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VI.
Ruysbroeck der Grosse

Dieser Essay bildet die Einführung zu einer französischen Übersetzung von Johannes Ruysbroecks »Zierde der geistlichen Hochzeit« (»L'ornement des Noces spirituelles«), die Maeterlinck 1891 veröffentlichte. Johannes Ruysbroeck, der »doctor exstaticus« aus dem Ende von Goethes »Faust«, war einer der grössten Mystiker der christlichen Kirche. Er ward 1293 in Ruysbroeck bei Brüssel geboren und später Vikar an der St. Gudularkirche in Brüssel. Im Alter von 60 Jahren zog er sich mit mehreren Freunden in das Augustinerkloster Groenendaal bei Waterloo zurück und starb als dessen Prior am 13. Dezember 1381. Er war ein strenger Christ und Asket; der überhandnehmenden Verweltlichung der Kirche und der häretischen, pantheistischen Mystik gleichermassen feind, suchte er sein mystisches System vor allem auf die orthodoxe Kirchenlehre zu begründen. Seine Hauptschriften sind »Die Zierde der geistlichen Hochzeit«, »Von den sieben Stufen der Liebe«, »Von der wahren Kontemplation« u. v. a., die in einer neuen holländischen Ausgabe von und ihr Verhältnis zur Zeitgeschichte. Sie leidet nur an dem Mangel, dass Engelhardt des vlämischen Urtextes nicht mächtig war und mit den lateinischen Übersetzungen des Surius und mittelhochdeutschen Bearbeitungen von 1450, die nur handschriftlich vorliegen, sich abfinden musste. Eine französische Arbeit von K. Schmidt, »Etude sur J. Ruysbroeck« (Strassburg 1859), und eine holländische von Otterloo »Joh. Ruysbroeck« (Amsterdam 1894) liegen vor.]wissenschaftlicher Zuverlässigkeit vorliegen. Die deutsche Übersetzung seiner Schriften von Arnold (Offenbach 1701) ist verschollen. Eine deutsche Abhandlung über »Richard von St. Victor und Johannes Ruysbroeck« von Engelhardt (Erlangen 1838) stellt die Systeme beider Mystiker gegenüber und gibt an der Hand vieler Beispiele einen umfangreichen Abriss über die Entwicklung der ganzen Bewegung.

Eine grosse Zahl von Werken ist von regelmässigerer Schönheit als dieses Buch Ruysbroecks des Grossen. Eine grosse Zahl von Mystikern ist zeitgemässer und wirkungsvoller, so Swedenborg und Novalis. Es ist höchst wahrscheinlich, dass seine Schriften den heutigen Bedürfnissen nur selten entsprechen. Andererseits kenne ich auch wenige Schriftsteller, die ungeschickter sind, als er; er verliert sich bisweilen in seltsame Kindereien; und die ersten zwanzig Kapitel seiner »Zierde der geistlichen Hochzeit« enthalten, wiewohl sie vielleicht eine notwendige Vorbereitung sind, nichts als flaue und fromme Gemeinplätze. Er hat keinerlei äussere Anordnung und scholastische Logik. Er wiederholt sich oftmals und scheint sich bisweilen zu widersprechen. Er verbindet die Unwissenheit eines Kindes mit dem Wissen eines Menschen, der von den Toten zurückgekommen ist. Er hat einen krampfhaften Satzbau, der mich mehr als einmal hat schwitzen lassen. Er führt ein Bild ein und vergisst es. Er gebraucht selbst eine Anzahl unmöglicher Bilder, eine ungewöhnliche Erscheinung in einem Werke von innerer Wahrhaftigkeit, die sich nur durch sein linkisches Wesen oder sein ausserordentliches Hasten erklären lässt. Unbekannt sind ihm die meisten Kunstgriffe der Sprache, nur vom Unaussprechlichen weiss er zu reden. Unbekannt sind ihm fast alle Gepflogenheiten, Gewandtheiten und Hilfsmittel des philosophischen Denkens; er ist bestrebt, nur das Undenkbare zu denken. Wenn er uns von seinem kleinen Mönchsgarten erzählt, so bringt er es kaum