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Suturp

Zuerst erschienen in »Deutsche Erzähler der Gegenwart«, Wegweiser-Verlag, Berlin, 1929

Textquelle: Heinrich Mann, Das gestohlene Dokument und andere Novellen. Aufbau-Verlag Berlin, 1957

 

I

Ein Mann, der noch jung ist, geht durch eine lange, lange Buchenallee. Hinter ihm liegt die Stadt, ein Rad seines Wagens ist gebrochen, und er eilt. Er kann am Ziel sein, bevor der Wagen ausgebessert ist. Er wird ungeduldig, er hat in Suturp ein Geschäft, aber die Bäume nehmen kein Ende. Er hatte nicht mehr gewußt, daß es so viele sind. Ihre alten Stämme krümmen sich zueinander, das helle junge Laub lassen sie tief hängen, er sieht nicht hindurch, und immer noch mehr kommen.

Jetzt zeigt rechts sich der Wald, er könnte abbiegen, aus Knabenzeiten kennt er den kürzeren Weg. Er eilt hinein. Nach wenigen Schritten wird er langsamer, der Ginster blüht. Woran erinnert der gelbe Duft? Er war ein Schüler mit schwellender Seele, daraus wurde dann doch ein Rechtsanwalt. Später, »im Süden«, wie sie hier oben sagen, fand er denselben Ginster in einem Pinienwald. Wieder Erinnerungen, er setzt sich. Die Sonne fällt durch Laub auf diese würzige Erde. Im Norden, nahe der See, ein solcher Frühsommer, er will es nicht glauben. Er lebt nun schon die Jahre seit seiner Rückkehr und Niederlassung einzig Geschäften. Ihm liegt an dem Ansehn, daher der Eifer. Hier aber ist er versucht, zu fragen, ob das Ansehn nicht älter macht? Sogar schon Stadtverordneter … und keine Geliebte mehr … in Vorsorge für die gute Heirat, auf die er hinzielt.

Nein! Nicht älter werden. Er ist erschrocken, er hat die nahe Grenze der Jugend erblickt. Er springt auf, atmet, sieht den Wald blühen – und vergißt. Eine Verzauberung befällt ihn. Ihm schwinden aus den Augen das zu erwerbende Vermögen und alle bürgerlichen Ehren. Die Seele schwillt ihm, wie einst dem Schüler. Er hält auf einmal wieder die Welt für offen und alles für erlaubt. Vor ihm her schwebt eine luftige Schönheit: das Unvorhergesehene. So verläßt er den Wald.

Zuletzt ist das Nadelholz verkrüppelt, er geht durch Sand. Unter seinen Füßen ist noch Waldboden und schon Meeressand, ihn empfängt Jodgeruch des Tangs auf feuchtem Lufthauch. Die See, da erscheint sie wie eine Gestalt. Da ist sie, hell, leise, bläulich, er denkt an unlängst zerschmolzenes Eis. Über die Bucht ist Himmel gespannt, wäßrig blau, ein Kranz Vergißmeinnicht, am blassesten hoch oben, und Rosenwölkchen ziehn. Hinter Suturp glüht und zerfließt der Abend.

Er steht, indes es hell bleibt bei sinkender Sonne. Verschleierte Helligkeit bleibt zurück auf grauem Strand. Der Strand von Suturp ist eng und so kahl. Im Sand liegt Gestein, hartes Gras weht still, zerrissene braune Netze sind aufgehängt über die ganze Breite. Jetzt werden auch sie verklärt vom Abendschein, der Sand entleiht ihm sanft gemalte Spuren wie von Schritten höherer Wesen … Wirklich, dort fährt eins von ihnen an Land, eins jener Wesen, deren Füße rosige Spuren lassen. Sie steigt aus dem Boot, leicht zieht sie es auf den Strand, sie wird scheiden … Nein, das Boot ist schwer, er läuft hin, er hilft ihr.

Sie dankt und geht schnell vor ihm her ins Dorf. Er spricht zuerst noch etwas, sie antwortet im Gehen. Dann entsteht zwischen ihnen Abstand, die weißgekleidete Gestalt verliert ihren Umriß an den Abendschein, der sie umgibt. Er sieht sie dahineilen, sich auflösen, er fürchtet ernstlich ihr Verschwinden, er holt sie ein.

Zugleich betraten sie das Wirtshaus. Zwei Herren begrüßten das junge Mädchen. Des Rechtsanwalts bemächtigte sich der Wirt. Er war auch Bürgermeister, er wollte schon von dem Geschäft der Gemeinde anfangen, dann fiel ihm selbst ein, der Herr werde essen wollen. Aber mit den Schauspielern? – Der Fremde antwortete, daß er nicht gern störe. Das junge Mädchen wandte sich her, sie bat ihn, zu kommen. Er nannte seinen Namen: Belling. Sie hieß Franziska, mehr verstand er nicht.

Er erfuhr zunächst, daß die drei Kollegen hier den Sommer verbrachten. Sie hatten im Winter am Stadttheater mitgewirkt, auch für die nächste Spielzeit waren sie verpflichtet. Die beiden männlichen Künstler betonten die Sonderbarkeiten dieses Ortes, wo weißer Sand den Holzboden bedeckte, Öllampen brannten und an der Hauptwand gleich unter dem Balken der Decke ein fahnenschwingendes Bildnis des Generals Bonaparte hing. Aber sie bevorzugten Einsamkeit und Wildnis, daher ihre Wahl. Hier war kein schöner Badestrand, dafür fauchte durch die Lücken der schiefen kleinen Häuser des Nachts der Sturm. »Hat er noch nie getan«, sagte das Mädchen. »Aber hier ist es billig.«

Um dies zu sagen, drehte sie den Hals her, dann sogleich wieder fort, und wie vorher sah sie unbeteiligt hinaus. Belling versuchte: »Fräulein, ich durfte Sie mehrmals auf der Bühne bewundern« – was nicht stimmte, er hatte sie nie gesehn, aber sie nannte sofort die Rollen, er brauchte nur zu nicken. Der Schauspieler Krauter äußerte zum Schauspieler Rebbin: »Es wird Zeit, sie hatte schon eine halbe Stunde nicht vom Theater geredet.« Dann ergriffen auch sie beide den Gegenstand und verließen ihn nicht mehr.

Der Rechtsanwalt vollbrachte Wunder, damit nicht ein falsches Wort ihn in seiner Unwissenheit entlarve. Er staunte über die Ausdauer dieser Menschen, sie behandelten ihre Angelegenheiten wie die Weltachse. Allmählich überzeugte ihn aber ihre Sicherheit, oder war es das Gesicht Franziskas? Ihre Züge arbeiteten mit Leidenschaft beim Sprechen, wie auch wenn sie hörte. Noch stumme Ablehnung gab sie ausdrucksvoll zu erkennen. Nichts an ihr war durchaus schön, nur das Ganze wirkte, als sei sie es. Bis jetzt durchschaute er seine Eindrücke noch, sah aber voraus, er werde es nicht mehr lange vermögen. Er fühlte, bevor sie noch da war, das Nahen der Liebe.

Von seinem Seiltanz in Theaterdingen ward er gerötet. Das Mädchen Franziska rauchte jetzt unbeteiligt, wenn nicht wegwerfend. Auch ihre Kameraden verlangsamten das Gespräch. Plötzlich begann der Ältere von etwas anderem. Daran erkannte Belling, daß er selbst sich verraten haben müsse. Um so mehr achtete er darauf, in nichts den Ton zu ändern, obwohl er jetzt der Unterrichtete war, es handelte sich um die Stadt. Hier half ihm Krauter, der ältere der Schauspieler. Er zeigte gediegene Aufmerksamkeit für die Wirklichkeiten des Lebens. Der jüngere Rebbin versuchte anfangs Ironie, woraus aber bald das Lächeln des Zweifels ward. So hatten die Gestalten der Straße dennoch eigene Bedeutung, es ging ihm auf. Hinter geringgeschätzten Fenstern spielten Szenen, er hätte es nicht gedacht. Dieser Rechtsanwalt wuchs, er baute auf, er schuf Bewegung.

