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Sechstes Kapitel

Kurt vergaß nichts, keine Frau, kein Mißgeschick, auch diesen Abend nicht. Er liebte das Leben zäh und ohne Gegenliebe, wie er anfing zu bemerken. Des Morgens lag er erschöpft, aber schlaflos neben Adele und gedachte Maries wie des Glückes selbst, das verspielt war. Zurückgewinnen! Jetzt grade! Trotz Adele und ihrem Testament, und obwohl der Seemann nächstens heranschwamm. Dem hab ich sie schon mal gekappt, – und von dem ist ihr Kind nicht. Ihr Kind ist von mir! Aus heißer Lebensbegierde begann Kurt für sein Kind zu fühlen. Er sah, während ihm die Augen brannten, Marie als große Frau und sich selbst auf einen hohen Posten versetzt – ungeklärt, wie. Die Hauptsache, ein mächtiges Auto nahm Marie und das Kind auf, er stieg zu ihnen ein, es war nicht mehr in W 15.

Er sagte zu Marie: »Ich muß unser Kind sehen.« Sie antwortete »Nein«; aber er blieb ruhig, grade darum konnte sie nichts machen. Er kam zu ihr vor sieben, als sie angezogen war, um in die Bar zu gehen, und zuerst beugte er sich lange über das kleine Bett. Sie konnte nicht verkennen, daß er es ehrlich meinte. Er hob den Knaben vorsichtig ein wenig vom Kissen auf, ihre gleichen Gesichter standen einen Augenblick einander gegenüber, der unsichere Blick des Kindes, der zugleich scharfe und flehende des Vaters. Kurt küßte seinen Sohn nicht, er tat etwas anderes. Er lehnte sanft gegen die kleine Stirn seine eigene, die feucht war.

Marie wandte sich ab; sie bereute, daß sie ihn haßte. Sie zweifelte sogar, ob es Haß war. Und seine Schwester? Was auch geschehen war! Was immer geschehen war und noch bevorstand, Marie empfand: es blieb doch Vicki, einst ein Kind auf dem Strande zugleich mit Marie. Sie wollten es beide gar nicht, dennoch trieben sie einander an, keine wußte, warum und wohin. Kurt, ein so schlechter Junge, daß er manchmal krumm wurde von innen heraus, er liebte das Kind. Es lächelt! Es liebt ihn auch!

Er machte den Versuch, zurückzulächeln. Ohne Ironie war das schwer für ihn, wie sie wohl sah. Er nahm das Kind an sich, gegen seine Brust, und sagte zu Marie: »Jetzt gehen wir fort.«

»Wohin?«

»Ganz fort. Etwas anderes anfangen. Hier sind wir nicht sicher.«

»Vor wem?«

Er sah sie an, als ob sie das selbst wissen könnte. Sie verstand ihn auch, suchte aber abzulenken. »Ich muß auf Vicki aufpassen.«

»Die!« warf er hin und verzog sogar den Mund. Zum erstenmal ergab sich ein Abstand zwischen ihm und seiner Schwester. Marie erinnerte ihn:

»Du weißt doch, was sie will.«

»Ich habe sie gewarnt. Ich sagte ihr, daß sie verrückt ist. Sie antwortete mir: ich auch. Natürlich, ich auch! Darum muß ich ja fort und etwas Neues machen«, behauptete er hartnäckig. »Sonst ist es zu spät – wegen der Sachen, die hier laufen, Adele, die Erbschaft, das Kind, die Polizei – und Vicki! Und du! Kommst du da noch heraus?« forschte er mit einem vielsagenden Blick.

»Ich?« Sie war erschrocken. »Aus was soll ich herauskommen?« fragte sie zum Schein. Er hob nur die Schulter.

»Noch ginge es; Vicki jedenfalls tut, was sie kann, damit sie sich auf andere Gedanken bringt. Sie hat einen Liebhaber genommen«, sagte er zwischen den Zähnen. Da begriff Marie erst den ganzen Abstand, der dort entstanden war. Es war Eifersucht! Seine Schwester ging eigene Wege, sofort wurde sein gewagtes Unternehmen bei Adele ihm unheimlich und er flüchtete zu Marie, zu dem Kind!

»Das hilft uns nicht«, entschied sie. »Weißt du, was ich glaube? Sie hat gar keinen Liebhaber.«

»So. Aber eines Tages kannst du sie in der Zeitung mit ihm photographiert sehen. Er ist doch ein Künstler!«

Marie schüttelte den Kopf. Sie dachte an den Chauffeur Edgar, auf den das Mädchen Lissie aufpaßte. Auch ihn hatte Vicki für ihren Liebhaber ausgegeben, ohne daß er es gewesen war, – nur damit Ignaz Bäuerlein seine Aufregung bekam und sie selbst ihre halsbrecherische Lage. Sie ist nicht die Frau, die sich verliebt! Sie hat sich nie in Mingo verliebt!

»War sie je in Mingo verliebt?« fragte Marie plötzlich. Er trat einen Schritt zurück.

»Sprich davon nicht!« Er legte das Kind ins Bett zurück. »Wir alle sind vielleicht auf der schiefen Ebene, wenigstens habe ich das Gefühl, – und deine Sorge soll Mingo sein? Schön. Dann los in die Bar! Dorthin gehören wir. Mein Gefühl ist auch weg nach zwei Kognaks.« Er hielt ihr den Mantel hin.

Kurze Zeit darauf hatte Vicki einen geheimnisvollen Autounfall. Der Wagen wurde außerhalb der Stadt auf einen Sommerweg geschleudert, übrigens fuhr sie nicht ihren eigenen. Es schien, daß neben ihr ein Herr gesessen hatte, und am gleichen Abend kam ein bekannter Schauspieler mit starker Verspätung ins Theater. Über die Zusammenhänge stand etwas in den Blättern, die derartiges erwähnen.

Während Vicki mit einer leichten Quetschung auf der Couch lag, machte ihr Mann ihr rücksichtsvolle Vorhaltungen. »Mußte das sein?« fragte er hauptsächlich. Sie verlor sehr bald die Geduld.

»Natürlich mußte es nicht sein, aber es hatte nun mal geregnet. Das ist ja direkt lächerlich. Du gibst an wie ein alter Mann von vierzig Jahren. Mein Vater konnte auch über so 'ne Kleinigkeit sechs Stunden reden. Später ging er allerdings selbst durch«, sagte sie anzüglich.

»Muttchen Nuttchen Puttchen!« flötete er, um sie zu beruhigen. Sie machte es ihm nach mit möglichst häßlicher Kinderstimme.

»Ich werde dir niemals deine Jugend stehlen«, versicherte er, »und erst recht nicht deine liebenswerte kriminelle Veranlagung. Wenn ich ein Spießer bin!«

»Wärest du nur einer!« sagte sie mit richtiger Stimme und einem unverstellten Blick. Er entschuldigte sich denn auch.

»Das hält schwer an deiner Seite. Man kommt hinter so manches.«

»Wenn man die Dienstboten dafür bezahlt.«

»Der Prominente stand in der Presse. Aber ich lege ihm keine Bedeutung bei. Ich habe die Schwäche, dich für treu zu halten«, gestand er schlicht.

»Danke, lieber Ignaz. Dann überrascht es dich auch nicht, wenn ich nächstens nach Sankt Moritz fahre.«

»Allein?«

»Was dachtest du? Zur Erholung natürlich. Der Autounfall hat mich nervös gemacht, du mußt meine Aufführung entschuldigen.«

»Gern. Aber es ist nicht nur der Autounfall. Der mitsamt dem Prominenten bilden dein Alibi, Puttchen. Du sagst Sankt Moritz. Nuttchen! Wohin willst du in Wirklichkeit – mit dem Kind?« Dies schoß er ab.

»Mit – wem?« Sie war hochgekommen aus den Kissen, ließ sich aber sogleich zurückfallen. »Selbstverständlich. Wie solltest du nicht auch hinter das Kind gekommen sein! Na? Von wem hat Muttchen Nuttchen Puttchen das tleine Tind?« quäkte sie.

»Gott gebe, daß es deins wäre! So aber, du armes unvollständiges Verbrechergehirn«, sprach er zum Fenster hinaus, – »kann ich dich nur warnen!« Dies sagte er ihr voll und mit Nachdruck ins Gesicht.

Er begann wieder: »Ich habe natürlich meinen Eindruck von Marie.«

»Und möchtest mehr von ihr haben als nur den Eindruck!«

»Möglich, aber es gehört nicht her. Dir fehlt ein Kind, das kann ich verstehen. Was habe denn ich? Sitzungen. Man muß sich das Leben erträglich machen, indem man sich mit ihm vergleicht. Soll ich versuchen, einen Vergleich mit Marie herbeizuführen?« Er betonte: »Zwischen dir und ihr steht ein gewisses Vorkommnis.« Sie unterbrach schnell:

»Ich fürchte, daß sie dich nicht ernst nimmt, mein Ignaz.«

»Dann mach es selbst!«

»Mich nimmt sie zu ernst.«

»Mein Eindruck ist, daß sie gefährlich werden könnte. Ohne Vergleich kommen wir zu nichts.«

»Doch!« behauptete sie.

Er dachte: ›Vielleicht zur endgültigen Klärung einer fragwürdigen Ehe‹, – worauf er ihr Ruhe empfahl und sie verließ.

Um dieselbe Stunde hielt Kurt eine Zeitung hin und fragte Marie, ob sie jetzt endlich glauben werde an den Liebhaber Vickis. Sie wußte nichts zu entgegnen; nur ihr Gefühl widersprach.

Vicki selbst fragte eines Nachmittags im August:

»Marie, wir lieben einander doch, ist dir das klar? Dann erweise mir zum ersten Mal einen wirklichen Gefallen!«

»Zum ersten Mal«, wiederholte Marie. Schneller als sie die drei Worte aussprechen konnte, drängten sich durch ihren Geist: Kurt, Mingo, das Kind, das Bahngeleise, der große blaue Stein, Adele und die Bar samt Bäuerlein und Kirsch.

»Dein Geschmack war wenig entwickelt, Marie. Ich habe dich erst angezogen. Wenn du jetzt als große Frau dastehst –« Denn Marie war schon im Abendkleid. Bäuerlein befand sich auf einer kurzen Geschäftsreise, übrigens wäre nichts mehr zu verheimlichen gewesen. Vicki erklärte: »Ich habe ihm gesagt, daß ich nach Sankt Moritz fahre. Man soll immer das angeben, was man wirklich vorhat, dann glauben sie das Gegenteil.«

»Was glaubt er also?«

»Mingo!« entschied Vicki und sah Marie fest an. »Von dem ist er überzeugt. Den hat er bis jetzt nur einmal erwähnt, als ein gewisses Vorkommnis, und sonst noch nie. Wenn von mir Briefe aus Warmsdorf hier einliefen, dann bin ich für ihn tatsächlich bei Herrn Mingo in Warmsdorf und nicht in Sankt Moritz. Du verstehst, was ich von dir haben will.«

»Nein.«

»Seid ihr in der Bar alle so einfach geblieben? Du fährst nach Warmsdorf und wirfst dort täglich einen Brief in den Kasten. Jetzt denkst du, daß du sie auch schreiben sollst. Du wirst aus den Wolken fallen: ich schreibe sie selbst und gebe sie dir gleich mit. Hier hast du sie.