fertig, uns hinreichend zu sagen, was dort vorgeht; er schreibt dann wie ein Kind. Er unternimmt es, uns darüber zu belehren, was in Gott vorgeht, und schreibt Seiten, die Plato nicht hätte schreiben können. Überall tritt ein ungeheuerliches Missverhältnis zwischen Wissen und Unwissenheit, Kraft und Wunsch zu Tage. Man muss sich nicht auf eine schriftstellerische Leistung gefasst machen; man wird nichts gewahren, als den zuckenden Flug eines trunkenen Aars, der blind und blutüberströmt über Schneegipfeln schwebt. Und noch ein letztes Wort brüderlicher Warnung. Ich habe Bücher gelesen, die für höchst wirr gelten, wie z. B. die »Lehrlinge zu Sais« und die »Fragmente« von Novalis, die »Biographia litteraria« und den »Freund« von Samuel Taylor Coleridge; den »Timäus« von Plato, die »Enneaden« von Plotin, die »Göttlichen Namen« von Dionysius dem Areopagiten und die »Aurora« des grossen deutschen Mystikers Jakob Boehme, mit dem unser Autor mehr als eine Verwandtschaft hat. Ich wage nicht zu behaupten, dass Ruysbroecks Werke verworrener seien, als diese, aber man verzeiht ihnen ihre Verworrenheit minder gern, weil es sich hier um etwas Unbekanntes handelt, zu dem wir nicht von Anfang an Zutrauen haben. Es schien mir unerlässlich, die Müssiggänger auf der Schwelle dieses Tempels ohne Baustil redlich zu warnen; denn diese Übersetzung ist nur zur Genugtuung einiger Platoniker unternommen worden. Ich glaube, dass alle, die nicht in inniger Bekanntschaft mit Plato und den Neu-Platonikern Alexandrias gelebt haben, nicht eben weit in dieser Lektüre kommen werden. Sie werden glauben, ins Leere zu treten, sie werden die Empfindung eines gleichförmigen Falles in einen bodenlosen Abgrund zwischen schwarzen, abschüssigen Felswänden haben. In diesem Buche gibt es weder Luft noch Licht von gewöhnlicher Art; es ist ein geistiger Aufenthalt, unerträglich für die, welche nicht darauf vorbereitet sind. Man muss hier nicht aus literarischer Neugierde eindringen; es gibt hier keinerlei Kuriositäten und die Botaniker des Bildlichen werden nicht mehr Blumen finden, als auf den Eisbänken des Pols. Ihnen sage ich, dass es eine grenzenlose Wüste ist, wo sie Durstes sterben werden. Sie werden hier sehr wenige Redensarten finden, die man in die Hände nehmen kann, um sie nach Literatenart zu bewundern; dies sind Stichflammen oder Eisblöcke. Suche keiner Rosen auf Island. Möglich, dass irgend eine Blume zwischen zwei Eisbergen wartet, und es gibt hier in der Tat unbekannte Ausdrücke, unerhörte Gleichnisse, aber sie lohnen nicht die verlorene Zeit, wenn man sie von so weit her pflücken kommt. Man muss, ehe man hier eintritt, in einem philosophischen Zustande sein, der sich von dem gewöhnlichen Zustande ebenso unterscheidet, wie der Zustand des Wachens vom Schlafe; und Porphyrio scheint in seinen »Grundlagen der Theorie vom Intelligiblen« das beste Motto für dieses Buch geschrieben zu haben, wenn er sagt: »Kraft des Verstandes sagt man manches über das Prinzip, dem der Verstand untergeordnet ist. Aber eine Anschauung davon hat man viel besser durch Abwesenheit des Gedankens, als durch das Denken. Es ist mit dieser Vorstellung wie mit der des Schlafes, von dem man in wachem Zustande bis zu einem gewissen Grade spricht, aber Kenntnis und Auffassung nur durch den Schlaf erhält. In der Tat wird Ähnliches nur durch Ähnliches erkannt, und die Vorbedingung aller Erkenntnis ist, dass das Subjekt dem Objekt ähnlich werde.