Er selbst mußte sich fragen, warum er so gut nicht einmal in jener Generalversammlung gewesen war, als viel davon abhing – und ob hier mehr davon abhänge. ›Ja‹ antwortete es in ihm stark, da sah sie her. Sie ließ ihre Kälte fallen, ein Ruck, es war nur noch Maske gewesen – jetzt achtete sie ihn. Die Achtung, mit der sie hersah, ging aber über in Schmerz, er begriff nicht, warum und was hier schmerzte. Gleichwohl ergriff ihn ungeheure Freude.

Hier trat der Wirt dazwischen. Die Ältesten der Gemeinde warteten schon längst auf den Rechtsanwalt. Er ging hin. Als er zurückkehrte, waren die drei Schauspieler schlafen gegangen. Der Wirt brachte ihn mit der Talgkerze in seine Kammer. Das Bett stieß oben an das Fenster, unten beinahe an die Tür. Er setzte sich auf das kleine Fenster, es war dunkel, leise Wellen klappten. Die warme Luft streichelte, er schloß die Augen, überzeugt, er sei schläfrig – fuhr aber auf, wie von einer Warnung. Schnell sah er sich um, sein Fenster war in der Reihe das letzte. Kam der Pfiff um die Ecke? Übrigens war es kein Pfiff gewesen. Niemand warnte ihn, wenn nicht er selbst. Er beugte sich vor, das Fenster daneben war dunkel. Er lauschte, kein Atem. War sie es? War sie auch nur – allein? Er wußte von ihr nichts außer einem, daß sie unbesiegbar war.

Er fragte: Kann ich fliehen? Oder versuchen, ein flüchtiges Abenteuer in ihr zu sehn? – Nein. Fest steht, ich habe mich einzusetzen. Vom ganzen Leben wird nichts übrigbleiben, fürchte ich. Er sagte hörbar: »Hoffe ich.« Noch einmal wehrte er sich. ›Muß es sein?‹ Als Antwort erschien ihm ihr Gesicht. Er sah es unter der Lampe des Gastzimmers, als sei es zugegen. Es zeigte die tödliche Aufmerksamkeit, die an Schmerz grenzte, jetzt verstand er sie – erschüttert vom Abbild seines eigenen Herzens.

»Ich bin ehrgeizig«, sagte er, als es Morgen ward. »Das große Vermögen, ohne daß ich mich nicht sehe, verläßt mich wahrscheinlich in diesem Augenblick für immer. Ich hätte es erheiraten müssen als Grundlage für meinen Ehrgeiz. Jetzt werde ich eine Art Abenteurer sein.« Dies, solange es noch graute. Da erhob sich die Sonne, nicht schnell genug war er draußen. Sie kam! Sie mußte gewacht haben wie er, diese Stunde erwartet haben wie er! Nicht sie beide, aber ihre Schicksale waren verabredet miteinander.

Sein Wagen stand vor dem Haus. Beim Anspannen half dem Kutscher ein Mann, der sorgenvoll schien. Er sollte es nicht lange mehr sein! Nur das Boot verloren auf See? Was weiter, er sollte sich ein neues bauen. Kein Geld? Hier ist Geld. Der Mann sagte: »Wie heißt Ihre Liebste? So soll auch das neue Boot heißen.« »Franziska!« jubelte der Verliebte, da kam sie selbst. Beide erstarrten in der Bewegung, als sie einander erblickten, aber kein Wort fiel. Sie raffte ihr Reisekleid, sie stieg ein.

Das Schweigen währte bis in den Wald, dort sagte er: »Hier ist der Gürtel unserer Verzauberung. Wir überschreiten ihn, schon ist er überschritten. Jetzt beginnt die Wirklichkeit. Wer sind wir nun? Ich für meinen Teil gestehe, daß ich, obwohl es grade heute anders aussieht, nur ein gewöhnlicher Mensch bin. Ich habe schon vieles versäumt. Als ich ganz jung war, hielt ich die Mädchen für Wesen aus anderen Welten, daher tanzte ich auch schlecht. Seit gestern begreife ich wieder alles, was ich längst vergessen hatte, muß aber jetzt handeln, als hätte ich das nüchternste Geschäft vor. Sonst wären wir verloren.«

Sie erschrak mit ihm – über das Wort, und daß es fallen konnte. Er sah ihr blasses Gesicht in dem frühen Morgen, der noch einsam, noch frisch und würzig war. Sie sah das seine. Beide sanken aufeinander zu.

 

II

Sie heirateten, die Frau blieb weiter im Engagement. Sie hatte gesagt: »Du wirst enttäuscht sein, ich bin auf der Bühne nicht gut … Nicht besonders gut«, berichtigte sie, da es ihn schmerzte. Sie begriff ihn. Seine Frau sollte nicht die kleine Schauspielerin sein, ihm lag nur die zukünftige große Künstlerin, die er entdeckt haben mußte. Er versprach: »Als meine Frau bekommst du hier jede gute Rolle. Du zeichnest dich aus, wirst nach Berlin berufen, wir übersiedeln.«

Sie gab ihm recht. Er heiratete keine Außenseiterin, damit sie ihn in der Welt herabdrückte; sie hatte die Verpflichtung, ihn zu beflügeln. Für sich seufzte sie: »Schade. Ich könnte sehr gut Hausfrau sein und zwischen meinen vier Wänden leben anstatt bei einer offenen Wand, durch die Zuschauer hereinsehn.« Aber sie erkannte an, auf so viel Bequemlichkeit habe sie kein Recht. Liebe zu ihrem Mann eröffnete ihr sogar ein neues Gefühl für ihre Aufgaben, sie erreichte mehr als im Vorjahr.

Auch ihm glückte viel. Elchem, jener geborene Erbe, ließ ihn an die Spitze seiner Gesellschaft gelangen. Belling wußte den Erben richtig zu nehmen, das große Vermögen, ohne das er sich nicht sah, rückte nahe wie noch nie. Im Vorhinein baute er sich das Haus, das dem Vermögen entsprach. Der Erbe glaubte es zu seinen eigenen Ehren errichtet. In diesen Sälen spiegelte sich wieder nur die Elchemsche Größe, sogar sein Syndikus konnte Sultan mimen mit einer Schauspielerin, mit Routs und ständig gedecktem Tisch … Was alles in Wahrheit nur die Dekoration eines zielbewußten Arbeiters war. Des Abends vor einer seiner Gesellschaften sagte er zu seiner Franziska:

»Du bist müde, Liebste? Und ich erst. Du kommst aus deinem Geschäft, ich habe zwölf Stunden lang Sätze gesprochen, die irgend jemanden Geld kosten. Jetzt Nachtschicht, das ist hart. Nun, es gibt Gewächse der Champagne, auch diese kleinen Pillen können uns helfen. Gute Laune, wir werden dafür reich! Sie sehen unser Glück, nur aus Kriecherei, glaube mir, lassen sie uns immer mehr verdienen. Aber Vorsicht mit Elchem! Solch eine Mißgeburt von einem Erben verlangt von uns tiefe Erwägung der in ihm streitenden Neigungen. Er weiß selbst nicht, ob er uns lieber in zwei möblierten Zimmern sähe als hier. Er wäre manchmal für schlechte Behandlung dankbar. Ich rate dir dennoch, ihn zum Schluß immer fühlen zu lassen, daß er eigene Verdienste hat. Etwas Selbstentäußerung ist unumgänglich – bis wir draußen unser Landgut haben und für alle unerreichbar werden. Ach! Meine Liebste, könnte es rechtzeitig so kommen!«

Rechtzeitig? Was fürchtete er? – Sie erwiderte: »Alles geht vorzüglich, Werner. Sei unbesorgt, ich lasse nicht nach. Ich lerne meine Rolle, bevor wir schlafen gehen, um fünf Uhr früh, und mir fehlt nichts. Es wird ein großer Erfolg, vielleicht findest du Zeit, mich anzusehn? Oh! es macht nicht viel, wenn du wieder zu spät, sogar erst nachher kommst. Alle wissen, daß wir uns lieben und unzertrennlich sind. Auch Herr von Elchem wird es beherzigen, verlaß dich auf mich!« Denn sie hielt ihn für nicht ganz ruhig in Hinsicht Elchems, so sehr er ihr vertraute. Er traute dem Erben nicht – und trug Bedenken wegen der Voraussetzungen, auf denen hier ihr Dasein ruhte. »Nächstes Jahr gastieren wir anderswo«, schloß sie voll Zuversicht.

