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III.
Die Kinder des Todes

Die Mehrzahl der Männer kennt sie, und fast alle Mütter haben sie gesehen. Sie sind vielleicht nicht zu umgehen, wie alle Schmerzen, und die, welche ihnen nicht nahegekommen sind, sind minder sanft, minder schwermütig und minder gut.

Sie sind seltsam. Sie scheinen dem Leben näher zu stehen, als die anderen Kinder, und scheinen nichts zu argwöhnen, und dennoch haben ihre Augen eine so tiefe Gewissheit, dass sie unbedingt alles wissen müssen und wohl mehr als einen Abend Zeit gefunden haben, sich ihr Geheimnis mitzuteilen. In dem Augenblick, wo ihre Brüder um sie her noch zwischen Geburt und Leben tappen, haben sie sich schon zurechtgefunden und stehen auf eigenen Füssen, die Hände und die Seele bereit. In Eile, verständig und sorgfältig, bereiten sie sich auf das Leben vor, und diese Eile ist das Merkmal, das die Mütter, die unbewussten geheimen Vertrauten aller unausgesprochenen Dinge kaum zu beachten wagen.

Oft haben wir keine Zeit, sie zu bemerken; sie gehen dahin, ohne etwas zu sagen, und dann bleiben sie uns für immer unbekannt. Aber andere verweilen ein wenig, sehen uns mit aufmerksamem Lächeln an, scheinen im Begriffe, zu gestehen, dass sie alles verstanden haben, und dann, gegen das zwanzigste Jahr, entfernen sie sich eilig, indem sie ihre Schritte zurückhalten, als hätten sie entdeckt, dass sie sich im Hause irrten und dass sie ihr Leben unter Menschen verbringen sollten, die ihnen unbekannt sind.

Sie selbst sagen fast nichts und umgeben sich mit einer Wolke, sobald sie sich verletzt fühlen und der Mensch im Begriff ist, sie zu erreichen. Vor einigen Tagen schienen sie mitten unter uns zu weilen, und heute abend sind sie plötzlich so weit, dass wir nicht mehr wagen, sie wiederzuerkennen noch zu befragen. Sie sind schon fast jenseits des Lebens, und man empfindet, dass nun endlich die Stunde naht, etwas zu erkennen, das ernster, menschlicher, wirklicher und tiefer ist als Freundschaft, Mitleid oder Liebe, etwas, das in den Tiefen der Brust auf Tod und Leben mit den Flügeln schlägt, etwas, das man nicht kennt und das man noch nie genannt hat, und das zu nennen nicht mehr möglich ist, denn so manches Leben geht stumm vorüber! … Und die Zeit drängt; und wer von uns hat nicht also gewartet bis zu dem Augenblicke, wo man ihm nicht mehr antworten konnte?

Warum sind sie gekommen und warum gehen sie fort? Werden sie nur geboren, um uns zu bestätigen, dass das Leben keinen Zweck hat? Wozu dient das Fragen, da man ja doch nie antworten wird? Ich bin mehrmals Zeuge dieser Dinge gewesen, und eines Tages habe ich sie in solcher Nähe gesehen, dass ich nicht mehr wusste, ob es sich um einen anderen handelte, oder um mich selbst …

Ein Bruder ist so gestorben. Man hatte gesagt, dass er allein gewarnt worden sei, ohne es zu wissen, während wir vielleicht etwas wussten, ohne dieses organische Warnungszeichen, das er seit den ersten Tagen in sich trug, erkannt zu haben. Woran erkennt man die Wesen, auf die ein sehr schweres Ereignis herabdroht? Nichts ist sichtbar, und doch sehen wir alles. Sie haben Furcht vor uns, weil wir sie unablässig und wider Willen warnen; und kaum haben wir sie angeredet, so merken sie schon, dass wir auf ihre Zukunft anspielen. Wir verbergen der Mehrzahl der Menschen etwas, und wir wissen selbst nicht, was wir ihnen verbergen. Es wechseln zwischen zwei Wesen, die sich das erste Mal begegnen, seltsame Geheimnisse über Leben und Tod, und noch viele andere Geheimnisse, die noch keinen Namen haben, aber unmittelbar unser Verhalten, unsere Blicke und unseren Ausdruck bestimmen; und wenn wir die Hand eines Freundes drücken, neigt unsere Seele zu Unbescheidenheiten, die vielleicht nicht auf der Schwelle dieses Lebens Halt machen. Es kann wohl zwei Menschen geben, zwischen denen es keine Hintergedanken gibt, aber es gibt Dinge, die gebieterischer und tiefer sind, als der Gedanke. Wir sind dieser unbekannten Gaben nicht Herr und verraten unablässig den Propheten, der nicht zu reden weiss. Wir sind niemals gegen andere so, wie wir gegen uns selbst sind, noch selbst so, wie wir gegen sie im Dunkeln sind; und unsere Blicke verwandeln sich je nach der Vergangenheit und Zukunft, die sie wahrnehmen, und darum leben wir wider Willen stets auf der Lauer. Begegnen wir denen, die nicht lange leben werden, so sehen wir nicht sie, sondern das, was ihnen zustossen wird. Sie möchten uns täuschen, um sich zu täuschen. Sie tun alles, um uns abzulenken, und doch schimmert durch ihr Lächeln und ihre Lebensgier schon das Ereignis hindurch, gerade als wäre es der Angelpunkt und der Grund ihres Daseins. Wieder einmal hat der Tod sie verraten, und sie werden mit Traurigkeit inne, dass wir alles gesehen haben und dass es Stimmen gibt, welche nicht schweigen können.

