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V.
Das Richtfest

Er arbeitete so sehr, daß er nicht merkte, was Festliches im Werk war. Haus C, der Schrecken Klinkorums, war unter Dach und sollte gerichtet werden. Ein Septembersonntag stand bevor mit Freibier und Musik, Tanz, Aufzügen, Rausch. Balrich sah den glücklich Erwartenden nach, den Mädchen und Frauen, die ihren Putz besprachen, den Liebespaaren, erfüllt vom Vorgeschmack ihres Glückes, – und ihn bewegte ein Mitleid, mächtiger sogar als sein Zorn. Er konnte ihnen sagen: »Belügt euch nicht! Ihr wißt doch, ein Almosen wirft er euch hin, den Bettelpfennig eines sorglosen Tages für all euer lebenslanges Leiden, damit ihr es weiter leidet, lebenslang.« Aber er schwieg, kaufte der armen Thilde, die ihm nachschlich und freilich mehr hoffte als dies, ein neues Tuch, und für seine Schwester Leni ein Paar Schuhe, bronzefarbene Tanzschuhe, mit Stöckeln wie für eine Fee.

Der Festtag, blau wie er sein sollte, ging auf, – und da wehten auch schon vom Hause C die Fichtenkränze, Fahnen rückten heran, Arbeiter-Kegelklub, Arbeiter-Turnverein, und Obmann oder Ordner genossen die Wonne zu kommandieren, alle anderen das Glück stramm zu stehen nach eigener Wahl. Auf der Wiese indessen, vor den Häusern A B wurde ein Karussell in Betrieb gesetzt. Und die Kinder hatten nicht nur dies, sie hatten Waffelbuden, Schießhallen und Kioske mit Limonaden, alles die Wiese entlang, am Weg zum Friedhof. Das Programm der Erwachsenen war anders.

Zuerst das Essen, Geräuchertes und Bier ohne Grenzen, in dem Saal hinter der Kantine, bei dröhnender Blechmusik, beim Geruch der getünchten Wände und grüner Kränze. Dann die Rede Horst Heßlings.

Er vertrat seinen Vater, den Generaldirektor, aß freilich nicht, stand aber oben an der längsten der Tafeln, in der Hand ein Glas Bier. Der Arbeiter Dinkl, wie es seine Art war, schob dienstfertig dem jungen Herrn einen Stuhl hin – und so fest in die Kniegelenke hinein, daß es klar war, er sollte knicken. Horst Heßling knickte aber nicht, er hielt die Knie durchgedrückt. Er drehte nur die Schultern herum und sagte: »Durchaus nicht, mein Lieber,« – was den Dinkl dann freilich Achtung lehrte. Andere, bewogen durch Jauner, machten sich heran und erbaten die Ehre, daß sie auf das Wohl des jungen Herrn ein Glas dürften leeren. Horst Heßling erhob, ihnen zutrinkend, das seine bis an sein Monokel, – was ihnen schmeichelte. Viele stimmten heute darin überein, daß er mit seinem Vater nicht vergleichbar und in seiner Person die Gewähr besserer Zeiten sei. Die Verheißung des Arbeiters Balrich, gebunden an Arbeit, Willen, langewährendes Vertrauen, wurde übertönt heute von Blechmusik, dem Lärmen des billigen Glückes. Balrich, dahinten eingeengt, stand nicht hoch im Wert. Nur Heßling Vater mußte abfahren, und hoch Heßling Sohn!

Der Erbe ließ auf den Tisch einen Stock niedersausen, daß die Weiber, die nahe saßen, aufkreischten; dann in der jähen Stille, die Handballen auf den Tisch gestützt, sagte er scharf: »Leute!« – sah sich herausfordernd um und sagte es nochmals.

»Leute! Das Haus, dessen Richtfest wir heute feiern, erinnert gewiß auch euch daran, daß hier früher überhaupt keines stand.«

Balrich dahinten in der Enge verachtete den kühn blickenden Erben wegen dieses Satzes. Er verstand nicht völlig; ihm schien es, der Erbe gehe die Geschichte Gausenfelds durch, »auch nur eine Klitsche«, bis »mein hochverehrter Herr Vater« »die Zügel in seine feste Hand nahm« und dem Unternehmen »den Schwung seines Geistes aufdrückte«. Mit erhobener Stimme:

»Und nun seht mal, wie es sich entwickelt hat. Nicht wiederzuerkennen! Und woran liegt es? Einzig an der Führung!«

Ein Vergleich sollte dies erweisen, der Vergleich mit dem großen Ganzen. Wenn der Erbe in der Schule von dem Deutschen Reich lernte und seinem glänzenden Aufschwung unter der berufenen Führung, dann habe er immer an Gausenfeld denken müssen und »meinen Herrn Vater«. Mit erhobener Stimme:

»Wie es in Gausenfeld aussieht, sieht es auch im Reich aus, und immer wird noch angebaut, das Haus C beweist es. Wir schreiben 1913.«

Der Erbe machte eine Pause, um nachzuzählen. »Wir schreiben 1913, und in den letzten zwanzig, fünfundzwanzig Jahren ist die Sache gemacht worden. Papier haben wir fabriziert in Gausenfeld, daß wir die ganze Welt damit zudecken können. Und vielleicht werden wir auch einmal etwas fabrizieren, was unser Reich noch notwendiger braucht.«

Hier wieder eine Pause, und dann das Glas schwingend, mit gesammelter Kraft:

»Darum Seine Majestät der Kaiser und Herr Generaldirektor Heßling, hurra, hurra, hurra!« – was die Arbeiter erwiderten, mit Stimmen, als ob sie schössen. Die Blechmusik brüllte den Tusch.

Jetzt aber den Saal ausgeräumt! Die jüngsten der Männer legten die Röcke ab und schafften es, indes in den Winkeln die Mädchen schon kichernd bereitstanden. Balrich half den langen Tisch auseinandernehmen, da trat Leni ein. Sie kam erst jetzt, als verdienten Lärm und Gestank der Abfütterung nicht ihre Anwesenheit, – und war sie nicht seit dem vorigen Jahr eine Dame geworden, nicht weniger als eine Dame? Ihr Bruder sah es auf einmal. Das Tuch der Arbeiterinnen noch über den Schultern; aber darunter ein Seidenkleid, eng und so lang, daß er nicht sehen konnte, ob sie seine Schuhe trug; und das goldblonde Haar ein so kunstreich glatter Aufbau, als sei es nur von feinen, ganz weißen Händen berührt worden. Er sah auf ihre Hände: sie hatte Handschuhe, die reichten bis unter die Ärmel.

Sie hielt den Kopf hoch, wie eine Dame, die das Vergnügen dieser Leute in Augenschein nahm, und sie ging mit kleinen behinderten Schritten, ihre lang gewölbten Schenkel zeichneten sich ab dabei. Balrich stand, als er seine Schwester so sah, rot und müßig da, – und dennoch war er stolz, liebte sie und wollte hin, sie geleiten. Während er aber im Laufen den Rock anzog, erschien neben ihr Horst Heßling, auf sein Zeichen ging Musik an, und schon tanzten sie dahin, an Balrich vorbei, den sie nicht sahen. Er blieb stehen; viele andere Paare hinter ihnen her stampften und scharrten; nun aber wieder sie kamen, hörte er so wenig, wie wenn Staub wirbelt.

