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Der Brauthengst

Mehrere Jahre lang verließ ich allwöchentlich mein Standquartier in der russischen Gouvernementsstadt, in der ich damals lebte, und reiste südwärts nach einem kleinen Bahnflecken, um dort von meinen Lieferanten in der Umgegend Butter in Empfang zu nehmen.

Mein in verschiedener Hinsicht berühmter Diener und Packer Petruscha begleitete mich. Er hatte in meinem Dienst alle Stadien vom Urmenschen bis zum sogenannten Übermenschen durchlaufen, hatte sich also, mit anderen Worten, im Kreis zu seinem Ausgangspunkt zurückbewegt. Spielend und anmutvoll verrichtete er die Arbeit von drei Männern und hatte, nach einem von ihm selbst erfundenen System, Schreiben und Rechnen gelernt. Ihm verdanke ich es, daß ich während jener Reisen Leben und Gesundheit behielt, daß ich viele und gute Butter einhandelte und daneben noch dies und jenes erlebte. In der Hauptsache besorgte nämlich er alle laufenden Geschäfte, wodurch ich Zeit fand, an andere Dinge zu denken und nach dem Abenteuer auszuschauen.

In der Regel sah ich Sonntags ein paar Freunde bei mir. Eine halbe Stunde vor Abgang des Nachtzugs erschien Petruscha im Bankettsaal, reisefertig, die Geschäftsbücher unterm Arm. Er blickte fragend auf mich, auf die Flaschen, zur Decke empor, bis ich mich erhob, ein paar tausend Rubel in die Tasche steckte, nach meinem Revolver tastete und ihm folgte. Auf dem Bahnhof nahm er zwei Billette erster Klasse, gab dem Kondukteur einen Rubel, damit wir allein blieben, setzte sich steif wie ein Stock auf die äußerste Kante des einen Plüschfauteuils und sah zu, wie ich mich dem Schlummer hingab. Sobald zwei Stunden später die Lokomotive zur Ankunft auf unserer Station pfiff, weckte Petruscha mich. Seine Geduld bestand bei dieser Gelegenheit manche Probe. Einmal brachte er mich erst hinaus, als der Zug schon wieder in Bewegung war.

In Politows Gasthaus hatte ich mir ein ständiges Zimmer gemietet. Ich hatte es selbst tapezieren und streichen lassen, der Wanzen wegen. Das Bett war mein eigenes – wenigstens bildete ich es mir ein, bis es eines Morgens geschah, daß man einen Untersuchungsrichter tot darin fand. Obwohl es kein Montagmorgen war, ließ sich die Sache nicht vor mir vertuschen, und mein Glaube an den Alleinbesitz meiner Schlafstätte war bedeutend erschüttert. Nichtsdestoweniger schlief ich auch späterhin ausgezeichnet darin. Petruscha schob sich eine Holzpritsche vor die Tür und legte sich auf dieser zur Ruhe, und ich fühlte mich selber und meine Rubel trefflich geborgen bei dieser Veranstaltung. Morgens, wenn ich erwachte, war Petruscha fort. Schon vor Tagesgrauen hatte er sich auf Rekognoszierung nach den Einstellschuppen aufgemacht. In selbstverständlichem Ton redete er mit unseren getreuen Lieferanten, entflammte durch kühne Zukunftsbilder die Unschlüssigen und behandelte die, welche sich einem andern Merkur zugewandt hatten, mit mitleidigem und bedauerndem Lächeln.

Sobald es hell wurde, fing er an, im Keller des Wirtshauses Butter abzuwägen. Und er wog salomonisch, zur Zufriedenheit aller Parteien. Eine Stunde später hatte er die halbhundert Faß Butter schabloniert, eingenäht und mit offenem Deckel zur Parade für mich aufgestellt. Ich hatte, wenn ich in den Keller hinunter kam, lediglich Fakta zu konstatieren, Petruschas Dispositionen anzuerkennen, die Lieferanten bei einem Glas Tee und einem Schnaps zu bezahlen, um darauf die Zeit mit dem Sohn des Wirts am Billard totzuschlagen.

