Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Kind

Zuerst erschienen in »Sie sind jung«, Paul Zolsnay Verlag, Wien, 1929

Textquelle: Aufbau-Verlag, Berlin, 1953. Heinrich Mann, Novellen, II. Band

 

I.
Der Maskenball.

Kindheitserinnerungen haben gewiß auch mein Leben beeinflußt, aber ich kann es nicht wissen, ich habe sie nicht in Form eines Katechismus gesammelt. Wenn mir eine einfallen soll, fallen mir viele ein. Ich wähle eine.

Winternachmittag im Lübeck der siebziger Jahre. Ich sehe eine Straße steil abfallen. Sie ist glatt gefroren und fast dunkel. Jede Gaslaterne beleuchtet nur das Haus, vor dem sie steht. Eine entfernte Flurglocke verkündet klappernd, daß jemand jenes Haus betrat. Ein Mädchen führt den kleinen Jungen, der ich bin. Ich reiße mich aber los, die Straße ist so eine herrliche Schlitterbahn. Ich gleite sie hinab, ich gleite schneller. Die Querstraße naht. Den Augenblick, bevor ich dort bin, tritt eine ganz vermummte Frau heraus, unter ihrem Tuch trägt sie etwas. Ich kann mich im Lauf nicht halten, ich fahre gegen sie, sie war nicht gefaßt auf den Anprall. Da es glatt ist, fällt sie. Da es dunkel ist, entkomme ich.

Aber ich habe Geschirr zerbrechen gehört. Die Frau trug unter ihrem Tuch Geschirr. Was habe ich angerichtet! Ich stehe, mir klopft das Herz. Das Mädchen ist endlich nachgekommen, ich sage: »Ich kann nichts dafür.«

»Die Frau hat nun kein Essen mehr«, sagt das Mädchen. »Ihr kleiner Junge auch nicht.«

»Kennst du sie, Stine?«

»Sie kennt dich«, behauptet Stine.

»Wird sie kommen und es meinen Eltern sagen?«

Stine bejaht es drohend, ich erschrecke.

Wir machen unsere Besorgungen, denn morgen wird zu Hause ein Fest sein, außerordentlicher sogar als jedes andere Fest: ein Maskenball. Dennoch vergesse ich den Rest des Tages nie ganz die Drohung, die hinter mir ist. Noch in meinem Bett horche ich, oh es läutet, ob die Frau kommt. Sie hat nun kein Geschirr mehr, ihr Junge kein Essen. Aber auch mir ist nicht wohl.

Nächsten Tages, als Stine mich aus der Schule holt, ist das erste, daß ich nach der Frau frage. »War sie da?« Das Mädchen besinnt sich, sagt nein, verheißt mir aber, die Frau werde mich sicher finden … Bis zum Abend fürchte ich es noch, dann ergreifen mich Leichtsinn und Eifer des Hauses, das den Ball erwartet. Es ist überhell und es duftet nach Blumen, nach ungewöhnlichen Gerichten. Ich darf Mama bewundern. Schon kommen als erste Gäste ihre jungen Freundinnen samt dem Fräulein aus Bremen, das eigens herbeireiste, das bei uns wohnt und das ich nicht missen möchte. Später werden sie Larven tragen, ich aber fühle mich eingeweiht, ich weiß, wer diese Zigeunerin und wer Cœurdame ist.

Jetzt muß ich schlafen gehen, schleiche aber dann nochmals, wenig bekleidet, über die Treppe. Der Ball hat angefangen. Die vorderen Räume sind leer, dennoch erkenne ich sie kaum wieder, der Ball hat alles verändert. Tritt jemand ein, entweiche ich unhörbar in das nächste Zimmer. So mache ich die Runde, phantastisch angezogen von dem Fest im Saal, dem farbigen Glanz, der hervorströmt, von der Musik, dem Scharren auf Parkett, von Stimmengewirr und warmen Düften. Endlich gelange ich bis hinter die Tür des Saales, es ist gewagt, aber es lohnt. Nackte Schultern, mild vom Licht überzogen, Haare, schimmernd wie Schmuck und Juwelen, die blitzen vom Leben, wenden sich mühelos im Tanz. Mein Vater ist ein fremder Offizier, gepudert, mit Degen, ich bin durchaus stolz auf ihn. Mama Cœurdame schmeichelt ihm mehr als je. Aber mein Urteil erstirbt vor dem Fräulein aus Bremen, ich fühle nur, daß sie dahingleitet, an einen Herrn geschmiegt, der hoffentlich nicht weiß, wer sie ist. Ich weiß es. Ich stehe mit sieben Jahren hinter der Tür des Ballsaales, ratlos ergriffen von dem Glück, dem alle nachtanzen.

Der Saal hat einen zarten, hellen Geschmack, später werde ich wissen, daß dies Rokoko heißt und gut zehn Jahre vor dieser Zeit sich von Paris aus verbreitet hat. Auch die Masken gingen von dort aus, auch die Tänze, die Quadrillen, der Galopp. Jede Einzelheit ist nachträgliche Ausstrahlung des kaiserlichen Hofes Napoleons III. und der schönen Eugenie. Ihr Hof ist verschwunden, aber ihre gesellschaftlichen Sitten haben Zeit gehabt, bis in nordische Kleinstädte zu dringen. Die Kultur des Salons war nie wichtiger als damals, Höflichkeit nie wieder so bekannt. Man spielte Scharaden, gab Rätsel auf, die Damen bemalten die Fächer ihrer Freundinnen mit Aquarellen, Herren, die sie verehrten, schrieben ihre Namen darauf. Jene Welt unterhielt sich mit Schreibspielen, sonderbaren Erfindungen, ich habe sie erst verstanden, als ich las, daß in dem engsten Kreise Napoleons zuweilen jemand einen Aufsatz diktierte. Das Spiel war, zu entdecken, wer am wenigsten orthographische Fehler machte. Bürgerliche Spiele, sie paßten auch nach Lübeck.

Glanz und Höhe aber war der Maskenball. Die Sucht, sich zu verkleiden, lag nicht nur den glücklichen Abenteurern, die bisher in Paris geherrscht hatten, auch deutsche Honoratioren waren von ihr gepackt. Zuletzt kamen immer »lebende Bilder«, zur Schaustellung der eigenen Schönheit und Bedeutung in Situationen, die endlich ihrer würdig waren … Der Knabe hinter seiner Tür wartete angstvoll, ob es ihm gelingen werde, auch noch die lebenden Bilder zu sehen.

Plötzlich wird die Tür von mir fortgezogen, jemand hat mich gefunden. Es ist einer der Lohndiener, er ruft mir zu, drunten frage nach mir eine Frau. Meines bleichen Schreckens achtet er nicht, seine Frackschöße eilen weiter. Ich bin allein und Herr meiner Entschlüsse. Bin ich es? Wenn ich nicht zu der Frau hinuntergehe, wer weiß, sie dränge vielleicht bis in den Ballsaal. Offene Katastrophe, lieber noch opfere ich mich.

Die Frau steht beim Hauseingang, wo wenig Licht ist. Hinter sich hat sie ein dunkles Zimmer. Sie ist vermummt wie gestern, sie rührt sich nicht. Sie ist die Statue des Gewissens, aufgestanden aus der Nacht. Ich nähere mich immer langsamer, ich will fragen, was sie von mir verlangt, aber die Stimme versagt mir. »Du hast mir mein Geschirr zerbrochen«, sagt sie von selbst, und ganz dumpf: »Mein kleiner Junge hat nichts zu essen.« Ich schluchze auf, ergriffen sowohl von dem Geschick des anderen Jungen wie von dem meinen, das mich hierherbrachte.

Wenn ich ihr aus der Küche zu essen holte?

Aber die Küche ist voll von Mädchen und Dienern, ich würde unerträgliches Aufsehen erregen. »Warten Sie«, stammele ich und mache mich auf in das dunkle Zimmer hinter ihr. Dort lagen die Mäntel der Gäste. Ich wühle mich hindurch, ich gelange zu Dingen, die mein sind, Soldaten und Bücher. Ich nehme sie, gern nähme ich sogar die geliebte Vase, die ein Schwan mit ausgebreiteten Flügeln ist. Aber die Vase ist nicht mein. Ich bringe alles der Frau, sie packt es in ihren Korb, sie geht. Schon bin ich gelaufen, schon in meinem Bett.

Ich schlafe ruhiger ein als am vorigen Abend … Rätselhaft ist nur, daß bei meiner nächsten Rückkehr aus der Schule alle verschenkten Sachen wieder an ihrem Platze sind. Ich begreife es nicht. Auch Stine, die ich einweihe, ist scheinbar erstaunt. Aber sie muß lachen. Verdacht auf Stine ist mir erst lange nachher gekommen, und auch dann nur, weil sie gelacht hatte. Sie selbst war der nächtliche Besuch gewesen, die Statue des Gewissens, die unglückliche Mutter des durch meine Schuld hungernden Jungen.

Wahrscheinlich hat in Wirklichkeit niemand gehungert. Wer weiß, ob auch nur Geschirr zerbrochen war. Stine, als gute Schauspielerin, hat der von ihr geschaffenen Gestalt gesteigerte Tragik mitgegeben. Ich habe dennoch nicht vergessen, daß ich, sieben Jahre alt, aus glücklicher Versunkenheit in den äußeren Glanz des Lebens jäh gerissen wurde, um hinzutreten vor die Armut und meine eigene Schuld.

Ein Eindruck. Auch eine Lehre? Damals kaum, Armut ward nicht oft sichtbar im Lübeck der siebziger Jahre. Wenn ich mit meiner Großmutter spazierenging, saßen am Rande der Landstraße manchmal Steinklopfer oder ähnliche Männer und aßen aus einem Topf. »Guten Appetit, Leute!« sagte meine Großmutter herzlich und ermunternd. Die »Leute« stutzten kurz, dieser Ton war immerhin schon ungewohnt. Dann aber dankten sie.

 

II.
Die beiden Gesichter

Mitte der siebziger Jahre war meine Mutter eine ganz junge, ahnungslose Frau. Ich sitze vor ihrem Schreibtisch, spiele mit einer kleinen Truhe aus Bronze, das violett gepolsterte Innere duftet bezaubernd. Plötzlich legt meine Mutter von hinten den Arm um mich, sie flüstert mir zu: »Wir sind nicht reich, aber sehr wohlhabend.« Sie mußte es gerade erst erfahren haben, und zwar mit genau diesen Worten.

Ihr selbst waren Reichtum und Wohlstand gewiß nur Worte. Ihr Leben und ihr Haus blieben sich gleich. Kein Auto wurde angeschafft, denn es gab keine. Den Sommer verbrachten wir wenige tausend Schritte weiter hin, »vor dem Tor«. Meine Mutter wußte vielleicht, daß Geld wohl wünschenswert, sehr viel Geld aber weder förderlich noch gern gesehen sei. Erst kürzlich sagte mir ein Achtzigjähriger, er sprach von seinem Nachbar: »Wer so reich ist, muß verrückt werden.« Das war ein Ton von damals, so dachte die noch bürgerliche Zeit.

Mein Vater war damals ein schöner und stolzer junger Mann. Ob heiter, ob zornig, immer erschien er mir auf der Höhe des Lebens. Er trug weiches Tuch, niedrige Hemdkragen, an den Schläfen noch die vorgebürsteten Haarbüschel, die Napoleon III. getragen hatte. Er ging wiegend und so sicher wie ein Kapitän auf seinem guten Schiff. Trat er ein, ward das Zimmer ein bewegter Raum, worin etwas vorging. Eines Tages aber kam er ganz still.

Wir bemerkten es kaum, er saß schon, war auf seinen Platz geglitten und hielt nun die Augen in den geöffneten Händen. Er stöhnte, da grauste es mir. Er, der nur leichte und heitere Gespräche führte, stöhnte Namen von Leuten, die zusammenbrachen, alles verloren hätten und sein Geld mit. Ich sah meine Mutter an, mein Blick erinnerte sich an ihre vertrauliche Mitteilung von einst. Sie schien davon nichts mehr zu wissen; sie war besorgt, aber nur um ihren Mann, nicht um das Geld. Übrigens waren jene Worte lange her, endlos lange für eine noch ahnungslose Frau und einen kleinen Jungen, vielleicht ein Jahr.

Dies war mein frühester Eindruck vom Wechsel des Glückes. Mein Vater brauchte sein ganzes noch übriges Leben, bis er wiederhatte, was in wenigen Tagen verlorengegangen war. Schneller wurde nicht verdient in jenen friedlichen Zeiten, und zu Anfang der neunziger Jahre starb er schon. Hier sah ich nicht gerade das Glück wechseln, erfuhr aber um so besser die Veränderlichkeit des Menschengesichts.

Er hatte ungemeines Ansehen genossen in der Stadt und dem kleinen Staat, dem sie vorstand. Mit ihm durch die Straßen zu gehen, war eine meiner schärfsten Übungen hinsichtlich der Grüße, die ich, je nach Würdigkeit der Person, zu erwidern oder vorwegzunehmen hatte. Mit ihm im gemieteten Zweispänner über Land zu fahren, war ein Fest. Die großen Bauern erschienen auf ihren Türschwellen, wir wurden bewirtet, und alles Getreide ging dabei in seine Speicher über. Er war Senator, was damals noch nicht Parteifrage war und von keinen öffentlichen Wahlen abhing. Es kam einfach auf die Familie an. Man war es oder man war es nicht – und behielt, einmal in den Senat gelangt, lebenslang die Befugnisse eines absolutistischen Ministers. Mein Vater verwaltete im Freistaat die Steuern, seine Macht war die allen fühlbarste.