Lange ging es fort; ein Tanz beendet, sogleich schwang sich ein neuer, und Leni immer darin und immer mit dem Einen. Balrich merkte, man sah ihn an, weil er dastand, nicht fortkam und sein Blick immer finsterer ward auf ihnen. Dastehend, nannte er seine Schwester schamlos und den jungen Herrn einen Lumpen, machte sich anheischig dazwischen zu fahren, sagte ihnen die Minute voraus, in der es aus sein sollte mit ihnen und er selbst daran kam mit seinem Recht und seiner Ehre; aber sie inzwischen tanzten. Sahen ihn nicht, tanzten nur und lächelten sich an, – was ihn entwaffnete. So schön war Leni, mit den weit auseinanderstehenden Augen, ihren roten Lippen, dem weißen Schimmer auf dem eingedrückten Nasensattel, – so schön seine Schwester, daß er um ihretwillen auch ihren Kavalier schön fand, samt Monokel, zurückgekämmtem Strohhaar und der rötlichen Haut, die schwitzte. Er führte sie doch, wie niemand führte. Sie war bevorzugt, war glücklich durch ein Nichts, einen Tanz – »und ach! wann wird sie es sein, weil ich darum gekämpft habe … Ich sollte nicht zusehen, ich weiß es. Aber was geschieht hier?« sann er und sah bunte Röcke vorbeiwirbeln, bunte Blumen, Augen, vom Rausche bunt. »Staub wirbelt doch nur. Wir Armen!«

Da um die beiden freier Raum ward, sah er, seine Schwester hielt hoch das Kleid gerafft über dem seidenen Fuß, und der stak in seinen Feenschuhen. In Schuhen von mir doch tanzt sie durch das bißchen Leben; damit ging er hinaus, gefolgt von der sehnsüchtigen Thilde.

Er kaufte ihr zu trinken und sagte, er wolle nun kegeln. Hinter den Buden das Karussell kreiste und flirrte in der Sonne, mit Brüll- und Klingelmusik, bebänderte Kinder umher, wartend, schreiend. Oder sie wälzten sich schreiend auf der Wiese, und von den Buden holten sie Getränke für die Mütter, – indes je drei oder vier in dem Wägelchen mit dem Esel hockten; von der Landstraße bis zum Friedhof fuhr es, Staub verbreitend, rastlos hin und her. Staub zog über die Wiese, die Buden, den Bauplatz, die Kegelbahn; und in dem Staub das Geschrei und der Dunst von Schmalzgebäck wälzten sich die Friedhofsmauer entlang, bis wohin Trinker saßen, und hinein in den Friedhof, wo zwischen den Gräbern einige schon ausschliefen.

Den Bauplatz hatten andere erwählt, die kühnen Kletterer und nüchternen Witzemacher. In dem treppenlosen Neubau schwangen sie sich bis in die höchsten Fensterhöhlen, dort vollführten sie ein Getöse, daß gegenüber endlich Klinkorum zum Vorschein kam. Er hatte sich weit zurückgezogen vor den hemmungslosen Kundgebungen des Volksfestes; getroffen in der tiefsten Würde des Gebildeten saß er in seinem Studierzimmer, es war auf immer nun verdunkelt und mit schlechter Luft erfüllt vom Haus C, dieser alles beschattenden Kloake des Pöbels, ihm vor die Nase gesetzt durch das ruchlose Kapital. Jetzt zeigte er sich in seiner Balkontür, um, was noch möglich wäre, von den Ausschreitungen der Besitzlosen zurückzubannen kraft seines Auftretens. Zuerst, da er sich zeigte, war ihr Freudengeschrei furchtbar. Die Rechte kühn in seinem drapierten Schlafrock, heraus den Spitzbauch und drohend mit den Zacken, den sieben Bartsträhnen, dem Brillengefunkel, brachte er sie freilich zur Unterwerfung, wie sonst wohl die aufrührerischeste Schulklasse. Sie schwiegen; nur daß, er glaubte sich schon sicher, auf seine Hauskappe etwas niederfiel. Würdig trat er den Rückzug an; er erkannte, die Waffen, mit denen sie ihm begegneten, waren nicht die des Geistes, sie spuckten. Schon traf es auch seinen Spitzbauch, Klinkorum sprang und verschwand. Am Fenster seines Schlafzimmers erschien er wieder, ward aber empfangen wie zuvor; denn auch dort standen sie bereit, der Neubau beschrieb einen Winkel und umklammerte ihn ganz. Da gab er es auf, die Stirn zu bieten. Aus dem hintersten Dunkel seiner Bücherei sah er es weiter in langgestrecktem Bogen aufglänzend herüberschießen und auf seine Dielen fallen, auf seinen Studiertisch, ja in seine Pfeife, die daranhing und die es auslöschte. Wer spuckte, er sah es nicht, sie waren ein Greuel, sie und Heßling, der sie dort hinstellte. Ja, Klinkorum, alles hassend, fühlte es deutlich, der Dämon des ruchlosen Großkapitals, leibhaftig stehe er hinter jenen dort und lenke ihre Geschosse … Dies war der Zeitpunkt, da Klinkorum sich verschwur zum vorbehaltlosen Verderben Diederich Heßlings. Seine Proteste gegen den Bau der Mordhöhle drüben waren vergeblich geblieben bei Heßling, und auch das dringendste Angebot, ihm sein Haus zu verkaufen, vergeblich. Ruchlose Mißachtung, der Machtwahn derer, die fallen sollen! Künftig nun verschlug kein Paktieren mehr, Klinkorum war ein Empörer und hielt es mit den Empörern. Der Feind der Proletarier war auch seiner, und darum, geschehen war es um ihn. Wehe den Gewaltigen, wenn gegen sie verbündet aufstehen die Muskelstärke und die unüberwindliche Kraft des Geistes!

Nicht etwa, daß das Vergnügen geringer war auf der Kegelbahn. Der wilde Wein, der sie umrankte, war schon rot, das Bier kam ohne Umweg aus einer Klappe in der Wand der Kantine, auch ward ein Schwein ausgekegelt; alles aber zahlte Kraft Heßling, der hohe Protektor des Arbeiter-Kegelklubs. Er zahlte das Bier, das Schwein, und trug noch die Kosten der Witze. So oft er schob, ließ Dinkl, die geschickteste Hand, ihm eine Kugel zwischen die Füße rollen, so daß er stolperte und manchmal auch hinfiel, worüber alle lachten. Um Weiterungen zu vermeiden, tat er immer, als merkte er nichts, und verteilte sogar Zigaretten. Denn erstens durfte er kein Spielverderber sein, Heßling Vater hatte ihm unweigerlich befohlen, sich populär zu machen. Und dann wohin? Der Tanzboden, wo sein Bruder Horst mit dem Volke Freud und Leid teilte, war nicht der Ort für Kraft; er fürchtete zu sehr die Mädchen. Da roch er lieber den Schweiß der kegelnden Männer. Jeden Augenblick kam ihm einer unter die Nase mit seinen Achseln oder seiner rauhen Brust, und dann wälzten sie sich; denn Kraft war erbleicht und hatte Augen, die, geisterhaft umrändert, von nichts mehr wußten. Auch er entledigte sich des Rockes; Jauner, ergeben wie er war, half dem jungen Herrn und hängte den Rock über einen Stuhl, – worauf Kraft, lang und mit achtzehn Jahren verfallen, einen ohnmächtigen Schub tat. Um ihn wieder gut zu machen, zog er aus seiner Hose schon die zweite volle Zigarettentasche.