»An wen schreibst du sie?«

»Lies nur und nimm sie gleich mit! An dich schreib ich sie, jawohl, an dich, gutes Kind. Hierher. Ignaz findet sie, er glaubt an Warmsdorf, seine Privatdetektive schickt er dorthin, ich habe meine Ruhe in Sankt Moritz.«

Marie bemerkte mit Verachtung: »Sich soviel unnütze Lügen auszudenken!«

»Ihm sage ich die Wahrheit: Sankt Moritz.«

»Und mir?« fragte Marie streng. »Er schickt seine Privatdetektive nach Warmsdorf, meinst du. Dort finden sie, daß kein Mingo da ist, und daß ich an mich selbst Briefe aufgebe. Dein Mann aber stellt fest, daß ich weder hier im Hause noch in der Bar zu sehen bin.«

»Während meiner Reise nach Sankt Moritz hast du für mich nicht zu schneidern, und in die Bar traut er sich ohnedies nicht. Aber lassen wir es, wenn du mir den ersten Gefallen, um den ich dich bitte, nun einmal nicht tun willst!«

Marie fühlte sehr wohl, daß Vicki das enttäuschte Kind nur spielte, während sie im Grunde etwas Lauerndes hatte. Im »Harem« aber fand Marie einen Brief. Sie bestellte aus Furcht vor den schnüffelnden Holländerinnen ihre Briefe lieber nach der Bar. Dieser war von ihren jungen Geschwistern, die ihr mitteilten, Mingo sei wieder da. Als sie so weit gekommen war, schob sie schnell das Papier in ihren Halsausschnitt und sah sich um, wer sie beobachtet habe. Nur Nina hatte zugesehen. Marie ging zu ihr und flüsterte: »Mingo ist zu Hause.«

Nina griff unter das Büfett, hervor holte sie die aufgeschlagene Karte, in der Nadeln staken.

»Stimmt es? Ich wollte dich nur nicht aufregen, Marie. Jetzt fährst du natürlich hin. Du darfst ihn nicht warten lassen. Er soll auch von dritten nichts über dich hören. Glaube mir, der grade Weg ist der sicherste. Ein guter, einfacher Junge wie dein Mingo versteht alles, was du ihm erzählst, aber es muß aus deinem Munde kommen!«

Die Braut des Seemanns schien von Zweifeln gequält; Nina redete ihr fürsorglich zu. »Du weißt jetzt, was das hier für ein Leben ist. Heirate ihn, verlange als Mitgift einen Segler und mach alle seine Fahrten mit! Dies rät dir eine, für die es zu spät ist.«

Sie wurden zum Abendessen gerufen. Marie bewunderte still das Zusammentreffen, daß auch Vicki sie hatte nach Hause schicken wollen – zu Mingo, der nicht da war. Im gleichen Augenblick aber war er wirklich da! Sollte ihr das nicht Vertrauen zu Vicki machen? Dann stimmte auch das übrige, sie fuhr einfach nach Sankt Moritz, sie legte Marie keine Fallen, diesmal nicht. Wer nie etwas anderes glauben will, ist auch wieder dumm. Ich nehme für alle Fälle das Kind mit! Aber geht das? Kann ich es ihm denn gleich zeigen? Nina sagt: er versteht alles. Ist es auch wahr?

Sie wußte es nicht. Jedenfalls verkündete sie: »Frau Fuchs, morgen muß ich Ausgang haben, dringende Familienangelegenheit.«

»Eine weniger«, bemerkte Stella im Namen der anderen. »Der Geschäftsgang ist ein stiller zu nennen. Danke, Marie!«

Nach dem Essen erinnerte Marie sich, daß sie den Brief noch gar nicht zu Ende gelesen hatte. Sie entfaltete ihn unter dem Büfett und stieß auf einen einzigen Satz, aber der griff ihr an den Hals. »Mingo bleibt nur einen Tag hier, er will sich wieder anheuern lassen.« – ›Dann ist er auch schon fort! Unmöglich, er weiß, daß ich komme. Ich bin unterwegs, das braucht ihm niemand zu sagen. Morgen früh treff ich ihn in Lübeck, und ginge er auch schon auf das Schiff! Ich kenne sein Hotel am Hafen.‹ – »Nina, komm ich heute abend mit dem Zug noch mit? Aber in dem Abendkleid! Ich habe nichts anderes hier, und ich muß sofort zum Lehrter Bahnhof.«

»Hast du Geld?« fragte Nina mütterlich. »Auch ein Kleid kann ich dir leihen. Beeile dich, auf Wiedersehen, mach's gut!«

Marie kam umgezogen die Treppe herunter; das Abendkleid hatte sie eingewickelt und mitgenommen, sie überlegte nichts mehr, es ging Hals über Kopf. Sie war empört, weil Adele sie aufhielt. »Wohin!« fragte Adele im dramatischen Ton.

»Das wissen Sie, Frau Fuchs. Es ist schon heute.«

»Und wo erwartet dich der Junge mit dem Kind?«

»Welcher Junge? Welches Kind? Sind Sie verrückt geworden?«

»Ich nicht. Du aber versündigst dich für Zeit und Ewigkeit. Du türmst mit meinem Mann! Sieh mich an – und sei entmenscht genug, mir meinen Mann zu schnappen!« Den Widerspruch Maries hörte sie gar nicht. »Oh! Mir ist bekannt, daß Kurt es kaum noch hier aushält, seitdem ich das Testament gemacht habe. Das kann anders werden!« verhieß sie drohend. »Seine Familie ist auch noch da – seine wirkliche Familie! Mit der halte ich es, die dankt es mir auf den Knien, wie ich den erwerbslosen Menschen einstelle!«

Es schien Marie, daß die Frau faselte. Nichts hatte Bedeutung außer ihrer Reise zu Mingo. »Lassen Sie mich vorbei!« verlangte sie, ohne auch nur die Stimme zu erheben; genug, Adele drückte sich an die Wand.

Erst im Zuge bemerkte sie, daß sie jetzt dennoch ohne das Kind gereist war. Sie erschrak – verleugnete aber sofort ihren Schrecken und die Gefahr. Das tut Vicki nicht! Sie fährt nach Sankt Moritz! Ganz heimlich meldete sich in ihr die Wahrheit, sie wollte sie nicht gehört haben, gleichwohl hatte sie gesprochen: Mingo – oder tot! Was sonst auch hereinbrechen mag, jetzt zu Mingo!

Hierauf schlief sie ein, denn bis morgen früh war genug gekämpft, und keine innere Bedrängnis erreicht, daß Marie nicht schläft. Sie saß noch immer ruhig angelehnt, als die Sonne sie weckte. Der Wirt des »Karsbecker Hofes« am Lübecker Hafen bestätigte ihr, daß Mingo nach Warmsdorf gefahren sei, aber schon heute abend werde er zurückerwartet. Sie wendete sich nach dem Bahnhof, grade lief der Zug ein; der erste, der ausstieg, war Mingo, die ersten, die einander die Hand gaben, waren Mingo und Marie.

Sie sprachen anfangs nicht, sie gingen nebeneinander fort, als hätten sie gewußt, wohin. Bei einer Wirtschaft, vor der Tische standen, fragte er, ob sie gefrühstückt habe. Diese ersten Worte klangen rauh. Auch wurden sie zerrissen von dem Pfiff eines Schiffes, das auf dem Flusse einfuhr und unter den übrigen seinen Platz suchte. Als er sich von ihr entfernte, um den Kellner zu holen, sah sie ihn erst richtig – nicht mehr flimmernd, wie bei der Begrüßung. Er war viel magerer geworden, nein, nicht mehr der gepflegte, gut ernährte Sohn des weißen Fischerhauses mit dem wilden Wein. Auch hatte er seinen »Treuer« anbehalten, was ein Sweater ist; das seidene Hemd schien er nicht mehr zu kennen. Sein Gang war jetzt schwankend wie der seines Vaters. Er kam auf sie zu. Dies scharfe braunrote Gesicht mit der großen Nase war ihr fremd. Sie machte sich kleiner auf ihrem Stuhl, und auch ihr Herz zog sich zusammen.

Er sah sie an, das war nun doch der Blick seiner schrägstehenden Augen. Die Brauen berührten einander fast. Er brauchte sie nur wenig zu falten, dann erschien er ihr männlich. Nein, traurig fand sie ihn jetzt.

Sie fragte leise: »Bin ich älter geworden?«

Als Antwort legte er seine Hand auf die ihre, und sie spürte die Schwielen, die neu waren.

»Sechs Monate!« sprach sie ihm in die Augen. »Da kommt viel vor.«

»Es ist alles beim alten«, sagte er, schüttelte aber dabei den Kopf.

Sie sagte singend und langsam: »Ich wußte immer, wo du warst, mein Mingo. Ich habe Nadeln in eine Karte gesteckt.« Sorgfältig brachte sie fremde Namen vor, Städte, Lokale, Personen, alles im Gedächtnis aufbewahrt.

»So war es aber gar nicht«, erklärte er. »Ich mußte die meiste Zeit an Bord bleiben, wo wir anliefen. Aus- und einladen wie ein Kuli, und das war ich auch, Marie. Das ist die richtige Lehre. Jetzt kann ich meinem Bruder im Geschäft helfen, wenn es heutzutage auch stilliegt. Ich arbeite für drei Fischerknechte.«

»So ist das gekommen«, sagte sie, aber er sah ihr an, daß sie nicht an ihn dachte; ihr eigenes Leben meinte sie. Er wollte sie beruhigen.

»Ich hab schon alles gehört, lütte Deern, nu laß man!«

»Haben sie dir in Warmsdorf erzählt, daß ich –« Sie verzog den Mund zum Lachen, weil sie etwas Doppelsinniges sagen wollte; ihre Zähne blitzten. »Daß ich unter die Räder gekommen bin?« Mingo wurde davon nur ernster.

»Du hast gehörig was ausstehen müssen, du hast dein Teil weg, und ich auch. Ich habe wohl eine gesunde Dummheit gemacht, wie ich dich damals auf dem Feldweg stehen ließ. So ist ein Mann, lütte Deern. Jetzt hast du sie ja reichlich kennengelernt, aber dafür kannst du nichts, das ist meine Schuld, warum hab ich es mit uns nicht in Ordnung gebracht, bevor ich zur See fuhr. Jetzt heiraten wir, mine Marie, und dein Kind kriegt einen ehrlichen Namen.«

Sie antwortete nur: »Es ist dort in Berlin geblieben.« Denn was er sagte, hatte irgendeinen Fehler, in diesem Augenblick fühlte sie ihn unbestimmt. »Ich muß selbst wieder zurück«, setzte sie hinzu. »Schon wegen Mi.«

»Was heißt Mi?«

»Eigentlich – Michel«, sagte sie.

»Ich komme mit dir!« bestimmte er. Sie schüttelte den Kopf: »Das müssen wir noch sehen. Aber jetzt will ich etwas anderes. Ich will, daß wir im Wagen fahren.«

»Aus der Stadt?« Er las in ihren Augen, wohin; sonst wäre er nicht leicht darauf gekommen.