Sie blieben, wo sie waren, und trieben es fort. Die Verpflichtungen wuchsen ungeheuer, mit ihnen hielt Schritt die aufreibende Vervielfältigung ihres Betriebes. Man sah sie noch immer auf der Höhe und hochgemut, nur etwas außer Atem. Der Frau war genau bekannt, was über sie das Theater sagte: »Hat nie viel gekonnt. Nachts pokert sie jetzt, gähnt dann auf der Probe – kriegt aber jede Rolle, die gut und teuer ist. Der Mann sitzt im Theaterausschuß. Sie spielt die Dame und schleppt ihm Kunden zu.« Dies war die unverblümte Meinung des Theaters.

Die Stadt sagte von Belling, der es sich denken konnte: »Alle Achtung, er bringt Leben hinein, es kann sogar kommen, daß er auffliegt und mehrere mit. Sein Vater hätte das sehen sollen. Ein stiller Mann, die Familie hatte früher genug getan, sie schlief schon ein, da erscheint solch ein Wildling. Niemand hätte es ihm angesehn – war ein Bummler, las Bücher. Was die Frau aus dem Menschen herausholt! Es ist aber auch die richtige.« Hier schmunzelte die Stadt und sprach leiser. Sie schloß: »Er kann von Glück sagen, daß er einer von uns ist. Einem Fremden gäben wir nicht so lange Zeit. Wir ließen ihn vielleicht schon nicht mehr frei laufen.«

Es war das dritte Jahr ihrer Ehe, als sie diese Stimmen hörten. Sie waren mehrmals dem großen Vermögen ganz nahe gewesen, saßen jetzt bis an den Hals in Schulden – aber ein Wort aus dem Munde Elchems hätte genügt, sie wieder auf eine beneidenswerte Höhe zu schleudern. Franziska war unterrichtet, der Mann allein beherrschte die Lage nicht mehr. Auf sie kam es an, denn Elchem liebte sie. Nach Jahren war es ihm eingefallen, nicht ohne ihre Schuld, wie sie zugab. Sie konnte schon längst nicht mehr anders, als zu verführen, was ihr nahe kam. Es ging von selbst, nie hätte sie an dies neue Unglück geglaubt. Jetzt ward sie geliebt von dem, der Werner fallenlassen oder großmachen konnte. Ihn großmachen aber hieß ihn retten, keine Wahl. Er war verloren, wenn sie ihm Elchem zum Feind machte.

›Mein Werner!‹ fühlte sie. ›Er weiß alles. Er ist eifersüchtig. Der Gedanke, ich könnte die Geliebte Elchems werden, quält ihn furchtbarer als selbst der Zusammenbruch. Mich auch! Mich auch! Warum gehen wir beide trotzdem immer noch einen Schritt weiter? Er tut, als erlaubte er mir gnädig, Elchem hinzuhalten. Eigentlich fleht er: noch hinhalten! – und sieht er mich nur ratlos, entfesselt es seine ganze Verzweiflung. Lieber will er das Ende! Aber in seiner Verzweiflung stellt er das Ende, das er meiner Untreue vorzieht, so schrecklich hin, daß ich begreife: er will es doch nicht lieber – nicht lieber als das andere. Was tun?‹

Sie erfand etwas Drittes, einen harmlosen Liebenden, die Schwärmerei des jungen zarten Offiziers, der nichts forderte, nur seine Liebe erlebte unter ihren Augen. Für ihn sich entscheiden, sein hoffnungsloses Gefühl zu teilen scheinen, sofort war Elchem machtlos. Er konnte nicht mehr an ihren Mann hin, die Eifersucht auf den Dritten beschäftigte vollauf auch ihn. Er mußte auf sie warten, ob der Knabe ihr verging. Ihr Werner bekam Frist.

Hier lachte sie über die trostlose Gestalt des Elchem, er war unmäßig lang, was ihn hilflos machte. Nur diese Hilflosigkeit wirkte krüppelhaft. Trotz allem saß er, sooft sie spielte, im Theater. Er hatte keine Schrecken mehr. Er machte flehende Kalbsaugen, von dem schwachen Erben fiel ab, was seine Gebrechen sonst verkleidete, der Abglanz der Geldmacht. Er ward zum Gespött … Auch Werner. Ach! es traf auch ihn. Er hatte eine Frau, die Jenen nur vertröstete, wenn sie Laune für den Dritten zeigte. Jetzt standen zwischen ihnen zwei, Werner rückte um so viel weiter von ihr fort. Sie dachte an ihn jetzt genauer, unbestochener.

›Er verliert Haltung. Ich höre von Geschäften, die er voriges Jahr doch lieber nicht gemacht hätte. Er ist reizbar bei mir. Begreiflich, es sind ihrer zwei. Ist er nicht auch reizbar, weil ich falsch wähle? Mein armer kleiner Leutnant verlängert nur zwecklos den Winter seines Mißvergnügens … Kurz, Werner erzieht mich zur Dirne. Merkwürdig, das kommt auch in Stücken vor, ich habe es schon gespielt. Dort wäre unfehlbar meine Rolle, daß wir uns nur noch näher kommen durch unser gefährliches Einverständnis. Nein, wir kommen uns nicht näher, sosehr ich ihn geliebt habe. Liebe ich ihn nicht mehr?‹ fragte sie entsetzt. ›Doch. Ich danke dir, Gott. Doch, ich liebe ihn noch immer. Denn auch ihm liegt seine Rolle nicht. Er kämpft wie ich. Wir haben gleichzeitig erfahren, was, glaube ich, Leid heißt. Das Wort wird bei uns nie genannt, aber so heißt es.‹

Dies alles entdeckte sie in dem Durcheinander am Ende eines Festes. Sie gaben es ohne Geld, so gut wie als Betrüger. Mehrere Lieferanten hatten bis in die Nacht, sie wußte es, drunten auf Bezahlung gewartet. Viele Gäste gingen schon, Elchem aber wich nicht von ihrem Mann. Er umklammerte ihn zäh mit den Augen. In seinem schon entarteten Händlergesicht stand deutlich das letzte Wort – der Unglückliche, der es hören mußte, hob die Schultern. Nie hatte sie so mit ihm gefühlt, aber in demselben Augenblick ermutigte sie den Offizier. Der Leutnant verabschiedete sich klagend und ehrerbietig wie immer, da schlug sie den kühnen Ton an, den er nicht fand. Ehrlich wenigstens mit dem einen! Er gefiel ihr, wahrhaftig gefiel er ihr besser als die beiden Händler. Hätte er gewollt, sie verließ mit ihm das Haus!

Er war allein fort, sie stand und lachte unsinnig. Ihr Mann trat ein, sie sah auf einmal, daß um sie her schon alles leer war.

»Verwirrung«, sagte er, ob ihr Lachen oder der Zustand der Zimmer gemeint war. »Etwas müde«, sagte er noch. »Morgen ist ein wichtiger Tag, wir sollten schlafen.« Denn Elchem hatte ihm Geld angeboten, die Beteiligung an einem außerordentlichen Geschäft, wenn er ihm seine Frau verkaufte.

Er machte einige Schritte – schon bei dem Tisch mit halb herabgerissener Decke fiel er auf einen Stuhl. Er hob noch ein Glas auf, das hinuntergerollt war, dann verlor er die nächste Umwelt aus den Augen. Seine Frau setzte sich ihm gegenüber, stützte die Arme auf, und das Gesicht dazwischen hängend, betrachtete sie ihn. Er hatte Furchen bekommen; aber für sie einstmals nicht dagewesen war auch dieser Unterschied im Wesen der Stirn und des Kiefers. Sie hatte nicht gemeint, gegen seine geliebten Schläfen sei das Untergesicht dieses plumpe Gegengewicht. Sie sättigte sich mit dem bitteren Anblick. Er hob zuletzt seine müden Lider zu ihr auf.