An Balrich, der vom Eingang her zusah, trat Polster, der Maschinenmeister, heran und erklärte ihm, was er jetzt sagen wolle, sage er nur als Verwandter. Da er nicht weiterkam, tauchte aus dem roten Weinlaub seine Frau hervor und ermunterte ihn. »Sag' was wahr ist, Polster!« Da bekannte er:

»Sie will, daß ich dir einen Wink gebe wegen Leni. Mir kann es gleich sein, was Leni vorhat.«

»Wieso gleich,« sagte die Polster und setzte schon die Hände auf die Hüften. »Ein seidenes Kleid, einen echten Kamm, und Schuhe für dreißig Mark …«

»Sie sind von mir,« sagte Balrich, abweisend.

»Die Schuhe?«

»Alles,« sagte Balrich.

»Er hat Geld erspart,« bemerkte Polster. »Wer immer nur arbeitet.« Seine Frau aber, wie eine Natter: man wisse, was man wisse. Noch jeden Tanz habe Leni mit dem jungen Herrn getanzt, und jetzt seien sie beim Schieben. Alle Leute redeten; die Schande falle auf die Familie.

Balrich sah sie fest an; er dachte an die Freundschaften der Frau, dank denen die Polsters sich zwei gute Zimmer halten konnten, – und der letzte war noch dazu der Spitzel Jauner. Balrich zeigte auf ihn.

»Dreh' dich um,« sagte er zu Polster verachtungsvoll, »damit du siehst, was eine Schande ist!«

Die Frau, grau im Gesicht, faßte sogleich den Mann an und wollte ihn fortzerren. Er aber hielt stand, denn wirklich gab es etwas zu sehen. Der Simon Jauner hatte die Hand in dem Rock des Herrn Kraft und brachte sie nicht mehr heraus, weil jemand sie festhielt. Herbesdörfer war es, dumpf stieß er aus: »Ich habe den Dieb,« – bis seine ungelenke Stimme sich gelockert hatte, da rief er lauter als die Kugeln rollten, und hallo, alle stürzten auf einen Haufen. Lange sah man nur ein Wimmeln und Händelangen, vernahm nur Geschrei; dann kam der Gendarm. Der brachte, fest zupackend, den Jauner an das Licht, und welch einen Jauner! Zerrissen, fletschend und geifernd, das Haar auf der Nase und gelb bis in die Augen, statt der kriechenden Freundlichkeit bloß noch gelb und toll, so schrie er. Bellend schrie er, jetzt sei es gewesen, keinen kenne er jetzt mehr und alles solle heraus. »Muß ich schon fort,« bellte er, »vorher liefere ich euch noch!« – und schnellte dabei die Hand gegen den, der dahinten allein stand, Balrich … Herbesdörfer wollte über ihn her, auch noch den zweiten Gendarm, der jetzt anrückte, brauchte es, ihn aufzuhalten.

Zugleich erschien der Herr Oberinspektor. Er äußerte, der Fall werde sich hoffentlich aufklären lassen, in Anbetracht des schönen Festes. Gerechtigkeit freilich müsse walten, er selbst werde streng untersuchen, drinnen im Versammlungssaal, Haus A; und ließ den Jauner vorangehen zwischen den Gendarmen. Hinterdrein er selbst mit Kraft Heßling, und den Zug schloß Herbesdörfer.

Die Zurückgebliebenen freuten sich lärmend, Dinkl zahlte eine Runde. Den Jauner hatte es! Jetzt ward er abgestochen wie das Ferkel hier. Ausgekegelt war er, wie das Ferkel!

Dies hörte Balrich, trübe schweigend, mit an. So wußten sie nichts und kannten noch nicht den Lauf der Dinge. Was hatten sie denn auch erfahren. Sie waren nicht ausgesondert, in ihrer Seele angetastet und die schwere Nacht der Selbstprüfung allein gelassen mit ihrem Gott. Sie kamen nicht zurück dorther.

Er versuchte sich; was taten alle diese, wenn drinnen ihre Schwester –. Die? Sie würden es sich gefallen lassen wie Polster – vielleicht noch stolz. Nein! So waren seine Klassengenossen nicht. Herbesdörfer an seiner Stelle ging und schlug ihn nieder, den Hund! In Scham und Zorn machte er sich auf.

Drinnen drehte es sich noch immer, eingeschlafen und von der Welt vergessen. Die Musik spielte wie in dem Karussell, wie für Tiere aus Holz. Balrich sah seine Schwester, die Augen geschlossen, im Arm ihres Herrn immerfort rundum wanken. Ihre Schenkel und seine lagen fest aufeinander, nur die Füße bewegten sich und lebten. Er wäre dazwischen gestürzt, aber sie hielt die Augen geschlossen, wie durfte er sie wecken.

Der Tanz endete, Balrich sagte ihrem Herrn, er werde seine Schwester um den nächsten bitten, und der nächste begann schon. Er führte sie und sagte:

»Du bist schöner heute als sonst, woher kommt das?«

Sie lachte schläfrig. Am Rande des Saales begegnete er dem flehenden Blick der armen Thilde. Er lachte auf, so schmerzlich wild, daß Leni endlich ihn ansah.

»Ich denke immer,« sagte er an ihrem Ohr, »dies ist dein Fest, deins allein – auf Villa Höhe, und die Herrin bist du.«

»Wer weiß,« flüsterte sie und öffnete ihren Goldblick. Sie lachte, den Kopf im Nacken, er pfiff die Musik mit, und sie begannen zu schaukeln.

»Mit Blumen bewerfen sie dich auch,« bemerkte er zwischen dem Pfeifen. Sie erschrak lachend, denn wirklich, eine Rose fiel ihr auf das nach oben gewendete Gesicht. Da sah er, Horst Heßling war es, er griff in den Korb der Blumenverkäuferin, warf nach ihr und traf sie immer. Er hatte eine selbstsichere Miene. Balrich, im Tanzen, stieß hervor:

»Sieh dich nicht um! Du hast ihn schon zu viel angesehen. Du wirfst dich weg, woher ist dein Kleid, du bist eine Dirne, unsere Schande, ich laß dich bessern in einer Anstalt.«

»Und du? Aus welcher kommst du?« sagte sie ihm frech in die Augen, und hatte an der Nasenwurzel dieselbe Falte wie er.

»Grade du!« Sie strebte fort von ihm, aber er zwang sie, weiterzutanzen. »Du als erste sagst mir das, – und ich war dort, weil ich nicht will, daß ihr Bettler und Dirnen seid.«

»Wenn ich aber eine sein will?«

Da zwang er sie nicht weiter. »Geh!« schnaubte er; aber jetzt blieb sie, und beide aus ihren weißen Gesichtern schnaubten sie und kamen nicht los. Der Bruder sagte endlich:

»Danke Gott, daß ich – dorther – komme. Dann ist alles arm und kurz, man hat Mitleid. Sonst schlüge ich dich nieder.«

Hoch Heßling trat herzu, er hatte gehört. »Aber Herr Balrich! Sie als zukünftiger Akademiker! Aus der moralischen Enge Ihrer bisherigen Klasse müssen Sie doch auch bald heraus sein.«

»Gedulden Sie sich noch etwas!« sagte Balrich, und drehte den Rücken.

Draußen bei den Männern ging es still zu. Niemand kegelte, sie standen in einem Halbkreis um den Oberinspektor, – aber auch Jauner war wieder da. Jauner ohne Handschellen, ohne Gendarmen, Jauner mit dem Gesicht der triumphierenden Unschuld. Der Oberinspektor hatte ihnen erklärt, daß irren menschlich sei, und zusammen mit dem ganz vertatterten Kraft Heßling ging er seiner Wege. Jauner, möglichst unscheinbar, machte sich hinterher.

»Aufgeschoben ist nicht aufgehoben,« versicherte Herbesdörfer. »Den trifft es.« Und hinter seinen runden Gläsern glotzte er fanatisch.