Daher viel Schmeichelei, sogar für seinen Sohn; auch Unaufrichtigkeiten, sie entgingen schon dem Halbwüchsigen nicht. Immerhin überschätzte ich sowohl das natürliche Wohlwollen der Umgebung als auch die Fähigkeit eines noch so menschenkundigen Mannes, alle für sich zu gewinnen, sie, komme was mag, bei sich zu halten. Ihm lag an seiner Volkstümlichkeit, er war gegen Ende immer freundlicher, immer versöhnlicher geworden. Jetzt kam der Tod.

Mein Vater lag droben in seinem schönen Haus, die Straße davor war mit Stroh belegt. Sooft ich ausging, fragten mich viele, wie es stehe. Aus dem Haus gegenüber eilte mein alter Lehrer. Er hatte mich in der Vorschule unterrichtet, von jeher kannte ich ihn bieder und herzlich, ganz hingestreckte Hand, ganz Ergebenheit des kleinen Mannes, der endlich auch im eigenen Haus wohnt und bewundernd hersieht nach den Fenstern des größern.

Der Tag ist da, mein Vater atmet aus. Ich habe, zwanzigjährig, die ersten ganz selbständigen Schritte statt seiner zu tun. Draußen stehen die Leute, dabei auch der herzliche Graubart. Ich suche, ohne es zu bedenken, die gewohnte Wärme, ich gehe hin. Wie? Der Lehrer wendet den Kopf weg. Er verläßt sogar die Gruppe, tritt in sein Haus, schließt die Tür.

Ähnlich haben es dann andere gemacht, nur von dem Alten schien es mir am erstaunlichsten. Ich begriff aber: sie hatten es satt, noch Mühe an mich zu wenden, auf einmal hatten sie es auf das gründlichste satt. Vorher hatten sie zuviel getan, darum taten sie jetzt nicht einmal genug. Es war nicht besondere Härte, nur das Aufgeben eines unnütz gewordenen Übereinkommens.

So geschieht es jedesmal, wenn irgendein Erfolg sich rächt. Eine der Erfolgswellen, die jedes Leben hat, fließt zurück, alle geben den noch soeben Umworbenen um so schroffer auf, je eifriger sie bis jetzt um ihn bemüht waren. Wie wohl tut es ihnen, endlich das Gesicht zu wechseln. Nichts Lästigeres, als einer bestimmten Person dauernd nur das festliche Gesicht zu zeigen. Der Erfolg ist vorbei. Der Steuersenator ist tot.

 

III.
Zwei gute Lehren

1

An einem schönen Tage sehe ich mich eine Hecke entlanggehen, ich war damals elf Jahre alt. Ich ging, wie gewöhnlich, allein und schnell. Meine Gedanken waren meist kühn und trotzig, wenn sie nicht gerade mutlos und besorgt waren. Sie handelten möglichenfalls von dem berauschend großartigen Einzug in eine eroberte Hauptstadt, wobei sich zwischen dem siegreichen Feldherrn und mir selbst eine nahezu gleiche Gewalt der Gefühle ergab; wir schienen dasselbe Gehirn zu haben. Die Begegnung mit einem kleinen Mädchen, das ich liebte, verlief weniger heldenhaft. Sie hatte wirkliche Zöpfe, wirkliche Augen, sah mich an und erwartete höchstens das versprochene Abziehbild. Ich indes sann darauf, sie aus Lebensgefahr zu retten, während ich zugleich jeden anderen Jungen ihrer würdiger hielt. Wir verstanden uns trotzdem scheinbar.

Als ich die Hecke entlangging, begann mein Leben gerade einen neuen Abschnitt, denn ich hatte das Progymnasium beendet. Dies war eine Privatschule. Es umfaßte außer der Fibellehre die untersten Gymnasialklassen und gehörte einem Dr. Huttenius. Man lernte dasselbe wie in dem großen Gymnasium, wohin man schließlich unfehlbar auch überging. Sonst hatte man sich für die Laufbahn des höheren Schülers als ungeeignet erwiesen und ward vorzeitig »Stift« in einem »Kontor«.

Nicht nur, daß wir bei Huttenius dasselbe lernten wie die Schüler des Gymnasiums, wir erlitten dieselben Strafen, feierten die gleichen Schulfeste, ängstigten uns wie jene und vergaßen die Ängste. Hier wie dort fanden wir unseren Ruhm bald darin, gute, bald darin, schlechte Schüler zu sein. Wir und jene hätten uns die Hände reichen können. Wir waren beiderseits arme Teufel, hart geplagt mit übertriebenen Hausaufgaben und tagtäglich einem anderen Verderben ausgesetzt. Nur die Seelenkraft unserer Jahre half uns über alles fort. Aber im Grunde waren wir als Schüler nicht entfernt auch nur so gesichert und glücklich, wie später der niedrige Beamte oder beginnende Kaufmann.

Anstatt uns die Hände zu reichen, befeindeten wir einander. Es geschah aus reinem Übermut, wie man sagt. Mir ist aber so, als wären Freundlichkeit und Friedfertigkeit für uns etwas Demütigendes gewesen, und gerade darum suchte man Feinde. Im Frieden und bei gutherzigem Verkehr können die Menschen, ob Progymnasiasten oder schon in höheren Lebensstellungen, einander meistens nur mitteilen, daß es weder mir noch dir so besonders geht. Ganz anders als Feinde! Feindschaft erlaubt Hochmut, sie erlaubt Selbstgefühl. Da darf man dem Feind über den Zaun zurufen: Du unvergleichlich traurige Erscheinung! Und das ist ein schöner Trost.

Ich rief als Elfjähriger über die Hecke, die ich entlangging, keine Beleidigungen. Dahinter lag eine Spielwiese, und Feinde meines Hutteniusschen Vaterlandes, Gymnasiasten, benutzten sie gerade. Die Hecke war grün, die Wiese war grün, ein lieblicher Tag draußen vor dem Stadttor war es, und wie gern hätte ich wohl mitgespielt. Ich ging aber allein und schnell, wie gewöhnlich, in meinen Schaftstiefeln vorbei, rief keine Beleidigung, sah auch nicht hin. Ich sagte nur streng für mich:

»Ich werde immer Huttenianer bleiben.«

Dabei war es beschlossene Sache, daß ich in den größeren Verband des Gymnasiums demnächst übergehen sollte. Um dagegen Huttenianer zu bleiben, hätte ich immer elf Jahre alt bleiben müssen.

Dies war auch nach meiner damaligen Einsicht nicht möglich. Trotzdem tat ich den Ausspruch. Erfolgte daher meine Kriegserklärung auch nur mit gutem Gewissen? War meine Selbstbehauptung wenigstens echt? Der Ausspruch ist mir sicher nur darum im Gedächtnis geblieben, weil er ein ungewöhnliches Maß von Widersinn enthielt. Noch dazu war der Widersinn tendenziös, und er war nicht einmal ganz unbewußt.

Später habe ich mir Feindschaften, meine eigenen und andere, oft daraufhin angesehen, ob sie nichts mit dem Wunsch, Huttenianer zu bleiben, zu tun hatten. Ebenso begegnete ich nationalen Abneigungen und allen übrigen schlechten Beziehungen dieser Welt. Es hilft freilich wenig. Nicht einmal meine selbstgeschaffenen habe ich darum immer vermeiden können, denn es gibt Konventionen und konventionelle Mißgriffe. Aber ich stehe ihnen innerlich mit solchen Zweifeln, gegenüber, als versteckte sich in ihnen doch nur wieder ein kleiner Huttenianer, der es bleiben will.

2.

Es war eine kleine Geige, nichts Besonderes, aber rotbraun lackiert und mit richtigen vier Darmsaiten. Der Bogen wurde wie jeder andere mit Kolophonium bestrichen, dann entlockte er in der Hand eines Knaben dem Instrument Töne, die vielleicht kratzten; aber hörte er sie nicht mit einem inneren Ohr, vor dem sie sanft und rein wurden?

Stellenweise beglückten ihn die Töne wie ein selbst erlebtes Wunder. Das bin ich! Das kann ich! Die Geige war ein Instrument des Selbstgefühls. Natürlich verlor sie bei Gelegenheit diese Kraft. Jemand, der zuhörte, verzog vielleicht das Gesicht, und nicht einmal dies war nötig. Er selbst hörte plötzlich nicht mehr mit dem gefälligen inneren Ohr, sondern die anderen beiden, an seinem Kopf befestigten, versicherten ihm nüchtern und mißgelaunt, daß er auf seiner Geige abscheulich kratze. Vernehmlich ward die vorher mit bewundernswerter Seelenkraft unterdrückte Erkenntnis, daß er das Geigenspielen niemals erlernt hatte; daß seine Geige übrigens nur ein Spielzeug für Kinder, er selbst geradezu ein Kind und ohnmächtig war. Die Wahrheit siegte über ihn.

Dennoch beruhte das Versprechen, glücklich zu sein, das wir uns jeden Tag geben, für ihn damals auf der Geige. Des Morgens vor der Schule nahm er sie noch einmal aus dem hübschen polierten Schreibpult, wo sie in Sicherheit ruhte. Jetzt mochte es in der Rechenstunde noch so tragisch zugehen, die Geige wartete auf ihn trotz allem.

Dies glaubte er. Aber sie wartete keineswegs. Sie ließ sich inzwischen von seinem jüngeren Bruder spielen. Der Kleine ging noch nicht zur Schule, er hatte Zeit, die Geige zu spielen. Ihr war es recht, der eine war ihr so recht wie der andere, und den großen Virtuosen ließ sie jeden machen. Das polierte Schreibpult war nicht verschließbar. Der kleine Bruder reichte nicht ganz hinan, aber jemand klappte für ihn den Deckel auf und gab ihm die Geige. Wer? Es war eine hassenswerte Tat, das Unrecht selbst. Derselbe Unbekannte legte die Geige auch wieder hinein; dann war aber meistens schon eine Saite gesprungen. Wer war es, der dem Kleineren half?

Der Größere erfuhr es nicht, weder von dem Kleinen selbst, noch von ihrer Mutter, noch von dem Hausmädchen. Jeder würde es ihm gesagt haben, sogar der Kleine. Sie hätten ihm nur einiges Wohlwollen ansehen müssen, oder er durfte doch nicht gerade diese Unbeugsamkeit, diesen unbeugsamen Rechtssinn zeigen. Sein Zorn, wenn er aus der Schule heimkam und die Geige benutzt fand, war heftig, und er war in abschreckender Weise gekennzeichnet vom Bewußtsein erlittenen Unrechts und der eigenen Unangreifbarkeit.

Dadurch wurde der kleine Bruder nur verstockt. Das Hausmädchen leugnete alles. Die Mutter des Knaben aber wandte sich strafend ab und wollte nichts hören. Ihr Blick und ihre Haltung straften – wen? Nicht den, der das Unrecht beging, nein, den Leidenden. War es nicht, um an allem zu verzweifeln?

Er spielte nicht mehr Geige. Er saß und weidete seinen Zorn und seinen Schmerz an den Schäden des Instrumentes. Schon hatte es einen Riß. Sie war sein Glück gewesen – oder mindestens doch das tägliche Versprechen des Glücks, das wir brauchen. Im Augenblick hatte er kein anderes. Daher haßte er alle, die an dem Raub vielleicht beteiligt waren. Eifersucht quälte ihn, denn ihre Mutter schützte nicht ihn, sondern den anderen. Sein Sinn für Gerechtigkeit war beleidigt in seiner eigenen Person, wo er bei jedem am sichersten zu beleidigen ist.

Dazu war er ein Kind und konnte nicht wissen, daß erstens seine eigenen Fehler mitwirkten an seinem Unglück. Ferner war ihm unbekannt, daß Gerechtigkeit keine normale Tatsache dieser Welt ist, und daß nicht einmal die Mutterliebe sich jederzeit richtig verteilen läßt. So spielte er denn nicht mehr Geige und sah auch sonst keinerlei Ausweg.

Es kam nun einfach so, daß eines Tages bei seiner Heimkehr aus der Schule die Geige in mehrere Stücke zerbrochen dalag – und daß er bei diesem Anblick endlich Tränen fand. Er hatte bisher nicht geweint, weil doch der Kleine den Großen nicht zum Weinen bringen darf; es wäre zu viel Ehre.

Als er jetzt nicht mehr aufstampfte und sein Recht forderte, sondern nur weinte, fühlte er auf einmal um seinen erhitzten Nacken einen kühlen Arm. Das war seine Mutter. Jetzt war sie bei ihm und tröstete ihn. Sie sagte trostreich:

»Siehst du. Ob sie dir allein gehört hat oder euch beiden, jetzt ist sie kaputt.«

Ihre Worte mochten vielleicht nicht vollkommen logisch sein, ihm waren sie Erleuchtung. Er fühlte, indes seine Tränen allmählich aus Tränen der Trauer zu Tränen der Beschämung, endlich aber zu Tränen der Freude wurden, es sei kindisch, was er getan hatte. Es sei kindisch, sei nutzlos und trage zum Glück nichts bei, besitzen und nicht mitteilen zu wollen. Den Erwachsenen traute er zu, sie wüßten dies und handelten anders.