« Ich wiederhole es, es ist sehr schwer, dies ohne Vorbereitung zu begreifen; und ich glaube selbst, dass uns ein grosser Teil dieser Mystik trotz aller vorbereitenden Studien als reine Theorie erscheinen wird und dass wir die meisten dieser Erfahrungen übersinnlicher Psychologie nur als Zuschauer verstehen werden. Die philosophische Einbildungskraft ist eine Eigenschaft, die sich nur sehr langsam anerziehen lässt. Wir sind hier mit einem Schlage an den Schranken des menschlichen Denkens und weit über den Polarkreis des Geistes hinaus. Es ist ausserordentlich kalt und ausserordentlich dunkel; und doch findet man nichts als Flammen und Licht. Aber für Ankömmlinge, die ihre Seele auf diese neuen Eindrücke nicht vorbereitet haben, sind diese Flammen und dieses Licht so dunkel und kalt wie auf einem Gemälde. Es handelt sich hier um die exakteste Wissenschaft; es handelt sich darum, die rauhsten und unwohnlichsten Vorgebirge des Göttlichen zu durchqueren. Das »Erkenne Dich selbst« und die Mitternachtsonne herrschen über dem hohlgehenden Meere, in dem die menschliche Psychologie sich mit der göttlichen vermischt. Daran muss man unaufhörlich denken; es handelt sich hier um eine sehr tiefe Wissenschaft und nicht um einen Traum. Träume sind nicht übereinstimmend; Träume haben keine Wurzeln, aber die lichte Blume der göttlichen Metaphysik, die sich hier entfaltet, hat ihre geheimen Wurzeln in Persien und Indien, in Ägypten und Griechenland. Und doch scheint sie unbewusst wie eine Blume und weiss nichts von ihren Wurzeln. Zum Unglück ist es uns unmöglich, uns in den Zustand einer Seele zu versetzen, die diese Wissenschaft ohne Anstrengung erfasst hat; wir können sie nicht von innen anschauen und in uns selbst nachbilden. Es fehlt uns an dem, was Emerson die »centrale Spontaneität« nennen würde. Wir können diese Vorstellungen nicht mehr in unsere eigne Wesenheit umformen; wir sind höchstens im stande, diese wunderbaren Erfahrungen, welche während der Dauer eines ganzen Planetensystems nur einer sehr kleinen Zahl von Seelen erreichbar sind, von aussen zu bestätigen. »Es gebührt sich nicht, nachzuforschen,« sagt Plotin, »woher diese intuitive Erkenntnis kommt, gleich als wäre sie ein Ding, das von Ort und Bewegung abhängt; denn sie naht nicht von hier, noch kommt sie von dort, um wo anders hinzugehen; sondern sie erscheint oder erscheint nicht. Deshalb soll man sie auch nicht verfolgen, um ihre geheimen Quellen aufzudecken, sondern schweigend warten, bis sie plötzlich über uns erglänzt, und uns auf das heilige Schauspiel vorbereiten, wie das Auge geduldig den Sonnenaufgang erwartet.« Und an anderer Stelle fügt er hinzu: »Nicht durch Einbildungskraft noch durch Vernunftschlüsse, die gezwungen sind, sich ihre eigenen Prinzipien von wo anders zu holen, stellen wir uns das Intelligible vor (d. h. die Dinge da oben); dies geschieht durch das Vermögen des inneren Schauens, das wir besitzen und das uns erlaubt, hienieden davon zu reden. Wir sehen das Intelligible also, indem wir hienieden die gleiche Kraft in uns erwecken, die wir in uns erwecken müssen, wenn wir in der intelligiblen Welt sind. Wir gleichen einem Manne, der beim Erklimmen eines Berggipfels die Gegenstände wahrnehmen würde, die für die nicht Aufgestiegenen unsichtbar sind.« Aber wiewohl alle Wesen vom Stein und der Pflanze bis zum Menschen Anschauungen sind, so sind es doch unbewusste Anschauungen, und es ist uns sehr schwer, irgend eine Erinnerung an die einstige Tätigkeit des toten Vermögens in uns wiederzufinden. Wir gleichen hier dem Auge im neuplatonischen Gleichnis. »Es entfernt sich vom Lichte, um die Finsternis zu sehen, und hierdurch eben sieht es nichts; denn es kann die Finsternis nicht mit dem Lichte sehen, und dennoch sieht es ohne dasselbe nichts; auf diese Weise sieht es im Nichtsehen die Finsternis soweit, als es von Natur befähigt ist, sie zu sehen.«