Wie sie es nur hätten machen können, fragten die anderen. Dies wußte auch er nicht. Es schien, Kraft Heßling bei der Untersuchung gab an oder stotterte etwas, das der Oberinspektor so auslegte, als habe der Herr Kraft den Jauner beauftragt, in seinen Rock zu greifen und ihm die dritte Zigarettentasche zu bringen. »In der Faust aber, als ich ihn faßte,« schwur Herbesdörfer, »hat er die Brieftasche gehalten; – und da haben die Lumpen getan, als wüßten sie es nicht mehr, und haben nach Villa Höhe telephoniert.«

»Was?«

»Das kann ich nicht wissen, ich mußte hinausgehen … Aber sie haben untereinander geflüstert, und auf den Jauner, das ist gewiß, haben sie eingeredet, bis er ganz hin war. Wie sie herauskamen, hat er geschlottert.«

Da sahen alle zu Boden, – und als sie, einer nach dem anderen, sich ihre Blicke zeigten, las jeder: »Wir sind verraten.«

»Den trifft es,« wiederholte Herbesdörfer.

Ein Stück vor ihnen den Balrich, wie er die Stirn gesenkt hielt auf seine verschränkten Arme, den streifte jeder nur, scheu, ahnungsvoll. »An dem geht es aus. Sie haben ihn schon verrückt machen wollen, weil sie nichts wußten. Jetzt wissen sie es, was werden sie ihm noch antun.« Die Arbeiter trennten sich, jeder für sich allein bedachte, was bevorstand. Aber begegneten sich zwei, sagten sie heimlich: »Der macht es doch.«

Indessen schien es, daß die Musik im Tanzsaal immer lauter ward, und jetzt, was war dies, kam sie leibhaftig aus der Kantine. Die Musikanten waren rot wie Zinnober, manche auch schwitzten bleich, und alle, wie auf Befehl im Parademarsch, warfen die Beine. Ein Abstand, – dann aber, man wollte es nicht glauben, ein Paar, Leni Balrich mit Horst Heßling. Die Köpfe erhoben gegen alle die Blicke, tanzten sie hervor. Leni raffte den Rock bis zum Knie, und so, mochten doch alle um sie her zusammenlaufen, tanzte sie in den Staub … Ihnen nach, andere Tänzerpaare, puppenhaft springend, als müßte es so sein, mit Gesichtern, die selbst nicht wußten, was vorging.

Die Arbeiter vom Kegelklub wichen, machten freie Bahn, – und über die Bahn lief eilends das Kegelschwein, verfolgt vom Fluchen und Gelächter. Die Tänzer ließen sich nicht stören, drehten sich, verbreiteten Staub; und Staub verbreiteten die Kinder, die vom Karussell herbeiflogen und sich drehten. Hurra! schrien noch die Leute und verschwanden schon im Staub, worin unsichtbare Hunde kläfften und die Tanzmusik mit der des Karussells irr und wild ineinander verbissen waren. Dazu, vom Neubau herab, von den Witzbolden sausten Hüte in die quirlende Menschheit, – indes erhaben über sie, aus seinem Dachfenster der wissende Geist Klinkorum sie verachtete wie noch nie.

Von der Friedhofsmauer die Trinker winkten mit Flaschen, was die Musikanten bestimmte, die Beine dorthin zu werfen. Auf, hinterdrein, Sprung, Schleifschritt, Schleifschritt, Sprung, und vom Friedhof winken die Flaschen. Wer stößt da, man sieht ihn nicht? drängt sich hindurch nach der Gegenseite? Verschwindet? … Leni, die Augen geschlossen, tanzte, vorbeigeführt von ihrem Tänzer an den Steinen, an dem Kot … Da hob er sie, sie sah, in ein Auto. Sie war gefangen in ihrem engen Kleid, er hob sie hinein. Los!

Von rückwärts aber, glatt wie eine Katze, stieg im Fahren noch einer ein. Schwingt sich hinein, stößt zu. Horst Heßling fand sich plötzlich neben seinem Bruder Kraft auf dem Rücksitz, und bei Leni saß Balrich. Horst rief Halt; – aber kaum stand der Wagen, bedachte er die verbogene Mütze des Menschen dort, seine pathetisch eingesunkenen Züge, dies Halstuch; und er folgte dem Angstgeflüster Krafts: »Fange nichts an mit dem Apachen!« – »Weiter!« befahl er.

Balrich griff an die Mütze und bemerkte fest: »Wenn Sie mit meiner Schwester wegfahren, muß ich mit.«

»Ein Familienausflug,« sagte Horst, mit leichter Verbeugung.

Aber Leni, aufschluchzend, aufglühend, warf um den Bruder die Arme, drückte die nassen Augen an ihn, küßte ihn, welch ein Kuß! »Glückliche Fahrt,« fühlte der Bruder. »Ich bin stark, stehe ein für meine Schwester; und weil ich gefürchtet werde, liebt sie mich.«

Leni fühlte: »Er schenkt mir Villa Höhe, wer weiß. Er ist so stark,« – indes Horst erwog: »Peinlich. Ändert aber nichts,« und Kraft nur Angst hatte.

Der Tannengeruch von Villa Höhe sauste ihnen um die Gesichter; da war sie. Kraft verlangte dringend zu halten, noch vor dem Gitter. Er war ausgestiegen, und Balrich hob Leni heraus, so mußte der junge Horst, trotz seinem Rausch, es wohl aufgeben, kühn einzufahren mit seiner Eroberung auf den Grund seiner Väter. Auch hörte er keine Stimmen, nur vor der Terrasse sonnte sich noch die kleine Person der Anklam. Auf sie ging Horst zu. Quer über den Rasen, Leni entgegen, rannte Hans Buck. Balrich ließ die zwei allein zusammenstoßen, er blieb zurück, und in eine beschnittene Hecke gedrängt, verfluchte er sich, der nur als Herrin seine Schwester hier einzuführen einst schwur …

Hans, mit fliegender Stimme: »Leni! Ich habe meiner Mama versprochen hier zu bleiben, sonst wäre dies nicht geschehen. Leni! Wie konntest du dies tun.«

»Mein Bruder ist bei mir,« hörte Balrich in seiner Ohnmacht.

»Leni! Siehst du es nicht? Horst will dich verderben. Denkst du wirklich, er liebt dich?«

Leichtes Lachen Lenis. Hans wimmerte auf; dann, entsetzensvoll geflüstert:

»Er bringt euch her, damit ihr entlassen werdet aus der Fabrik. Das wollen sie hier, sie wollen einen Skandal, ihr sollt vernichtet sein – und du, Leni, ihm ausgeliefert!«

Der Knabe bedeckte die Augen.

»Ich nur muß alles sehen – und soll nichts tun können?«

Schritte, die kamen.

»Sieh die Frau dort bei ihm! Sie will er eifersüchtig machen mit dir. Sogar dazu bist du hier!«

Wieder ihr leichtes Lachen, – Hans sprang auf. Frau von Anklam hatte den Arbeiter im Busch entdeckt, Horst kam ohne sie daher. Hans sprang zu, an die Kehle dem da, unwiderstehlich im Krampf. Bevor Horst es noch wußte, lag er, und das Gesicht ward ihm in den Kies gedrückt. Hans stand stürmisch vor Leni.

»Liebst du ihn noch jetzt?«

»Weder ihn noch dich,« sagte sie. »Denn« – mit einer Bewegung im Kreis, erblaßt und sehr frech: »Wer von euch schenkt mir das?«

Da ließ der Sechzehnjährige die Stirn sinken. Senkrecht aus seinen Augen fielen die Tränen, so ging er fort.