 

IV.
Das verlorene Buch

Kinder haben alles neu zu erlernen, besonders die Gefühle ihres Herzens. Die ersten Leiden kommen über sie wie aus anderen Welten, die erste Sehnsucht ist ein unfaßliches Märchen.

Als Kind besaß ich einmal, vielleicht acht Tage lang, ein Buch mit Liedern, Bildern und Geschichten. Ich hatte es von meiner Großmutter bekommen, wollte es bei ihr auch lesen, sooft ich hinkäme, und ließ es daher in ihrem Hause, das weitläufig war. Dort konnte schon etwas verlorengehen.

Überdies hielt meine Großmutter eine Sonntagsschule. Viele Kinder verkehrten in den Gartenzimmern ihres Erdgeschosses, sangen mit ihr und hörten sie die Bibel erklären. Es waren arme Kinder, wenigstens Bücher bekamen sie kaum geschenkt, außer von meiner Großmutter. Die meisten lieh sie ihnen aus einer eigens angelegten Bibliothek. Mein Buch kann hineingeraten sein. Dann schien es den jungen Entleihern gewiß noch reizvoller als »Rosa von Tannenberg« oder die Zeitschrift »Quellwasser«. Genug, ich sah es nicht wieder.

Ich hatte es ungewöhnlich geliebt, ja, hatte es im Hause meiner Großmutter vielleicht aus Liebe zurückgelassen, damit ich es jedesmal wieder vorfände, wie neu geschenkt. Nachdem ich mein Buch verloren hatte, träumte ich von ihm, bereute furchtbar, es verschenkt zu haben, und weinte um seine Schönheit sogar im Schlaf. Nie aber sprach ich den Wunsch aus, es nochmals zu bekommen. Ich nannte es so wenig, als wäre es nie wirklich dagewesen.

Im Lauf der Jahre erbat und bekam ich viele andere Bücher, nicht dieses – vergaß es dabei nie, dachte nie ohne Herzklopfen an seinen Zauber, diesen, als es verlorenging, noch nicht erschöpften Zauber, der mit der Zeit geheimnisvoll ward.

Viel später, als ich meine Tochter mit Büchern zu versorgen hatte, erinnerte ich mich sofort des einen, das mir verlorengegangen war. Aus unbekannten Gründen habe ich ihr grade dieses nie gekauft. Jetzt ist auch sie schon aus den Jahren, in denen man es liest.

 

V.
Herr Gewert

Herr Gewert war ein schöner Mann, schwarzhaarig und bleich. Die jugendliche Kraft seiner Gestalt litt nicht unter ihrer beginnenden Fülle. Er trug gute Kleider. Ich unterschied ihn dennoch von den Herren der Gesellschaft. Ich war höchstens sechs Jahre alt, aber Herr Gewert hatte auf der Straße einen zu lockeren Gang. So gingen Konsul Plessen und mein Vater nicht. Sie grüßten weder so schwungvoll, noch so tief, sie sahen sich auch nicht nach den Damen um. Dies alles fiel mir auf, weil ich Herrn Gewert täglich mit meinen Blicken folgte. Er bog zu einer Stunde des Vormittags, ich hätte sie nicht angeben können, in die Beckergrube. Dort hinaus gingen die Fenster meines Kinderzimmers. Entweder betrat er den Blumenladen, der auf meiner Seite, nur wenige Häuser weiter unten lag, oder er verschwand gegenüber im Eingang des Theaters. Herr Gewert war der Sohn der Blumenfrau und spielte im Stadttheater mit. Beides erhob ihn für meine Wißbegier über die Allgemeinheit.

Hätte er nicht ebensogut der Sohn des ehemaligen Klempnermeisters sein können? Dieser war mein sichtbarster Nachbar, er hing meistens mitsamt seiner langen Pfeife drüben aus dem Fenster. Es war sein eigenes Haus, wie mir bekannt war, es hatte Spiegelscheiben, war viereckig und mit Ölfarbe gestrichen. Er selbst trug ein besticktes Käppchen, einen Schlafrock, trieb kein Geschäft mehr und brauchte nur noch zu rauchen. Von den Bewohnern der Straße beschäftigte er mich am meisten neben Herrn Gewert. Trotzdem war dieser nicht sein Sohn, er gehörte vielmehr der Blumenfrau, ich fand nicht heraus, warum. Auch mein Mädchen Mine konnte es mir nicht sagen. Sie hatte dunkelrote Backen, kam vom Lande und sollte einen Gärtner heiraten. Ihre Kenntnis von Welt und Menschen war gering. Ich fragte sie noch vieles, was sie nicht zu beantworten verstand und was uns beiden unerklärlich blieb. Unser Haus war das zweite vor der Straßenecke, vorn hatte es Fenster in der Breiten Straße, hinten in der Beckergrube. Das kleine Eckhaus aber schob sich im Winkel hinein; ich war überzeugt, das unsere müsse es unsichtbar im Bauche haben. Einmal hätte das fremde Haus sich doch öffnen sollen mitten in unserem, und die fremden Kinder wären hervorgetreten. Indessen Mine begriff mich hier noch weniger.

Andererseits behauptete sie, zu wissen, was ein Theater ist. Das Stadttheater stand drüben in der Front. Es war ein Haus wie alle, nur breiter. Ich erspähte es, wenn ich das Gesicht fest andrückte an den äußersten Rand der Scheibe. Mit weniger Mühe konnte ich die Börse sehen, die noch vorher kam. Auch war ihre Bestimmung leichter zu erfassen, denn mein Vater ging hin. Oft stand er mit vielen anderen Herren auf dem Bürgersteig, bevor wir zu Mittag aßen. Die Börse war vorhanden, damit Papa von dort zum Essen kam. Dies leuchtete mir ein. Was aber tat Herr Gewert im Theater? Mine behauptete, er spiele dort mit. Hiergegen sprach, daß alles mir bekannte Spielzeug klein war und sich in den Händen von Kindern befand. Jetzt sollte ein ganzes Haus voll von Spielsachen sein, und es waren Erwachsene, die sich mit ihnen befaßten!

Diese Leute verweilten unfern den Herren der Börse des längeren auf dem Bürgersteig, oft versammelten alle sich gleichzeitig. In dem kleinen Gedränge, das täglich einmal die Stille der Straße unterbrach, suchte ich mit derselben Aufmerksamkeit meinen Vater wie Herrn Gewert. Ich teilte meiner Mine mit, daß Papa nächstens nach Hause käme, aber auch Herr Gewert werde jetzt gleich zum Essen hinübergehen in den Blumenladen seiner Mutter. Darauf, so versicherte ich ihr, beruhe das Dasein des Theaters. Es habe denselben Sinn wie die Börse, man gehe von dort zum Essen. Sie widersprach mir hierin. Sie verwies auf gewisse Abendstunden, wenn ich schon schliefe. Dann werde das Theater mit Gas beleuchtet, wer schon groß sei, dürfe hineingehn, und es geschähen dort Dinge. Unglücklicherweise war sie außerstande, mir die Dinge faßlich darzustellen. Daher kam es, daß ich mich abends im Bett vor ihnen ängstigte.

Mine hatte das Zimmer verlassen. Das Nachtlicht, das in seinem Öl schwamm, erhellte kaum ein wenig den Tisch und was davor lag. Aus der Dunkelheit eilten Gestalten an dem Tisch vorbei. Es ging sehr schnell und immer schneller, es waren nur Schatten, ja, am Tisch vorbeigelangt, wurden sie weniger als das, obwohl die Gewißheit ihrer Gegenwart mich nie verließ. Hatten indes die Gestalten ihre höchste Geschwindigkeit erreicht, dann verflossen sie zu einer einzigen, und diese war Herr Gewert. Am dritten oder vierten Abend wurde es mir klar. Nicht, daß ich ihn wirklich erkannt hätte. Er blieb dunkel und ungestüm. Seine Runde durch das Zimmer war eher die eines Vogels als die eines Menschen. Niemals zeigte er sein Gesicht. Dies verhinderte schon sein Mantel, ein ungewöhnlicher Mantel, vielmehr ein Stück Tuch oder auch nur ein Stück Dunkelheit, das ihn dicht umgab. Er schien es mit einer Hand zusammenzuhalten, daher das fahle Aufleuchten dort, wo er an seine Brust griff. Was hielt die Hand, daß sie im Dunkeln zu blitzen vermochte? Ich lehnte mich aus dem Bett, um endlich Herrn Gewert zu erkennen. Er ließ es nicht zu, aber ich war ohnedies meiner Sache gewiß. Mir fiel auf, daß ich mich nicht mehr fürchtete, schon seit einiger Zeit nicht, seit ich wußte, es sei Herr Gewert. Allmählich erwartete ich sein abendliches Auftreten zu meiner Unterhaltung und mit Gefühlen der Freundschaft. Wenn wir genug hatten, ich, ihm zuzusehn, er, mir vorzuspielen, trennten wir uns. Er verschwand, während ich einschlief. Ich sprach von diesen Vorgängen nie zu meinen Eltern und nicht einmal mit Mine.

Meine Eltern wußten freilich, wie sehr das Haus drüben, worin Theater gespielt wurde, mich in Spannung erhielt. Sie kannten auch meine Teilnahme für den Sohn der Blumenfrau. Hatten sie den Eindruck gewonnen, als arbeitete meine Phantasie übermäßig? Eines Tages kündigten sie mir an, daß ich mit ihnen in das Theater gehen werde. Genauer, meine Mutter sagte es mir, als ich schon zu Abend aß. Sie hatte nicht gewollt, daß ich länger als nötig in erregenden Vorstellungen lebte. Ich freute mich, wie sie es erwartet hatte, aber nicht mehr. Sollte ich Herrn Gewert drüben sehen, dann versäumte ich offenbar seinen Besuch bei mir im Zimmer. Ich zweifelte, was vorzuziehen sei. Erst, als ich Mama angekleidet sah, sie streifte ihre langen Handschuhe über, da ward mir bewußt, daß das Größte bevorstand. Ich war gewaschen, mein bester Anzug war hervorgeholt. Auch Mine hatte sich festlich gestaltet. Nachgerade klopfte mir das Herz, da kam Papa in Eile wie immer und fragte: »Seid ihr fertig?«

Wir bestiegen einen Wagen. Der Weg betrug nur wenige Schritte, sogar von Kinderschritten nur wenige. Aber es lag viel Schnee, und die Laternen waren selten. Die Beckergrube fiel steil ab, daher fuhr Kutscher Ehmann ganz langsam. Ich fragte unaufhörlich, ob wir noch zur Zeit kämen. Meine Unruhe stieg, weil ich die Straße nicht wiedererkannte. So spät war ich noch niemals draußen gewesen. Fuhr Ehmann keinen falschen Weg? Dennoch langten wir an. Woran ich nicht gedacht hatte, noch andere trafen ein. Meine Eltern begrüßten so gut wie alle, ich hatte Herren und Damen die Hand zu geben, unzählige Bücklinge mußte ich machen. Darüber vergaß ich für den Augenblick meine ganze Erwartung. Als wir eine Treppe hinaufgegangen waren, fand ich sie wieder. Wir saßen, wie ich erfuhr, in einer Loge. Mein Stuhl stand möglichst nahe an ihrem geöffneten Rand. Mama hielt mich am Arm fest, noch bevor ich mich hinausbeugen konnte, was dennoch alsbald geschah. Ich ging mit dem Blick der rot gepolsterten Brüstung nach und fand, daß sie ringsumlief. Dahinter standen viele Zimmerchen geöffnet, wie das unsere. Sie waren rot ausgeschlagen, ich überzeugte mich schnell von der Farbe des unseren. »Wo ist Herr Gewert?« fragte ich eifrig.

Man ließ es mich oft wiederholen, meine Eltern sprachen mit denen, die nebenan saßen. Ein alter Herr, den ich auf der Straße grüßen mußte, steckte seine Hakennase hinter der Wand hervor und fragte mich mit seinen dünnen Lippen:

»Dann willst du dir also das Nachtlager von Granada ansehn?«

»Ich will Herrn Gewert sehn«, antwortete ich. »Wo ist Herr Gewert?«

»Er kommt noch«, sagten nacheinander der alte Herr und meine Eltern. Ich gab mich nicht zufrieden.

»Wo ist Herr Gewert?« rief ich laut.

Sie versuchten mich zu beruhigen und zeigten auf eine geschlossene Wand, hinter der Herr Gewert nach meinem Ermessen nicht sein konnte. Dann hätte ich ihn nie zu Gesicht bekommen. Daher verlegte ich mich darauf, ihn selbst zu entdecken. Die roten Zimmerchen ringsum enthielten viele Menschen. Gewöhnlich saßen vorn zwei tiefentblößte Damen, die ihre Fächer bewegten. Damit verdeckten sie mir die Herren, die sich rückwärts aufhielten. Überdies brannten Gaslampen gelb und unruhig unter der Brüstung, ihr Licht zeigte mir die Bewohner der Logen wie große Puppen, von denen manches unerhellt blieb. Sie funkelten hier und dort. Die Hälfte eines Gesichts erschien auf einmal grell. Ach! Herr Gewert war es nicht. Der Kronleuchter unter der Decke bestand aus den Kuppeln zahlreicher Lampen. Sie streuten einen gelblichen Schein aus, nur drang er nicht bis in die Tiefe der Logen. Dieses halbe Gesicht blieb grell, aber unbekannt. Jener andere Herr dagegen stand lässig und locker, die Hüfte herausgebogen, hinter seiner Dame. Er war zu sehn vom Knie bis an seinen niedrigen Umlegekragen mit der großen Krawatte. Nichts vom Kopf – mich überkam gleichwohl die Eingebung, dieser sei Herr Gewert. Ohne Bedenken verkündete ich es. »Herr Gewert!« rief ich hell hinüber.