Ich weiss, welches Urteil die meisten Menschen über dies Buch fällen werden. Sie werden in ihm das Werk eines verzückten Mönches sehen, eines wilden Einsiedlers und Eremiten, der vom Fasten trunken und vom Fieber verzehrt ist. Sie werden darin einen schwarzen, ausschweifenden Traum sehen, den grosse Blitze durchzucken, und weiter nichts. Das ist die gewöhnliche Vorstellung, die man sich von Mystikern macht; und man vergisst nur allzuoft, dass alle Gewissheit nur in ihnen ist. Überdies, wenn es wahr ist, dass jedermann in seinen Träumen ein Shakespeare ist, wie man gesagt hat, so müsste man sich fragen, ob jedermann in seinem Leben nicht ein unentwickelter Mystiker und tausendmal transcendentaler ist, als alle, die sich durch das Wort umschrieben haben. Welche menschlichen Handlungen gibt es, deren letzter Beweggrund nicht mystisch wäre? Ist zum Beispiel das Auge des Liebenden oder der Mutter nicht tausendfach verworrener, undurchdringlicher und mystischer, als dieses Buch, das im Ganzen arm und erklärlich ist, wie alle Bücher, die ja immer nur tote Mysterien sind, deren Horizont sich nicht mehr erneuert? Wenn man dies nicht versteht, so versteht man vielleicht überhaupt nichts mehr. Aber um auf unsern Autor zurückzukommen, so werden einige ohne Mühe erkennen, dass dieser Mönch, weit entfernt, durch Hunger, Einsamkeit und Fieber zum Narren geworden zu sein, im Gegenteil eins der weisesten, genausten und zartesten philosophischen Organe besessen hat, die es je gegeben. Wie man uns sagt, lebte er in seiner Hütte in Groendael inmitten des Waldes von Soignes, am Anfang eines der wildesten Jahrhunderte des Mittelalters: des vierzehnten. Er konnte kein Griechisch und vielleicht kein Latein. Er war allein und arm. Und doch empfängt inmitten dieses dunklen Brabanter Waldes seine unwissende und einfältige Seele unbewusst den blendenden Widerschein aller einsamen und geheimnisvollen Gipfel des menschlichen Denkens. Er kennt, ohne es zu wissen, den Platonismus Griechenlands, den Sufismus Persiens, den Brahmanismus Indiens und den Buddhaismus des Tibet; seine wundervolle Unwissenheit findet die Weisheit begrabener Jahrhunderte wieder und sieht die Wissenschaft von Zeiten voraus, die noch nicht geboren sind. Ich könnte ganze Seiten aus Plato, Plotin, Porphyrio, den Zendschriften, den Gnostikern und der Kabbala zitieren, deren fast göttliches Wesen sich unverändert in den Schriften des armen vlämischen Priesters wiederfindet. Es gibt da seltsame Übereinstimmungen und beunruhigende Gleichheiten. Mehr noch: er scheint zuweilen ganz bestimmt die Mehrzahl seiner unbekannten Vorgänger geahnt zu haben; und ebenso, wie Plotin seine erhabene Reise an dem Kreuzweg beginnt, wo Plato erschrocken angehalten und sich auf die Kniee geworfen hat, ebenso könnte man sagen, dass Ruysbroeck nach einer Ruhe von mehreren Jahrhunderten nicht sowohl diese Art zu denken wieder erweckt hat – denn diese Art zu denken schlummert nie, – als vielmehr diese Art von Worten, die auf den Bergen eingeschlafen war, wo Plotin sie geblendet im Stich gelassen hatte und sich die Hand vor die Augen hielt, wie vor einer ungeheuren Feuersbrunst.