Horst inzwischen tilgte, wie er es nannte, die Spuren der ruhmreichen Szene. Von den Kieseln trug er Male wie Pockennarben, so bot er Leni den Arm. Grade traf auch die Anklam ein, geführt von Balrich. Der Arbeiter und seine Schwester, einander gegenüber, sahen sich scheu an, der Gent und die Dame sich mit Bedeutung.

»Sie, Horst,« sagte die Anklam, »Furcht erregen Sie nun einmal nicht. Wo Gefahr ist, bleibt ein Rest; mysteriöser Rest;« – wobei sie den Kopf mit Ironie geneigt hielt gegen die Schulter Balrichs. Und Horst Heßling, über Leni ironisch geneigt: »So ist es.«

Die Geschwister fühlten: »Die Herrschaften, weil wir da sind, machen sich zueinander mehr Lust.« – Nur wagten sie keinen Widerspruch.

Einem Diener, der droben hervorkam und sich fächelte, befahl Horst mit Kommandostimme, Tee zu servieren auf der Terrasse. Vorher fand er es angezeigt, durch den Park zu spazieren. Dieser Meinung war auch Kraft, der sich einfand und an Zuversicht gewonnen hatte. Hohl, aber höhnisch bemerkte er:

»Wer auf eine Besitzung reflektiert, sieht sie sich vorher an.«

Dann machte er sich aber nahe an Balrich heran und sagte nur für ihn: »Hier können Sie mir nichts mehr tun, Sie Muskelmensch, – obwohl ich eigentlich ach so gern Furcht habe.« Mit weiblichem Ton, wie die Anklam, und sogar ein Schmiegen deutete er an mit der Schulter.

Man gelangte zu einem Brunnen mit Venus, »Göttin der Schönheit und der Liebe, ist ja bekannt,« erklärte Horst den Besuchern; und gleich darauf zu der »Borkenhütte«. Hier wendete sich Kraft an die Gäste.

»Dies halten wir für den besten Platz zum Aufstellen der Maschinengewehre,« erklärte er, frohlockend in seinem Verfall.

Zurück vor der Terrasse, fanden sie den Tisch gedeckt, aber schon besetzt. Unter den schaukelnden Rosengewinden lehnten heiter in sanft knarrenden Korbsesseln die Damen Heßling, Mutter Guste, Tochter Gretchen; sodann hatte sich eingestellt Frau Emmi Buck mit ihrem Hans, der sie unterhielt, als sollte sie nichts hören und sehen, – und auch die Anklam war schon da und hatte sicher erzählt, wenn man wüßte was. Horst und Kraft wurden besorgt. Mit seinem Bauch an einer Rosensäule, äugte Klotzsche, Verlobter Gretchens, entrüstet her. Kraft wollte sich drücken; aber Horst, mit einem Stoß, beförderte ihn hinauf. Der Leni hielt er sogar den Arm hin; aber sie nahm ihn nicht.

»Voilà,« sagte Horst, wie einer im Variété, der fertig ist mit seinem Kunststück. »Unsere Gäste.«

Kaltes Schweigen allerseits. Gretchen kicherte vielleicht, aber bei ihr wußte man nie. Ihr Verlobter, zur Sicherheit, strafte sie mit dem Blick. Emmi Buck, sichtlich bestürzt, zog sich auf ihrem Stuhl zurück bis in die Türnische, – wo auch ihr Gatte erschien, mit einem aufmunternden Lächeln, als sagte er: »Was geschehen ist, ist geschehen.«

Die Anklam gebrauchte ihr Lorgnon, um Ironie und Wohlgefallen zu bekunden. Guste, die Majestät der Versammlung, legte in dasselbe Instrument ihren Zorn und den allerhöchsten Zweifel, ob man sie etwa zu verkennen wage. Aufrecht in ihren Spitzen, Schleifen, Perlen und Steinen saß sie da, Busen und Bauch vereinte das Korsett zu einem einzigen, stolzen Gebilde. Ihre Nase freilich war eine Kartoffel, wie die des Herbesdörfer.

»Mein Sohn,« herrschte sie. »Was heißt dies, mein Sohn.« Und bevor Horst sich weiter vergessen konnte: »Deine Mutter verdient mehr Achtung.«

»Mit ihren schneeweißen Haaren,« bemerkte Gretchen, schleppend, ob infolge von Bleichsucht oder aus Hinterlist.

»Mein Sohn Kraft,« – Guste mit beringten Wulstfingern winkte ihn heran, »steht allem Unpassenden fern, das weiß ich,« – wobei das Lorgnon vernichtend auf Leni fiel. Dann hielt sie dem Liebling die Wange hin. »Trinke deine Milch, mein Kraft, du hast dich angestrengt;« und durch eine Wendung ihres Sessels gab sie zu verstehen, daß der Zwischenfall für sie abgetan sei, sie kehre zurück in ihre wohlgeordnete Welt. Sie übersah es kurzweg, daß jene Person sich setzte, – weil ein Diener, auf wessen Wink wohl, ihr den Stuhl hinschob. Leni ohne Umstände fiel hinein, daß es krachte. »Uff, es war Zeit,« äußerte sie, wandte die aufgeworfene Nase umher und schlug die Beine übereinander, nicht ohne Mühe in dem Kleid.

Horst, der nichts mehr zu verlieren hatte, brachte ihr selbst eine Tasse Tee, er würde sie auch haben rauchen lassen. Der Rechtsanwalt Buck indessen riet ab; es gebe Grenzen. »Immerhin,« sagte er zu Balrich, der starr hinter seiner Schwester stand, »Zutritt haben Sie nun schon erlangt.«

»Sie meinen, dabei bleibt es?« fragte Leni über ihre blonde Schulter. Buck meinte:

»Jetzt setzen wir uns hier in Verteidigungsstand.« »Nützt nichts,« sagte Leni.

Aber da erschien auf der jenseitigen Treppe eine Helmspitze. In kriegerische Farben getaucht, folgte das Gesicht des Generals v. Popp, – und unter dem Schutz seiner gepolsterten Schultern der Hausherr.

»Nanu?« bemerkte der Hausherr. »Hier ist Maskerade?«

»Das wirst du, mein Freund,« versetzte Guste, und mit königlichem Nicken: »das werden Sie, Exzellenz, genauer unterscheiden können als eine Hausfrau, die noch die altmodische Gepflogenheit hat, ihr Haus reinzuhalten.«

»Und andere Häuser zu versauen,« sagte Balrich rauh, und ins Auge faßte er den Sohn Horst.

Der Generaldirektor tat, als erkenne er erst jetzt seinen Arbeiter. »Nun also!« rief er, erhaben in seinem Hohn. »Da ist er!«

Feixend erklärte er:

»Der will mich vertreiben. Exzellenz verstehen? 'Raus aus Gausenfeld, 'raus aus Villa Höhe. Ich soll Lumpen sammeln.«

»Komischer Kauz,« sagte der General, ernst wie ein Nußknacker. Der Generaldirektor war weiter erhaben:

»Vorläufig studiert er für mein Geld, dann aber kommt über mich das Gericht.«

»Die Leute haben Begriffe,« äußerte Guste. »Es kommt von der Religionslosigkeit;« – und sie wandte sich weg. Klotzsche, Verlobter Gretchens, bestätigte es, auch er sah weg.

»Ach du mit deinem Bauche,« äußerte Gretchen schleppend und musterte den Bauch. »Du bist nun freilich kein Freigeist, in keiner Beziehung;« – und nur ahnen konnte Klotzsche, in welcher Beziehung.