»Ich liebe doch eigentlich das Geld nicht«, sagte er wie mit dicker Zunge. »Für Geld das Hundeleben? Für Geld auch noch in so etwas kommen?« Er ließ sie erraten, in was. Er selbst bewegte den Kopf: »Verstehe nicht.« Hier erst bemerkte er seine Frau wirklich, auf einmal erwachte er ganz, die Miene ward von höchster Dringlichkeit. »Achtung!« stieß er hervor, als begegneten sie sich unvermutet an der gefährlichsten Stelle. »Elchem ist stärker, als ich glaubte.« – »Jaja«, sagte sie, aber nur ihr Blick war aufmerksam.

»Zähigkeit gibt dem Schwachen Kraft. So ein Krüppel lebt ständig in der furchtbarsten Angst vor Mißerfolgen, das macht ihn zu allem fähig. Was habe ich morgen zu gewärtigen?« fragte er, seine Gedanken irrten sichtlich ab. »Jaja«, sagte seine Frau.

Plötzlich war er wieder zugegen. »Glaube nur nicht, daß der dich liebt! Der ewig Sterbende liebt ausschließlich das Leben, darauf verlaß dich! Wer dir gehört, willst du wissen? Noch immer derselbe. Ich.«

›Dies wäre beinahe seine bezaubernde Stimme von einst‹, fühlte sie und träumte. Er sah in ihrem armen Gesicht die Spuren dieser Jahre, getrübt sogar der Blick, wenn sie nicht daran dachte, ihn glänzen zu lassen. ›Diese Augen haben auf mir länger gelegen als alle anderen Menschenaugen.‹ Die Ahnung kam ihm, was er getan habe. Er half sich dagegen mit starken Worten. »Für dich – sogar Verbrechen!«

»Nein!« rief sie. »Tue es nicht! Für mich nicht!« Sie war aufgesprungen des größeren Nachdrucks wegen. Wollte sie sagen: ›Ich bin es nicht wert?‹ Meinte sie vielmehr: ›Bei mir würde es dir nichts mehr nützen?‹ Er hörte das ›Zuspät‹, auch er stand auf.

Er wollte einen Entschluß äußern. Mit allem brechen! Er äußerte ihn aber, wie er wohl unterschied, theatralisch. »Wohin dann?« fragte sie. »Alles soll werden wie früher«, behauptete er, worauf sie: »Suturp.« Hier schwiegen sie erschrocken.

Am folgenden Vormittag hatte er die entscheidende Zusammenkunft. Schon aufbrechen mußte er unter schlimmen Vorzeichen. Der kleinste aller Lieferanten paßte ihm auf. Er konnte selbst dies nicht bezahlen, er fand wahrhaftig in allen Taschen nichts. Das reiche Haus, aber keiner aus der Dienerschaft, der auslegen wollte – der Geschäftsmann schlug Lärm, unter dem Geschrei flüchtete Belling, bevor sein Wagen vorfuhr. Vielleicht auch hätte der Kutscher gestreikt.

Dies alles, während er Geld haben konnte, so viel er wollte. Du unterzeichnest einen Vertrag, der dich in ehrenhaftester Art wieder auf feste Füße stellt. Stillschweigend gilt dann auch die mündliche Abrede mit, eine einzige Bedingung, diese weniger ehrenhaft, auch nicht ganz so erhebend. Aber du wärest gerettet.

Sie waren schon zur Stelle und gerüstet, Elchem mit seinem Notar. In feierlicher Trockenheit verging eine Stunde. Der alte Notar konnte nicht wissen, weshalb der Rechtsanwalt einen Einwand nach dem andern erhob. »Herr Kollege«, bemerkte er, »Sie haben hier einen Eventualvertrag, er tritt in Kraft erst, wenn sowohl Sie wie Ihr Herr Gegner sich überzeugt haben, daß alles in Ordnung geht.« – »Daß alles in Ordnung geht«, wiederholte Elchem mit schiefem Lächeln und wälzte einen blassen Blick aus dem Profil.

Da die Verhandlung stockte, ließ Elchem eine Pause eintreten. Inzwischen nahm er das Geld entgegen, das der Notar ihm mitbrachte. Belling trat fort – sah aber auf dem Tisch die Banknoten sich häufen. Er begriff, auch dieses Schauspiel gehöre zu den Mitteln des Gegners … Dem Papier folgte Gold. Ein Goldstück fiel zu Boden. Sie suchten es unter dem Tisch, Elchem wie der Alte krochen auf den Knien danach. Es war aber bis zu Belling gerollt. Er bückte sich und steckte es ein.

Er tat es mit Gleichgültigkeit, unter der höheren Verantwortung des Schicksals. Er sah sich selbst dabei zu, als einem Fremden. Jene beiden gaben es auf, zu suchen. Er erklärte ihnen, daß er sechs Stunden Bedenkzeit brauche. Alles verlassen, dachte er planlos. Auf und davon! Klar empfand er allein die Befriedigung, jetzt einen Wagen nehmen zu können, den kleinen Gläubiger, wenn er noch immer wartete, entlassen zu können.

Auf der Straße holte der Notar ihn ein. »Ich habe es gesehn«, sagte er mit Vorsicht – aber schon fester, als Belling sich unwissend stellte: »Kollege! Machen Sie sich nicht unglücklich.« Er war hager, er kannte das Lachen nicht, ehrenfest jeder Schritt, Belling hatte verspielt. Der Alte ergänzte unerwartet: »Auch Herr von Elchem kann es gesehen haben, ich weiß es nicht. Gleichviel, im Hinblick auf unsere Standesehre übernehme ich, ihm zu sagen, das Goldstück sei mir in die Kleider gerutscht. Sie haben es in der Uhrtasche. Geben Sie es her!«

Belling zögerte noch, er sah dem andern in die kalten Augen, die nicht auswichen. Regungslose Sekunden, dem, der stürzen sollte, lief Grausen den Rücken entlang. Sein Körper sträubte sich gegen das, was er tun wollte. Er tastete zögernd nach der Uhr, er schien es darauf ankommen zu lassen, was er fände, aber er tat es. Er zog das Goldstück hervor, er gab es hin. Gleichzeitig erschien an der Straßenecke Elchem mit einem Schutzmann.

»Sie haben gehört und gesehn«, sagte er. »Verhaften Sie den Mann!«

 

III

Der Angeklagte Belling verteidigte sich damit, daß der Zeuge Elchem sein Feind sei. Das große Geschäft, dessen gemeinsame Ausführung sie zuletzt berieten, sei von Anfang bis Ende sein eigenes Werk, Elchem habe es ihm aus der Hand nehmen wollen. Erreichte er denn nicht grade dies, wenn er einen Unschuldigen zum Dieb stempelte? Elchem habe ihm das Zwanzigmarkstück in die Tasche gespielt. Hierbei blieb er. »Ich hielt den Kopf weg, er hat es mir zugesteckt.«

Die Stadt sah zu und dachte, daß Elchem auch noch der Feind Bellings sei, weil er ihm die Frau nehmen wollte, aber hiervon war laut nicht die Rede. Übrigens hatte der Notar den Diebstahl gesehn, er beschwor es. Auch Elchem schwor. Der Rechtsanwalt ward verurteilt. Ins Gefängnis für zwanzig Mark, ein Herr aus erster Familie, es ging doch über die Begriffe, sah aus wie Mutwille des Glücks, es beschäftigte die Stadt noch lange. Nachrichten drangen aus der Zelle, bittere Scherze: »Für zwanzig Mark wohne ich schon die zweite Woche.« – »Ich hätte hier für Bäder sorgen sollen«, sagte der frühere Stadtverordnete. Von seinen ernsteren Gedanken ward nichts gehört. Dann wurde es langsam still von dem Gefangenen, als spräche er nicht mehr.

Zur gleichen Zeit ging seine Frau an ihren Plan.