Wer kann die Kraft der Ereignisse nennen? Wer kann sagen, ob sie wir selbst sind oder wir nur sie? Entspringen sie aus uns, oder entspringen wir wohl aus ihnen? Ziehen wir sie an, oder ziehen sie uns an? Ändern wir sie, oder ändern sie uns? Täuschen sie sich niemals? Warum kommen sie zu uns, wie die Biene zum Bienenstock und die Taube zum Taubenschlag? Und wohin flüchten sich die, welche uns am Stelldichein nicht antreffen? Von wo kommen sie, um uns zu begegnen, und warum gleichen sie uns wie Brüder? Wirken sie in der Vergangenheit oder in der Zukunft, und sind die mächtigsten die, welche nicht mehr sind, oder die, welche noch nicht sind? Ist es das Gestern oder das Morgen, das uns umgestaltet? Wer von uns verbringt nicht den grössten Teil seines Lebens im Schatten eines Ereignisses, das noch nicht stattgefunden hat? Ich habe dieses ernste Verhalten gesehen, diesen Gang, der ein zu nahes Ziel zu haben schien, dieses Vorausempfinden grosser Fröste und das Auge, das sich nicht ablenken liess, selbst bei denen nicht, deren Ende ein zufälliges sein musste, und auf die sich ein ungeahnter Tod von aussen herabstürzen sollte. Und dennoch hatten sie es so eilig, wie ihre Brüder, die ihn schon in sich trugen. Sie hatten das gleiche Antlitz. Auch für sie schien das Leben ernster, als für die, welche leben sollten. Sie handelten mit derselben sicheren und schweigsamen Achtsamkeit. Sie hatten keine Zeit mehr zu verlieren, sie mussten bereit sein zur selben Stunde; so sehr war dieses Ereignis, das kein Seher hätte voraussehen können, das unbewusste Leben ihres Lebens.