Der General besah mit blutigen Glotzaugen zuerst die reiche Familie, dann den Proletarier. Zuletzt fragte er unbeteiligt:

»Was denkt er sich eigentlich, der komische Kauz?«

Nur seine Nichte Anklam erklärte hierauf, sie verstehe vollkommen.

»Ich will nichts Unrechtes,« versetzte Balrich fest. Da hielt Heßling sich nicht länger. »Nein!« schrie er. »Köstlich! Das heilige Eigentum bedrohen!« Die Erhabenheit war fort, dringend sah er umher nach Zeugen und hielt sich an den General. »Das heilige Eigentum, auf dem egal der ganze Staat ruht!«

»Wenn es angemaßt ist,« behauptete Balrich. Der General sagte: »Komischer Kauz. Hat er gedient?«

Heßling war so sehr außer sich, daß er dem hohen Herrn dazwischenfuhr. »Mich läßt es kalt,« brüllte er schlagflüssig, »was den Menschen auf seinen Irrsinn gebracht hat.«

»So sehn Sie aus,« sagte Leni mit ihrer klaren, eindeutigen Stimme, und auf ihrem Stuhl schaukelte sie sich.

»Das Irrenhaus hat er schon hinter sich,« brüllte Heßling. Leni sagte klar: »Sie noch nicht. Aber die Vorfreude ist das Beste.«

Horst sowohl wie der Rechtsanwalt Buck ermahnten sie dringend, sich zu mäßigen. Von der Tür her der junge Hans lächelte sie selbstvergessen an. Guste zuckte beleidigt mit dem Rücken. Ihre Tochter Gretchen aber, trotz Katerblicken Klotzsches, rückte wie im Traum immer näher zu Leni.

Heßling wollte weiterbrüllen, seine Stimme überschlug sich, und dann klang sie gequält.

»Mich interessieren seine Geheimnisse nicht. Ich schmeiß ihn 'raus, und die Sache ist behoben.«

»Sie schmeißen mich nicht hinaus,« Balrich zeigte seine guten Zähne. »Denn Sie wollen mehr wissen, als Ihre Spitzel Ihnen zutragen.«

Da Heßling nach Luft schnappte:

»Sie sind schon ganz krank, weil Sie die Hauptsache nicht wissen. Aber ich will Sie nicht krank machen,« sagte er finster, »obwohl Sie mich haben verrückt machen wollen.«

Einen äußersten Augenblick zögerte er, – dann ein Griff in die Tasche, er hielt dem Heßling ein Stück Papier hin.

Heßling las, Balrich folgte finster seinen Augen, v. Popp inzwischen sagte zu der Allgemeinheit:

»Ihr Zivilisten seid komische Käuze. Das ist doch Rebellion. Da schlägt man doch mit der eisernen Faust drein!« Er schwoll rot an. Der Sohn Kraft aber schlug wirklich los. Bitterböse schlug er auf den Tisch zwischen die Teetassen. Sie klirrten leicht, – indes Kraft erschöpft in sich versank.

Der Generaldirektor nahm den goldenen Zwicker wieder herunter. »Da, stecken Sie Ihr Eigentum wieder ein,« sagte er kurz ablehnend. »Der Brief ist natürlich unecht.«

»Das mußten Sie sagen,« meinte Balrich.

»Gefälscht! Erstunken!« … Heßling sammelte sich. »Sollte er indes für echt erkannt werden, kann ich beweisen, daß der Schreiber mein persönlicher Feind war. Wie?«

Er wandte sich an seinen Schwager Buck.

»Du wirst es bezeugen. Dein Vater ist von mir gestürzt und erledigt worden, daher war er mein Feind.«

»Einwandfreie Beweisführung,« sagte der Rechtsanwalt gelassen.

»Komm fort!« sagte sein Sohn Hans zu der Mutter; aber sie hielt still, die Stirn in der Hand.

»Hier,« erläuterte Heßling, »vorgeblich vor mehr als dreißig Jahren, schreibt der alte Buck einem gewissen Gellert, daß mein verehrter seliger Vater, verstehen Sie,« erklärte er dem General, »sich zu dem Kapital bekennt, das der gewisse Gellert in sein Geschäft eingelegt haben soll. Haha, wer lacht da.«

Der General v. Popp war es nicht, der lachte. Er ließ sich den Brief reichen, sah ihn an und äußerte streng:

»Wenn es aber wahr ist?«

»Sind Sie –« Heßling verbesserte sich. »Exzellenz scherzen.« Er lächelte vertraulich, ungeachtet einer gewissen Beklemmung. »Den Brief hat der ehrliche alte Buck selbstverständlich nicht vor dreißig Jahren geschrieben, sondern viel später, als er Grund hatte, sich an mir zu rächen, – und hat ihn vordatiert.«

»Das müßten Sie aber beweisen,« sagte v. Popp streng, – und die Beklemmung Heßlings war nicht länger zu unterdrücken. Er erstarrte am Fleck, wo er stand. Alle anderen, wie sie dasaßen oder an den Säulen lehnten, schienen mit offenen Augen in Schlaf gesunken, selbst die Rosenkränze schaukelten nicht mehr auf der schimmernden Terrasse des Dornröschenschlosses.

Der Generaldirektor nahm einen Anlauf.

»Der Alte lügt, soviel ist sicher.«

Da sagte Hans Buck, so hell und ungehemmt wie Leni:

»Nicht mein Großvater, du selbst lügst.«

Der Generaldirektor lachte plötzlich auf; seine Frau fürchtete schon, ihm sei etwas zugestoßen. Er zuckte aber die Achseln.

»Ich soll beweisen, meinen Exzellenz? Ich? Um Vergebung, der alte Herr da in seinem werten Grab soll beweisen, was er behauptet. Lügt er nicht, dann muß er in seinen hinterlassenen Papieren das Schriftstück haben, worin mein hochverehrter Herr Vater sich zu dem Gellertschen Gelde bekennt.«

Sieghaft sah er umher, auf Balrich stoßend aber erschrak er. Balrich sagte hart, mit Richterstimme:

»Das Schriftstück ist da, ich habe es.«

Bewegung. Der General wiederholte: »Er hat es;« und seine Miene forderte den reichen Mann auf, sich zu verantworten. Der aber behielt den Mund offen, und es schien, er schwankte … Diederich Heßling erkannte viel in diesem Augenblick. Sein Schwager Buck, nur er hatte die alte Handschrift seines hochseligen Herrn Vaters dem Proletarier ausgeliefert, – der nun dastand und forderte. Der General aber, deutlich genug, findet mich zu reich, zu mächtig, und mit Vergnügen sieht er den bedroht, bei dem er schmarotzt hat. Die Menschen bereiten selbst dem Besitzenden, der sie kennen sollte, immer neue Enttäuschungen, es sei denn, er begebe sich jedes Idealismus …

Er blitzte dorthin, wo sein Schwager weich und ergeben das Weitere erwartete. »Wir rechnen ab!« blitzte er, und wendete sich fort um zu schnaufen, sonst konnte bei Gott ein Unglück geschehen. Fassung! Kraft gesammelt für den Kampf, den sie mir aufzwingen! Sie greifen an meine Wurzeln, es geht um mein Dasein, sie sollen mich kennen lernen!

So gefestigt, zeigte er wieder sein Gesicht; den Arbeiter traf es zuerst.