Die ersten achtundvierzig Stunden nach seiner Verhaftung lebte sie bei verschlossenen Türen und Fensterläden, in seelischem Tod. Dann kamen Eindringlinge, sie trugen die Einrichtung fort. Im leeren Haus erschien wahrhaftig Elchem, mit dem Ausdruck seines Bedauerns. Sie wies ihn hinaus. Erst als sie zwei möblierte Zimmer bezogen hatte, versuchte er es wieder. Er berief sich auf seine Tätigkeit im Theaterausschuß, nur ihm verdanke sie, daß sie trotz allem auftreten durfte.

Sie verdankte es noch mehr der Neugier. Gemäßigte Neugier immerhin, nur starke Zwischenfälle hätten belebend gewirkt. Erst bei ihrem dritten Auftreten und von der Direktion beraten, fiel die Schauspielerin auf offener Bühne, wenn auch kurz, in Ohnmacht. Dies war nun wieder mehr, als der Ausschuß für zulässig hielt. Sie hatte damit gerechnet; gern gab sie es auf, sich nochmals zu zeigen. Ohnehin war Elchem nach der Szene mit der Ohnmacht die halbe Nacht um ihr Haus getappt. Ihn hielt sie – wenn anders ein mißtrauischer Schwächling je haftete. Es galt, seine Mitwisserin zu werden und in die behüteten Tiefen einzudringen, die so einer barg. Der Haß befähigte sie dazu.

Ihr Haß auf Elchem war kaltem Hohn verwandt. Er versah sie sogar mit Kraft. Sie war nicht sicher, den Verlust ihres Mannes zu ertragen, hätte sie nicht Elchem gehaßt. Sie erwartete ihn wie das tägliche Brot, aber nur in entlegenen Stadtteilen durfte er ihren Spuren folgen. Sie fragte ihn, wohin jetzt seine Macht sei. Er wäre noch immer die große Gefahr, wenn ihr Mann noch frei wäre. Jetzt habe er sich verausgabt. Er antwortete kläglich, er könne ihr die Einrichtung zurückkaufen, ja das Haus. »Ohne den Mann!« sagte sie – worauf er um Verzeihung flehte.

Sie reiste ab, und er folgte ihr. Bei ihrer Wiederbegegnung in der anderen Stadt behauptete sie, seinen Anblick nicht ohne Grauen zu ertragen, nur seine teuflische List habe einen armen Menschen ins Verderben gelockt. »Ich schwöre Ihnen –« wollte er vorbringen. »Still!« befahl sie. »Ihresgleichen schwört kalten Blutes sogar vor Gericht.« Hier erschrak er merklich. Auch sie verstummte scheinbar vor Schrecken. Sie wartete, daß er sich widersetzte, aber er vergaß es. Da bestätigte sie leise und dringend: »Sie haben getan, was er behauptet. Ihr Geheimnis gehört jetzt mir mit!«

Vielleicht wußte er nicht, wie ihm geschah. Oder er ließ sie reden, weil der kühne Schurkenstreich, den sie ihm zutraute, doch schmeichelte. Es hatte ihm keineswegs vor Gericht geschmeichelt, daß er der Teufel sein sollte; er hatte mit überzeugtestem Gewissen die Lügen des Schuldigen von sich gewiesen – kühne Schurkerei ward verführerisch erst durch die Frau, der es schauderte vor ihm. Seine Haltung war plötzlich weniger gebeugt, sie beobachtete es gespannt. Er wuchs. Da kam der ihr bekannte eitle Blick aus dem Profil. Sie erwiderte ihn mit offener Bewunderung, wie außer sich. Gleich darauf lief sie davon, er mit seinen behinderten Beinen blieb zurück. »Um Gottes willen!« hörte er sie noch ausstoßen. »Was tue ich!« Befriedigt hielt er an, er hatte verstanden: in diesem Augenblick verließ die Frau in Wahrheit den Mann, der versagt hatte, und ging zu ihm selbst über. Denn er, so meinte sie, war vor nichts zurückgeschreckt, damit sie sein ward!

»Sollte ich es nicht wirklich glauben?« fragte sie sich allein in ihrem Gasthaus. »Dieser Mensch vergeht in Angst vor Mißerfolgen, er könnte bei aller Feigheit es doch gewagt haben. Werner wäre unschuldig. Wieviel mehr Mut hätte ich, wenn Werner unschuldig wäre!«

Ohne es zu bemerken, setzte sie sich hinter den Tisch, stützte die Arme auf, der Kopf hing dazwischen – und wie in jener letzten Nacht betrachtete sie das Gesicht ihres Mannes. Es war zugegen, sie sah es. Kein Zweifel blieb übrig, er hatte getan, wofür er damals reif war … Sie seufzte auf. Sie hatte nur sich selbst, nur ihren Haß – nicht ihn, der jetzt büßte, ihn, dem am Ende jetzt leicht war. Auf ihr lagen Haß und Rache, wie die Pflicht zu leben selbst. Sie war entschlossen, zu leben.

Der andere ließ sich melden, er wollte noch warm seinen Vorteil verfolgen. Er war beinahe rosig, er hatte gute Manieren, wie vor Abschluß eines Vertrages. Er sagte »Liebe Freundin«. Sie beobachtete alles mit dem ganzen Triumph des Abscheus. Die Stimme sanft und vertraulich zu machen, ward ihr zum brennenden Genuß. »Sie sehen alles richtig, lieber Freund. Meine Mittel sind erschöpft, niemand konnte diskreter darauf anspielen als Sie. Ich bin ohne Anstellung, mein Mann sitzt im Gefängnis. Trotzdem kann ich nicht Ihre Geliebte sein – noch nicht.« Er hatte darum nicht gebeten.

Er setzte sich, um ruhig weiter zu hören. Sie begann zu fürchten, sie tue dem Schwächling nur einen Gefallen mit ihrer Weigerung. Was wollte er dann von ihr? »Oh! keine Rücksicht auf den Verunglückten«, begann sie wieder. »Er hat mir genug geschadet. Sie aber sind mir bis jetzt noch zu stark«, sagte sie mit ihren schönsten Lauten. »Mein Schicksal wäre, Ihnen zu unterliegen, Ihre willenlose Sklavin zu werden.« Was er schlürfte mit Lippen, die sich verschoben und ihr Inneres zeigten. »Wieviel Sie gewagt haben!« rief sie. »Gewagt mit Erfolg. Denn wo wären Sie jetzt, wenn es Ihnen mißlungen wäre.«

Hier ward er mißtrauisch, er schielte nach den Türen des Gasthauszimmers. »Das wissen nur wir«, sagte sie schnell. »Wir aber schweigen. Vielleicht, wenn ich Ihnen einst erlaubte, mich zu lieben –« schloß sie entschwebend auf heißem Atem. »Würden Sie mir ins Ohr sagen, daß Ihr Sieg ein unschuldiges Opfer verlangt hat?«

Jetzt war er sichtbar errötet, das gekreuzte Bein schlang er jetzt mehrmals um das andere, er schützte sich – lächelte aber glücklich. »Sie spielen so schön«, stammelte er, ihr unvermutet. »Als ob ich an Spielen dächte!« rief sie. Er verriet: »Ich möchte spielen können wie Sie.« Da hielt sie an. Sie vergaß sich sogar, sie bekam ein unverstelltes Gesicht, er hätte erschrecken müssen. Dank seiner schamhaften Begehrlichkeit sah er aber nicht auf.

»Wir werden zusammen spielen«, flüsterte sie, wie etwas Unkeusches. »Ich erlaube Ihnen, mir in dieser Stadt eine Wohnung zu mieten. Es muß eine sehr einfache sein, und weiter nehme ich von Ihnen nichts an. Versprechen Sie, daß Sie mir nie etwas aufdrängen wollen?« Wie gern versprach er! Ihre Uneigennützigkeit machte ihn erst sicher. »Ich werde Kostüme kaufen«, verhieß er. »Ich weiß, wo ich es heimlich kann. Sie sollen sehen, daß Kostüme mich kleiden.«

Er ließ sich gehen, zutage kam, daß er bei aller Eitelkeit, in der sein Geld ihn erhielt, sich ganz im Grunde als traurige Figur fühlte. Sie wußte, das dies hätte rühren können – wußte es noch und genoß um so schrankenloser ihren vollkommenen Haß. Er nahm Abschied, küßte ihr die Hand, und sie ließ die Hand auf seinen Lippen, als er den Kopf wieder aufrichtete. Sie führte ihre Hand um seine Wange, seinen Hals, die Haut des Dreißigjährigen war trocken wie Papier. Ihre Hand fand nicht fort, sie konnte sich nicht ersättigen.