»An den Ort habe ich auch viel gedacht, des Nachts in den Tropen. An das Zimmer. An dein Gesicht, Marie, wie du mich um den Kopf gefaßt hieltest und ließest mich nur ganz langsam an deinen Mund ran. Marie, ich bin doch treu wie Gold«, versicherte er, genau wie damals. Er mochte von seinem Verschulden sprechen, im Grunde kannte er es nicht! Was wußte er von Haus Bäuerlein und vom »Harem«. Hatte er die Lokomotive heranstürmen gesehen? Marie mit ihrem Kind aber springt vom Geleise. Marie hat heute ihre Feinde, sie soll sich wehren und muß ihr Kind beschützen. Sie kommt nicht los aus dem Haß der anderen, ihrem eigenen, nicht fort aus dem Kampf, nicht frei aus dem Gedränge. Sie treibt, und sie wird gestoßen! In einer inneren Ferne hörte sie rollendes Getöse, und Stimmenmassen erhoben sich formlos.

Plötzlich fühlte sie die Hand Mingos auf der ihren. Tiefe Stille entstand, noch einschneidender, weil ein einzelner Dampfer im Hafen dumpf aufheulte, und Marie sagte nochmals: »Ich will, daß wir im Wagen fahren.«

Sie suchten dieselbe Garage, aus der Mingo damals das Auto geholt hatte. Aber der Besitzer wollte den Seemann nicht kennen und verlangte Bezahlung im voraus. Mingo besaß nicht genug. Marie legte aus.

Er führte wie damals; nur war er nicht mehr besorgt, ob sie lieber ein gelbes als ein blaues Seidenhemd an ihm gesehen hätte. Er beachtete auch nicht das Arbeitskleid, das sie trug, und das nicht ihr eigenes war. Sie aber sah wie je, daß er schön war – das blonde Haar, blonder als ihres damals, fest um den Kopf gelegt, vorspringender Hinterkopf, wie bei ihr, das Gesicht länglich, wie sie selbst es hatte. In der Anspannung des Lenkens zog er die Brauen zusammen, aber schon erschien er ihr dadurch nicht mehr traurig, nur männlich und ernst. »Du weißt, daß ich dich liebe«, sagte sie einfach.

Sie fuhren vor dasselbe Gasthaus, sie nahmen dasselbe Zimmer. Nachher aber weinte er nicht, wie das erste Mal. Er machte keine Liebesbeteuerungen, die in Tränen schwammen. Sie waren vereint, er sagte »mine Marie« und fand es richtig. Auch sie wollte es haben wie einst, so unmöglich es war, zu wünschen, daß sie das Zimmer nie wieder verlassen möchten. Einst hatten sie beide es eine Stunde lang geglaubt, oder wenigstens hatten sie es gehofft und einander mitgeteilt. Jetzt schwiegen sie. Um dennoch die Bezauberung zurückzurufen, umfaßte sie sein Gesicht und führte es ganz langsam dem ihren zu. Jetzt unterschied sie noch die dunklen Wimpern, die gesenkt waren, und jetzt nicht mehr, da schloß auch sie die Augen. In langsamen, tiefen Schauern lief eine Minute ab, da sie glücklich war wie an jenem Tag.

Als er seinen »Treuer« wieder anzog, eröffnete Mingo ihr, daß er sich durch nichts und niemand abbringen lassen werde von Marie. Was sie ihr in Warmsdorf auch nachsagten, er hielt zu ihr! Wollten seine Leute ihn mit Marie nicht im Haus haben, dann zogen sie zusammen fort und fingen selbst ihr Geschäft an, ob auch mit einem einzigen Segler. »Ich hab Mut, und du doch auch!«

»Mut genug«, sagte sie und hatte ihm den Rücken zugewendet.

Er sah auf, plötzlich begriff er, was sie tat. Sie stand auf ihren langen, seidenen Beinen in Schuhen mit hohen roten Absätzen und warf sich über den Kopf etwas Glitzerndes, noch schwebte es, nur so klein wie ein Taschentuch. Allmählich glitt es herab, und Marie war eine große Frau im Abendkleid, deren Arme, Gesicht und Haar viel heller und verlockender glänzten als von Natur und als je bei einer Fischersfrau. Er warf einen Stiefel hin, anstatt ihn anzuziehen.

»Das Auto hast du auch bezahlt! Verdienst du so viel Geld?«

»Manchen Abend mache ich mir hundert Mark. Aber die Kosten entsprechen dem Umsatz.«

»Wie soll es dann werden?« fragte er – schon wieder beherrscht und genau in dem richtigen Ton, weder unmännlich noch gekränkt. Sie kam darauf zu ihm, machte sich kleiner und ließ sich auf die zu blonden Haare küssen. Sie schob einen Stuhl so nahe, daß er an seinen stieß. Ihr Knie an seinem, ihre Wange an seiner vertraute sie ihm an, daß sie ihr Kind liebe und eigentlich nur noch ihr Kind. Sie gestand:

»Ich bildete mir ein, es wäre deins! So hab ich alles ausgehalten. Mi«, hauchte sie, zärtlich, wie er noch nichts gehört hatte, und liebkoste ihn mit leichter, leichter Hand. »Jetzt weißt du es: Mi heißt Mingo!«

Er hielt still. Noch sind wir beide hier im Zimmer, fühlte er, noch ist sie ein Stück von mir, – indes vor seinem Sinn schon endlose Wasser rollten und unter ihm ein Brett schwankte. Ich fahre bald nochmals zur See und kehre nie wieder!

Da sprach sie:

»Du mußt mit mir kommen, ich hab Angst um das Kind. Du sollst auch alles wissen, hilf mir nur! Du hilfst mir doch?« »Wir fahren gleich ab«, entschied er, und vor seinem Sinn verliefen sich die geschauten Wasser, wirklich und groß trat eine Gestalt hin, Marie. »Zieh das alte Kleid wieder an«, verlangte er.

Auf der Reise nach Berlin fand sie zufällig die Briefe Vickis, die sie an sich selbst hatte abschicken sollen, als ob Vicki in Warmsdorf gewesen wäre. Marie dachte: ›Auch in Sankt Moritz ist sie nicht!‹ Sie erschrak, weil sie plötzlich bemerkte, was sie die ganze Zeit im stillen wußte: ›Vicki hatte Berlin nicht verlassen.‹ Marie sprach zu Mingo nur wenige Worte.

»Sie wollen mir das Kind fortnehmen.«

»Ich kenne doch Meiers«, bestätigte er.

»Ja. Aber früher hingen sie wie die Kletten zusammen, und jetzt will jeder das Kind haben.«

»Und was noch? Meiers wollen immer alles.«

Sie schwieg, weil Mingo ihr diese Wahrheit erst klarmachte. Wirklich verlangte jeder der beiden viel auf einmal; Vicki gierte nach dem Kind, wie vorher nach dem großen blauen Stein. Deshalb ließ sie aber weder ihren Bruder los, noch Marie. Sie hielt sich zugleich an den Schauspieler, mit dem sie in die Zeitung gekommen war, und an Bäuerlein, der ihr eine Rente aussetzen sollte. Wird sie nicht auch Mingo wiederhaben wollen? Ihr Bruder Kurt will jetzt vor allem Marie – nein, noch mehr das Kind, aber deswegen nicht weniger Adele und ihr Testament. Ist das nicht abscheulich? Menschen, die nicht sehen, wo ihr Feld aufhört, und überall einbrechen!

Marie fragte:

»Mingo, glaubst du, daß Vicki es jemals ehrlich mit dir gemeint hat?«

Er war erstaunt. »Viktoria Meier? Ehrlich?«

»Ich meine, damals, den einen Abend.«

»Das hab ich mir überlegt, Marie. Ich hatte viel Zeit auf dem Schiff, des Nachts, wenn ich Wache stand. Marie, vielleicht erwische ich Kurt Meier doch noch. Körperverletzung soll heute ein ziemlich billiges Vergnügen sein.«

Sie sah aus dem Fenster in die Dunkelheit und sagte: »Lat man! Dat's min Sak!«

Am frühen Morgen betraten sie die Wohnung Maries. Der Korridor war weniger dunkel als sonst, weil alle Zimmer offenstanden. Zuerst hörte man die eigenen Schritte ungewöhnlich nachhallen; dann bemerkte man, daß alles leer war. Leer ohne jeden Überrest, kein Möbel und kein Mensch, das Kind nicht, aber auch weder sein Bettchen noch eine arme Puppe. So hatte Marie es sich nicht gedacht; ihr wurde schwindlig, Mingo stützte sie.

»Hier ist kein Kind gestohlen«, stellte er fest. »Hier sind alle hinausgesetzt. Das müssen wir erst überlegen und können grade so gut etwas Warmes dabei trinken.« Marie sah dann auch in der Küche nach.

Aus der verschlossenen Kammer dahinter drang ein Seufzer. Bei Licht war es Frau Zahn, aber nüchtern. Sie sagte: »Sehen Sie, daß Gott Sie schickt, Fräulein? Vor dem nächsten Ersten wäre ich hier nicht herausgekommen. Die Holländerinnen haben den Schlüssel umgedreht, grade als ich noch mein Gesangbuch holte. Die Umzugsleute waren mit allem schon fort.«

»Wo ist das Kind!«

»Sie können sich denken, liebes Fräulein, daß die Holländerinnen es gestohlen haben. Die haben auch meine Möbel mitgenommen. Die haben mich vom Wirt exmittieren lassen. Auf mich allein ist es abgesehen! Ich muß noch viel mehr beten!«

Mingo sagte: »Ich glaube nicht, daß jemand Sie stehlen würde.«

Mathilde Zahn, die einst Mann und Kinder gehabt hatte, blinzelte hinauf zu dem offenen Gesicht des jungen Menschen – besann sich und umklammerte den Arm Maries. »Jetzt ist Ihr Kind fort!«

»Wo ist es, Frau Zahn?«

»In einer Villa. Das hab ich an der Tür gehört, als Frau Direktor drinnen war. Die Holländerinnen verhängten immer das Schlüsselloch, aber ich konnte horchen. Wie Frau Direktor fort war, kamen auch schon die Ziehleute – ja, und in dem Gelaufe ist das Kind verschwunden. Wer hat es entführt?«

Frau Zahn erwachte immer mehr zur Wirklichkeit. »Nicht die Holländerinnen, denn die haben mich noch eingesperrt, als alles schon fort war. Die tun das Ganze nur für Geld. Wer ist überhaupt so schlecht?«

»In einer Villa, Frau Zahn?«

»Ja. Aber deshalb muß doch Frau Direktor nicht schlecht sein. Ahnen Sie, Fräulein, wie Frau Direktor zumut ist, wenn sie betet?« fragte Mathilde Zahn mit ihrem abgekämpften Gesicht.