Meine Eltern verboten es mir dringend. Ich wollte mir meine Entdeckung von ihnen bestätigen lassen, sie ihrerseits verlangten, daß ich schweige. Mine! Mir blieb noch Mine, wo war sie? Verwirrt bemerkte ich, daß ich sie seit dem Eintritt in die Loge aus dem Auge verloren und vergessen hatte – zum erstenmal im Leben. »Mine!« Dies klang schrill wie Angst. Mir wurde daraufhin gedroht, man werde mich nach Hause schicken. Als sie mich ratlos weinen sah, erklärte meine Mutter mir mitleidig, Mine sitze über uns im zweiten Rang. Ein zweiter Rang! Ich hatte ihn noch nicht beachtet. Wie ich senkrecht hinaufsah, traf ich auf das Gesicht Mines. Sie reckte es so weit hinab, wie ich meines hinaufreckte. Beide waren wir bewegt durch die Trennung und das Wiedersehen. Daher riefen wir uns einige Male laut beim Namen. Hierauf unterrichtete ich Mine davon, daß Herr Gewert gefunden sei. Sie wenigstens glaubte mir, ihr Mund bewegte sich mit offenbarer Zustimmung. Leider verhinderte laute Musik mich plötzlich, Mine zu verstehen. Zugleich holte die Hand meiner Mutter mich auf meinen Sitz zurück.

Erregt wollte ich wissen, was jetzt käme.

»Du hörst es doch, Musik. Sei still!«

»Aber Herr Gewert!«

»Der hat noch Zeit«, sagte Mama.

»Er macht sich inzwischen ein braunes Gesicht«, flüsterte hinter mir mein Vater.

Dies brachte mich zum Schweigen, weil es zu abgründig schien, um Fragen zuzulassen. Herr Gewert, kein weißes Gesicht mehr, ein braunes wie der Mohr im Bilderbuch? Als ob dies nicht genügte, öffnete sich auch noch die Wand, der ich es nie zugetraut hätte. Sie rollte hinauf, ein buntes Bild erschien. Mir verschlug es augenblicklich die Rede. Ich hätte nicht geglaubt, daß irgend etwas in der Welt so schön sein könnte, und dies, obwohl ich nichts erkannte. Es war vielleicht gerade darum schön – außerdem aber, weil es mir Lust, eine bange Lust machte, selbst dorthinzugelangen. Zum erstenmal erblickte ich die Ferne. Ich starrte darauf und fand sie immer ferner. Überdies konnte jeden Augenblick die Wand wieder zugehen. Ich bemerkte auch Menschen, weil sie sich bewegten, aber es waren andere Bewegungen und andere Menschen. Den Mund geöffnet und ohne Augenblinzeln nahm ich alles in mich auf. Es blieb unklar, packte mich aber darum nur stärker.

»Singen sie schön?« fragte meine Mutter.

Ich hatte noch nicht erfaßt, daß sie sangen. Angstvoll fragte ich: »Geht jetzt die Wand wieder zu?« – überhörte aber die Antwort Mamas, denn der singende Mann war Herr Gewert. Mir kam auf einmal die Gewißheit, nicht weniger unwiderruflich als vorhin bei dem Herrn ohne Kopf.

»Herr Gewert!« rief ich.

Die Musik war zu laut, er hörte mich nicht. Wenigstens sollte meine ganze Umgebung es erfahren; ich teilte es meinen Eltern mit, auch Mine droben mußte belehrt werden.

»Beruhige dich«, flüsterte Mama inständig und umfaßte meine Schultern. »Er ist es nicht«, flüsterte sie.

»Hansnarr«, sagte Papa. »Suche mal unter den Räubern!«

Wo waren die Räuber, als Papa dies aussprach? Erschienen sie in dem Stück gleich anfangs oder traten sie erst auf, als der Vorhang zum zweitenmal aufgegangen war? Das sind Fragen von heute. Damals unterschied das Kind noch nicht die Reihenfolge der Ereignisse, sie geschahen ihm alle gleichzeitig. Aber es suchte voll Leidenschaft unter den Gestalten, die sich sichtlich in böser Absicht an einen schlafenden Herrn heranschlichen. Wer hätte es gedacht, da war er. Herr Gewert war ein Räuber. Von hinten aus dem Dunkel schlich er, und in seinem Mantel war nur die Hälfte seines Gesichtes zu sehen, aber ich erkannte es. Der Mantel war in ungewöhnlicher Art um ihn geschlagen wie ein Stück Tuch oder auch nur wie ein Stück Dunkelheit. Wo er ihn aber zusammenhielt, leuchtete es fahl auf. Er zog die Hand hervor, und das Messer blitzte.

»Ist es ein Messer?« fragte ich diesmal flüsternd.

»Es ist ein Dolch«, antwortete meine Mutter.

Da begriff ich, daß dies alles in meinem Zimmer vorgegangen war, schon oft, ehe ich einschlief. Herr Gewert war nicht nur ein Räuber; er hatte mich auch einweihen wollen in das, was er war. Er war an mein Bett getreten – ich meinte, nur aus der Beckergrube. Aber er kam nicht von der Straße, er kam fernher. Er war ein verwegener, dabei düsterer Mann. Abenteuer und Märchen hatten ihn begleitet, auch wenn er nur unter meinem Fenster vorbeiging. Erst jetzt, da er offen seine wahre Gestalt zeigte, verstand ich ihn. Ich verstand seine Schönheit, seine schwungvollen Grüße und alles, was ihn im Wesen unterschied von Konsul Plessen und meinem Vater. Von mir? Von mir unterschied ihn nichts. Ich verband mich ihm, ich ging in ihm auf, indes mein Blick ihm inständig folgte. Jede seiner Bewegungen war mein eigenes Schicksal. Nur daß er sang und daß ich stumm blieb. Er sang mit den anderen Räubern; der Herr, in dessen Schlafzimmer sie eingedrungen waren, hätte leicht davon erwachen können. Ich wußte nicht: sollte ich es wünschen oder es fürchten? Zu erwarten war ein unfaßbares Erlebnis, ob Unglück oder Glück. Ich ließ es nahen. Ich selbst stand atemlos unter dem Schicksal.

Es geschah aber, daß die Räuber sich zurückzogen und flüchteten, Herr Gewert als letzter. Ich wollte glauben, er habe mich angesehen, sein Abschiedsblick, bevor er fliehen mußte, habe mir gegolten. Hier brach mein Gefühl aus, keine Rücksicht auf Ort und Menschen konnte es noch aufhalten.

»Herr Gewert!« rief ich gellend. Ich rief es ihm nach, um ihn zurückzuholen, und auch an das Haus wandte ich mich, damit alle Leute mir helfen möchten. Mein Vater packte mich beim Arm, meine Mutter versuchte mir den Mund zu schließen. Ich erwehrte mich aller Fesseln und schrie weiter nach Herrn Gewert. Meine Stimme war überall zu hören trotz Musik. Aus den Logen reckten sich Köpfe nach mir, man lachte oder zischte. Es schien, daß ich das Maß überschritten hatte, meine Eltern befahlen nur noch »Komm!« – und wie verzweifelt ich mich umherwarf auf meinem Sitz, sie zerrten mich fort. Die Tür klappte zu, ich lag draußen.

Schon war Mine zur Stelle, sie bemühte sich, das Kind aufzuheben vom Boden, wo es sich noch verteidigte. Wenn es einmal aufhörte, mit Armen und Beinen um sich zu schlagen, prüften seine verzweifelnden Augen die Tatsachen. Die Eltern unerbittlich hinter jener Tür, Herr Gewert aber, Herr Gewert verloren! Dies ergab eine neue Flut der Gefühle, und Mine warnte:

»Sei nicht eigensinnig! Das macht alles dein Eigensinn!«

Denn im Geiste Mines erklärte ein einfaches Wort die vielfältigsten Vorgänge. Da lag ich als machtloses Kind, und unterbrochen war mein wunderbares Erlebnis. Herausgerissen war ich aus der Vereinigung mit Herrn Gewert. Ein selbstgeschaffener innerer Aufbau war zerstört, nicht anders, als stieße ein fremder Finger mir mein Kartenhaus ein. Ich war unglücklich, aber litt ich nur um mich selbst? Ich litt auch um Herrn Gewert, er war unter denen, die mich den allgemeinen Schmerz lehrten, der erste. Daher begann ich wieder um mich zu stoßen, und Mine beklagte nochmals meinen Eigensinn.

Plötzlich stand ich freiwillig auf und ging mit. Ich eilte sogar. Denn der Gedanke hatte mich erfaßt, daß Herr Gewert doch geflüchtet war. Wenn er aber flüchtete und wahrscheinlich noch immer lief, wohin dann? Aus dem Haus fort offenbar, die Straße hinan ohne Zweifel, den Weg, den er täglich ging und kam. Nur diesmal kehrte er nicht wieder. Er hatte seinen Mantel um sich geworfen bis unter seine Augen und entschwand weiter mit jedem Schritt, entschwand ins Dunkel, und nie sah ich ihn mehr. Ihm nach, nur ihm nach! Ich war voll Hoffnung. Schon baute das zerstörte Kartenhaus sich von selbst wieder auf.

Mine, die mich an der Hand hielt, wurde von mir mitgezogen, über die Treppe aus dem Theater und durch den Schnee.

»Schnell!« forderte ich. »Herr Gewert läuft fort.«

Sie versuchte, es zu leugnen, aber ich glaubte ihr nicht, und sie selbst war von ihren eigenen Worten weniger überzeugt als von meinen. Dies wurde mir klar, als sie sagte:

»Er kann doch besser laufen als du.«

Hierin sah ich eine Aufforderung und beschleunigte meine Gangart. Ich rannte, wie ich konnte, und Mine hinter mir. Sie hatte meine Hand losgelassen, es kam ihr nur noch darauf an, nicht hinzufallen. Wir streckten uns dennoch beide mehrmals auf die glatte Bahn. Das Wiederaufstehen geschah schweigend. Mine schwieg aus ehrlichem Eifer. Ich aber berechnete auch, daß ich nicht weinen durfte, sonst hätte sie mich nach Hause gebracht. An der Ecke, wo es zu unserem Haus ging, wies ich heftig in die entgegengesetzte Richtung.

»Dort – dort läuft er!« rief ich atemlos.

Wahrhaftig erkannte ich das Schwingen seines Mantels, einen Augenblick, bevor es aus dem schwachen Licht einer Gaslaterne wieder ins Dunkel tauchte. Auch Mine mußte es gesehen haben, denn sie wandte nichts ein. Erst als wir über einen Schneehaufen gestürzt waren, zweifelte sie.

»Er war es wohl. Aber jetzt kriegst du ihn nicht mehr.«

Statt einer Antwort rannte ich weiter. Mine überholte mich, so groß waren mittlerweile ihr Ehrgeiz und ihre Teilnahme. Ich verdoppelte nur meine Anstrengungen. Menschen begegneten uns nicht bei unserem Wettlauf. Endlich gingen wir langsamer, keuchten und sahen uns an. Keiner von uns dachte daran, umzukehren. So gelangten wir zuletzt bis an das Tor der Stadt. Dort blieben wir stehen. Ich spähte hinaus in die Dunkelheit; sie schien mir ungeheuer. Die Bäume der Allee versanken darin ganz plötzlich. Am Rande der weiten Wiesen, wo ich Häuser wußte, stand einzig der schwarze Himmel. Die gelben Punkte entfernter Lichter verstärkten nur den Eindruck des Unerreichbaren. Ohne es zu wissen, hatte ich mich zurückgezogen.

»Jetzt hast du wohl Furcht?« bemerkte Mine nicht ohne Herausforderung.

»Du auch«, behauptete ich zu meiner Verteidigung. Sie sagte ehrlich:

»Auf dem Gemüsekarren bin ich den Weg schon oft gefahren – mitten in der Nacht, und ich war nicht viel älter als du.«

Um mich vollends zu beschämen, machte sie mutig einige Schritte aus dem Tor. Sie kehrte aber um.

»Das geht nun doch nicht«, erklärte sie, und in diesem Augenblick erwachte wieder ihr Pflichtbewußtsein. Ich versuchte nichts mehr dagegen, ich weinte.

»Heule auch noch!« sagte sie abschätzig. »Das kommt alles von deinem Eigensinn.«

Diesmal sollte das mir verhaßte Wort erklären, weshalb wir beide uns zu einer Stunde, da ich längst hätte schlafen müssen, am Ende der Stadt befanden. Ich fühlte, daß damit in Wirklichkeit nichts erklärt sei, aber ich weinte nur. So traten wir den Rückweg an. Jetzt zog Mine mich an der Hand hinter sich her, und ich machte mich schwer. Der Grund war, daß ich mich von Herrn Gewert jetzt entfernte, anstatt mich ihm zu nähern. Der andere Grund war, daß ich es aufgegeben hatte, ihn zu erreichen, sobald Gefahren sich einstellten. Ihm aber drohten alle Schrecken, in die ich kaum einen schüchternen Blick gewagt hatte. Er irrte als gehetzter Schatten durch die Ängste der Dunkelheit und geriet nur noch tiefer hinein. Mich verließ er. Er überschritt die Grenzen meiner Vorstellung, er war mir verloren, und verschuldet hatte ich es selbst. Wer konnte dies je wiedergutmachen!