Die Wohnung war in acht Tagen fertig. Beide hatten Eile. Die Kostüme brauchten auch nicht viel länger. Alles Weitere aber ging langsam. Er war freilich beglückt, sich als Sultan zu kleiden, er schien darin geübt, vielleicht trug er dies auch zu Hause heimlich. Ihn an ihre Gegenwart zu gewöhnen, das war es, was schwer blieb. Wie umständlich, bis der Sultan seiner Sklavin erlaubte, ihm die Füße zu küssen. Sie brachte es dahin. »Bin ich eine gute Schauspielerin?« fragte sie hierauf ihr eigenes Spiegelbild. »Ich hatte doch niemals Talent. Woher jetzt?«

Auf weitergehende Einfälle kam er selbst, sie hatte die Geduld, so lange zu warten. Sie mußte auf den Ofen steigen, er brachte drunten ein Ständchen. Dann holte er sie über eine Leiter herab, und die Leiter mußte mit ihnen umfallen. ›Noch nicht den Hals brechen!‹ dachte die Odaliske. ›Ich habe noch mehr vor.‹ Sie hielt ihn fest in seiner lasterhaften Phantasie. Ihre Gefügigkeit ward nach einigen Versuchen so traumhaft glatt, daß er vergaß, er sei nicht mehr allein. »Wie schrecklich!« murmelte sie ergeben in einem Winkel, wenn er als grausamer Tyrann maskiert vor sie hintrat. »Nicht den Kopf abschlagen, bitte! Für diesen großen Mann schmachten lauter unschuldige Opfer im Kerker!« – Wozu er aufgeblasen lächelte.

Mit Vorliebe sah sie ihn schlafen. Er hatte sein Mißtrauen so weit verlernt, daß er sich nicht mehr einschloß, sooft er bei ihr übernachtete. Sie betrachtete gierig dies kleine, in der Bewußtlosigkeit verfallene Gesicht, die Zipfelmütze auf dem dünnen Schädel, seine vom Schlaf gekrümmten Knochen. Das war der rechnende Sieger dort draußen im Erwerbsleben, der Nutznießer der Tatsachen, verhängnisvoll vielen. Hier wurde daraus ein Narr, der sich für schön und furchtbar hielt. Dies stak dahinter, so enthüllte sich der, an dem sie und ihr Geliebter gescheitert waren. Was für Geheimnisse! Glichen alle Herren des Lebens dem einen? Erhielten die Welt noch grade im Irrtum über sich, heimlich aber brüteten sie Irrsinn? ›Komödie! Nur wir beide sind im Ernst gescheitert.‹

Sie baute, indes er schlief, am Fußende seines Bettes eine Figur auf, aus sich selbst machte sie eine zweite Puppe. In dem Augenblick, als er halb erwacht und noch unsicheren Blickes war, steckte das eine der Geschöpfe dem anderen, das nichts merkte, ein Goldstück zu. Bevor er zu sich kam, war sie fort mit allem Zubehör … Hiervon sprach er später nicht, ein Zeichen, daß er Zweifel hatte. Die Zeit war vorbei, als er log, sooft er mit Lächeln und Winken zugab, daß er sein Opfer ruchlos betrogen habe. Er log nicht mehr, er zweifelte schon selbst. Sie sagte plötzlich in der Stille:

»Wohin bringst du mich? Du machst mich zur Verbrecherin.« Sie sprach dumpf und duzte ihn, sofort begann er zu schielen. »Ich bewundere dich«, sagte sie, »ich diene dir. Dabei weiß ich ganz genau, welches Ungeheuer diese gesittete Maske bedeckt. Ich kenne dein grausigstes Verbrechen«, schloß sie kaum hörbar. Er fuhr auf wie ertappt, die Augen stoben schuldbewußt durch den Raum. Sie mußte ihn erst daran erinnern, daß er stark und ohne Gewissen war.

Das nächste Mal, als sie ihn wieder im Schlaf betrachtete, öffnete er die Augen. Er war ganz wach, saß da und kreischte: »Jetzt hab ich Sie! Sie hassen mich!« Sie konnte nichts vorbringen. Beide vollkommen weiß, starrten sie aufeinander. Die Frau schlich rückwärts hinaus, ihn sah sie noch umfallen und in seinen Kissen zittern.

Sie glaubte, er werde abreisen. Statt dessen kam er, sie um Verzeihung bitten. Das Glück des Triumphes stieg in ihr auf so heiß wie Liebe. Eine Sekunde lang wußte sie nicht, was sie fühlte. Sie wußte es alsbald wieder. Er konnte die Täuschung nicht mehr entbehren, er war in ihrer Hand. Sie durfte zudrücken. Sie ließ sich dennoch Zeit, ob des verlängerten Genusses wegen, oder weil er auf jedes neue Wagnis selbst verfallen, auch noch den letzten Schritt freiwillig tun sollte. So selbstverloren sie ihn hier bei sich kannte, sie vergaß keinen Augenblick, daß er jenseits ihrer Schwelle erwachte und seinen vollen Teil Wirklichkeit wiederbekam. Sie nahm nicht leicht, was geschehen wollte, wartete, daß das Ereignis sich erklärte, und sicherte jeden Fußbreit. Als er endlich damit herausrückte, daß er Belling sehen müsse, hatte sie schon Vorkehrungen getroffen.

Was er wollte, war ihm seit langem anzumerken. Er sprach nur noch von Belling. Keiner der Menschen, mit denen er weiter die vorteilhaftesten Geschäfte machte, schien für ihn dieselbe greifbare Nähe zu haben wie der unzugängliche Gefangene. Er lebte geistig am Fuß der Mauern, in den Höfen, den Gängen, die zuletzt einmal zu jeder Zelle führten – kam aber nie hin. Sie sah ihn schmachten. Um hinzukommen, hätte er getauscht mit dem Gefangenen.

Er wäre hineingegangen, der andere herausgetreten, und im Vorbeigehen hätte er alles erfaßt. Er hätte endlich, er, der Sieger, genossen, was aus seinem Opfer geworden war. Hätte die eigene Größe, so bange sie ihm machte, ganz ermessen. Hätte sein verruchtes Herz gespürt – ein Schlag mit dem anderen, besiegten Herzen. In der Zelle wäre dann selbst noch das Herz des Feindes seins geworden, er hätte mit dem Herzen des Geschlagenen gefühlt, was sicher leichter gewesen wäre als dieses Herrenleben.

In der Maske des Furchtbaren vor sich selbst nur immer groß dazustehn, war aufreibend, wer hätte es gedacht. Seine Kostüme, er hatte sie mehr geliebt als Geld, geschweige Menschen. Sie waren wütende Freuden gewesen, jetzt kleideten sie ihn in Angst. Auf dem Gipfel aller Pracht erblickte er doch nur sein immer müderes Gesicht. Alles verschenken können! Das ging nicht, er durfte auch nicht einfach fortbleiben. Er war der Gefangene seiner Leidenschaft und derer, die sie benutzte.

Die Frau durchschaute ihn: so stand es. Er haßte mittlerweile sie nicht weniger, als er gehaßt ward – nur, daß er sie auch noch liebte. Sie sah ihn, um sich von ihr zu befreien, fähig jedes Wahnsinns, darauf baute sie bei dem letzten Streich, den sie plante. Eines Tages verließ er sie wie gewöhnlich, fuhr nach seiner Stadt, seinem Haus, trat in sein Zimmer – und mitten in eben jenen Auftritt, der einst hier gespielt hatte, jetzt aber Jahr und Tag in seinem Inneren weiterspielte.