Mingo äußerte: »Mehr wissen Sie nicht? Dann gehen Sie nur wieder zur Kirche!«

»Ich gehe in ein Missionshaus, das ich kenne und wo sie mich arbeiten lassen. Es ist für verwahrloste Kinder.«

Die Portierfrau konnte nur bestätigen, daß die Räumung der Wohnung verfügt worden war. Die Untermieterinnen hatten angegeben, daß sie noch keine neue Bleibe hätten, das Kind aber sei schon vorher ausgezogen mit seiner Mutter. »Auf dem Revier muß man Ihnen Auskunft geben, Fräulein. Dazu ist die Polizei verpflichtet.«

Aber auch dort war nichts bekannt. Der Vorsteher nahm zur Kenntnis: Kindesraub. Allerdings fügte er hinzu: »Wer stiehlt schon Kinder?« Er leitete ein Verhör ein. »Ist das der Vater? Nein? Was machen Sie dann dabei? Na ja, gewiß, die Dame hat das Recht, sich beschützen zu lassen. Helfen Sie ihr nur, bei uns geht das sowieso nicht schnell genug. Hat das Kind wenigstens Flaschenmilch mit? Oder Zwieback?« erkundigte sich der Vorsteher.

Inzwischen brachte sein Untergebener ihm eine Meldung, und erklärte:

»Mit den Möbeln hat es seine Richtigkeit, Fräulein. Die sind beim Auktionator. Erheben Sie Ansprüche? Das Kind hat niemand gesehen. Eine Villa, sagen Sie. Ihre Holländerinnen sind bei uns nicht abgemeldet, die können wir suchen. Wo in Großberlin soll die Wohnung liegen?«

»Schicken Sie zu Rechtsanwalt Bäuerlein!« verlangte Marie, und sie nannte die Wohnung.

»Gleich einen uniformierten Beamten, das haben Sie sich wohl gedacht! Bei bekannten Leuten nimmt die Polizei die gebotenen Rücksichten. Der Herr, der Sie beschützt, ist zwar Seemann, aber zu einem Prominenten wie Bäuerlein fällt er auch nicht in die Tür und sagt ihm, daß er Kinder raubt!«

Der Vorsteher sah dem Paar nach, wie es abzog; dann rief er im Präsidium den Kriminalkommissar Kirsch an.

»Herr Kommissar, das Mädchen von Nummer 74, das Sie beobachten lassen, hat soeben Anzeige erstattet wegen Abganges ihres sechs Monate alten Kindes.«

Die Antwort lautete: »Ich weiß. Die Villa, wohin das Kind verschleppt ist, liegt in Zehlendorf. Sie gehört einer gewissen Adele Fuchs. Ich habe das Nötige schon veranlaßt. Übernehmen Sie die Beobachtung des Hauses, in dem der Rechtsanwalt Bäuerlein wohnt! Sie lassen jeden hinein, auch die Leute, die das Kind bringen werden!«

Als erster indes erschien Mingo bei Bäuerlein. Marie war unten geblieben. Wenn er ihr aus dem Fenster winkte, wollte sie hinaufkommen. Solange das Kind nicht in Sicherheit war, fürchtete sie sich vor dem Wiedersehn mit Vicki.

Das Mädchen Lissie sagte dem schönen Jungen im Arbeitsanzug auf nette Art, daß niemand zu Hause sei. In diesem Augenblick betrat Kurt den Vorraum. Er erkannte Mingo, wollte schnell in die Tür zurück, besann sich und schloß sie laut. »Hier bin ich«, gab er zu. »Nun?« Damit trat er dem andern entgegen und er ihm. Es war ein Anblick für Lissie, sie konnte sich nicht trennen, das Herz schlug ihr erwartungsvoll.

Die beiden hatten einander nicht beim Namen gerufen. Das schien unnötig wie zwischen älteren Bekannten. Sie kamen sofort zur Sache. »Ich will wissen, wo das Kind ist«, verlangte der eine ruhig, aber eindrucksvoll.

Der andere fragte: »Wessen Kind?«

Als Mingo hierauf nicht gleich die Antwort fand, wurde Kurt noch höhnischer. »Deines, mein Junge?«

Dem Seemann färbte sich plötzlich die Stirn unter dem Haaransatz, die weißgebliebene Stelle. Sein Gegner begriff die Gefahr, er wurde ohne Übergang kameradschaftlich. »Mensch, ich bin auch noch da!«

»Marie ist mein Mädchen«, erklärte Mingo.

»Und ihr Kind ist von mir«, stellte Kurt fest. »Na also. Mach man keine Stielaugen! Die Faust kannst du auch wieder ins Futteral stecken! Das Beste ist: wir vertragen uns.«

»Ich will das Kind haben.«

»Ich auch! Aber ich kann es nicht finden. Sonst würde ich damit zu Marie gehen. Hast du mich verstanden? Weil es mein Kind ist«, stieß er hervor.

Mingo sah allerdings, daß dies jetzt ernst war. Wie kam es zum Teufel so schnell? Kurt bebte von seiner Herzensnot wegen des Kindes, damit schüchterte er den anderen ein. Denn der verteidigte nur die Mutter, der Nächstbeteiligte war er nicht. Mingo wird auch niemals so furchtbar erfaßt werden vom Augenblick, um den her alles versinkt. Ob er will oder nicht, er rechnet mit den kommenden fünfzig Jahren und einem vernünftigen Ausgleich der Gefühle und der Tatsachen. Kurt nicht. Kurt ergreift den Arm Mingos; den macht es noch befangener, wie der Junge ihn schüttelt und in ihn dringt – mit einem Gesicht, das zu sehr da ist. Mingo weicht ihm aus. Es ist zu sehr da!

»Paß auf, Mingo! Wir wollen zusammen suchen. Laß den Quatsch, komm mit! Nein! Zuerst spreche ich noch einmal mit Vicki. Das muß ich allein schaukeln. Warte hier!«

Er war fort. Lissie machte sich durch Singen bemerklich, den betretenen Fremden ermunterte sie.

»Von Ihnen hätte ich mir, offen gesagt, mehr versprochen. Konnten Sie dem Jungen nicht eine langen? Das braucht er doch. Wie der angibt! Ist ja kein Wort wahr!«

Mingo stand da und wußte in der Angelegenheit nicht mehr Bescheid. War es Zeit, Marie heraufzuholen? Hauen jedenfalls paßte nicht her, darin irrte das nette Mädchen. Mingo empfand dumpfe alte Erinnerungen an Kurt, und sie stimmten überein mit der gegenwärtigen Lage; einen Badegast rührte man nicht an!

Im dritten Zimmer stritten die Geschwister, aber sie wahrten eine Tonstärke, die nicht nach außen drang.

»Du bist verrückt!« rief die Schwester. »Was geht Marie dich an!«

»Das verstehst du nicht, weil du selbst verrückt bist! Du willst Bäuerlein aufregen, damit fängt es an. Hauptsache: Du selbst kannst es nicht aushalten ohne halsbrecherische Kunststücke, wie? Deshalb muß mein Sohn sich jetzt irgendwo den Hals ausschreien nach seiner Mutter.«

»Dein Kind ist zu gut für sie. Vergiß dich gefälligst nicht! Entweder bleibst du mein Bruder oder wirst mein Feind.«

»Wo ist mein Sohn?«

»Den heb ich dir auf, bis du nicht mehr verrückt bist.« Hierauf blieb dem Bruder nur eins übrig.

»Mingo ist da.«

»Den kann sie behalten, ich habe das Kind.«

Kurt verkrümmte den Mund, aber seine Schwester kannte sowohl dies als auch die wilden Lichter in seinen Augen samt der fahlen Blässe, die nach Mord aussah. Ihr machte es nichts. Sie behielt ihn fest im Auge, ihre schmalen Brauen waren zusammengezogen. Die Haut tiefbraun, kleiner böser Kopf, die Gestalt aufgeschnellt über ihre natürliche Größe hinaus, dünn, wiegend, muskelstark, – und hätte er sie angegriffen, würde sie sich vielleicht am Boden blitzschnell fortgeringelt haben. Ihr Blick bannte ihn indessen auf den Fleck; er verlegte sich sogar darauf, das Gespräch in die gebotenen Grenzen zurückzuführen.

»Du lächelst dir also ein Kind an, Vicki. So verteidigt man nur Junge, die man nicht hat.«

»Es ist meins. Ich hab es geboren. Schluß. Um auch das noch zu sagen: ich hätte mich sonst erschossen.«

Er murmelte zwar: »Du bist verrückt«, rief aber lieber Mingo zu Hilfe, obwohl er von seiner Wirkung nicht sehr überzeugt war. Der Auftritt des Seemannes geschah dann auch etwas verlegen. Er fand nicht gleich die Art zu sprechen mit der Dame, die er nur einen, schon entfernten Abend, überraschend gekannt hatte. Vicki lag auch jetzt wieder ausgebreitet.

»Ach ja, Sie sind Herr – Sowieso. Ich bin überzeugt, daß Sie trotzdem noch immer mit Marie verlobt sind.« Der schnelle Blick bei »trotzdem« war alles; sonst gab es hier nur die Dame.

»Meine Braut schickt mich wegen des Kindes«, brachte Mingo hervor. Das Fenster stand offen, aber mit herabgelassenen Läden. Ob Marie drunten aushält und wartet!

»Fragen Sie meinen Bruder, wo er es hat! Es ist sein Kind. Marie ist seine Braut. Der einzige waren Sie nie, wie Sie wissen. Sie sind auch etwas langsam mit dem Heiraten. Bei Kurt ist der Entschluß jetzt gefaßt. Das bleibt für ein Mädchen die Hauptsache. Auf Wiedersehen. Grüßen Sie mein liebes Warmsdorf!«

Mingo war eigentlich schon gegangen. Er stand nur noch da, wie von sich selbst verlassen. Er hörte die Dame weitersprechen.

»Kurt geht von hier zu der schönen großen Person, von der er das Kind hat. Besucht sie doch beide! Ich brauche hier niemand. Sagt eurer Braut: das einzige, wovor sie sich hüten muß, ist, herzukommen!«

Ihr Bruder fühlte das tiefe, schwere Unglück laut werden in ihrer kalten Stimme. Er war in der Welt der einzige, der es unterscheiden konnte, – mit einem Ruck zog er Mingo aus dem Zimmer.

Als sie im Vorraum erschienen, brach Lissie, die am Telefon sprach, ihren Satz ab. Die Wohnungstür fiel hinter ihnen zu. Von drinnen wurde geklingelt.

»Bleiben Sie am Apparat«, sagte Lissie. »Ich soll zu ihr hineingehen.«

Einen Augenblick später kehrte sie zurück und meldete ihrem Chef: »Jetzt ist sie erledigt. Ich soll den Schrankkoffer packen. Zuerst soll ich anrufen.« Sie nannte die Nummer. »Ich soll sagen, daß alles bereit sein muß. Das Kind natürlich. Den Arzt herbestellen, sagen Sie? Gut, den Arzt. Wir werden sie festhalten, bis Ihre Sitzung zu Ende ist, sehr wohl. Kann sie lange dauern?« fragte Lissie.

Wieder klingelte es aus dem Zimmer. »Schalten Sie doch um!« rief Vicki.

Sie lag auf ihrer Couch und sprach in die Muschel. »Frau Fuchs! Fahren Sie sofort nach Ihrem Lokal! Kurt und Mingo sind unterwegs zu Ihnen. Sie wissen, wer Mingo ist? Wenn Marie mit ihm und dem Kind abzieht, geht mein armer Bruder hops. Sie hören richtig. Er will von Ihnen nichts mehr wissen. Von mir auch nicht, er hat die Nerven verloren, er liebt das Kind und die Mutter.

