marie ist unschuldig.«
»Du auch. Der Täter ist verhaftet.«
Mingo keuchte, er brachte hervor, man verstand es kaum: »Was wollen Sie dann von uns?«
»Ich muß beweisen, daß ihr die Tat nicht begangen habt.« Das übrige ließ er aus: ›Und eine andere mußte ich verhindern. Wenigstens die.‹
»Können Sie es auch beweisen?« fragte Marie und weinte laut auf – weinte weiter, weinte sich zurück in das Leben.
Kirsch sagte: »Heul du man, lütt Deern!« Mit seiner massigen Gestalt schob er sie in den Wagen. Ihrem Freund befahl er handgreiflich, sie nach Haus zu fahren. Mingo legte alle Kraft in sein letztes Wort:
»Sie ist unschuldig!«
Kirsch nickte. Noch sah er ihnen nach, er bedachte, daß keine Marie unschuldig gewesen wäre, wenn man von dem Geheimnis, das sie alle sind, nur so viel gekannt hätte wie üblich. Zufällig wußte jemand, er selbst, mehr von dieser.
Er stieg in sein Polizeiauto, schwerfällig und verdrossen. Gut, daß man nicht von jedem alles weiß! Jeder wäre unschuldig.