Am Tisch der Notar zählte Geld. Belling ging beiseite, Elchem nahm seinen Platz ein, er handelte mit, wie gewohnt. Das Goldstück fiel hin, alle bückten sich. Elchem aber kroch diesmal auf den Knien unhörbar nahe an Belling, dem Abgewendeten steckte er das Goldstück zu. Im gleichen Augenblick erhob sich der Notar, er sagte: »Ich habe es gesehn.« Dann warteten alle. Elchem selbst beschloß: »Begleiten Sie mich zum Gericht, meine Herren!«

Alle drei verließen auch wirklich das Haus, wenigstens glaubte dies der eine. Erst hinter der Straßenecke sah Elchem sich plötzlich allein. Aber selbst allein ging er weiter.

Die beiden anderen entfernten, bevor sie gesehen wurden, ihre Maskierung. »Wenn es nur gut geht«, sagte der Jüngere. Der Ältere sagte: »Bis jetzt hat sie recht behalten. Sie kannte sein schlechtes Gewissen.«

»Sollte er aber doch von uns sprechen?«

»Er wird von uns nicht sprechen, wir haben ihm nur geholfen, sein Gewissen zu erleichtern.«

Beide waren darin einig, daß sie diese Tat des Gemeinsinnes ihrer früheren Kollegin geschuldet hatten – sie als die einstigen Zeugen ihrer Verlobung. Das durch einen Schurken gestörte Glück wurde dank hilfreichen Künstlern wiederhergestellt. Sie bekam ihren unschuldig verurteilten Mann zurück.

 

IV

Die Meinung der beiden Schauspieler ward nach einigen Übergängen auch die der Stadt. Elchem beschuldigte sich, er bestätigte gerade die Darstellung, mit der Belling als Angeklagter vor zwei Jahren sich verteidigt hatte. Zeugen des Vorganges selbst gab es nicht, der alte Notar war tot. Der Schutzmann hatte nachträglich den Eindruck, daß Belling von dem Goldstück, als er es aus der Tasche zog, nichts wußte. Man konnte zweifeln; der Rechtsanwalt war damals mit allen Hunden gehetzt gewesen – wohl aber auch Elchem, aus Leidenschaft für die Frau. Die Tat des einen wäre so unglaublich gewesen wie die des andern, wenn nicht doch einer schuldig sein mußte. Zwei Herren wie diese, welchen wählen? Die Stadt konnte zuletzt einzig den Richtern beistimmen, sie verurteilten den Geständigen, sie entließen den, der leugnete wie je.

Von der Frau sprach niemand, sie hatte sich rechtzeitig in Vergessenheit gebracht. Seit ihrem Fortgang aus der Stadt schrieb sie nicht einmal Briefe in das Gefängnis. Jetzt erwartete sie dort hinten für sich allein das Wiederaufnahmeverfahren. Die Zucht der vergangenen zwei Jahre befähigte sie, auszuhalten, stumm den Erfolg zu tragen, wie sie das Unglück stumm hingenommen hatte, und ihr Geschick nur in der Zeitung zu lesen. Sie las nicht ohne Spannung; Elchem konnte sie nennen.

Sie hätte nicht gewollt, daß Gefahr ganz ausgeschlossen wäre. Sie dachte: ›Acht gegen zwei, daß er schweigt. Wenn er mich nennt, habe ich verloren, aber ich kenne meinen Elchem.‹ Sie dachte mit Wonne ›meinen‹. – ›Er wird lieber auf sich nehmen, was er nicht getan hat, als daß er gestände, was er hier bei mir wirklich trieb. Er schämt sich. Er hat sich satt. Er ist so mürbe wie damals mein Mann, bevor er sich fallen ließ.‹

Ihre Spannung war unbeschwerlich, obwohl sie nicht aß und nicht schlief. Dies war nur der Vorraum des herrlichsten Glücks. Nun auf, es ist vollendet. Elchem hat bis zuletzt geschwiegen. Er tritt ab, taucht in die Untergründe der Gesellschaft fort. Weiß aber! Weiß, daß er nichts getan hat, und ergibt sich. Unübertrefflicher Triumph, das Opfer stimmt zu! Das Opfer gibt dem Feind recht!

Auf und in die Arme des Geliebten! Sie fuhr zu dem vom Leiden und von ihrer eigenen Tat Umglänzten wie zu einem höheren Wesen. Ihr klopfte das Herz. Was sie gewagt hatte und schon nicht mehr ganz begriff, kreiste in ihrem Kopf, ihr schwindelte. Sie fürchtete, die Fahrt nicht zu überstehn.

Bald wünschte sie aber, damals wäre sie gestorben. Die Gatten begegneten sich zuerst unter Fremden, die den Freigesprochenen nach Haus brachten. Der Erfolg machte alle zu seinen Freunden. Man überbot sich in Ratschlägen an Belling, wieviel er von Elchem fordern könne. Seine Stellung, die entgangenen Verträge, Berufsstörung und guter Name – nicht auszurechnen schien die Entschädigung, die dem Freigesprochenen sicher war. Elchem mußte höchstwahrscheinlich seine Geschäfte verkleinern, um so viel herauszuziehn. Davon abgesehn, ruinierte ihn das Gefängnis. Sie beglückwünschten seinen Gegner der ihnen dankte und laut ihre Genugtuung über den Zusammenbruch des Schuldigen teilte. Seine Frau und er waren gefaßt, vom Ernst des ertragenen Unrechts mehr umwittert, als das Glück gleich klären konnte, sie zeigten Würde und Kraft. Der Eindruck ließ nichts zu wünschen. Die meisten, vorher nur durch den Erfolg gewonnen, begannen zu glauben, Belling sei wirklich unschuldig.

Jetzt küßten die Gatten sich, unter dem Beifall der abziehenden Freunde. Beide hatten gefühlt, bevor man sie allein ließ, müßten sie sich küssen. Der Kuß fiel theatralisch aus. Als dann die Tür sich schloß, hatten sie einander den Rücken gewandt. Jeder dachte: ›Jetzt müßten wir aufeinander zufliegen. Jetzt käme der richtige Kuß.‹ Aber er blieb aus.

Als das Schweigen schon zu lange währte, bemerkte der Mann: »Wie lästig, im Hotel. Ich werde unser Haus zurückkaufen.« Sie hoffte, daß er es sage, um sie an ihre erste Zeit zu erinnern. Auch äußerte er es gewiß, weil niemand horchen durfte, wenn sie endlich sich eröffneten. »Wir sind ganz ungestört«, erklärte sie. »Beide Nachbarzimmer habe ich belegt.« Sie ging sogar in das Badezimmer und öffnete den Wasserhahn, es wurde vollends unmöglich, zu hören, was sie sprachen. Dennoch sprachen sie nicht.

Der Mann reckte sich endlich, fiel in den Sessel, redete an ihr vorbei in die Luft. »Hat er doch gestanden«, hörte sie deutlich. »Wie meinst du?« fragte sie trotzdem, worauf er sie bat, den Wasserhahn zu schließen. »Hat die Kanaille Elchem ihre Gemeinheit doch eingestanden«, wiederholte er. Sie fragte: »Du glaubst wohl noch immer, wir würden belauscht?« – worauf er schnell über sie hinsah, sie fühlte: mit Mißtrauen. Sie selbst war es, die er fürchtete!

Sie ging hin, ließ sich zu seinen Füßen auf den Boden nieder, sanft und dringlich flüsterte sie: »Gerade ich habe ihn dazu gebracht.« Seine Antwort war ein langsames Erröten und daß er fortsah. Ihr ward es kalt, jetzt war er überzeugt, sie habe ihn betrogen. ›Ich durfte nicht sprechen‹, dachte sie, fuhr aber fort: »Durch Suggestion – aus der Ferne. Oh! nur von weitem, ich habe ihn nicht ein einziges Mal gesehn. Du kannst in der ganzen Stadt fragen.« Dabei stand sie auf, räumte Sachen ein und beobachtete ihn geheim.