Frau Fuchs!« rief sie mehrmals, bis sie die andere zum Schweigen gebracht hatte. »Wollen Sie Kurt los sein? Nein. Dann müssen Sie in der Sache weitergehn. Sie haben nun mal persönlich das Kind gestohlen, als die Wohnung geräumt wurde. Sie haben es in Ihre Villa gebracht, damit Kurt Sie nicht verläßt. Ja, das glaub ich auch, daß Kirsch die Villa kennt. Lassen Sie doch Ihr irrsinniges Geschrei, klar, daß Sie mit der Polizei nicht zu tun bekommen wollen. Ich auch nicht. Darum verschwinde ich mit dem Kind, und Sie bekümmern sich um Kurt!«

Hier trat in das Zimmer Vickis eine große, männlich gebaute Pflegerin. Vicki starrte ihr entgegen und ließ den Hörer fallen.

Kurt nahm auf der Straße den Arm Mingos. »Endlich wird mir klar, wer in der Sache drin ist. Sie heißt Adele, und wenn etwas mit ihr nicht stimmt, finden wir sie nicht zu Hause – sondern in ihrer Bar«, schloß er infolge einer Erleuchtung.

»Wo ist Marie geblieben?« fragte Mingo. »Sie wollte warten.«

»Mach dir bloß keine Sorge um Marie! Ich muß mal schnell hier hineingehn.«

Damit betrat Kurt ein Wettbüro. Er dachte an alles. Marie, das Kind – und meinetwegen fertig mit Adele! Kein Testament mehr, nichts erben, sondern selbständig und sozialer Aufschwung! Jetzt oder nie, heute schiebe ich den Sieger rein!

Vorn lagen große weiße Läden vor Tür und Fenstern; die beiden Jungen drangen vom Hof her in die leere Bar und fanden Adele einsam über Rechnungen geneigt. Als sie die Tür gehen hörte, hatte sie den Spiegel weggesteckt. Ihr Gesicht blendete wie am Abend, übrigens war das Lokal beleuchtet trotz seiner Verlassenheit, und Adele stellte die reife Verführung dar. Mingo, der nicht wußte, wozu er hier war, konnte sie nur würdigen mit seinen Blicken. Die ihren wurden vielversprechend, wie für einen großen Kunden.

»Ich sehe Ihnen etwas an, Seemann«, sagte sie im Ton ihrer Darbietungen, wenn sie um das Publikum bemüht war. Mingo empfand es als Verlegenheit, so begierig er auch war, zu erfahren, was eine solche Frau ihm ansah.

»Sie möchten etwas essen!« erklärte Adele, und in gewisser Hinsicht enttäuschte es Mingo. Andererseits bemerkte er plötzlich, daß er heute noch nichts im Leib hatte, nicht einmal den Frühstückskaffee, und es war Nachmittag geworden. Auf einmal erfaßte ihn Hunger und sonst nichts. All sein Wille ging im Hunger auf. Sein Kapitän hatte ihn einst den ganzen Tag fasten lassen zur Strafe, das fing schon wieder an! Entrückt waren Marie und das berühmte Kind, er sah nicht mehr Kurt und kaum die blitzenden Hände Adeles, die ihm kalte Speisen hinstellten und Wein einschenkten.

Mingo schlang, mit Mühe brachte er hervor: »Du hast ja selbst gesagt, Meier, ich soll mir um Marie keine Sorge machen.«

»Laß dir ruhig Zeit«, warf Kurt hin und tauschte ein Lächeln mit Adele. Über den Seemann, wie sie ihn nannten, verständigten die beiden sich leicht, bei sonst abweichenden Meinungen. Adele gab ihm ein zweites Glas in die Hand, sie nötigte ihn, es auf einmal hinunterzuschlucken, und strich ihm dabei das blonde Haar. »Der verträgt etwas«, sagte sie bewundernd, indes sie aber prüfte, wie sehr die allzu jähen Genüsse der Ernährung das Gesicht des Menschen veränderten.

Kurt stieß sie an. »Jetzt mal wir beide!«

»Ich weiß schon«, sagte sie und schien sofort weinen zu wollen – stellte aber doch vor den Essenden eine neue, volle Flasche. Dann ging sie mit Kurt nach hinten. Sie legte ihm ohne weiteres ihre noch immer schönen Arme um den Hals. »In den Armen hast du gelegen«, flüsterte sie heiß. »Willst du mich wirklich verraten?«

»Gib das Kind heraus, und ich bleibe bei dir.« Er rührte sich nicht, sie war es, die zurückwich.

»Welches Kind? Woher soll ich das Kind haben? Hier muß jemand wahnsinnig sein. Ich habe meine Konzession zu verlieren, und soll mich einlassen auf Kindesentführung? Sage bloß noch: Erpressung!«

»So ist es. Du denkst, daß du mich hast, wenn du das Kind hast.«

»Wenn ich es hätte, dann bleibst du bei mir?« Sie wartete angstvoll. Die Hoffnung auf ihrem Gesicht ging stufenweise in Unglauben über, er tat dagegen nichts. Dann versuchte sie, anzugreifen.

»Weißt du, was die Polizei sagt? Daß du es entführt hast! Schließlich bist du der Vater.«

»Das sagt Kirsch?«

»Frag ihn selbst! Geh hin! Wenn du auch nur eine Kleinigkeit Kavalier bist, deckst du mich und lenkst den ganzen Verdacht auf dich.«

Er sah die Falle. »Ich soll mich mit Kirsch einlassen? Dann bekomme ich unbedingt Schwierigkeiten.«

»Was für welche? Behält er dich auf dem Präsidium?«

Er schwieg mit feindlichen Augen. Darauf wurde auch Adele drohend anzusehn.

»Das Ganze ist nur, daß du mit Marie und dem Kind türmen willst, und das kannst du dann nicht. Er verschärft die Aufsicht.«

»Unter Kirsch seiner Aufsicht soll ich stehen?«

»Und unter meiner! Verstanden? Ich habe genug Beweise gegen dich, Süßer. So ist es richtig mit uns. Dich hab ich gefunden. Mein Süßer muß auf meine Gnade angewiesen sein!« Sie schnob, sie funkelte, Adele fiel aus aller Gehaltenheit unvermittelt zurück in den wilden Zustand ihrer frühen Zeit, als Schwander noch Hunde verkaufte. Damit endlich wirkte sie auf Kurt, trotz den ausgeweiteten Hüften, auf die sie die weißen Fäuste stemmte, trotz ihrem geschwellten Bauch. Das lag ihm, in diesem Augenblick fand er es stärker als die Kraft Maries und die Leidenschaft seiner Schwester.

Er kam gehorsam heran, um sich nehmen und küssen zu lassen, wie es zwischen ihnen üblich war. Leider befand sie sich zu sehr in der Fahrt – stieß ihn vor die Brust und verwendete eine übertrieben klare Stimme.

»Der Junge wird enterbt und abgebaut. Schon gemacht. Du fliegst, da draußen sitzt dein Nachfolger!«

Er lachte, nur weil sie ihm gefiel. Plötzlich begriff er den Sinn ihrer so ausdrucksvollen Rede. »Sag das noch mal!« verlangte er.

Sie sah ihm an, daß sie zu weit gegangen war, und wollte auf einmal nur gescherzt haben. Sie streckte die Hand um die Ecke. »Den soll ich ernst nehmen? Der arme verfressene Kuhbauer! Meinst du vielleicht, daß so einer auch nur als Mann gut ist? Ihr glaubt, wegen der Schultern, aber das verstehen wir Frauen besser. Ein Mann muß nervös sein, wie mein Süßer.«

Jetzt waren sie ineinandergeschlungen und erstiegen Fuß an Fuß die fünfzehn Stufen, die am Abend das Ballett hinabschwebte. Sie bekümmerten sich nicht um Mingo, ihn beschäftigte noch immer ein großer Schinken, und gleichzeitig beunruhigten ihn die vielen Flaschen hinter dem Büfett.

Sie gingen an den Toiletten vorbei in das Umkleidezimmer. Es hatte eine besonders dicke Tür mit Schloß und Riegel innen und außen; Adele konnte hier schreien. Sie liebte in der Liebe vor allem das Geschrei und einen Tisch, über den sie geworfen werden wollte. »Du bist mein Mann!« schrie sie, tief atmend in dieser Luft, die nach dem entkleideten Ballett roch.

Kurt dachte seit zehn Minuten über alles anders. Enterbt werden und sogar zugunsten Mingos, das hatte er im Ernst nicht vorgesehen. Man redete mit sich selbst, was man wollte, aber es durfte nicht wahr werden! Marie und das Kind, selbständig und sozialer Aufstieg – ja, genau das, aber alles nur mit der Bar, wie denn sonst? Das Testament! Die Bar! Etwas anderes ließ er nicht zu, endgültig wurde er sich klar über sich selbst. Das vergißt man nachher für längere Zeit, – hier und jetzt wußte Kurt sich zu allem fähig, damit die Frage ihre restlose Lösung fand. Er stieß Adele gegen den Tisch, und diesmal schrie sie vor Schmerz auf. Das vergessene Myom!

»Warum tust du das?« fragte sie nicht ohne Angst vor seinem verzerrten Gesicht.

»Weil ich dir nicht traue!«

Sie traute ihm ebensowenig, aber sie verschwieg es. Da ist er, noch besitzt sie den geliebten Jungen, er erschreckt sie noch, liebt sie noch, während die Angst ihrer Eingeweide schon anwächst zwischen ihr und dem Leben, und der Tod schon ihren Leib hat. Da ist er, aber gleich nach dieser unwiederbringlichen Minute kann er fortgehen und sie dem Kommissar verraten, sie ausliefern, sie aufgeben!

Adele legte, rückwärts schleichend, den Finger auf die Lippen, um ihn zu täuschen, damit er still hielt, ihr nur nicht in den Weg trat. Glücklich brachte sie die Tür hinter sich, die war schwer, sie schlug sie zu, schloß ab, riegelte ab. Mein süßer Junge mag nur dagegen trommeln in der leeren Bar. Der Besoffene unten ist mir sowieso ausgeliefert.

Mingo ging im Lokal umher wie ein Wachtposten. »Wann kommt denn Meier endlich mit Marie?« fragte er.

»Mit Marie? Natürlich, Ihr Freund ist fortgegangen und bringt sie mit. Sie können bei mir hinterlassen, wohin Sie gehen.«

»Werfen Sie mich hinaus, A-Adele?«

»So heiße ich. Sie können auch hierbleiben, aber was sagt Marie dazu? Ein besonders treuer Mensch sind Sie, glaube ich, nicht, M-Mingo.«

»Das ist mein Name. Mit Marie ist das eine ganz alte Sache, geht auch nie auseinander, kann dazwischenkommen, was will. Gestern, wie wir uns wiedersahen nach meiner großen Reise, hat sie überhaupt nicht gefragt, was ich drüben in den Häfen gemacht habe. Die Geschichte mit Viktoria Meier kann sie auch nicht so ernst genommen haben, denn heute schickt sie mich zu ihr hinauf, ich soll nach dem Kind fragen. Sagen Sie, das Haus wird wohl abgebrochen?« bemerkte er, wegen der dumpfen Schläge, die er hörte.