Ahnte Mine dennoch die Tiefe meines Kummers? Vielleicht beschäftigten sie eigene Sorgen, und nur darum versuchte sie es im guten mit mir. Jedenfalls wurde sie milder und fast vertraulich.

»Paß auf, daß du mir ja im Bett bist, wenn deine Eltern nach Hause kommen, sonst ist es eine schöne Geschichte.«

Ihre wohlgemeinte Warnung trieb mich tatsächlich an, und wir gelangten recht und schlecht bis in die Nähe unserer Straßenecke. Auf dem Wege schon war die Warnung vergessen, ich verfiel in neues Schluchzen, ja, sträubte mich nach Kräften, um nicht von Mine hinübergezerrt zu werden, und schrie dabei laut. Mehr als mein Widerstand hielt mein Geschrei sie von ihrem vernünftigen Vorhaben ab. Dies begriff ich und ward um so lauter.

»Was werden die Leute denken?« flüsterte sie ängstlich und betrachtete bald die stummen Häuser, bald das Kind, das sich auf den Boden gesetzt hatte.

»Was willst du denn noch?« fragte sie.

Da ich es nicht wußte, konnte ich ihr nicht antworten. Sie verschränkte die Hände über der Brust, als ob sie beten wollte. Ihr gesammelter Geist fand dann auch die richtigen Worte:

»Es war doch alles bloß Unsinn«, entschied sie. »Herr Gewert ist gar nicht fortgelaufen. Warum sollte er fortlaufen?«

›Weil er ein Räuber ist‹, wollte ich erwidern, aber sie ließ mich nicht.

»Er gehört in den Blumenladen«, entschied sie, »und du gehörst in dein Bett.«

Ihr überlegener Ton blieb wieder nicht ohne Wirkung auf mich, ich erhob mich und begleitete sie bis auf die andere Seite. Dort freilich stemmte ich mich gegen die Wand des kleinen Hauses, das sich so rätselhaft in das unsere hineinschob. Es gab mehr Rätsel, wie mir rechtzeitig einfiel. Worte, selbst die eindrucksvollsten, lösten sie nicht alle auf.

»Es ist nicht wahr«, erwiderte ich fest. »Herr Gewert ist nicht im Blumenladen, er läuft!«

In Wahrheit zweifelte ich hier zuerst, ob jemand, und sei es Herr Gewert, so lange laufen könne; und die Festigkeit meiner Sprache hatte ihren Grund gerade in meiner Ratlosigkeit. Mine war zu einfach, um mich zu durchschauen. Auch drängten ihre eigenen Sorgen sie zur Eile.

»Was soll ich mit dir noch machen?« warf sie hin, und zu meiner größten Überraschung begann sie die Beckergrube hinunterzueilen, fort von unserem Haus und von mir. Ich sah ihr nach, ohne sie zu begreifen. Die Furcht, allein zu bleiben, setzte mich dennoch in Gang. Als ich sie einholte, blieb sie stehen, es war vor dem Blumengeschäft, das der Mutter Herrn Gewerts gehörte.

Das Blumengeschäft lag dunkel hinter seiner Glastür. Mine klopfte an die Scheibe. Wir warteten, und sie klopfte stärker. Da ging im Hintergrund eine Tür auf, die alte Frau sah aus der Stube. Ihre Gestalt verdeckte das Zimmer, in dessen Eingang sie sich vorneigte, um nach uns auszuspähen. Da sie nichts gewahrte, wendete sie sich um und bewegte sich auf einen Tisch zu. Daran saß jemand. Die Frau streckte den Arm nach der Lampe aus. Bevor sie zufassen konnte, hatte ich Herrn Gewert erkannt. Er saß und aß.

Er war kein Räuber mehr, sondern wieder derselbe Mann, der täglich durch diese Straße kam. Nichts Besonderes war an ihm, eher fand ich ihn gewöhnlicher aussehend als bisher. Er bestand keine Abenteuer und Märchen, ich mußte es erkennen. Weder Feinde noch Verfolger jagten ihn in dunkle Fernen, aus denen er auch schwerlich stammte, ich gestand es mir ein. Der Anblick des ruhig essenden Herrn Gewert ernüchterte mich und erfüllte mich mit Trauer. Gleichzeitig aber wurde mir davon leichter. Nur sehen sollte er mich nicht. Bevor seine Mutter mit der Lampe den Laden betreten hatte, war ich schon auf dem Rückzug.

Ich lief nicht; ich verließ die Stätte, obwohl hastig, mit einer gewissen Würde, denn ich fühlte mich im Recht. Herr Gewert war in Wirklichkeit nicht, was er hatte scheinen wollen. Ihm fiel zur Last, wieviel ich diesen Abend und sogar wieviel ich alle diese Abende seines heimlichen Besuches an meinem Bett erlebt und erlitten hatte. Ich dachte jetzt, er sei es nicht wert gewesen – was falsch war. Sie sind es immer wert.

Als Mine unsere Haustür erreichte, stand ich schon eine Weile in den Winkel gedrückt, den Rücken nach außen, als verbüßte ich eine Strafe.

»Hast du ihn gesehen?« fragte sie zornig und dennoch leise. Denn auch ihr war nicht wohl zumute. Wir gelangten aber in unser Zimmer, ohne meinen Eltern begegnet zu sein. Daraus schöpfte sie für sich die Berechtigung, mich mit Vorwürfen zu überhäufen. Ich ließ mich entkleiden und antwortete nicht. Sie hielt es für den bewußten Eigensinn, der sie wehrlos machte. Daher verließ sie mich und nahm die Kerze mit. Ich schlief sofort ein.

Am Morgen erinnerte ich mich nicht gleich des Theaters, und über Herrn Gewert nachzusinnen, lag mir fern. Er gab mir niemals wieder zu denken, ich konnte ihn seither unter meinem Fenster vorbeischlendern sehen, ohne mehr Teilnahme als für jeden anderen. Der ehemalige Klempnermeister mit seiner langen Pfeife stand mir fortan näher als Herr Gewert. Immerhin erfuhr ich seinetwegen an jenem Morgen noch eine Aufregung, denn mein arg beschmutzter Sonntagsanzug wurde von meiner Mutter entdeckt, bevor Mine ihn hatte reinigen können. Mama fragte streng nach der Ursache. Ich schwieg, während Mine zu lügen versuchte. Meinem Gesicht entnahm Mama, daß sie getäuscht werden sollte. Sie verhieß mir nach ihrer Gewohnheit, das werde Papa erfahren.

Beim Essen berichtete sie ihm dann auch, aber da Papa es heiter aufnahm, lachte bald auch Mama. Ich hörte es, sah aber von meinem Teller nicht auf, und auf alle Fragen sagte ich nur: »Ich weiß nicht.«

So war es wirklich. Die Leidenschaften, Träume, Erlebnisse des Abends hatten sich mir entfremdet, es kostete mich Mühe, sie mir zuzutrauen. Dasselbe geschah damals, wie wohl später nach einer vollbrachten Erfindung, deren Ursprünge alsbald verlorengehen und schwer wieder auffindbar sind.

 

VI.
Der Freund

Die Straße reichte für einen kleinen Jungen vom Krämer Dreifalt bis zum Hotel Duft. Weiter reichte sie nicht, weil sie verboten war und in fremde Bereiche führte. Dagegen kannte ich von Duft zu Dreifalt jedes Haus und seine Bewohner. Unser Nachbar Hammerfest trank zuviel Bier, wie ich wußte, obwohl er daneben soviel wie möglich Kurzwaren verkaufte. Auf der Gegenseite führte der alte Herr Amandus Schnepel ein besonders gediegenes Geschäft mit Kleiderstoffen. Freilich strich er über ein »Rips« genanntes Fabrikat mit dem Metermaß in einer Art, daß einem die Zähne davon klapperten. Jeder hatte auch seine Fehler und Lächerlichkeiten, so Madame Spiegel mit ihren langen, gedrehten Locken. Im ganzen aber war die Straße gut, und ihre Menschen galten mir als das, was sie vorstellten. Sie waren ehrenwert, herzlich und hilfsbereit. Demgemäß gaben die meisten mir die Hand, wenn ich sie begrüßte, oder sie nickten mir zu.

Die unterste Klasse der Vorschule erfaßte noch nicht den ganzen Menschen. Das Kind gehörte überdies der Straße, und nicht weniger als seine Fibel beanspruchten es die Kornsäcke, die auf Leiterwagen vorbeirasselten. Der Wagen des Doktors erschien und hielt an; so erfuhr man, wer krank war. Dem Kind blieb vorläufig mehr Teilnahme erlaubt für die Dinge des Lebens. Die Schule überwog erst später. Es hatte sogar seine Freunde eher draußen. Die beginnenden Schüler begreifen den Ernst ihres gemeinsamen Weges nur allmählich. Bis jetzt stand keiner seiner Kameraden ihm so nahe, wie der Oberkellner im Hotel Duft.

Dieser gesetzte Mann ließ sich mit ihm in die menschlichsten Gespräche ein. Sie schienen beiden Beteiligten gleich bedeutend. Sie fanden auf der Schwelle des Hotels statt, wenn der Oberkellner frei war. Aber sogar dahineilend in seinen Angelegenheiten durch den Hintergrund des Hauses, fand er Zeit, mir zuzuwinken. Ich hoffte jedesmal: ›Jetzt holt er mir die Schaumrolle. Daher läuft er so.‹ Denn in einer besonders menschlichen Stunde hatte er mir eine Schaumrolle versprochen, und ob ich ihn mahnte oder nicht, ich dachte daran immer. Sicher ist, daß ich Schaumrollen auch zu Hause bekam. Aber die Schaumrolle des Oberkellners zeichnete sich aus in meiner Einbildung vor allen anderen, schon gegessenen. Mehr noch als ihr Genuß reizte mich ihre Eroberung. Je länger sie ausblieb, weil vorgeblich keine eingetroffen waren oder die Gäste schon alle verzehrt hatten, um so ersehnter ward sie. Schließlich erlangte sie die ganze Wichtigkeit des ersten eigenen Erwerbes.

Am anderen Ende der Straße, bei Dreifalt, erwarteten mich Geschäfte, die auch nicht ohne Verantwortung waren. Meine Mutter schickte mich dorthin, um Kaffee und Gewürze zu holen. Sie beabsichtigte wohl hauptsächlich, mir einen nützlichen Zeitvertreib zu geben, anstatt daß ich zu Hause nur lärmte. Aber ich stand dann doch im Krämerladen mit einem wirklichen Auftrag. Die Wirklichkeit des Lebens, das war das Wunderbare. Dieser Laden war angeblich kein Spielzeug, obwohl er phantastisch vergrößert, genau der gleiche schien, den ich zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte. Dieselben Reihen braun lackierter Schiebladen, nur daß sie zu hoch saßen und ich keine hätte herausziehen können. Dieselben Zuckerhüte, aber so groß wie ich selbst, und über den Ladentisch langte ich kaum mit den Augen. Das Verhältnis zwischen mir und dem Verkäufer hatte sich verkehrt, in meinem eigenen Laden war er der Kleinere, und ich beherrschte ihn. Dieser hier behandelte mich aus der Höhe seines richtigen Ladentisches eher nebensächlich. Die Wirklichkeit machte gegen einen kleinen Jungen überall geltend, daß sie die Wirklichkeit sei, er aber spiele nur. Er glaubte es ihr höchstens halb und hatte recht. Einmal sah ich dann auch den so großen Verkäufer aus einer Schieblade heimlich Rosinen naschen. Sonst war niemand dabei, und meines Schweigens versicherte er sich, er gab mir welche ab. Aber ich schloß daraus, daß auch er im Grunde mit seinem Laden nur spielte.

Meine Besuche bei Dreifalt wurden erst denkwürdig durch ein furchtbares Gewitter und was dabei geschah. Hatte Mama, als sie mich hinausschickte, den Himmel nicht beachtet? Wahrscheinlich trieb ich mich nach dem Verlassen des Krämerladens so lange umher, bis es donnerte und blitzte. Die äußerste Gewalt entlud sich sofort. Während ich auf der Straße, die sich plötzlich ins wild Ausgelassene verwandelt hatte, noch meine Maßnahmen überlegte, war ich auch schon durchnäßt. Gewiß war es lustig, durchnäßt zu werden, wenn auch weniger angezeigt für die Päckchen mit den Dreifaltschen Waren. Man konnte sie natürlich fortwerfen. Höhere Mächte rechtfertigten in diesem Augenblick alles. Dann wäre man frei gewesen, sich den feuchten und geräuschvollen Spielen der Natur hinzugeben. Erinnerungen an Pflicht und Ordnung siegten noch einmal, ich rettete mich und meine Einkäufe in den Eingang des nächsten Hauses. Da hörte ich pfeifen und sah jemand kommen.