Aber der Organismus ihrer Gedanken ist seltsam verschieden. Plato und Plotin sind vor allem die Fürsten der Dialektik. Sie gelangen zur Mystik durch die Wissenschaft der logischen Beweisführung. Sie machen Gebrauch von ihrer discursiven Seele und scheinen ihrer intuitiven oder contemplativen Seele zu misstrauen. Die Vernunft betrachtet sich im Spiegel der Vernunft und bemüht sich, gegen den Reiz jedes anderen Widerscheins unempfindlich zu bleiben. Sie setzt ihren Lauf fort, wie ein Süsswasserstrom inmitten des Meeres, mit dem Vorgefühl baldiger Auflösung. Hier finden wir im Gegenteil die Gewohnheiten des asiatischen Denkens; die intuitive Seele herrscht allein über der discursiven Auslese der Vorstellungen durch das Wort. Die Ketten des Traumes sind gefallen. Ist dies minder zuverlässig? Niemand vermag es zu sagen. Der Spiegel des menschlichen Verstandes ist in diesem Buche völlig unbekannt; aber es gibt einen anderen Spiegel, der dunkler und tiefer ist, und den wir im innersten Kern unsres Wesens bergen; auf ihm lässt sich keine Einzelheit scharf erkennen, und die Worte haften nicht auf seiner Oberfläche. Die Vernunft zerbräche ihn, wenn sie einen Augenblick ihr weltliches Licht darauf fallen liesse; aber etwas anderes zeigt sich zuweilen darin. Ist es die Seele? Oder Gott selbst? Oder das eine und das andere zugleich? Man wird es niemals ergründen; und doch sind diese fast unsichtbaren Erscheinungen die einzigen wahren Herrscherinnen des Lebens, auch bei dem Ungläubigsten und Blindesten unter uns. Hier wird man nichts anderes wahrnehmen, als die dunklen Spiegelungen dieses Spiegels; und wie sein Schatz unerschöpflich ist, so gleichen diese Spiegelungen keiner von denen, die wir in uns selbst erfahren haben; und trotz allem erscheint ihre Gewissheit ausserordentlich. Darum weiss ich auch nichts Erschrecklicheres, als dieses Buch voll innerer Wahrhaftigkeit. Es gibt auf Erden keine psychologische Kenntnis, keine metaphysische Erfahrung, keine mystische Intuition, so verworren, tief und unerwartet sie auch sein möge, die wir nicht nötigenfalls nachbilden und einen Augenblick in uns selbst zum Leben erwecken könnten, um uns von ihrer Übereinstimmung mit dem Menschlichen zu überzeugen; aber hier gleichen wir dem blinden Vater, der sich des Gesichts seiner Kinder nicht mehr erinnern kann. Keiner dieser Gedanken sieht wie ein Bruder oder ein Sohn irdischer Gedanken aus; wir scheinen die Erfahrung von Gott verloren zu haben, und doch versichert uns alles, dass wir nicht ins Haus der Träume geraten sind. Muss man mit Novalis ausrufen, dass die Zeit nicht mehr ist, wo der Geist Gottes verständlich war, und dass der Sinn der Welt verloren gegangen ist? Dass ehemals alles Geistererscheinung war und dass wir jetzt nichts als tote Wiederholung sehen, die wir nicht verstehen, und dass wir nur noch von der Frucht besserer Zeiten leben?

Ich glaube, man muss sich in Demut gestehen, dass der Schlüssel zu diesem Buche sich nicht auf den gewöhnlichen Strassen des menschlichen Geistes findet. Dieser Schlüssel ist nicht für irdische Tore bestimmt, und man muss ihn sich verdienen, indem man sich so weit wie möglich von der Erde entfernt. Einen einzigen Führer trifft man noch auf diesen einsamen Wegen, einen, der uns die letzten Winke für diese geheimnisvollen Feuerinseln und Islande der Abstraktion und Liebe geben kann; das ist Plotin, Plotinus, der bedeutendste Neuplatoniker, geboren 205 n. Chr. in Lycopolis in Ägypten, starb 270 auf dem Lande