»Es sind nur Arbeiter droben in den Toiletten, sie waren unbenutzbar geworden.«

»In Ihrem Lokal wird man schnell warm.« Er hatte das Gefühl, daß er seinen Zustand entschuldigen mußte.

»Und bei mir?«

»Bei Ihnen!« Er wollte zugreifen.

Sie wich aus und rief: »Seemann, ich singe ein Lied, die Seemannsbraut, für Sie ganz allein, das kann nicht jeder sagen.« An der Hand nahm sie ihn zum Klavier mit, diese Seite war der Treppe entgegengesetzt. Die Schläge des eingesperrten Kurt wurden zu laut; Adele hielt es für geboten, sie zu übertönen.

Sie spielte donnernd und sang mit ihrer größten Stimme. Mingo bedeckte halb liegend ein kleines Sofa. So fand Marie die beiden, als sie eintrat. Adele rief »Zweiter Vers!«, obwohl sie ihn schon beendet hatte. Wenn sie aufhörte, merkte Marie, was los war! Dennoch konnte das Lied nicht unbegrenzt wiederholt werden, sie brach mitten drin ab. Stille. Nichts. Kurt hatte sich beruhigt, Adele wunderte sich. Hierauf kamen ihr die schlimmsten Befürchtungen. Um so gelassener zeigte sie auf ihren Gast.

»Dein Freund ist betütelt, aber es ist deine Schuld, Marie. Erst kriegt er den ganzen Tag nichts zu essen, dann schickst du ihn zu Vicki, die hat ihm auch nur die Hand gegeben, und dann zu mir.«

»Ich soll ihn zu Ihnen geschickt haben, Frau Fuchs?«

»Mit Kurt. Die beiden Jungen suchten hier nach deinem Kind. Wo sollte es denn sonst auch sein, als in meinem Saufladen. Wahrscheinlich oben!« rief sie. »Sehen wir mal nach?«

Sie hatte die größte Lust, sich zu vergewissern, daß ihre Befürchtung richtig und das Umkleidezimmer leer war. Kurt klettert über die Feuerleiter! Ist er wenigstens zu ihr hingelangt, ohne sich den Hals zu brechen? Von dem Fenster liegt sie zwei Meter entfernt. Sogleich kann der Portier erscheinen und ihr melden, daß Kurt im Hof gefallen ist und nicht hochkommt. Oder Kurt selbst steht in der Tür, und in seiner Hemmungslosigkeit packt er aus. Nein! Wir schließen uns oben ein!

»Kommt beide mit rauf!« verlangte sie.

»Lassen Sie den Unsinn, Frau Fuchs! Bei Ihnen sucht niemand das Kind. Was Sie alles wissen – ist eine andere Frage«, sagte Marie vergrämt und bleich.

Mingo stand vom Sofa auf, er war fast ernüchtert. schwieg, sie fing an, zu ermessen, was eigentlich geschah, wie tief dies hineinführte in die Menschen, die Schicksale, in das Herz Maries. Für sie war allein wichtig gewesen, was aus ihrem Jungen wurde. Wohin aber lief jetzt der Süße, dem zuliebe sie alles hingab, alles wagte? Er war nicht von der Feuerleiter gestürzt, auch platzte er nicht ins Lokal. So ist er denn unterwegs zu Kirsch und verpfeift mich. Ich kenne doch den üblen Sege und seine Rachsucht! Ich bin wahrhaftig gewarnt, wenn mir was zustößt.

»Marie!« begann sie. »So geht es nicht weiter!« Sie schluckte und war bereit, die Villa in Zehlendorf zu nennen. Es wurde ihr doch schwer. Erstens hatte sie die Villa nicht einmal in ihrem Testament erwähnt, man muß für alle Fälle einen geheimen Rückhalt haben. Diese Hamburgerin aber war die Frau, für die Kurt es fertigbrachte, sie zu verlassen, hätte er nur ihr Erbe. Die haßt mich doch! Die will mich ausziehen, für die gehör ich zu den Toten. Sie soll was erleben!

Marie mochte vergrämt und bleich sein, Adele war jetzt glücklich wieder kalt dafür – anders als Mingo. Der stand und hielt den Kopf gesenkt.

»Laß uns man fortgehn, mine Marie. Hier ist nichts zu holen.«

»Außer Essen und Trinken für sechzehn Mark«, warf Adele dazwischen.

»Sie sollen dir nichts tun, Marie.«

»Wo ist Kurt hin?« fragte sie. Anstatt seiner antwortete Adele.

»Aufs Präsidium vermutlich. Mich wundert nur, daß du nicht auch dort bist. Solltest du ihm aber bei Kirsch noch begegnen, dann sag ihm bloß: er hat recht, daß er mir nicht traut. Er weiß, was das heißt.« Sie wendete sich ab, ihr Herzenswunsch war, daß sie gar nicht mehr dazu gehören möge.

Leider erlaubte Marie ihr nicht, zu vergessen, was sie getan hatte.

»Wissen Sie noch, wie Sie mich in Ihr Geschäft geholt haben, Frau Fuchs? Das taten Sie, weil Sie mich fürchteten wegen Kurt – und auch um des großen blauen Steines willen. Sie haben nie geglaubt, daß ich ihn wirklich gehabt hätte. Sie machten gemeinsame Sache mit Vicki. Daher wäre es nichts Neues, wenn Sie es auch jetzt tun. Sie wissen, wo mein Kind ist!«

Ihr antwortete ein Schrei. Adele hob sogar die Hände, so nahe erschien ihr ein gewalttätiger Überfall der großen Hamburgerin. Erst nach vergeblichem Warten begriff sie: dies war nur der Gram auf seiner Höhe. Da sieht er aus wie – ein Erzengel, entdeckte Adele.

Obwohl sie sich ihrer überreizten Nerven bewußt war, verriet sie jetzt doch, nur um zu reden, was besser verschwiegen geblieben wäre. »Na also, willst du erben? Du und dein Mingo? Dann wirst du mir ja wohl glauben, daß Adele Fuchs nicht gegen dich arbeitet. Sie setzt euch hier in das schöne Geschäft, ihr beide seid gemacht. Fragt Kurt! Der ist schon im Bilde, daß er enterbt wird, und grade deshalb traut er mir nicht. Jetzt sitzt er bei Kirsch. Lauf auch hin! Aber erzähl ihm gefälligst, daß du dein Kind schon wieder hast. Was gehn ihn unsere Geschichten an!« schrie sie verzweifelt.

Mingo allein konnte ein Ende machen. Er war ganz nüchtern geworden. Mit Macht zog er Marie von dieser Stätte fort.

Auf der Straße, schon ein Stück weiter, fragte er: »Ist die Frau verrückt?«

Sie sprach nicht, aber ihr fiel ein, daß auch sie hier anfangs alle für gestört gehalten hatte. Das änderte nicht, daß man sich wehren und daß man leben oder sterben mußte!

»Wo warst du die ganze Zeit?« fragte Mingo.

Wo überall war Marie gewesen! Einige Male im Polizeipräsidium, immer ohne Kirsch anzutreffen, und dazwischen wieder vor dem Hause Vickis. Auch diesmal ging sie nicht hinauf, aus Furcht vor sich selbst. Sie versteckte sich, wie am Morgen, in dem Torbogen gegenüber. Am Morgen hatte sie von dort gesehen, daß Kurt und Mingo zusammen davongingen – Arm in Arm, das sagte ihr viel. Das Kind war nicht droben, oder beide ließen es im Stich. Sie fühlte das Entsetzen um sie her aufsteigen und tat keinen Schritt, die beiden verschwanden.

Als sie am Nachmittag unter dem Torbogen wartete, betrat eine Pflegerin das Haus. Marie stürzte sich zwischen die Autos, sie holte die Frau ein. »Sie gehen zu einem Kind!«

»Was heißt Kind!«

»Bei Bäuerleins, zwei Treppen.«

»Richtig, Fräulein. Von einem Kind ist nichts angesagt. Wieso interessiert es Sie?«

»Sie lügen! Dort ist ein Kind. Sie wollen das Kind holen!«

»Werden Sie nur nicht drollig! Die Dame hat einen Anfall. Ihnen kann das wohl sicher gleich sein.« Die Pflegerin machte sich los. Marie zwang sich, noch eine ganze Stunde aufzupassen. Dann fuhr sie nach der Wohnung Adeles, und als ihr nicht geöffnet wurde, in die Bar.

Sie fragte Mingo nach der Uhr, blieb stehen und ließ eine Taxe herankommen. Es war Zeit; endlich sollte sie Kirsch zu Hause finden.

Er wohnte in Steglitz, hatte grade gegessen und rauchte seine Pfeife. Er saß breitbeinig auf seinem grünen Sofa, wegen der beiden jungen Leute erhob er sich nicht. Das kleine Zimmer mit dem ausgestopften Reh, dem einzigen Goldfisch, den Deckchen machte ihn massiger als je. Zuviel Kraft für den Hausgebrauch, – man faßte erst etwas Mut, da seine kleine Frau den Tisch abräumte. Denn sie hatte vorspringende, hochrote Bäckchen, die Form ihres Gesichtes bewog sie, meistens zu lächeln, und sie trug noch immer ihren Dutt.

Sie hatte für ihren Alten gekocht und ihn selbst bedient, obwohl er ihr ein Mädchen hielt. Sie war so froh, wenn er richtig dasaß und aß, es kam nicht alle Tage vor. Dieser Dienst ohne feste Stunden, aber mit unvorhergesehenen Reisen und mit Gefahren! Der Mann muß hinaus, die Pflicht ruft, und so ist das Leben. Gut, daß eine Frau dies alles weiß, sonst dächte sie häufiger daran, wie leicht er ihr mit einer Kugel im Leib zurückgebracht werden könnte. So erwartet sie ihn, aufs Ungewisse aber vertrauensvoll, in ihrer friedlichen Vorstadtstraße, wo anständige Arbeiter wohnen.

Er gab ihr mit seinem mächtigen Kopf einen ganz leisen Wink, sie folgte sofort und ging hinaus. Von der Tür her prüfte sie nochmals die Besucher. Zu den verdächtigsten schienen sie nicht zu gehören, aber warum verschleppten sie hierher in das Heim ihre schlimmen und wilden Sachen!

Die beiden standen vor ihm, Kirsch betrachtete sie schweigend und blies sich dabei den Rauch vor das Gesicht. Seine Hand am Pfeifenkopf war weder schwer noch fleischig, kein Beefsteak, eher etwas zu leicht, mit empfindlichen Gliedern. Marie bemerkte, daß sie dort lag, als ob sie nachdächte. Außerdem fiel ihr auf, daß sie mit Kirsch noch nie gesprochen hatte. Er war ihr jedesmal nähergerückt, jetzt stand sie vor ihm und konnte nicht länger warten. »Herr Kirsch! Herr Kirsch! Mein Kind ist fort! Ich habe Angst! Vielleicht hat jemand es beseitigt!« Das letzte kam in einem Aufschrei, vielleicht in einem Schluchzen, – und dann war es wieder still.

Mingo erbebte bis in die Füße, aber dies erst nachträglich, als schon alles schwieg, wie das Reh und der Goldfisch.