Die Straße war jetzt völlig geleert, sie schwamm in Teichen. Es krachte, rasselte, Blitze fuhren vorbei, und in all dem nahte, herrlich pfeifend, mein Schulkamerad Carl. Er ging mitten auf dem Fahrdamm, die Hände in den Taschen, und sah zum Himmel. Hier bemerkte ich erst, daß er ein kühnes Gesicht hatte. Seine Augen standen weiter offen als andere Augen, und seine Stirn war heller. Lag es an dem fahlen Licht des Gewitters, daß ich seine Haare jetzt gelb wie Gold fand? Da er ohne Hut ging, troff ihm Wasser vom Kopf; aber seine Haare blieben lockig, dicht gerollt schwankten sie über der Stirn. Er war von zarter Gestalt und nicht größer als ich. Was mich in diesem Augenblick einschüchterte und davon abhielt, ihn anzurufen, war seine Freiheit. Er bewegte sich frei und ungebunden unter dem Gewitterregen. Er hatte keine Pakete zu tragen. Aber ich fühlte, seine Unbeschwertheit bestehe nicht einzig darin, daß er die leeren Hände in die Taschen stecken durfte. Er konnte überdies gehen, wohin er wollte, diesen Eindruck machte er, und sogar aus der Stadt hinaus, wenn er wollte. Er war in ihr nicht geboren. Wie seine weitgeöffneten Augen zum Himmel sahen, entdeckte ich, daß die Stadt ihn nichts anging, und wahrscheinlich ging auch ich ihn nichts an. Dies war die neue und einschüchternde Entdeckung, um derentwillen ich Carl nicht anrief.

Statt dessen rief er selbst. Er erblickte mich, blieb stehen und rief aus seinem Sturzbad herüber:

»Du bist feige, daß du dich unterstellst!«

Ich antwortete genauso herausfordernd:

»Das lügst du, ich war schon vor dir naß!«

Um ihm meine Furchtlosigkeit durch die Tat zu beweisen, verließ ich mein Dach. Würdig und mit augenscheinlicher Nichtachtung der natürlichen Hindernisse trat ich vor Carl hin. Er sagte darauf:

»Fein. Jetzt gehn wir zusammen.«

Wir marschierten mitten durch das Unwetter – nicht in Richtung unserer Häuser, die einander gegenüberlagen, das kam nicht in Betracht. Wir marschierten entgegengesetzt und auf das Ende der Stadt zu. Es waren die verbotenen Bereiche, aber ich fühlte, daß in Gegenwart Carls keine andere menschliche Rücksicht mehr mitzählte. Wir gingen nebeneinander, und alles sonst mochte gehn, wie es wollte. Er sah mich von der Seite an; ich bemerkte es wohl, wenn ich auch den Kopf nicht rührte. Ich hoffte still, daß er so fühlen möchte wie ich. Als er sich wieder weggewendet hatte, prüfte ich selbst sein Profil. Ich fand es vor allem neu und unbekannt, als wäre er gar nicht mein Schulkamerad. In der untersten Klasse betrachtete jeder den nächsten mit großen, unverwandten Augen. Man schätzte einander ab. Das erste Zusammentreffen der verschiedenen menschlichen Arten vollzog sich. Aber Carl hatte ich übersehen oder noch niemals richtig ins Auge gefaßt. Er war mir fremd geblieben, was sollte ich davon halten? Mir fiel ein, daß wir aus der Schule beide sogar denselben Heimweg hatten, ihn aber immer einzeln machten. Diese Tatsache verwirrte mich jetzt, wie ein unbegreifliches Aussetzen der allgemeinen Regeln. Ich beschloß, die Ordnung sofort wiederherzustellen, und begann einen Satz.

»Morgen wollen wir auch –«

Ein ungeheurer Donner schnitt ihn mir ab. Wir wendeten die Gesichter einander zu, diesmal, um Hilfe zu suchen. Wir fanden sie auch. Unter dem Blick des anderen blieb keines unserer Gesichter ängstlich, es hätte sich nicht geschickt. Da wir aber entschlossene Mienen annahmen, wurden wir wirklich erhaben über den Donner. Als er zu Ende gerollt hatte, sagte Carl:

»Ja, morgen gehn wir auch aus der Schule zusammen.«

»Vielleicht ist wieder Gewitter«, sagte ich schnell und nicht ohne Heuchelei. Mir lag nicht an dem Gewitter, sondern an Carl; aber er durfte nicht merken, daß mir heiß vor Freude war. Ich freute mich, weil er meinen Satz ergänzte und genau dasselbe dachte wie ich.

Hier erblickten wir ein Schaufenster mit kleinen Schiffen. Sofort hatten wir nochmals den gleichen Gedanken. Das Wasser, das unter unseren Schritten spritzte, wäre noch unterhaltender verwendet worden, wenn wir ein Schiff gehabt hätten. Wir bewunderten die Auslage, bis wir vergessen hatten, weiterzugehn. Endlich zog sogar das Gewitter fort, und nur noch die Gewässer rauschten durch den Rinnstein.

»Ich habe Geld«, sagte ich plötzlich. Es war ein Einfall, zu dem ich mich beglückwünschte. Ich legte meine Dreifaltschen Päckchen auf den Bürgersteig. Sie hatten mich lange genug vor Carl beschämt und in Nachteil gesetzt. Verdorben, wie sie schon waren von der Nässe, schienen diese Krämerwaren mir keine Bedeutung mehr zu haben angesichts dessen, was ich wagen wollte. Ich zog Geld aus der Tasche meines Kittels, es war beim Einkauf übriggeblieben. »Da!« sagte ich und gab es Carl. »Fein!« sagte er, und wir betraten den Laden.

Ich war mir bewußt, daß ich etwas Ungeheuerliches tat, wenn nur die Gesetze meines Standes als Bürgerkind gegolten hätten. Hier indes traten neue Gesetze ein, das fühlte ich deutlich; und was für mich allein verbrecherisch gewesen wäre, gebot mit Carl sowohl die Selbstachtung wie die Freundschaft.

Das Geld reichte nur für das kleinste der Schiffe, mit ihm spielten wir in der Gosse unter Geschrei und bis zum Vergessen der Welt. Schließlich wurden wir von einem erwachsenen Mann angerufen. Er zeigte sich als erster auf der Straße, seit es weniger regnete. Er richtete den Finger nach einer schwimmenden Masse von Kaffeebohnen und Pfefferkörnern. Das meiste hatte schon die Gosse erreicht und wurde soeben in den Abzug gespült.

»Ist das eures?« fragte der Mann mit ebensoviel Entrüstung wie Hohn.

»Nein«, sagte ich frech, »und Sie geht es auch nichts an.«

Ohne weiteres holte der Mann nach mir aus, was blieb mir übrig, als fortzulaufen. Er setzte mir nach, verlor die Lust und kam schimpfend abhanden. Als ich zu Carl zurückkehren konnte, gab es zwei Neuigkeiten. Unser Schiff war, wie die Kolonialwaren, in den Abzug gespült. Carl aber fand ich damit beschäftigt, schwimmende Bohnen und Körner aufzufangen. Er barg sie in seinen Taschen. Hier sah ich ratlos zu. Nicht wahr? Es wäre für mich eine Schande gewesen, Kaffee und Pfeffer aus dem Rinnstein aufzulesen. Gerade vor Carl hätte es mich beschämt. Jetzt aber tat er es selbst. Ich sah ein, daß ich nicht zurückbleiben durfte, und sammelte mit. Da hörte ich ihn sagen:

»Meine Mama wird sie trocknen.«

Sofort gab ich auf, das Gesammelte in meine Taschen zu stecken. Ich steckte es in seine.

Mir war es fraglich, ob meine eigene Mutter etwas, das aus dem Rinnstein kam, noch verwendbar gefunden hätte. Immerhin fiel es mir nachgerade auf, daß ich meinerseits nicht das geringste nach Haus brachte, weder Kaffee noch Pfeffer noch Geld, ja, nicht einmal das Schiff. Auch Carl war ernster geworden. Unser Heimweg begann schweigsam und verlief gedrückt. Wir hoben nur mühsam die Füße, unsere Schuhe waren vom eingesogenen Wasser so schwer, wie wir es Schuhen nie zugetraut hätten.

»Muß man sie fortwerfen?« fragte Carl ohne seine frühere Kühnheit.

Ich wußte es nicht, tröstete ihn aber auf andere Art.

»Den Anzug werden sie bestimmt noch bügeln«, behauptete ich.

Bei der Ankunft hatte nur er die Straße zu überschreiten. Wir sahen uns nicht an, als wir uns trennten. Meine Mutter empfing mich schon im Flur. Sie hatte den Windfang geöffnet und spähte nach mir aus. Der Windfang war eine zweite, gläserne Haustür. Hätte sie in der vorderen Haustür gestanden, was eine Dame niemals tat, wäre meine Sache verloren gewesen. Ich war noch froh. Da sagte sie:

»Jetzt kommst du, ich wollte schon nach der Polizei schicken.«

Hierüber erschrak ich tief, ich senkte den Kopf und schlich mich an ihr vorbei. Dennoch wußte ich, daß sie hinter mir die geschlossene Hand an ihre Wange drückte, was Entsetzen bedeutete. Sie sah wortlos zu, wie ich entkleidet wurde.

»Die Sachen können wir fortwerfen«, beschloß sie endlich. Hier brach ich in lautes Klagen aus.

»Du willst noch weinen?« bemerkte Mama. »Ich, deine Mutter, müßte weinen.«

»Aber Carl!« rief ich unter Schluchzen. »Seine Mama trocknet die Kaffeebohnen. Kann sie nicht auch den Anzug bügeln?«

»Was für Kaffee?« fragte meine liebe Mutter, und dadurch erfuhr ich, wie sehr sie in Angst gewesen war meinetwegen. Denn sie hatte meine Einkäufe ganz vergessen. Ich ging freilich auf ihre Gefühle nicht ein, sondern bekundete nur Sorge um Carl und seinen Anzug.

»Wer ist dein Carl?« fragte Mama ungeduldig.

»Mein Schulkamerad. Er heißt Carl!« beteuerte ich.

»Wer sind seine Eltern?«

»Seine Mutter heißt Fels. Er heißt Carl Fels.«

»Die Dame drüben?«

»Ja«, gab ich zu. Der Ton Mamas gefiel mir nicht. Ich kannte ihn. Sie war im Begriff, mir etwas zu verbieten.

»Das wird Papa erfahren«, entschied sie. Gerade klapperte die Glocke, wie immer beim Öffnen des Windfangs. Papa kam, wir gingen zu Tisch.

»Was hast du heute gemacht?« fragte Papa mich wohlwollend.

»Nette Sachen«, antwortete statt meiner Mama. »Er war stundenlang im Regen, ein Glück, daß es warm ist. Weißt du aber, mit wem er sich umhertreibt? Mit dem Jungen der Fürstin.«

Sie sagte »Fürstin«, ich horchte mit offenem Munde. Noch niemals hatte ich ein lebendes, in der Nähe befindliches Wesen so nennen gehört. Dies wäre die Mutter Carls? Zugleich schien mir das Wort einen Nebenton zu haben im Munde Mamas. Es klang nach einer zweiten Bedeutung, die für mich nicht bestimmt war. Papa dagegen erfaßte sie, er lachte ein einziges Mal stumm auf. Dann strich er mir wohlwollend über den Kopf.

»Du suchst dir deinen Verkehr gut aus.«

Papa lobte mich nicht ganz im Ernst. Ich griff dennoch sofort zu und verschaffte mir die Erlaubnis, Carl einzuladen. Mama wandte freilich ein, daß ich dann auch genötigt sein würde, zu der »Fürstin« zu gehn. Papa, der heiterer Laune war, wie damals immer, machte eine hinausschiebende Handbewegung. Ich war durchgedrungen.

Carl kam, wir waren anerkannte Freunde. Er fuhr auf meinem Rad, wir zauberten, und ich erklärte ihm die Aufgaben. Dann machte er sie ganz anders, und gerade so wurden sie richtig. Ich bewunderte ihn und dachte über ihn nach, was sonst nicht vorkam. Ein kleiner Junge war für den anderen kein Gegenstand langen Nachdenkens. Wie geschah es, daß Carl so oft frei war und sogar nach der Schule sogleich unser Haus betreten durfte, anstatt sich seiner Mutter zu zeigen? Warum trug er feinere Anzüge als ich und steckte trotzdem beschmutzte Kaffeebohnen in seine Tasche, damit sie noch gemahlen wurden? Ich wartete unbestimmt auf ein Ereignis, das mich mehr lehren sollte. Es trat auch ein.

Eines Tages nach der Schule bestimmte Carl:

»Heute gehen wir nicht zu dir. Meine Mutter will, daß du zu uns kommst.«

Sofort fühlte ich eine Gefahr. Wahrscheinlich wurde der Besuch bei der »Fürstin« mir verboten, wenn ich zu Hause darum bat. Einfach nicht heimzukehren, den Streich hatte ich mir noch niemals erlaubt. Ich sprach kein Wort und folgte Carl – hinüber zum Haus des Weinhändlers Riese. Er selbst bewohnte es nicht, er hatte ein viel schöneres vor der Stadt. Hier lagen nur im Keller seine Fässer. Sein Sohn Peter stieg soeben vor dem Hause aus der Kellerluke. Er gehörte zu den Herren, obwohl er aus der Luke stieg, und war auch so gekleidet. Mit seinem Taschentuch staubte er von seinen Ärmeln die Spinnengewebe.