bei Minturnae in Campanien. Er schloss sich der Expedition des Kaisers Gordian nach Persien an, um in Persien und Indien asiatische Weisheit an der Quelle zu schöpfen, flüchtete nach Ermordung des Kaisers nach Antiochia zurück und ging im Jahre 244 als Lehrer der Philosophie nach Rom. Seine asketische Lebensweise brachte ihn in den Ruf eines Wundertäters und Götterfreundes. Noch in seinem 60. Jahre ging er mit der Absicht um, einen platonischen Musterstaat zu gründen, wozu er sich schon eine wüstliegende Stadt in Campanien erkoren hatte. Doch die Ausführung seines Vorhabens wurde von Höflingen des Kaisers Gallienus, der für dasselbe gewonnen war, hintertrieben. Sein Schüler Porphyrio von Tyros, ein philosophisch fein geschulter Kopf, sammelte seine Werke und gab sie in 6 Hauptabschnitten zu je 9 Büchern (daher Enneaden) heraus. (Neue philologische Ausgabe und Übersetzung von H. F. Müller, Berlin 1878-80. 2 Bde.) Seine Lehre, eine Fortbildung des Platonismus, mit Elementen orientalischen Dämonenglaubens, Mantik, Astrologie und Seelenwanderungslehre verschmolzen, ist der letzte grosse Versuch des griechischen Geistes, des aufstrebenden Christentums Herr zu werden. Porphyrio verfasste 15 Bücher gegen die Christen, die aber bereits von Theodosius II. verboten wurden und nur in Fragmenten auf uns gekommen sind. Obschon im Gegensatze zum Christentum entstanden, hat diese Lehre mit der christlichen doch viele Berührungspunkte. Sie gründet sich nicht auf Empirie und Vernunft, sondern auf das Übernatürliche, auf intellektuelle Anschauung und Mystik, weshalb sie denn auch von bedeutender Einwirkung auf die Philosophie des Christentums bis zum neudeutschen Idealismus der Romantik hinauf gewesen ist. Ebenso ist ihre Tugendlehre der christlichen verwandt, nur dass nach platonischem Vorbild Verstand und Dialektik, also der Geist dieser Welt, statt völlig verworfen zu werden, vielmehr den Menschen zur unio mystica mit Gott führen soll: theoretisch aus der rein sinnlichen Erkenntnis durch Mathematik und Dialektik zur reinen, sinnenfreien Anschauung und Vereinigung des menschlichen mit dem göttlichen Wissen; – praktisch aus sinnlicher Befangenheit durch Askese zum reinen, von allen sinnlichen Antrieben freien Handeln und zur völligen Einheit des menschlichen und göttlichen Willens. Diese Vereinigung selbst vollzieht sich im Zustande mystischer Verzückung, den Plotin, wenn wir dem Porphyrio glauben dürfen, gleich Ruysbroeck zu verschiedenen Malen erreicht hat. welcher sich bemüht hat, das göttliche Vermögen, das hier herrscht, mit dem menschlichen Verstände zu analysieren. Er hat, wie wir mit einem nichtssagenden Worte sagen, die gleichen »Extasen« empfunden, die im Grunde nichts sind, als der Anfang der völligen Entdeckung unseres Wesens; und inmitten ihrer Wirren und Finsternisse hat er keinen Augenblick das forschende Auge des Psychologen geschlossen, der sich auch von den ungewöhnlichsten Erscheinungen seiner Seele Rechnung abzulegen sucht. Er ist somit die letzte Mole, von der aus man die Wogen und den Horizont dieses dunklen Meeres ein wenig begreifen kann. Er bemüht sich, die Pfade des gewöhnlichen Verstandes bis ins Herz ihrer Zerstörung vorzutreiben, und deshalb muss man unablässig auf ihn zurückkommen; denn er ist der einzige mystische Analytiker. Denen, welche diese wunderbaren Ausflüge reizen, möchte ich hier noch eine der Seiten geben, wo er den Organismus jenes göttlichen Vermögens des inneren Schauens zu erklären versucht hat.