Kirsch fragte: »Wer hat es beseitigt?«

Für Marie antwortete Mingo, empört und heftig. »Das kann nur Viktoria Meier sein!«

»Woher kennen Sie die?«

»Ich bin der Jugendfreund Maries. Als Kinder spielten wir schon mit Meiers.«

»Das Spiel geht weiter«, sagte Kirsch. »Wann trafen Sie wieder mit Frau Bäuerlein zusammen?«

»Vor dreizehn Monaten.«

»Marie, wie alt ist Ihr Kind?«

»Sechs Monate. Es ist ein Siebenmonatekind.«

»Sechs und sieben gleich dreizehn. So war das.«

»Wie war das?« fragte Marie leise aus tiefer Angst. Mingo wendete sich ab, und Kirsch zeigte es Marie, indem er den Kopf neigte; nichts weiter. Dann sagte er plötzlich du.

»Du bist von der Waterkant, ich auch. Das war Nummer eins, das Kind, das hast du bekommen, weil die andere es wollte. Als Bezahlung hat sie dir damals den großen blauen Stein gegeben!« schoß er ab, die Stimme war nicht wiederzuerkennen, auf einmal Mittellage statt hoch, und erstaunlich gemein.

»Nein«, sagte Marie hart, denn in diesem Augenblick beschloß sie, mit Vicki zu sprechen. »Den Stein hab ich nie gehabt.« Mingo rief entflammt:

»Wie können Sie behaupten, daß meine Braut eine Diebin ist! Marie hat niemals gestohlen.«

Kirsch und Marie sahen einander an. Ihre erregten, flehenden Augen, sein undurchdringliches Gesicht, – Mingo wich zurück, soweit das enge Zimmer es erlaubte.

»Nach deinem Selbstmordversuch bist du in den ›Harem‹ eingetreten.« Mingo, es hören und gegen die Wand fallen.

»Ich mußte verdienen für das Kind, und im ›Harem‹ war es anständiger.«

»Schön, Marie. Das geht alles noch.« Plötzlich wieder die gemeine Stimme: »Aber dann hast du an Adele eine Erpressung verübt. Du hast sie gezwungen, ihr Testament zu machen. Stimmt das? Zugunsten des Vaters deines Kindes, stimmt das?«

Mingo wartete mit umnebelten Sinnen, die Antwort Maries mußte ewig ausbleiben, das hoffte er.

»Ja. Es stimmt«, sagte Marie. Kirsch berichtigte.

»Es stimmt, wenn Adele es mir erzählt. Was du mir zu sagen hättest, sieht wieder anders aus.« Er sah sie schwanken, neigte sich schnell vor und schob ihr einen Stuhl hin. »Setz dich!«

Er blieb vorgeneigt. »Jetzt bedenke mal, wieviel du in deinem Leben schon gemacht hast, was nicht sein sollte, – und dann beklag dich über andere! Du meinst wohl, daß Adele bei der Kindesentführung mit drin ist. Nun, dann rächt sie sich.«

»Die nicht! Die liebt Kurt und will ihn behalten, das kann sie nur, wenn ich das Kind nicht habe. Aber Vicki rächt sich an mir!«

»Wofür?«

Hier verstummte Marie. Sie hatte nie gewußt, wofür Vicki sich das ganze Leben lang an ihr rächte.

Kirsch bediente sich einer Stimme, die sie aufweckte – hoch und scharf.

»Jetzt wird es Zeit, daß du auf dich aufpaßt. Tag und Nacht, verstehst du?« Es hatte einen Ton, als ob er die Gefahr in allen Einzelheiten kannte; daher erschrak sie, und ihr fiel ein: ›Marie, es liegt Verdruß zum Haus in der Morgenstunde! Wer hatte es ihr vorhergesagt? Aber es sei noch weit.‹ Jetzt sprach Kirsch, als wäre es nahe.

»Morgens zwischen vier und fünf?« fragte sie verwirrt. Kirsch antwortete bereitwillig.

»Nicht nur zwischen vier und fünf. Immer. Verstehst du? Sonst sackst du tiefer ein. In der See tritt man auch mal auf eine Stelle, da sackt man ein – hat keine Zeit mehr, hochzukommen und wegzuschwimmen. Du mußt von Kurt fort!« Dies schoß er als Drohung ab. Dann merkwürdig schonend:

»Das Kind haben wir schon.«

Marie sprang auf. »Wo ist es!«

»Langsam! Es ist da und ist gesund! Wir haben eine Pflegerin zu ihm geschickt. Die beiden Holländerinnen sind weggeholt und aufs Revier gebracht. Vicki bekommt es nicht.«

»Aber ich! Aber ich!«

»Du auch noch nicht. Wofür ist Bäuerlein Rechtsanwalt! Er hat gegen dich etwas vorgebracht.«

»Mein Kind – ich – mein Kind«, stammelte Marie. Sie fuhr auf. »Verhaften Sie Vicki!«

»Oder dich«, sagte er grob. »Dann passiert bestimmt nichts mehr. Außerdem kann ich an dich leichter ran. Den gesetzlichen Grund finde ich wohl. Wenn ich ihn aber bei Vicki Bäuerlein auch hätte –« Er brach ab. Plötzlich: »Mach, daß du fortkommst aus Berlin und von Kurt Meier!«

»Nicht ohne mein Kind!« stellte sie fest, entschlossen und kalt.

Er hob seine schweren Schultern und zündete die Pfeife wieder an. Mingo trat neben Marie, er verlangte heiser: »Jawohl. Komm fort!«

»Nicht ohne mein Kind«, wiederholte sie. »Herr Kirsch, was glauben Sie, daß Kurt noch anstellt?«

Er sah zu ihr auf und nickte. Es hieß: deine Frage genügt mir. Undeutlich, weil er an seiner Pfeife zog, brachte er hervor: »So'n Halbseidener, das sind oft die Gefährlichsten!«

Ohne weiteres stand er auf, öffnete die Tür: »Guten Abend!« und ließ die beiden hinaus.

Er verfolgte sie noch vom Fenster her über die Straße. ›Schon zu tief drin! Wenn das nicht ein Jammer ist! Die gesunde Deern, der Prachtjunge. Er! Wird achtzig Jahre. Das möchte ich auch von ihr wissen.‹

Das Weitere dachte Kirsch genau in der Mitte seines kleinen Zimmers. Die großen, unschönen Rosensträuße der Tapete mußten seine Körpermasse alle gleich nah umgeben, während Kriminalkommissar Kirsch das Ergebnis seiner Untersuchung zog.

Der Einbruch war wegen Vicki. Der große blaue Stein – für Vicki. Die Sache mit ihrem Bruder und Marie – hat sie gemacht. Sie hat es mit Adele geschoben, daß Marie in den »Harem« kam. Sie steckt hinter dem Raub des Kindes. Die Fuchs mit der ewigen Angst um ihre Konzession, da war eine stärker und hat sie zu Dummheiten verleitet. Der guten Adele traute ich tagelang zu, daß sie ihren Mann vergiftet hätte. In den Tagen hatte die andere den großen blauen Stein noch, und ich trug bei mir den Haftbefehl gegen sie. Aber der Stein! Er und die Frau glitten mir zwischen den Fingern durch.

Wäre es auch richtig gewesen, sie zu verhaften? Ihr Bruder war ihr hörig, und solange blieb es bei Kleinigkeiten. Jetzt sind sie auseinander, gleich geht Vicki so weit, das Kind zu stehlen vermittels Adele, und Kurt wird nach aller menschlichen Voraussicht nochmal –

Laut sprach er: »Psychologie ist ausgeschlossen. Tatsachen!«

Er trat an das hohe Pult, das ihm zum Schreiben diente, nahm den Hörer vom Telefon und sagte dem, der sich meldete: »Von jetzt ab wird der ›Harem‹ ständig beobachtet – außen und innen! Achtet besonders auf den Freund der Inhaberin. Jeder der Leute soll ihn sich ansehn, damit er ihn jederzeit fassen kann.« Er legte den Hörer hin.

Er dachte noch: ›Beweise! Ja – wenn es geschehen ist. Aber vorher? Das wächst und wächst. Ein Verbrechen ist kein Verbrechen, es ist die Endsumme von Bagatellsachen. Der Verbrecher ist auch nur ein Fazit – aus Vicki, Kurt, Marie, Mingo, Bäuerlein und Adele. Einer begeht es dann.‹

Er hob den Deckel vom Pult, auf der Innenseite prangte ein Stück Pappe verziert mit Rosensträußen. Die Mitte war in Rundschrift sorgfältig bemalt, und Kirsch las aufmerksam.

»Der Kriminalist muß den Täter der Bestrafung zuführen, weil er nicht fähig gewesen ist, die Tat zu verhindern.«

Das letzte war unterstrichen. Kirsch starrte darauf und seufzte. Mit Erleichterung hörte er draußen klingeln.

Seine arme Frau empfing im Gegenteil mit wirklicher Sorge den neuen Besucher, so bleich und hemmungslos erschien ihr der junge Mensch, dem die Augen aus dem Kopf standen. Sie fürchtete keinen starken Mann, Muskeln hatte auch Kirsch. Etwas anderes war es, ob dieser verwahrloste Schwächling ihn ansprang und ihn in den Hals biß. Sie hatte in einem verrenkten Mund spitze Zähne bemerkt. Das Mädchen schloß die Tür des Zimmers hinter Kurt. Frau Kirsch öffnete sie wieder und stand Wache an dem Spalt.

Kurt rief dem Kommissar entgegen:

»Wollen Sie wissen, Herr Kirsch, wer das Kind Maries entführt hat? Ich weiß es: Adele. Ich schone niemand mehr. Mich hat sie eingeschlossen; ich bin mit Lebensgefahr über die Dächer geflohen, Sie können selbst den Zustand meiner Bekleidung feststellen. Schützen Sie mich gefälligst!«

»Wo ist Marie?« fragte Kirsch.

»Fort mit dem Kind! Das ist doch klar, da Adele mich einsperrt. Sie hat ihr das Kind ausgehändigt und fort, nur damit sie mich behält. Sie ist ihrer Alterserotik total verfallen, vor nichts schreckt sie zurück, ich bin ihr Opfer. Mich loszureißen von meinem Kind und von Marie!«

»Ruhe, mein Junge!« befahl Kirsch. Der Anfall Kurts ging weiter, die Wut, das Keuchen, die Arme, die er um sich stieß. »Adele soll sich hüten!« schrie er atemlos. »Marie ist die Stärkere!« Kirsch fragte:

»Wer erbt, wenn Adele stirbt?«

Darauf trat Stille ein, nur daß Kurt vor Schreck auf einen Stuhl fiel. Der stand noch dort, wo Marie ihn gelassen hatte. Bleich, die Augen irr vor Haß, sagte Kurt:

»Sie wollen etwas unterstellen. Bekümmern Sie sich lieber um das gestohlene Kind!«

»Sieh mich mal an!« befahl Kirsch, und als er die Augen des Jungen in den seinen hatte: »So. Also, wer beerbt Adele?«

»Ich. Aber dann darf ich nichts mit Marie haben!« setzte er schnell hinzu.