»Sie da! Kommen Sie weiter! Ehre, wem Ehre gebührt.«

Am äußersten Rande der Terrasse sagte er zu Balrich, halblaut und gemessen:

»Sie sollten sich überlegen, was Sie tun.«

»Ist geschehen,« sagte Balrich.

Hierauf maßen die Gegner sich noch einmal.

v. Popp inzwischen bemerkte vor der Hausfrau: »Nette Geschichten hier!« – in einem Ton, als sei er hier mißbraucht worden. Die Anklam gab mit ihrem Lorgnon dem Sohne Horst dasselbe zu verstehen.

Guste wahrte ihre Majestät. »Was will man geltend machen? – Märchen,« entschied sie. »Große Vermögen sind immer beim Volk umwoben mit Legenden.«

Der Generaldirektor, gemessen zu dem Arbeiter:

»Was wahr ist, lieber Freund, entscheiden niemals Sie. Das wird entschieden von dem Nutzen, den es bringt, und von der Macht, die ich habe.«

Assessor Klotzsche, von Guste stumm angeherrscht, tat das Seine.

»Exzellenz glauben doch nicht,« keifte er, den Bauch schlenkernd, »ein Gericht wird sich finden, das die Klage auch nur zuließe? Klatsch und falsche Papiere gegen die wohlbegründeten Mächte? Da sind wir denn doch,« Klotzsche rollte die blassen Augen, »zumindest eine so eherne Mauer wie Sie, Exzellenz!«

Der Generaldirektor, gemessen zu dem Arbeiter:

»Sie bringen nicht nur sich ins Elend. Denken Sie an Familie und Genossen.«

»Ist bedacht.«

»Dann sehen Sie mich an, wo ich stehe. Ich bin reich. Ich bin Stadtrat und Geheimer Kommerzienrat. Der Herr Regierungspräsident hat mir den Orden hier angehängt, über das alles müßten Sie weg, – und dann bleiben noch die Richter,« Wink auf Klotzsche, »und,« neuer Wink, »die Herren mit dem Säbel … In Ihrem Interesse fordere ich Sie auf, mir den Brief meines seligen Herrn Vaters auszuliefern.«

»Den brauche ich,« sagte der Arbeiter.

v. Popp sagte:

»Eherne Mauer? Komischer Kauz. Das hängt immer von den Gründen ab, die man hat, ehern zu sein.«

»Die Welt!« seufzte ironisch die Anklam. »Sie ist so mißtrauisch und an das Böse zu glauben leider sehr geneigt.«

Gretchen, mittlerweile ganz nahe bei Leni, streckte ihren langen Hals vor, und unter dem Katerblick Klotzsches wisperte sie bleich:

»Wollen Sie Kokotte werden?«

»Dummes Luder!« erwiderte Leni; und Gretchen, die Augen verdreht:

»Es muß reizend sein.«

»Also nicht!« stellte der Generaldirektor fest. »Ihr Wille. Sie haben das Dokument gestohlen, ich zerschmettere Sie.«

»Ihnen glaubt man auch nicht alles,« sagte der Arbeiter, – und Heßling fühlte, eben dies lag zutage in der Haltung v. Popps, wie auch in den peinlich berührten Mienen der Seinen. Dieser Vorwand, elend wie er war, der Welt kam er dennoch gelegen, den Neidern, den Erpressern … Da sagte der Blick seiner alten Guste ihm, was der seine ihr; sie verstanden sich. »Vorsicht! Ballast auswerfen!«

»Hier sind hundert Em,« – und er drehte den Arbeiter am Arm herum, niemand sah sie.

»Blödsinn,« – und der Arbeiter kehrte in seine Stellung zurück.

»Tausend,« bot Heßling geschäftsmäßig. Balrich, finster lächelnd:

»Sehen Sie wohl? Sie müssen daran glauben.«

»Zweitausend,« bot Heßling, und erfaßt von Spielerangst:

»Fünftausend … Mein letztes Wort: zehn.«

Immer nur finsteres Lächeln und Kopfschütteln; – ermattet fragte Heßling:

»Ja, was wollen Sie denn?«

»Das Ganze,« sagte Balrich. »Aber nicht geschenkt.«

»Sie sind verrückt!« Der Generaldirektor fuhr auf; dann ward er kleiner und lallte.

»Sie erreichen nichts, wenn Sie Lärm machen. Ich, hier, heute, biete hunderttausend. Schluß.«

Guste dahinten machte sich süß. »Liebe Frau v. Anklam, Ihre Perlen, ein Zauber,« – obwohl sie falsch waren. Die Anklam sagte ironisch:

»Und Ihre, sind sie echt?«

Guste hüpfte auf, ließ sich aber mit Majestät wieder auf den Sitz.

»Versuchen Sie doch!« Gnädig hängte sie selbst der Person die Schnur um. Der kleinen Anklam hing sie bis zwischen die Kniee.

»Nun?« fragte Guste.

»Wirklich sehr nett,« sagte die Anklam. »Onkel Popp, was meinst du?«

»Firlefanz,« sagte v. Popp, aber man merkte, in der rauhen Schale stak ein weicher Kern.

Dort vorn der Generaldirektor sah es, Guste kam zum Abschluß. Da schlug er einen anderen Ton an.

»Jetzt schlagen wir einen anderen Ton an,« verkündete er. »Bisher habe ich mit Ihnen sozusagen verhandelt.«

»Und haben hunderttausend Mark geboten.«

»Weil ich sehen wollte, wie weit Ihre Frechheit geht. Jetzt verhandle ich nicht, ich bin dein Vorgesetzter und befehle: Stramm stehen! Her mit dem Brief!«

Der Rechtsanwalt Buck hatte es sich zur Aufgabe gemacht, besänftigend einzuwirken auf Leni, die schon mehrmals vom Stuhl aufspringen und Lärm schlagen wollte. Jetzt begab er sich in kleinen Schritten nach der Türnische, zu seiner Frau. Er hob ihr die Stirn aus der Hand; bittend suchte er ihre Augen. Der junge Hans, wie er dies sah, ging beiseite.

»Ich habe uns in eine schwere Gefahr gebracht,« sagte Buck seiner Frau ins Ohr. Sie sah ihn an mit Bewunderung.

»Du warst es wirklich, der dem Arbeiter geholfen hat?«

»Gegen deinen Bruder.«

»Er kann es tragen.«

»Aber wir?«

Sie fragte schüchtern lächelnd:

»Sind wir verloren? Wenn Diederich von uns die Hand zieht?«

»Wir werden nachlassen müssen von unseren Ansprüchen.«

»Gern.«

»Ich – nicht gern. Auch werde ich ihn wohl am Seil behalten. Nach wie vor wird er alles aus schlechtem Gewissen tun, – weil zu viele sich erinnern, wie er meinen armen Vater in den Sumpf manövriert hat. Ich war für ihn eine Mahnung. Künftig werde ich auch eine Drohung sein,« – wobei sein dickes Schauspielergesicht wirklich drohte.

»Du würdest gegen ihn –?«

»Soweit bin ich noch gesund. Geht es um das Ganze, übernehme ich die Sache des Proletariers, und er soll sehen, ich räche alles auf einmal.«

Emmi senkte schon wieder den Kopf.

»Er wird uns weiter Geld geben. Auch das ist schlimm.«

»Schlimm ist alles,« murmelte Buck.

»Einen Spiegel!« befahl Guste; und als der Diener ihn herausbrachte, wollte sie selbst ihn der Anklam vorhalten. »Erst an Ihnen, Liebste, kommen die Perlen zur Geltung,« sagte sie entsagungsvoll. »Meine weißen Haare … Aber wie glücklich bin ich! Ein Gastgeschenk, wenn auch bescheiden, nach den so schönen Sommertagen, für die wir Ihnen und Ihrem verehrten Onkel zu danken haben.«

»Bitte, bitte,« warf v. Popp hin.