»Bei der intellektuellen Anschauung,« sagt er, »sieht der Verstand die intelligiblen Objekte mittels des Lichtes, das von dem Ur-Einen auf sie fällt, und so sieht er beim Anschauen dieser Objekte in Wahrheit das intelligible Licht. Da er jedoch seine Aufmerksamkeit den erleuchteten Objekten zuwendet, sieht er das Prinzip, das sie erleuchtet, nicht ganz deutlich; vergisst er dagegen die Objekte, die er sieht, und betrachtet er nur die Klarheit, durch die sie sichtbar werden, so sieht er das Licht selbst und das Prinzip des Lichtes. Aber nicht ausser sich erschaut der Verstand das intelligible Licht. Er gleicht darin dem Auge, das, ohne ein äusseres und fremdes Licht zu betrachten, und noch ehe es dieses wahrnimmt, plötzlich von einer Klarheit getroffen wird, die ihm selbst eigen ist, oder von einem Strahle, der aus ihm selbst hervorquillt und ihm inmitten der Finsternis erscheint; dasselbe ist es, wenn das Auge, um nichts von den anderen Objekten zu sehen, seine Lider schliesst und sein Licht aus sich selbst zieht, oder wenn es unter dem Drucke der Hand das Licht gewahrt, das es in sich hat. Dann sieht es, obwohl es nichts Äusseres sieht; es sieht sogar mehr als in jedem andern Augenblick, denn es sieht das Licht. Die anderen Objekte, die es vorher sah, waren zwar erleuchtet, aber sie waren nicht das Licht selbst. Desgleichen, wenn der Verstand das Auge gewissermassen vor den anderen Objekten verschliesst und sich auf sich selbst konzentriert, so sieht er, indem er nichts sieht, nicht ein fremdes Licht, das in fremden Formen leuchtet, sondern sein eigenes Licht, das plötzlich in reiner Klarheit innerlich erstrahlt.«

»Die Seele, die Gott erforscht,« sagt er uns ferner, »muss sich, indem sie ihn zu erkennen sucht, eine Vorstellung von ihm machen; dann muss sie in dem Bewusstsein, mit welchem grossen Wesen sie sich vereinigt, und in der Überzeugung, dass sie in dieser Vereinigung die Seligkeit finden wird, sich in die Tiefen der Gottheit versenken, bis sie, statt sich anzuschauen, statt die intelligible Welt anzuschauen, selbst ein Gegenstand der Anschauung wird und in der Klarheit der Ideen leuchtet, die droben ihren Ursprung haben.«

Dies ist ungefähr alles, was die menschliche Weisheit uns hier sagen kann, und was der Fürst der transcendentalen Metaphysik hat ausdrücken können; die anderen Erklärungen müssen wir in uns selbst in Tiefen finden, wo jede Erklärung an ihrem eigenen Ausdruck scheitert. Denn nicht nur im Himmel und auf Erden, sondern vor allem in uns gibt es mehr Dinge, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt, und sobald wir nicht mehr gezwungen werden, das Geheimnisvolle, das in uns lebt, in Formeln zu zwingen, sind wir tiefer als alles, was je geschrieben wurde, und grösser, als alles, was besteht.

Wenn ich dieses Buch nun übersetzt habe, so geschah es einzig und allein, weil ich glaube, dass die Schriften der Mystiker die reinsten Diamanten im wunderbaren Kronschatz der Menschheit sind, wiewohl eine Übersetzung vielleicht unnütz ist; denn die Erfahrung scheint zu lehren, dass sehr wenig darauf ankommt, ob das Mysterium der Fleischwerdung eines Gedankens sich im Licht oder in der Finsternis vollzieht; genug, dass es stattgefunden hat. Aber wie dem auch sein möge, die mystischen Wahrheiten haben vor den gewöhnlichen Wahrheiten ein seltsames Vorrecht: sie können weder altern noch sterben. Es gibt keine Wahrheit, die nicht eines Morgens auf die Welt herniedergestiegen ist, strotzend von Kraft und Jugend und bedeckt mit dem frischen und wunderbaren Schmelz der Dinge, die noch nicht ausgesprochen worden sind; man durchlaufe heute die Krankenstuben der menschlichen Seele, wo jeden Tag welche sterben, und man wird keine einzige mystische Wahrheit darunter finden. Sie haben die Unversehrbarkeit der Engel Swedenborgs, welche beständig dem Lenz ihrer Jugend entgegenschreiten, dergestalt, dass die ältesten Engel die jüngsten scheinen; und ob sie von Indien, von Griechenland oder vom Norden kommen, sie haben weder Vaterland noch Geburtstag, und überall, wo wir sie antreffen, scheinen sie unbeweglich und gegenwärtig wie Gott selbst. Ein