Kaum, daß ich das rote Gesicht des Herrn Peter Riese gewahrte, lief ich auch schon hin und gab ihm die Hand. Natürlich hätte Carl dasselbe tun müssen. Es entsprach der Regel. Statt dessen sah ich ihn mit bösem Ausdruck auf mich warten. Herr Peter Riese inzwischen redete mich an.

»Du gehst wohl auch zu der Fürstin? Na, dann nehmt mich mal mit.«

»Nein!« rief Carl unfaßbar böse. »Sie sollen wieder in Ihren Keller! Das sagt auch meine Mama.«

Hierüber verfiel Herr Peter Riese in schallendes Gelächter. Seine Stimme freilich, als er dann sprach, klang keineswegs erfreut. Sie klang sogar unfreundlich.

»Deine Mutter wird mal wieder wollen, daß ich ihr helfe«, sagte er, und jedes Wort grub sich mir ein, so unerhörte Worte waren es. »Dann kann deine Mutter mich in meinem Keller besuchen.«

Während er es sagte, wurde er mir unheimlich. Einen Augenblick dachte ich mir den Sohn des Weinhändlers Riese verwandelt in ein Ungetüm. Im Dunkeln lag es zwischen den Fässern und schnappte denen, die in seine Nähe gerieten, nach den Waden. Schneller, als ich vorgehabt hatte, war ich bei Carl. Wir liefen bis in das erste Stockwerk, langten atemlos an und horchten hinter der Tür noch eine Weile, ob Riese käme.

Plötzlich und ohne eine Erklärung führte Carl mich in ein Zimmer. Es enthielt gepolsterte Möbel, einen Blumentisch und ein Klavier. Es wäre demnach wie bei uns gewesen, nur daß die Blumen welk waren. Carl blieb in der Mitte stehen, wir standen beide, wie ein Besuch, der wartet. Mich zog das Klavier an. Als ich nicht mehr anders konnte, öffnete ich den Deckel und drückte beide Hände auf die Tasten. »Laß das!« rief Carl, aber es kam zu spät. Seine Mutter war schon da.

Sie sagte: »Was ist das für ein Lärm?« Und Carl erwiderte: »Er wußte nicht.«

»Ach so«, sagte die Dame. Sie tat, als sähe sie mich erst jetzt. Aber sie hatte mich gleich bei ihrem Eintreten bemerkt, wie ich sicher wußte. Sie verstellte sich; damit machte sie mich sowohl neugierig als befangen.

»Du starrst mich an«, sagte die schöne Dame und lachte unzufrieden. »Du bist der Freund, zu dem Carl geht. Carl wird eingeladen.«

Jetzt lachte sie übermütig. Einen Augenblick wollte ich darüber froh werden. Aber die Lust verging mir sogleich. Carl tat indes etwas Unerwartetes: er küßte seiner Mutter die Hand. Ich hatte dies niemals weder gesehn noch gelernt, ein kleiner Junge, der seiner Mutter die Hand küßt! Es befremdete mich beträchtlich. Ohne den Blick von der Dame zu wenden, beantwortete ich ihre Fragen, wie ich heiße und ob es meine Mutter sei, die so oft drüben am Fenster sitze und Handarbeiten mache.

»Sie ist gut frisiert«, sagte die Mutter Carls zu meinem Erstaunen. »Geht sie zu Philibert? Nein, das weißt du nicht. Ich müßte sie selbst fragen. Nun, ich werde Philibert fragen.«

Dabei wandte sie mir schon die Schulter zu, zwei goldgelbe Locken hingen darüber. Es schien, als bräche sie sofort zu dem Friseur auf. Ein Satz, der in mir längst fertig war, entrang sich mir noch schnell.

»Warum sitzen Sie nicht auch am Fenster, wie Mama?«

Hierüber lachte sie wieder, bekam aber bei diesem Lachen ein ganz anderes Gesicht. Es wurde komisch, liebenswürdig und flößte Zutrauen ein.

»Ich mache keine Handarbeiten«, sagte sie und kam wieder her. Ja, sie reichte mir zum erstenmal die Hand. Ihre Hand war lang und schmal. Warum mußte ich jetzt blutrot werden? Ich hatte geschwankt, ob ich es machen sollte wie Carl, und ihr die Hand küssen. Die Dame winkte uns aber zu, nicht mehr mir allein, uns beiden winkte sie.

»Spielt miteinander! Aber nicht hier!«

Damit war sie schon aus der Tür. Wir beide standen noch stumm in der Mitte, wie vor ihrem Eintreten, da hörten wir ihre Stimme. Sie sang hell und stark. Ich kannte nur die zarte Stimme meiner Mutter und erschrak vor dieser. Sie stieg, fiel, vollführte Bogen und Sprünge und endete in voller Kraft, ohne daß es aus war. Ich glaubte, eine zweite Tür, und diesmal eine undurchdringliche, sei vor der Stimme geschlossen worden.

,Die Fürstin ist schön, aber gekränkt', fühlte ich.

Carl sagte: »Wir wollen in mein Zimmer gehn.«

Ich fühlte: ›Sie wäre lustig, aber muß traurig sein.‹

»Warum kommst du nicht?« fragte Carl, und ich folgte ihm.

In seinem Zimmer wartete eine nicht weniger große Überraschung. Es war ein Kasperletheater, wie ich keines kannte, höher als wir beide. Carl erwarb meine ungemessene Achtung: zuerst seine Mutter, dann dies Theater!

»Kannst du spielen?« fragte er. »Ich mache es dir vor.«

Er verschwand hinter dem Vorhang seiner Bühne.

»Singt Mama schön?« hörte ich ihn dort fragen. Es klang stolz, wenn er auch leise sprach. Ich wollte erwidern, daß seine Mama ganz herrlich singe, da antwortete schon ein anderer: »Ganz herrlich, mein Junge.« Dieser sprach laut quäkend. Ich begriff nicht gleich, daß es Carl selbst war, der seinen Kasperle reden ließ. Er lachte aber – bald wie Kasperle, bald wie er selbst; da lachte ich als dritter mit.

Jetzt ließ Carl den grünen Vorhang hinaufschnellen. Auf den Rand seines Theaters setzte er zwei Puppen, einen Mann und eine Frau. Der Mann hatte Hörner und war schwarz. Es konnte nur der Teufel sein. Dieser sagte zu der Frau:

»Sie müssen Ihre Miete bezahlen. Sonst kommen Sie mit in den Keller.«

»Weißt du, wer das ist?« fragte Carl dazwischen mit seiner echten Stimme, anstatt der häßlichen, die er dem Teufel lieh.

»Ich denke nicht daran«, sagte hierauf die Frau. »Gehn Sie allein in den Keller. Marsch!«

»Weißt du, wer das ist?« fragte Carl wieder. Ich nickte, was er nicht sehen konnte.

Der Teufel schrie: »Dann hole ich das Krokodil!« und verschwand nach unten. Die Frau blieb allein, sie brach in Weinen aus. Es war ein zorniges Wimmern, es überzeugte mich und hätte fast auch mich ergriffen. Aber schon erschien eine neue Puppe im bunten Rock, gewiß der Kasperle selbst. Er tröstete die Frau, er sei auch noch da, ihr werde nichts geschehn. Dabei schwang er verheißungsvoll seine Karbatsche.

»Herr Riese hat Sie zum Weinen gebracht«, quäkte er und schlug um sich. »Der soll was erleben.«

Kaum hatte er dies gesagt, hörten wir alle ein Gebrumm. Wer anders brummte hier, als das Krokodil? Die Frau ergriff die Flucht, das Krokodil tauchte auf. Es bestand ganz aus einem Rachen, der auch gleich nach dem mutigen Kasperle schnappte. Dieser stieß ihm schnell die Karbatsche hinein. »Die nehme ich nie wieder heraus«, erklärte er, »oder Sie versprechen, daß Sie nicht meine Mama, sondern Herrn Riese verschlingen.«

Sogar noch das Krokodil nannte er Sie, und zwar mit der erregten Stimme Carls. Über dem Rand des Theaters zeigten sich die erhitzten Augen meines Freundes. Er hatte es aufgegeben, zwischen sich selbst und Kasperle zu unterscheiden. Kasperle verschwand einfach vom Schauplatz; und als Herr Peter Riese zurückkehrte, wurde er vom Krokodil kurzweg gefressen, ohne daß noch ein Wort fiel. Brummen und Wehgeschrei sagten alles.

Ich war den Vorgängen mit leidenschaftlicher Teilnahme gefolgt und nicht weniger von ihnen mitgerissen als Carl. Auf dem Gipfel unserer Erregung blieb uns nur übrig, die handelnden Personen selbst zu verkörpern.

»Du bist Herr Peter Riese!« verlangte Carl von mir.

»Nein! Ich will nicht Peter Riese sein«,rief ich voll Abscheu.

Da er mich aber trotzdem dafür ansah, mußte ich mich wehren, um nicht alle Prügel zu bekommen. Wir fielen im Kampf zu Boden und warfen Möbelstücke dabei um; das machte Lärm. Ein Mädchen erschien, sie trennte uns, mich schickte sie nach Haus.

Im Laufe desselben Tages faßte ich zwei Entschlüsse. Erstens sollten meine Eltern die Fürstin zu sich einladen. Zweitens mußte endlich der Oberkellner die Schaumrolle herausgeben, und Carl sollte sie mit mir essen. Welche dieser beiden Forderungen war wichtiger oder schwerer zu erreichen? Ich ließ es dahingestellt und handelte. Mitten in der Mahlzeit verlangte ich, daß am Sonntag, wenn Großmama käme, auch die Fürstin dabei sei. Ich sagte es mit nicht ganz fester Stimme, aber entschlossen. Mein Entschluß hatte seinen Ursprung in dem komischen und liebenswürdigen Lächeln der Fürstin. Schon in jenem Augenblick hatte ich gefühlt, daß ihr Unrecht geschähe. Jetzt war ich davon überzeugt.

Mama sah mich groß an und machte »oh!«. Aber Papa fragte sehr freundlich:

»Nun, mein Sohn, erkläre mir mal, wie du zu deiner Bitte gekommen bist?«

»Carl küßt ihr sogar die Hand!« – dies führte ich als ersten Beweis an.

»Das ist hübsch«, gab Papa zu.

»Und dann geht sie auch zu Philibert«, fügte ich hinzu. Da ich Mama den Mund verziehen sah, wurde mir bange um meinen Erfolg, und ich überstürzte mich.

»Sie singt herrlich, aber Handarbeiten macht sie keine.«

»Das konnte ich mir denken«, warf Mama hin.

Papa blieb milder. »Ich möchte dir den Gefallen tun, mein Lieber«, erklärte er. »Aber dann würde deine Großmama vielleicht absagen. Wen willst du lieber haben, Großmama oder die Fürstin?«

Es ging nicht an, zu sagen »die Fürstin«. Daher mußte ich schweigen. Um so unfehlbarer nahm ich alles in mich auf, was die Eltern weiterhin untereinander redeten.

»Sogar beim Friseur bleibt sie die Rechnung schuldig«, berichtete Mama.

Papa machte die Stirn kraus, sah aber doch gutgelaunt aus. »Sie könnte sofort Geld bekommen«, meinte er. »Sie ist im Grunde eine tapfere Person, daß sie es ausschlägt.«

Mama behauptete:

»Sie nimmt von Peter Riese ohnedies etwas an.«

»Er erzählt es«, entgegnete Papa. »Wenn er Glück bei ihr hätte, würde er eher den Mund halten.«

Ich sagte, mir selbst unerwartet:

»Herr Peter Riese ist ein Schweinekerl.«

Darüber fuhr Mama vom Stuhl auf, als ob ich mich verschluckt hätte und erstickte. Ich wunderte mich über diese Wirkung meiner Worte, jetzt wollte ich alles mitteilen, was ich von Herrn Peter Riese wußte. Aber Papa drohte mir, diesmal ernst, mit dem Finger und begann, zu Mama gewendet, von etwas ganz anderem.

Mir blieb zweitens der Oberkellner. Dort hoffte ich es leichter zu haben, weil der Oberkellner kein Herr war. Ich dachte: ›Wenn ich groß bin, muß er mir hundert Schaumrollen auf einmal bringen.‹ Daher ging ich schon tags darauf mit Carl ins Hotel Duft. Ich nahm Carl mit, weil ich einsah, wir würden zu zweien mehr Ansehn genießen. Unsichtbar unterstützten uns nicht nur meine Eltern, sondern auch seine Mutter, die Fürstin. Aus den Gesprächen gestern bei Tisch hatte ich Zweifel an ihr herausgehört, aber auch Geheimnis und noch mehr Glanz hatten jene Reden um sie gewoben. Mein Bekannter, der Oberkellner, gab mir bestimmt recht. Ich suchte Verständnis damals bei Entfernteren und bei Menschen unter meinem Stande.

Der Oberkellner empfing uns in der Haustür. Er hielt die Hände auf dem Rücken, nahm sie auch nicht hervor, und von seinen drei Stufen herab lächelte er uns großartig zu. Er gefiel mir sofort nicht, ich kannte ihn viel kleiner und von gleich zu gleich.

»Heute habe ich gerade keine Schaumrolle«, gab er an, noch bevor ich fragte. Dies erregte meinen Unwillen.

»Sie müssen sogar zwei Schaumrollen bringen«, forderte ich schroff. »Carl ist auch da.«

»Ich weiß. Der von der Fürstin.« Hierbei lachte der Oberkellner, daß er wackelte. Er begriff aber, daß er uns dafür wenigstens die Hand reichen müsse. Meinem Freunde liebkoste er sogar die dicke Locke gelben Haares über der Stirn.