Es ist unser Tod, der unser Leben lenkt, und unser Leben hat kein anderes Ziel, als unsern Tod. Unser Tod ist die Form, in der unser Leben verfliesst, und er ist es, der unser Antlitz gebildet hat. Man sollte nur das Bildnis der Toten machen, denn sie allein sind sie selbst und zeigen sich einen Augenblick so, wie sie sind. Und welches Leben erhellt sich nicht in dem reinen, kalten und einfachen Lichte, das auf die Kissen der letzten Stunden fällt? Ist es dasselbe Licht, welches schon die Gesichter jener Kinder umspielt, wenn sie uns starr anlächeln, und welches uns ein Schweigen auferlegt, das dem jenes Zimmers gleicht, worin jemand für ewig schweigt? Wenn ich derer gedenke, die ich gekannt habe, und die alle der nämliche Tod an der Hand führte, so sehe ich einen Zug von Kindern, Jungfrauen und Jünglingen, die aus dem gleichen Hause zu treten scheinen. Sie sind schon Brüder und Schwestern, und man möchte sagen, dass sie einander erkennen, an Malen, die wir nicht sehen, und dass sie sich in dem Augenblick, wo wir sie nicht mehr beobachten, das Zeichen des Schweigens machen. Das sind die Kinder, die des frühzeitigen Todes gewärtig sind. In der Schule fanden wir sie dunkel heraus. Sie schienen sich in Einem zu fliehen und zu suchen, wie solche, denen ein gleicher Makel anhaftet. Man sah sie abseits unter den Bäumen des Gartens stehen. Sie hatten den gleichen Ernst unter einem Lächeln, das unstäter und mehr von einer anderen Welt zu sein schien, als das unsere, und ich weiss nicht, welch einen Zug von Furcht, dass sie ein Geheimnis verrieten. Fast immer wurden sie still, wenn die, welche leben sollten, sich ihrer Gruppe näherten. Sprachen sie schon von dem Ereignis, oder wussten sie wohl, dass das Ereignis über sie hinweg und wider ihren Willen redete, und umringten sie es so, um es den Augen Gleichgiltiger zu verbergen? Sie schienen uns zuweilen von der Höhe eines Turmes zu betrachten, und obwohl sie schwächer waren als wir, wagten wir sie nicht zu belästigen. Es ist wahr, dass nichts verborgen ist; und Ihr alle, die Ihr mir begegnet, wisst, was ich getan habe und tun werde, wisst, was ich denke und gedacht habe, und wisst genau den Tag, wo ich sterben muss, aber es zu sagen, und wäre es nur mit leiser Stimme und zu Eurem eigenen Herzen, habt Ihr Mittel und Wege noch nicht gefunden. Wir haben die Gewohnheit, alles, was wir nicht mit Händen greifen können, stillschweigend zu übergehen, und vielleicht wüssten wir zu viel, wenn wir alles wüssten, was wir wissen. Wir leben abseits von unserem wahrhaften Leben und wir fühlen, dass selbst unsere geheimsten und tiefsten Gedanken uns nichts angehen, denn wir sind etwas anderes als unsere Gedanken und Träume. Und nur in gewissen Momenten und gleichsam aus Zerstreutheit leben wir uns selbst gemäss. Welches Tages werden wir zu Dem werden, was wir sind? Inzwischen waren wir gegen sie wie gegen Fremde. Sie schüchterten unser Leben ein. Zuweilen gingen sie mit uns durch die Flure und Höfe, und wir hatten Mühe, ihnen zu folgen. Zuweilen beteiligten sie sich an unseren Spielen, und das Spiel schien nicht mehr das gleiche. Einige fanden ihre Brüder nicht. Sie irrten allein inmitten unseres Geschreis und hatten keine Freunde unter denen, die nicht sterben sollten. Und doch hatten wir sie gern, und kein Gesicht war uns lieber, als das ihre. Was gab es zwischen ihnen und uns, und was gibt es zwischen uns allen? Auf dem Grunde welches Meeres von Mysterien leben wir? Auch hier herrschte jene Liebe, die sich nicht mehr ausdrückt, weil sie am Leben dieser Welt nicht teilnimmt. Sie würde vielleicht keine Probe bestehen, sie scheint jeden Augenblick verraten, und die geringste gewöhnliche Freundschaft besiegt sie dem Anschein nach, und doch ist ihr Leben tiefer als wir selbst, und vielleicht dünkt sie uns nur darum gleichgiltig, weil sie sich für längere und gewissere Zeiten aufgespart weiss.

Sie spricht hienieden nicht, weil sie weiss, dass sie später sprechen wird; und niemals lieben wir Die, welche wir umarmen, am tiefsten. So gibt es einen Teil des Lebens, – es ist der beste, reinste und grösste, – der sich dem gewöhnlichen Leben nicht beimischt, und selbst die Augen der Liebenden durchdringen fast nie diesen Damm des Schweigens und der Liebe.

Oder liessen wir sie wohl allein, weil sie, wiewohl jünger als wir, uns an Alter voraus waren? … Wussten wir, dass wir nicht gleichen Alters waren, und fürchteten wir sie wie Richter? Ihre Blicke waren schon minder beweglich als die unseren, und wenn sie zufällig auf unseren Bewegungen ruhten, so liessen diese ohne Grund nach, und ein unbegreifliches Schweigen herrschte einen Augenblick. Wir drehten uns um: sie betrachteten uns und lächelten ernsthaft. Ich entsinne mich noch der Gesichter zweier unter ihnen, die ein gewaltsamer Tod erwartete. Aber fast alle waren furchtsam und versuchten, unbemerkt vorüber zu gehen. Ich weiss nicht, welche tötliche Scham sie hatten, und für welche unbekannte zukünftige Verfehlung sie um Verzeihung zu bitten schienen. Sie traten auf uns zu, wir tauschten einen Blick aus, wir trennten uns, ohne etwas zu sagen, und wir begriffen alles, ohne etwas zu wissen.


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