Werk veraltet nur in dem Masse, als es ihm an Mystik gebricht; darum trägt auch dieses Buch kein Datum. Ich weiss, dass es ungewöhnlich schwarz ist, aber ich glaube auch, dass ein redlicher und aufrichtiger Schriftsteller niemals dunkel ist im ewigen Sinne dieses Wortes, denn er begreift sich stets selbst weit über das hinaus, was er sagen kann. Die künstlichen Ideen allein erheben sich in wahrer Finsternis und gedeihen nur in literarischen Epochen und in der Unehrlichkeit allzu bewusster Jahrhunderte, wo das Denken des Schriftstellers diesseits des Ausdrucks stehen bleibt. Dort herrschte der fruchtbare Schatten eines Waldes und hier ist es die Dunkelheit einer Höhle, in der nur bleiche Schmarotzerpflanzen blühen. Man muss auch dieser unbekannten Welt Rechnung tragen, welche seine Ausdrücke durch die armseligen, doppelten Hornscheiben der Worte und Gedanken hindurch erleuchten mussten. Die Worte sind, wie man uns gelehrt hat, zum gewöhnlichen Gebrauche des Lebens erfunden worden, und sie sind unglücklich, unruhig und befangen wie Landstreicher vor dem Throne, wenn irgend eine königliche Seele sie von Zeit zu Zeit wo anders hinführt. Und ausserdem ist der Gedanke nie das bestimmte Abbild dessen, was ihn entstehen liess, und immer liegt es darauf wie der Schatten eines Kampfes, gleich dem Jakobs mit dem Engel, und der Ausdruck ist dunkel je nach dem Grössenverhältnis von Seele und Engel. Wehe uns, sagt Carlyle, wenn wir in uns nichts haben, als was wir ausdrücken und zeigen können! Ich weiss, auf diesen Seiten liegt ein Schatten von Dingen, die wir uns nicht entsinnen gesehen zu haben, deren Anwendung der Mönch aber zu erklären unterlässt und die wir erst erkennen werden, wenn wir die Gegenstände selbst von der anderen Seite des Lebens sehen werden; inzwischen aber ist unser Blick dadurch ins Weite gerichtet worden, und das ist viel. Ich weiss auch, dass manche seiner Redensarten ungefähr wie durchsichtige Eisschollen auf dem farblosen Meere des Schweigens schwimmen; aber sie sind da; sie sind getrennt von den Wassern, und das genügt. Ich weiss endlich, dass die seltsamen Pflanzen, die er auf den Gipfeln des Geistes gepflanzt hat, von besonderen Wolken umgeben sind, aber diese Wolken ärgern nur die, welche von unten heraufblicken; und hat man erst den Mut gehabt, hinaufzuklimmen, so gewahrt man, dass diese Wolken just den Dunstkreis dieser Pflanzen bilden, den einzigen, in dem sie am Rande des Nichtseins erblühen konnten. Denn dies ist eine so zarte Vegetation, dass sie sich kaum von dem Schweigen unterscheidet, aus dem sie ihre Säfte geschöpft hat und in das sie sich aufzulösen scheint. Überhaupt ist dieses ganze Werk wie ein Vergrösserungsglas, das auf Schweigen und Finsternis gelegt ist; und zuweilen erkennt man nicht mehr unmittelbar das Ende der Vorstellungen, die darin noch eintauchen. Etwas Unsichtbares schimmert zuweilen hindurch, und es bedarf augenscheinlich einiger Aufmerksamkeit, um seine Wiederkehr abzupassen. Dies Buch ist uns nicht zu fern; wahrscheinlich steht es sogar im Mittelpunkte unserer Menschheit; aber wir sind es, die diesem Buche zu fern sind; und wenn es uns entmutigend deucht wie die Wüste, wenn die Verzweiflung an der göttlichen Liebe darin furchtbar und der Durst nach den Gipfeln unerträglich erscheint, so ist es nicht das Werk, das zu veraltet ist, sondern wir, die vielleicht zu alt, zu traurig und zu mutlos sind, wie Greise neben einem Kinde; und wahrscheinlich hat ein anderer Mystiker, Plotin, der grosse heidnische Mystiker, recht gegen uns, wenn er denen, welche sich beklagen, dass sie auf den Höhen der inneren Anschauung nichts sehen, wenn er denen sagt: »Man muss zunächst das Organ der Vision dem zu betrachtenden Objekt entsprechend und ähnlich machen. Nie hätte das Auge die Sonne wahrgenommen, wenn es nicht zuerst die Form der Sonne erfasst hätte; desgleichen könnte die Seele nicht die Schönheit sehen, wenn sie nicht zuvörderst selbst schön wird, und jedermann muss damit beginnen, sich schön und göttlich zu machen, um den Blick für das Schöne und Göttliche zu erlangen.«


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