Aber am Rande der Terrasse brach offenes Kampfgetümmel aus, war es zu glauben, zwischen dem Generaldirektor und seinem anspruchsvollen Knecht. Heßling, unter Berufung auf die Gewalt des Vorgesetzten, hatte es unternommen, in die Tasche Balrichs zu greifen. Hierauf ein leichter Stoß vor seine Brust, die halbe Treppe stolperte er rückwärts hinunter, – und zum Angriff zurückkehrend, heulte er auf:

»Er hat mich angerührt!« – heulte und schlug um sich: »Vergriffen hat sich der Hund an mir!«

»Vergriffen hat sich der Hund!« machte ein Echo, es war der Sohn Kraft; für sich selbst aber, bebend: »Der süße Hund!« Der Sohn Horst wollte dem Arbeiter zu Leibe, flog aber im Bogen gegen den Teetisch. Da war alles auf den Beinen, nur Leni nicht. Atemlose Pause, nichts als das verhaltene Wimmern Gustes, die den Gatten und die Söhne vom Feinde umdroht sah … Inzwischen zog Hans Buck seine Mutter an der Hand, bis sie aufstand und mitging.

»Jetzt kommt das Schändlichste,« sagte er, bleich und zitternd. Auch Buck Vater, mit kleinen Schritten, folgte ihnen.

Wer zuerst sich faßte, war Assessor Klotzsche. »Hier liegt Hausfriedensbruch vor! Außerdem Bedrohung und tätlicher Angriff!« Er keifte mit Weiberstimme.

»Und Erpressung!« heulte der Generaldirektor. Seinerseits schrie v. Popp: »Komischer Kauz!« – und einem eisernen Gartentisch versetzte er einen Faustschlag. Er donnerte furchtbar, Guste, die Anklam und Gretchen kreischten und hielten sich vor dem eigenen Gekreisch die Ohren zu.

Der Arbeiter Balrich brach jäh eine Bahn durch die feine Welt. Er stieß und trat, so kam er hindurch. Als seine Schwester Leni ihn zur Seite hatte, schleuderte sie ihre Teetasse der Hausfrau zwischen die Füße, und vor dem Bruder her, der den Rückzug deckte, humpelte sie, in ihrem engen Rock gefangen, die Treppe hinab.

»Sie sind entlassen!« brüllte der Generaldirektor dem Arbeiter nach. »Sie und Ihre ganze Sippschaft!«

»Ganze Sippschaft!« machte hohl das Echo Kraft, – und entfesselt schrie alles mit. Guste, entfesselt:

»Begriffe haben die Leute! Das ist die elende Religionslosigkeit!«

Donnerschlag des Generals auf den eisernen Tisch, und Kraft, ohne Tisch, donnerte auch. Die Anklam verfiel in einen Schreikrampf.

»Ich zerschmettere den Umsturz!« schrie der Sohn Horst im Namen seines Vaters, der keine Stimme mehr hatte. Klotzsche keifte dasselbe, um Eindruck zu machen auf Gretchen, die selbstvergessen kreischte:

»Kokotte will sie werden!«

Die vier kleinen Heßlings, durch das Getöse der Großen fortgelockt von ihren kindischen Spielen, sprangen herbei und taten mit, Wolfdieter, Ralph, Bernhard und Fritzheinz, – bliesen Trompete, machten Muh, krähten; und der zweijährige Wolfdieter mit seinem pfeifenden Stimmchen rief unermüdlich »Drecksau!«

»Begriffe haben die Leute!« Guste, leidenschaftlich über die Treppe gebeugt, streckte den blitzenden Finger vor. »Ausziehen wollen sie uns!« und da sie das Gleichgewicht verlor, griff sie um sich, in die Perlenschnur, die jetzt an der Anklam hing. Die Schnur zerriß, zwei Lakaien stürzten herbei und lasen die Perlen auf. Die Anklam, ihren Schreikrampf vergessend, paßte auf, daß sie keine verschwinden ließen. Als sie alle zurück hatte, kam auch der Schreikrampf wieder.

Vorgebeugt sämtlich nach dem Beispiel der weißhaarigen Hausfrau, mit verwilderten Gesichtern, Augen wie Mord, Stimmen wie das Vieh, – Damen, Herren, die Kinder, ihre Lakaien, alle in Ausfallstellung gegen den Rücken des abziehenden Feindes, Bedrohers, Enteigners. Donnerschlag; Geheul; – und in der Spannung dieser Schlacht um ihr Vorrecht und Eigentum fanden sie, mitsammen dem Schlaganfall nahe, keinen höheren Ausdruck mehr für ihre Seele, keine Entladung … Da aber, der Tochter Gretchen ward es gegeben. Sie hörte auf mit dem Schimpfen, sie begann zu singen, kommt ein Vogel geflogen. Ausgereckt den dünnen Hals und drehende Kreise vor den entgeisterten Augen, noch im Umfallen sang sie, und alles durchdrang ihr Geplärr:

»Kommt ein Vogel geflogen!«

Erst hinter dem Gitter der Villa blickten die beiden Armen zurück auf die Besitzenden und ihre bewegte Kampfstellung. Leni zeigte ihnen die Zunge. Balrich sah in den Abendschatten, die heraufzogen, noch einmal aufschimmern das Haus und die Kränze schwanken.

Sie gingen. »Die haben es von dir bekommen,« sagte Leni. »Aber auch von mir! Hast du mich gesehen?«

Fieberhaft lachend: »Das war das Beste vom ganzen Tag.« Und sogar in die Hände klatschend: »Einmal mußte man es erleben, soll man schon hinausfliegen.«

Sie gingen lange, im Staub und in der rot rauchenden Dämmerung. Immer zögernder gingen sie. Die Schwester endlich versuchte zaghaft:

»Du sagst nichts. Ach! du bist müde. Und erst ich.«

In seinem Arm lehnend, den engen Seidenfetzen hinaufgezerrt bis zum Knie, schleppte sie sich. Der Bruder sagte:

»Komm! Ich trage dich.«

»Um die ganze Welt habe ich heute getanzt,« murmelte sie, indes er sie hinaufhob. Da entstand fern ein Brausen, schon nah das Hupengeheul, und hier und vorbei war es, das Auto, das sie beide hingetragen hatte nach Villa Höhe. Staub nahm es auf, war es je gewesen? Eingehüllt in Staub geht der Arbeiter Balrich, auf den Armen seine Schwester, ihre schlafschweren Arme um seinen Hals, und sie, einschlafend, murmelt:

»Ach! lieber Karl, uns hilft nichts, wir sollen verloren sein.«

In Gausenfeld das Fest ging weiter bei Lichtern. Er kam ungesehen mit ihr in das Haus, über die leeren Treppen, – und hinter dem Bretterverschlag legte er sie auf ihr Bett. Sie seufzte im Schlaf; er wagte es nicht, ihre Füße, die um eine Welt getanzt hatten, freizumachen von den Schuhen. Aber er drückte seine Lippen ab, in dem Staub auf ihren Schuhen.

Vor der Tür stand Thilde, auf seiner Spur wie je, bittend wie je. Er hörte noch immer: Wir sollen verloren sein, – und nahm sie um die Hüfte.

»Hast du mich denn lieb?« – worauf er, zu der Armen:

»Ja.«

So gingen sie hinaus in die Nacht. Aus stürmenden Wolken kämpfte ein sanfter Mond sich hervor.


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