»Und wer hat das Kind gestohlen?«

»Herr Kirsch –!« Ihm blieb wirklich die Stimme weg.

»Dann sag ich es dir. Derselbe, der den großen blauen Stein geklaut hat.«

»Das war anders!«

»Für mich nicht. Der große blaue Stein, das Kind, das Testament Adeles, lauter Tatsachen, und keine hat einen Sinn ohne die andern.«

»Das Kind hab ich nicht, – wenn Vicki es nicht hat.« Dies kam zögernd.

»Siehst du, daß du Bescheid weißt. Was du nicht für deine Schwester anstellst, das macht ihr gegeneinander. Sie entführt dir das Kind, damit du ihr nicht durchgehen kannst mit Marie – und mit dem Geld Adeles.«

Hier sank Kurt zusammen, und Schluchzen schüttelte seine Schultern.

»Ich bin ganz verlassen«, brachte er hervor. Langes Schluchzen. »Wer liebt mich? Vicki haßt nur noch Marie. So verlassen war ich in Warmsdorf nicht. Wäre ich dort geblieben!«

»Hände weg von Marie! Sonst rutschst du weiter ab. Einem Jungen wie du bringt sie Unglück.«

»Meinen Sie das im Ernst?« fragte Kurt, er schielte abergläubisch hinauf.

»Der alten Frau soll ich meine Jugend opfern? Meine einmalige Jugend! Mich ausbeuten lassen von Adele? Herr Kirsch!« Er klagte. Er hatte niemand als diesen großen, strengen Vormund. Der aber betrachtete ihn verdrossen.

»Laß mal gefälligst Adele in ihrem ›Harem‹. Du bist nicht der rechte Mann für den Laden.«

»Adele nicht, und auch nicht Marie!« Kurt sprang auf, er kreischte. »Ich weigere mich, Herr Kirsch!«

»Natürlich weigerst du dich.« Jetzt wollte Kirsch bestimmt nicht hart sein, eher freundlich und pflichterfüllt, bewußt einer freundlichen Pflicht, – nur daß die Decke von Verdrossenheit sogleich wieder über sein Gesicht fiel.

»Du hast bei beiden nichts zu suchen, mein Sohn. Bei Adele nicht, bei Marie nicht. Aber von der einen kommst du nicht los wegen des Geldes, von der anderen wegen des Kindes. Alles zusammen kannst du nur schaffen«, – plötzlich Mittellage, grob und gewöhnlich: »wenn du ein richtiges Verbrechen begehst.«

Zuerst schnappte Kurt nach Luft. Dann, während sein Gebiß schief hervortrat, setzte er zum Sprung an. Frau Kirsch hinter dem offenen Spalt erkannte den Augenblick, auf den sie gewartet hatte; sie riß die Tür auf. Ihr Mann bedurfte zum Glück schon nicht mehr der Hilfe. Mit der einen Hand hielt er sich den bissigen Jungen vom Leibe, Kurt schwebte über dem Boden. Mit der anderen wischte er sich über den Hals, der blutete. Als Kurt herunterkam, umklammerte Frau Kirsch ihn von rückwärts und versuchte ihn hinauszuzerren. »Ich bin in einer Falle!« zeterte der Junge.

Auf einmal fühlte er, daß er sich völlig anders geben müsse, und brachte es auch fertig, ohne Übergang leicht und angenehm zu werden. »Gnädige Frau, Sie können mich unbesorgt loslassen. Die Nerven versagen wohl mal, aber es geht schon wieder. Herr Kirsch wollte offenbar feststellen, wieviel ich vertrage.«

In ihm, so gut er sich verstellte, sprach immerfort eine entsetzte Stimme: ›Soweit ist es schon, ein richtiges Verbrechen, ich wußte es noch gar nicht. Er hat es früher gemerkt, an was ich denke. Er suggeriert es mir, der Hund, jetzt weiß ich es erst. Um Gottes willen, um Gottes willen, ich weiß es!‹

»Ich will die Herrschaften nicht länger stören«, sagte der äußere Kurt inzwischen und lächelte beinahe leer. »Ich bedauere nur, daß die Unterredung ihren Zweck nicht erfüllt hat.«

»Doch«, sagte Kirsch. »Das hat sie.«

Kurt, innerlich zusammenfahrend, lächelte leicht und leer. »Wenn Sie mich wirklich für dumm genug halten. Ich bin ein Zivilisationsprodukt, Herr Kirsch. Ich bin nur in geistiger Hinsicht tapfer, Blut ist mir peinlich. Sie selbst dagegen bleiben immer ein Stück Natur, um es höflich zu sagen. Ein Verbrechen? In Ihren Kreisen, Herr Kirsch. Sie sind ein tüchtiger Beamter der zigsten Gehaltsklasse und werden vom Staat hauptsächlich deswegen mit Erfolg verwendet, weil Ihre eigene Herkunft und Anlage –«

»Abstellen!« befahl Kirsch. »Kleiner Junge!« Er sah ihn sich an. Kurt begegnete dem Blick leicht spöttisch. »Dies ist vielleicht das letzte Mal, daß ich dir noch raten kann. Das nächste Mal trägst du vielleicht schon Handschellen. Oder du machst, daß du zurück zu deiner Schwester kommst! Da warst du in sicheren Händen. Da kann nichts vorkommen als höchstens mal ein kleiner Einbruch, und den darfst du auch nur von außen mitmachen.«

»Sie hatten keine Beweise.«

»Nachher –« Lange Pause. »Hab ich sie.«

Kurt mit seinem starren Lächeln ging rückwärts. Seine großen Füße stießen krachend gegen die Tür, während Frau Kirsch sie ihm weit öffnete. Der Kommissar sagte hart:

»Wo du gehst und stehst, wird auf dich aufgepaßt.«

Er trat auf die Schwelle und blieb dort, bis hinter seinem Besucher die Tür der Wohnung zufiel.

Auf der Straße wurde es dunkel, und das Publikum der Kinotheater verursachte Gedränge. Kurt schaltete sich ein.

Marie hatte den Weg zur nächsten U-Bahn gefunden. Sie eilte, Mingo fragte vergebens, wohin, aber er empfand, daß sie ihn los sein wollte. Er bat:

»Marie! Sei mir nicht böse, daß ich das alles mit angehört habe. Du mußt dich nicht schämen. Ich muß Prügel haben, weil ich dich verlassen habe und bin zur See gefahren. Das war mir gesund, was ich jetzt gehört habe. Ich weiß erst, wer du bist, mine Marie. Dat's man schön! Ich bleib auch bei dir, dann bist du sicher.«

Sie antwortete nicht, das große U war in Sicht.

»Sag mir bloß, was du vorhast! Ich will in Berlin auch keine Dummheiten mehr machen. Ich will dir helfen. Laß mich man bloß mitkommen, wohin du gehst. Ich hole dir auch das Kind!« rief er. Auf der Treppe wurden sie getrennt. Mingo gelangte an den Schalter, als Marie schon hindurch war. Sie lief, ihm entzogen durch das Getriebe des Bahnhofs, die entgegengesetzte Treppe wieder hinauf. Draußen nahm sie eine Taxe und fuhr zu Vicki.

Als Lissie sie erblickte, leuchtete ihr Gesicht auf. Jetzt kam es! Ohne ein Wort gab sie Marie den Weg frei; sie machte sogar eine Art von Zeichen, welches Zimmer das richtige war. Marie drang ein.

»Warum hast du vor dreizehn Monaten das mit Mingo gemacht?«

Vicki, die lag, fuhr aus dem Bett. In ihrem seidenen Anzug stand sie sofort völlig bereit. »Ich hatte dich schon längst erwartet. Aber warum fragst du nicht nach deinem Kind?«

»Warum hast du das mit Mingo gemacht?« wiederholte Marie.

»Nicht, weil ich durchaus mußte. Sondern weil ich wollte.«

»Warum wolltest du?«

»Damit Kurt dich bekam. Damit du das Kind von ihm kriegtest. Damit es mein Kind wurde.«

Marie hielt aus, unbewegt und jeden Augenblick drohender. Vicki prahlte, sie frohlockte.

»Damit du dein Glück machtest, den großen blauen Stein stahlst, Bardame wurdest und alles verlorst – alles, was ich nicht hatte, deinen Freund und dein Kind! Das wolltest du hören, du hast es endlich nicht mehr ausgehalten. Ich auch nicht! Ich mußte es sagen. Jetzt sind wir einig!« Sie strahlte vom Haß.

Marie schwankte, die Hände gespreizt. Noch war nicht entschieden: sollte sie hinfallen oder sich über ihre Feindin werfen. Vicki sah die Gefahr, und sie blieb standhaft, sie lachte. Ihr Haß machte sie stark wie Marie. Als es ganz sicher schien, daß Marie nicht hinfallen, sondern sich über sie werfen werde, ließ Vicki kaltblütig den weiten seidenen Ärmel von ihrer braunen Hand zurückfallen und gab den Schuß ab. Sie hatte sich darauf gefreut wie auf sonst nichts im Leben. Gleichzeitig waren zwei rattenähnliche Geschöpfe hinter einer spanischen Wand hervorgekrochen. Gemeinsam, mit demselben kurzen Ruck, rissen sie an dem kleinen Teppich, auf dem Marie stand. Sie verlor den Boden und fiel nun doch hin. Der Schuß, der sie getötet hätte, streifte sie nur.

Eine Tür wurde aufgerissen. Von Lissie geleitet, trat Rechtsanwalt Bäuerlein auf. »Hier ist es!« verkündete Lissie. Bäuerlein betrachtete das Geschehene und äußerte dumpf:

»Das mußte kommen. Wer Wind sät, wird Sturm ernten«, setzte er hinzu. »Gewalt beweist doch nichts. Ist sie tot?« fragte er, da er die geschlossenen Augen und das Blut sah.

»Das nicht«, erklärte Lissie. »Die gnädige Frau hat Glück gehabt.«

»Wenn das Mädchen tot wäre, der Skandal könnte nicht größer sein. Ich bin geschädigt.« Diesmal blickte er seiner Frau fest in das stolze Gesicht.

»Du bildest dir noch etwas ein! Nicht zufrieden, das Kind zu rauben, erschießt du die Mutter, und ich bin dein Mann. Dein eigener Bruder setzt ein uneheliches Kind in die Welt, und mein Vater war Lehrer. Ich hätte solche Übertreibungen im Grunde meines Herzens nie für möglich gehalten. Wer bist du eigentlich!« schrie er auf.

»Muttchen Nuttchen Puttchen«, antwortete sie; »und du, mein Ignaz, hast jetzt auch heimgefunden. Gar keine Neugier mehr, wie, auf die weiteren Ergebnisse meiner kriminellen Veranlagung?«

»Es genügt«, sagte er mit gebrochener Stimme. Noch einmal wurde er groß. »Du hast mich betrogen – mit dem Prominenten, mit dem Chauffeur!«

»Wollen wir wetten, daß du mich noch mit Marie betrügst – und daß ich es dir beweise?« Sie winkte ungeduldig, damit die Verwundete endlich fortgeschafft werde.

»Nicht aus dem Haus!« rief Bäuerlein. »In das Zimmer Kurts – und keinen Arzt! Das geht nur nach geschickten Vorbesprechungen. Wozu bin ich da!«


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