Er war, was aus ihm das Gefängnis gemacht hatte, mißtrauisch, unaufrichtig, wohl auch geschwächt. Das hätte vergehen können, aber er brauchte sie nicht mehr. Das schlimmste war, daß er unter dem Druck der Hoffnungslosigkeit zu entbehren gelernt hatte. Jetzt entbehrte er schon ohne Schwierigkeit sowohl Vertrauen als auch sie, die es anbot. Aufschreien: ›Du liebst mich nicht mehr!‹ Nein, sie ward zum Schweigen gebracht von seinem Gesicht, so kalt und voller Hinterhalte. Auch fiel ihr ein: ›Ich aber, die ihm jahrelang nicht schrieb?‹

›Aus Liebe!‹ behauptete ihr Innerstes. ›Um ihn zu rächen!‹ Da erkannte sie, daß schon längst die Rache sich vor die Liebe gedrängt hatte. Auch sie hatte, in ihr Geschäft versenkt, ihn zu entbehren gelernt. Ihre schöne Liebe war ihr aus den Augen gekommen, sie blieb nun übrig tief innen, wer konnte auch nur bezeugen, daß sie dort noch lebte. Wenn man so müde ist? Wenn man nun dies Gesicht hat, in das der Geliebte mit Argwohn blickt? – Angstvoll suchte sie es im Spiegel – dann wieder seins, ob der Eindruck, den sie ihm machte, übereinstimmte mit dem, was sie selbst sah, ein hartes und unreines Gesicht, zu verkniffen, als daß Liebe es jemals mehr bewohnt hätte, nicht ihre Liebe von einst, nicht ihre Liebe!

Sie beklagte ihre Liebe, nicht aber den, der sie verloren hatte. Vielmehr stand sie und betrachtete ihn mit neuen Augen. Dieses Menschen wegen sich verbraucht zu haben! In Lug und Trug gelebt zu haben, zwei Jahre lang – und vorher? Jetzt kamen Zweifel sogar an der Zeit, als sie beide noch, verbunden durch alle Gefahren ihrer Laufbahn, nach dem Abgrund fuhren. Was war es gewesen? Liebe – oder nur rasende Fahrt?

Trauer befiel sie, daß sie hätte am Fleck hinsinken mögen. Das Schauspiel wenigstens sollte er nicht haben, sie lechzte nach Kraft – da ward ihr Kraft in Gestalt des Hasses. Sie konnte ihn hassen, den Räuber ihrer Jugend, das gab dennoch Leben. Gierig blickte sie nach ihm aus, er war aber vom Stuhl auf, er brachte hervor mit eben der Stimme, die in diesem Augenblick auch die ihre gewesen wäre: »Wegen so einer gestohlen zu haben!« Dann verzerrten beide den Mund, dann atmeten sie laut und schnell, dann suchte jeder die Tür, die er hinter sich zuschlagen konnte.

Sie haßten, bis es dunkel war. ›Jetzt hat er doch gestanden‹, bedachte sie am Abend in ihrem Zimmer. ›Er hat aus Haß gestanden. Haß ist so schlimm nicht wie Lügen.‹ Er in seinem Zimmer sann: ›Selbst wenn sie mich haßt, wen habe ich denn sonst?‹ – So gingen beide aufeinander zu, in der Mitte fanden sie sich.

Dies Zimmer bekam nur von der Straße Licht, sie ließen es so. Wo der Lichtschein nicht hintraf, saßen sie, jeder in eigene Trauer versenkt. »Wozu die Mühen?« fragten sie abwechselnd. ›Wozu denn eigentlich damals die vielen Mühen, der falsche Glanz, all das erjagte Geld? Was war es mit mir, daß ich über so viele andere hinwegging, um endlich doch nur hier zu sitzen?‹ Der Mann sagte: »Ich war im Gefängnis« – da war es der Frau, als käme auch sie von dort. Jedes seiner Worte begriff sie wie selbst erlebt.

»Ich war im Gefängnis«, sagte er. »Ich glaubte sogar, es wäre bis zum Tode, denn ich ward krank durch Mangel an Luft und Bewegung. So sah ich zwischen mir und dem Tode einzig Gefängnisjahre – das hereingetragene Essen, den dürren Baum im Hof und Gedanken, die nichts bringen, nur Leben mitnehmen. Endlich fragte ich mich in der Not, wie es denn draußen gewesen war, und fand: nicht anders, obwohl es anders hätte sein können. Aber das wissen wir nicht, solange wir draußen sind. Wir sind fast immer stumpf und kaum zugegen, während das Leben verstreicht. Wir gehen zwischen Maskierten umher und sehnen uns, arbeitend und Unrecht verübend, im Grunde nur nach Schlaf. Unsere reicheren Stunden machen sich teuer bezahlt.« Sie wußten, was sie meinten, die Stunden ihrer Liebe.

Der Mann beschloß: »Wir sind Gefangene überall.«

Die Frau begann: »Ich aber habe einen andern ins Gefängnis gebracht. Auch kein Unschuldiger, obwohl er nicht gestohlen hatte. Er hätte uns helfen sollen. Er hat uns nur immer versucht. Ist darum er allein schuldig?« Sie antwortete selbst: »Ihn versuchten wieder andere. Es bleibt dabei. Wir haben getan, was wir getan haben.«

»Und wenn wir es überhaupt wieder gutmachen könnten?« fragte er.

»Hätten wir den Mut nicht«, entschied sie.

Die Nacht verstrich ihnen in diesem dunklen Zimmer. Am Morgen waren sie der beanspruchten Entschädigung wegen zu ihrem Anwalt bestellt. Sie gingen aber, ohne sich zu bedenken, an dem Hause vorbei, zur Stadt hinaus und durch die lange Buchenallee. Herbstwind fuhr unter entlaubten Kronen her, sie beugten sich, sie sahen ihren Weg nicht. Erst im Wald war es still.

Der Wald roch modrig, auf einmal schien dem Mann, er spüre den Geruch von Ginster. »Hier steht gelber Ginster«, sagte er an einem schon verwüsteten Platz. »Es duftete damals.« Bei dem Wort hielten sie erschreckt den Schritt an. Sie lauschten auf andere Schritte, die man nicht sah, sie meinten: vergangene. Nein, nur Blätter raschelten, sie gingen weiter durch nasse Blätter. Sie gingen träumend.

Zuletzt drang Sand ein samt Jodgeruch des Tangs auf feuchtem Lufthauch. Die See, da erscheint sie wie eine Gestalt. Da ist sie wieder, hell, leise, bläulich. Rückwärts verwandelte Welt! Frühlingshimmel wäßrig blau überspannt für ihre Blicke, nur für sie, die Bucht. Der Strand von Suturp ist eng und kahl, hartes Gras weht still, zerrissene braune Netze sind aufgehängt über die ganze Breite. Sie erkennen alles, beide erkennen, was doch nicht da ist, das Schmeicheln der Luft, in klares Licht gefaßt jeder Stein. Wie baden sie in dem Licht, das, ach, nur ihre selbstherrliche Sehnsucht erschafft! Verklärte Spuren ihrer selbst sind, indes sie fort waren und verwandelt wurden, hier zurückgeblieben, ihr eigenes Gedächtnis verweilt noch am Ort wie Fabel höherer Wesen … Dem Wasser nahe liegt ein Boot, von weitem lesen sie seinen Namen: Franziska.

Gemeinsam schieben sie es hinaus, sie besteigen das Boot, sie stoßen ab. Jetzt sitzt untätig jeder für sich allein. Der Kopf sinkt in die Hände. Er sieht nicht auf. Er weint nicht, denkt auch nicht. Er rastet stumm.

Das Boot wäre umgeschlagen, der Mann muß nach den Rudern greifen. Sie sind weit draußen, der starke Wind treibt sie ins Leere. Entschlossen kämpft der Mann, die Frau umklammert angstvoll beide Ränder des Bootes. Wohin sind auf einmal die wiedererkannten Spuren? Frieden, Bläue und der selbsterschaffene Lenz? Betäubt vom kalten Sturm, schwanken sie im Boot »Franziska« mühselig über den geöffnet tobenden Abgrund, und schwarzer Himmel fliegt her von Suturp. Sie sind erwacht, Jahreszeit und ihr Leben, alles kehrt rauh zu ihnen zurück. Hinter eisern dunklen Wellen jenen helleren Strich, der ein Strand ist, sie müssen ihn erreichen. Sie müssen weiterleben. Sie müssen sich hinkämpfen, um weiterzuleben.


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