Währenddem schlug Petruscha die Fässer zu, zog mit ein paar letzten Stichen die Bastmatten darum zusammen, verlud die Ware auf der Bahn und fand sich darauf zum Frühstück in der Schenkstube ein.

All dies könnte belanglos erscheinen; aber wäre Petruscha nicht gewesen, was er war, so hätte ich nicht die Zeit gehabt an anderes zu denken als an Butter, hätte auch nicht die Zeit gehabt, dann und wann, wenn es mir grade einfiel, ein Pferd zu kaufen, wie ich z. B. den Hengst kaufte, von dem ich eigentlich erzählen wollte ...

 

Zweimal im Jahr war am Montag nicht nur Markt, sondern Messe. Die eine fiel ins Frühjahr, die andere in den Herbst, in den Oktober, um die Zeit des ersten Schnees. Es war eine gute Pferdegegend, und die Zufuhr besonders zur Oktobermesse, auch Weihnachtsmesse genannt, war sehr groß. Käufer und Verkäufer tobten gegeneinander an, schrien und fluchten und küßten sich, wenn sie schließlich den Kauf begossen. Der große Marktplatz vor den Fenstern des Wirtshauses wimmelte von Pferden. Die Hengste prusteten und stiegen, die Stuten wieherten und schlugen aus; und die traurigen Geschöpfe, die das Alter erreicht hatten, wo der Unterschied zwischen den Geschlechtern sich ausgleicht, ließen die Ohren hängen und zogen gleichgültig gegen ihr Schicksal einen Wisch um den andern aus ihren Heubündeln.

An diesen zwei Tagen des Jahrs lebte ich mit allen meinen Sinnen das Leben des Pferdes; und wäre ich an solch einem Tage gestorben, – ich hätte ohne Zweifel als Pferd umgehen müssen.

Nicht als ob ich an anderen Tagen des Jahres nicht auch Pferde gesehen hätte. Das ließ sich ja gar nicht umgehen, da ich von der Landstraße und ihrem Verkehr und sehr häufig auf ihr lebte. Und oft kaufte ich an solchen gewöhnlichen Tagen ein Pferd, wenn die Laune über mich kam und es just meine Lust reizte. Und so oft ich ohne innere Überzeugung ein Pferd um seines Äußeren oder anderer zufälliger Ursachen halber kaufte, ebensooft auch geschah es, daß einer meiner Freunde oder irgend sonst jemand sich bei mir einfand und mich beschwor, ihm das Pferd abzutreten. Seit Jahren hatten sie schon ein Auge darauf gehabt. Sie mußten es haben – für die Mitte oder als Seitenpferd, konnten überhaupt nicht fahren oder würden ihrer Lebtage auf keinem Pferderücken mehr sitzen, wenn sie just dieses eine nicht bekamen. Der Preis war zu hoch gewesen, darum hatten sie zugewartet. Nie wieder konnten sie glücklich werden, wenn sie es nicht bekamen. Nicht leben konnten sie ohne das Tier!

Und so oft ich diesen Schrei nach dem verlorenen Glück vernahm, so oft auch trat ich es gern und freundwilligst zum selben Preis ab, den ich selbst dafür gegeben hatte. Denn die Pferde, die mir wirklich paßten, wurden mir nie abverlangt, weil es keinem andern Vergnügen gemacht hätte, sie zu fahren oder zu reiten.

Nichtsdestoweniger geschah es doch einmal, daß man mir ein solches Pferd abverlangte. Ich hätte es nicht um alles in der Welt hergegeben, hätte es nicht mit einem flüchtigen Blick Zweifel an unserer Zusammengehörigkeit verraten. Das war eben der »Brauthengst«. Ich hätte die Sache nicht durch eine derartige Bagatelle entscheiden lassen dürfen; das habe ich seitdem mit Bitterkeit eingesehen; andrerseits ward es zu einer Probe auf die Richtigkeit meiner Auffassung von Pferden. Wäre es heute geschehen, – ich hätte mich lieber ein zweitesmal dem Pferdehuf verschrieben, als von dem Hengst zu lassen, bloß weil er eine einzigste kleine Sekunde lang mit einem zweifelnden Seitenblick auf mich schaute.