»Nun?« erkundigte er sich herablassend. »Wirst du mal deinen fürstlichen Vater besuchen? Oder geht deine Mutter wieder bei 's Theater?«

Zum erstenmal bemerkte ich, daß mein guter Bekannter, der Oberkellner, falsch sprach. Dies machte mir einen Eindruck, als verwandelte er sich vor meinen Augen.

Carl inzwischen versetzte: »Das geht Sie gar nichts an«, und wandte den Rücken. Ich folgte ihm, der Oberkellner lachte hinter uns her.

»So sind sie«, sagte Carl. Er stampfte auf und rief: »So sind alle!« – ein Wort, über das ich mehrere Tage lang nachdachte.

Ich verglich Herrn Peter Riese mit dem Oberkellner und fand tatsächlich einen des anderen würdig. Sie hätten vertauscht werden können, so entdeckte ich. Herr Peter Riese hätte seinen Mann ebenso unter Kellnern gestanden, der andere als großer Weinhändler. Ich nahm mir vor, darauf zu achten, ob Riese vielleicht auch »bei 's Theater« sagte. Unsern Nachbar Hammerfest sah ich schon zur Mittagszeit betrunken, darüber jubelte ich mit mehreren anderen Jungen, er aber verprügelte den einen, wir anderen liefen fort. Das alles war schon vorgekommen, nur jetzt erfüllte es mich mit einer besonderen, mir neuen Spannung. Ich besuchte sogar mit einem vorgefaßten Argwohn den bisher verehrungswürdigen Amandus Schnepel. Er strich, wie immer, zur Qual meiner Nerven über seinen »Rips«. Außerdem aber bediente er meine Mutter völlig anders als eine ärmere Frau, die neben ihr vor den Ladentisch trat. Er hatte für diese Kundin nicht dieselbe Rücksicht und Geduld, wies sie mit einer geringschätzigen Kopfbewegung an eine unfreundliche Verkäuferin und ließ auch vom Preis nichts nach. Meine Mutter dagegen durfte mit ihm handeln, er begleitete sie trotzdem bis zur Tür.

War Schnepel allein schlecht? Waren auch Hammerfest, der Oberkellner und Herr Peter Riese nur zufällig schlechte Menschen? Carl hatte versichert, so seien alle; er hatte die ganze Stadt gemeint. Ich, der ich ihre Einwohner für ehrenwert, herzlich und hilfsbereit gehalten hatte, ich zögerte, ihm zu glauben. Bis jetzt hatte ich so vielen, die es verdienten, auf der Straße die Hand gegeben. Ich tat es weiter, blickte ihnen dabei aber groß ins Gesicht, ob ihre Freundlichkeit echt wäre. Meinem Freund und seiner Mutter begegneten sie härter, warum nicht auch mir? Warum luden sogar meine wohlwollenden Eltern die Fürstin nicht ein?

Ich zweifelte damals zuerst bei meinen Mitmenschen an etwas, das ich noch nicht benennen konnte. Ich zweifelte an ihrer Gerechtigkeit, bevor ich das Wort kannte. Zugleich ward ich aufmerksam auf mich selbst. Denn auch ich blieb, meiner Erkenntnisse ungeachtet, wie ich war. Nach wie vor erwies ich Ehren nur dort, wo es geboten schien. So waren denn wirklich alle gleich in der Stadt, denn mich hielt ich nicht für schlechter als die anderen. Immerhin war ich entrüsteter über sie als über mich. Sie hatten mich getäuscht. Ich hatte die Stadt und ihr gesamtes Leben hingenommen als gegeben und daher gut. Seine Freundschaft mit Carl machte einen anderen kleinen Jungen zum erstenmal kritisch.

Einzig Carl entging meinen Zweifeln. Sein Stolz blieb für mich unbeugsam, sein Herz aber zuverlässig und sicher. Ich bewunderte seinen nie beirrten Haß auf Herrn Peter Riese. Auch ich haßte den Hausherrn meines Freundes, aber um wie vieles schüchterner! Einst gingen vor uns her drei Herren, von denen der mittlere Herr Peter Riese war. Wir folgten ihnen über unser Ziel hinaus, anfangs in einiger Entfernung, dann immer näher. Carl drang unausgesetzt in mich, wir sollten den drei Herren jeder einen Stein zwischen die Füße werfen und schnell in einem Haus verschwinden. Ich erklärte dies für unmöglich, obwohl ich den Stein schon in der Hand hielt. Als wir nahe waren, machte ich noch schnell einen Gegenvorschlag. Ich flüsterte:

»Wir rufen hinter ihnen her: Riese schneuzt sich mit den Fingern.«

Ich sah diese Worte für berechtigt an, weil sie eine Wahrheit enthielten. Ich hatte Herrn Peter Riese wirklich dabei ertappt. Carl seinerseits fand die Rache unzulänglich. Wenn wir aber nur riefen, anstatt zu werfen, sollten wir zum mindesten in aller Öffentlichkeit die Stimmen erheben, und zwar gemeinsam. Ich versprach es auch, und ich malte ihm vorher die Wirkung aus. Sie mußte für Herrn Peter Riese vernichtend sein. Seine beiden Begleiter lachten ihn bestimmt aus, und wahrscheinlich bekam er für seine Unarten noch Ohrfeigen. Dies überzeugte Carl, er stellte nur die Bedingung, daß wir schreien sollten, so laut wir konnten. Dann zählte er eins, zwei – und bei drei schrie er.

Er hatte allein geschrien. Mir war im letzten Augenblick der Mut entfallen. Übrigens trat von den vorhergesagten Folgen keine ein. Die drei Herren setzten ihren Weg fort, als hätten sie nichts gehört; nicht einmal Riese wandte den Kopf. Schon schoben andere Leute sich zwischen die Herren und uns. Wir gingen plötzlich ganz langsam, wie vor einem zutage getretenen Hindernis. Carl blieb sogar stehn.

»Du bist feige«, sagte er und stieß mich. Ich stieß zurück, aber was half es gegen meine eigene Beschämung.

»Du bist feige, jetzt weiß ich es genau«, wiederholte Carl und entfernte sich von mir. Das war beleidigender, als nur zu stoßen. Ich erwiderte trotzig seine feindselige Handlung, und nach Hause gingen wir auf zwei verschiedenen Straßenseiten.

Am nächsten Morgen in der Schule stellten wir uns, als kennten wir einander nicht. Nur böse Blicke verrieten einen dem andern. Den Heimweg machte jeder zum erstenmal wieder allein. Ich wählte eine von uns nie benutzte Abkürzung. Wem begegnete ich hier? Herrn Peter Riese. Mein erster Gedanke war, umzukehren und zu fliehen. Ich trat ihm aber entgegen und zog den Hut, wie gewöhnlich. Wie zu erwarten war, hielt er mich an und sagte:

»Gestern hat mir jemand etwas nachgerufen. Waret ihr beide das?«

Ich antwortete: »Nein«, und wurde rot dabei.

»Du lügst«, sagte Herr Peter Riese.

Ich antwortete:

»Nein. Wir waren es nicht beide. Ich war es allein.«

»Auch frech bist du noch?« sagte er. Hierbei holte er mit der Hand aus. Ich starrte ihn an, statt daß ich mich mit dem Arm schützte.

Er indessen sah sich erst noch um, gerade betrat jemand den stillen Durchgang. Sogleich ließ Herr Peter Riese die Hand sinken, wenn auch mit Bedauern.

»Na, grüß deinen Vater!« Er lachte wütend und stapfte von dannen.

Ich aber lief, um Carl noch zu erreichen, bevor er angelangt war. Ich traf ihn auch vor seiner Tür.

»Carl!« rief ich. »Riese hat mich hauen gewollt.«

Trotzdem drängte Carl an mir vorbei ins Haus. Ich rief:

»Carl! Er hat gefragt, wer es gewesen ist. Da hab ich gesagt: ich.«

»Das glaub ich dir nicht«, murmelte Carl finster und ließ mich stehen.

Ich war empört und machte keinen Versuch mehr, ihn umzustimmen. In meinem bisherigen Leben war mir noch immer geglaubt worden, außer wenn ich die Unwahrheit sagte. Gerade mein Freund mußte der erste sein, der mir ohne Grund mißtraute. Das empörte mich, in ihn hatte ich sämtliche Hoffnungen meines Herzens gesetzt. Aber auf die Dauer überwog der Schmerz, verkannt zu sein von Carl. Ich übersah ihn von jetzt an wohl mit hochmütigem Gesicht; wenigstens bildete ich mir ein, es sei hochmütig. Vor allem wird es traurig gewesen sein, denn auch das seine war nicht fröhlich. Unser Lehrer, der in der Spielpause jeden der beiden ehemaligen Freunde allein umherstehn sah, forderte uns schließlich einmal auf, miteinander um die Wette zu laufen. Wir liefen. Carl wäre vor mir bei dem Baum angekommen; aber zuletzt ließ er absichtlich um eine Kleinigkeit nach, ich allein merkte es; und so berührten wir den Baum gleichzeitig. Hierauf wollte ich die Hand hinstrecken, nur war sie vom Körper nicht wegzubringen. Carl aber hielt die Augen gesenkt, bis wir uns wieder trennten.

Morgen gebe ich ihm die Hand! Das war mein fester Vorsatz. Er kam nicht zur Ausführung, denn am nächsten Tage fehlte Carl. Ich wagte nicht zu fragen, ob er krank sei. Vergebens suchte ich auf dem Heimweg nach einem Vorwand, zu ihm hinaufzugehn. Vor dem Hotel Duft stand wieder einmal der Oberkellner. Als er mich erblickte, holte er hinter seinem Rücken etwas Eingewickeltes hervor.

»Da hast du deine Schaumrolle«, sagte er und verbeugte sich geradezu vor mir. Ich nahm die Gabe ohne viel Aufhebens entgegen.

»Und die für Carl?« fragte ich im Ton einer Zurechtweisung.

Der Oberkellner machte große Augen, öffnete auch den Mund, dann hielt er dennoch an sich. Ich glaubte, er habe schelten wollen. Statt dessen sagte er mit einer mir unverständlichen Vorsicht:

»Eine ist genug.«

Ich vergaß, ihm zu danken. Mir kam der Einfall, daß eine wirklich genug sei, wenn ich sie Carl gab und selbst keine aß. Daher machte ich mich eilends auf. Ich lief nicht. Vor mir her jagte und flog so viel Freude, so viel Vorgefühl des Glückes, daß ich es niemals eingeholt hätte. So schnell ich ging, der kurze Weg wollte nicht enden. Die Treppe stürzte ich hinauf, wie damals mit Carl auf der Flucht vor Herrn Peter Riese. Droben stand die Tür offen, als erwarteten sie mich.

Da ich aber wußte, daß niemand mich erwartete, wurde mir beklommen. Keine Ahnung des Kommenden ergriff mich. Mir klangen nur meine eigenen Schritte fremd im Flur, bis ich wahrnahm, daß kein Läufer mehr dalag. Auch die Türen der Zimmer standen weit auf. Wie unheimlich, sie waren leer. In diesem hatte ich mit der Fürstin gesprochen. Jenes war dasselbe, in dem sie gesungen hatte, bevor über ihrer herrlichen Stimme eine Tür zufiel. Sie mußte doch immer noch singen, und in alle Ewigkeit fiel die Tür zu! Ich begriff damals noch nicht, was vergangen heißt. Unfaßbar war das ausgeräumte, verlassene Zimmer.

Meine Hoffnungen wehrten sich gegen ihren Verfall. Carl! Seiner wenigstens war ich sicher trotz allem, das übrige mochte ungeklärt bleiben. Ich bog um die Ecke des Ganges. Ja, im Zimmer meines Freundes war ein Schritt. »Carl!« rief ich, noch ehe ich ihn sah. Wer antwortete mir? Das rote Gesicht Herrn Peter Rieses. Er sagte:

»Haben sie etwas mitgenommen, was dir gehörte? Ich sehe gerade mal nach.«

»Wo sind sie denn?« fragte ich völlig unhörbar.

Ich betrachtete fassungslos die Stelle, auf der das Kasperletheater gestanden hatte. Nein, das war nicht mein gewesen. Aber etwas, das mein war, hatte mich dennoch verlassen. Ich wußte nicht, was. Ich fand es nicht, trotz allem Bemühen.

»Wann kommt Carl wieder?« fragte ich mit zitternden Lippen.

»Darauf kannst du lange warten«, entschied Herr Peter Riese grob wie das Schicksal und ging aus dem Zimmer. Endlich brachen meine Tränen aus. Ich glitt auf die Knie, drückte die Stirn gegen den nackten Fußboden und schluchzte in meine Arme. Auch von dieser Lage wünschte ich, daß sie immer dauere. Als mir schon die Knie schmerzten und ich nicht mehr schluchzen konnte, rührte ich mich lange nicht.

Beim Aufstehn erblickte ich am Boden ein Papier, das sich geöffnet hatte, und darin eine Schaumrolle. Ich wußte nicht gleich, woher sie kam. Sie war der Rest aus schönen Tagen. Sie lehrte mich, was vergangen heißt. Da ich ein kleiner Junge war, aß ich sie auf und konnte dabei nochmals aus dem vollen weinen.


 << zurück weiter >>