Wie ich zu ihm kam und ihn wieder verlor, ging sehr einfach zu. Zusammen mit Petruscha war ich wie gewöhnlich gegen zwei Uhr in der Nacht von Sonntag auf Montag von der Station nach Politows Gasthaus gefahren. Der Schnee war zeitig gefallen in jenem Jahr, und wir hatten ausgezeichnete Schlittenbahn zur Weihnachtsmesse am folgenden Tag. Die hatte im übrigen sozusagen schon am Sonntag angefangen und ging die ganze Nacht durch. Denn ununterbrochen strömten die Marktgäste in die Stadt. Von nah und fern kamen sie, aus unbekannten Gegenden tief im Innern des Landes, wo man noch nie eine Lokomotive, nie einen Fremden gesehen hatte. Sämtliche Ställe und Häuser der Stadt waren voll von Pferden und Menschen. Die Wirtshäuser liefen über von betrunkenen und brüllenden Bauern. Sah man von der Straße aus in die Schenkstuben, so konnte man den Branntweinteufel in leibhaftiger Gestalt erblicken; d. h. falls man den Blick dafür besaß. Geschäftig, mit immer vollen Kannen, sprang er von Gast zu Gast, bot allen zu trinken, bis ihnen der Schaum vorm Munde stand und sie nicht mehr konnten. Aber immer mehr nötigte er in sie hinein, stopfte ihnen ein Stück Hering, eine Salzgurke in den Hals, daß sie sogleich wieder Durst verspürten, mit den Armen wild durch die graue Spritluft fuchtelten und heulten wie am äußersten Tag. Ab und zu stand einer auf, fletschte die Zähne nach dem unsichtbaren Teufel, schüttelte mit geballten Fäusten die mächtigen Arme hinter ihm her und stürzte lautlos zu Boden. Und jedesmal, wenn das geschah, blieb der Branntweinteufel trotz aller Hast und Eile stehen, hielt sich vor hellem Grinsen die vollen Kannen vor den Bauch und stampfte mit dem Pferdehuf am linken Bein glückselig auf den Boden. Aber das hörte man nicht; denn der Boden war so schleimig, als wäre ein Zug schwarzer Riesenschnecken unziemlich darüber weggekrochen.

Petruscha ging sogleich in den Ort, um sich einen Überblick über unsere Aussichten für den folgenden Tag zu verschaffen. Ich selbst blieb im Wirtshaus. Betrunkene Menschen lagen draußen auf der Gasse, auf der Treppe, in den Gängen, in den Stuben. Alle hatten sie vergessen, wie sie mit Namen hießen, falls sie es überhaupt je gewußt hatten. Als ich in die Schenkstube trat, mußte ich, um zum Schenktisch vorzudringen und den Wirt zu begrüßen, über einen ganzen Haufen Leichen steigen, die dem Krug zum Opfer gefallen waren.

Der alte Politow selber stand da und maß den Branntwein aus. Seine kleine, altersgraue Gestalt trug den konzentrierten und rücksichtslosen Ausdruck, der den großen Krämer an den großen Markttagen kennzeichnet. Das graue Haar lag gleich einer dünnen, glatten Eisschicht über dem kleinen, scharfen Kopf. Die Augen waren klein und aufmerksam zusammengekniffen und der Mund so fest geschlossen, daß man nur die Hautfalten darum sah. Oft wache ich des Nachts daran auf, daß ich dies Antlitz ohne Lippen sehe ... Und dann sehe ich gleichzeitig, wie ich es in jener Nacht sah, den jungen Politow total betrunken hinter dem Schenktisch liegen, an dem der alte Politow stand und seine Gäste mit siedendem Branntwein vergiftete.

Der alte Politow streckte mir seine kalte, knöcherne Greisenhand entgegen; aber als ich nach ihren krummen Fingern griff, schob mir der Branntweinteufel ein Maß Branntwein in meine ausgestreckte Hand. Ich leerte es, ohne ein Wort zu sagen; denn es war ja unter anderen eine feste Abmachung, daß der Branntwein sich mir nie in die Beine setzen durfte, damit ich noch all das Unheil anstiften konnte, dem andere entgehen, wenn ihnen die Beine versagen. Und daran erinnerte »er« mich, weil ich tat, als hätt' ich ihn nicht gesehen.

»Guten Tag, Ilija Innokentiewitsch!« sagte ich zum alten Politow, ohne mich nach dem »andern« umzusehen, und stellte das geleerte Glas auf den Tisch.

»Aggei Andreewitsch, guten Tag, und willkommen!« erwiderte er und fuhr mit derselben eisigen Ruhe in seiner Beschäftigung fort. Aber ich hatte doch das Gespenst eines Lächelns in seinen kleinen, harten Augen erblickt, während er mich begrüßte. Er vergaß es mir nie, daß ich damals wegen meines Zimmers kein Aufhebens gemacht hatte.

»Die Geschäfte gehen gut!« sagte ich und konnte es nicht verhindern, daß mein Blick dabei auf das besinnungslos aufgequollene Gesicht des jungen Politow auf dem Fußboden hinter dem Schenktisch fiel.

»Ja, Gottlob und Dank! Wir haben ja auch bloß die paar Tage, von denen wir das ganze Jahr über leben müssen.«

»Na, na! Sie besitzen ein steinernes Haus, eine Ziegelhütte, einen Wald, zwei Wiesen, zehn Kühe und fünf Pferde.«

»Tja, was ich sagen wollte ... Also ... Haben Sie diesmal wieder im Sinn, ein Pferd zu kaufen?«

»Wenn sich etwas bietet – warum nicht?«

»Na, also – für den Fall – hier ist ein Bauer – drüben am Tisch sitzt er – der einen dreijährigen Hengst hat.«

»So? Hat er?«

»Ja, ja. Und Sie täten am besten, gleich hinunterzugehen und sich ihn anzusehen, wenn Sie ein Pferd brauchen. Sonst ist er verkauft, sobald er ihn aus dem Stall holt.«

»Muß fix bei der Hand sein mit Verkaufen, der Mann! Sie selber haben ja wohl kein Interesse an dem Hengst, was, Ilija Innokentiewitsch?«

»Doch – gewissermaßen. Er stammt aus dem Ort, wo ich geboren bin; zweihundert Werst von hier. Einer von den besten Traberhengsten des Staates steht dort. Es ist ein guter Boden für Pferde, verstehen Sie!«

»Ach so!«

»Ich selber mache mir nichts mehr aus Pferden mit geräumigen Gängen, und habe auch niemand, für den es sich lohnte, ein solches Pferd zu kaufen ...« Der alte Politow hielt einen Augenblick den Atem an, als dächte er plötzlich an den, der da unter dem Schenktisch lag. Darauf fuhr er, mir in die Augen blickend, fort:

»Sie sollten sich den Hengst ansehen. Im übrigen – machen Sie, was Sie wollen.«

Da begriff ich, daß der alte Politow nicht der Mann dazu war, mich mitten in der Nacht bei einem Pferdehandel übers Ohr zu hauen, auch wenn er kein Bedenken getragen hatte, einen Untersuchungsrichter in meinem eigenen, mir von Rechts wegen zugehörigen Bett sterben zu lassen. Er wollte mir seine Erkenntlichkeit dafür beweisen, daß ich damals kein Aufhebens von der Sache gemacht hatte.

»Vielen Dank, Ilija Innokentiewitsch. Also schaffen Sie mir den Besitzer zur Stelle.«

»Um 150 Rubel können Sie es haben,« flüsterte der alte Politow, indem er die Schenktischklappe öffnete, zu einem Bauern hin ging und ihn vom Tisch, über dem er mit dem halben Oberkörper lag, aufrüttelte.

»Der Herr da will den Hengst sehen! Hörst du? Ich sage, er will den Hengst sehen. Jawohl, den Hengst! Den Hengst sehen!

»Den Hengst? Was für einen Hengst?«

»Deinen Hengst.«

»Meinen Hengst?« der Bauer riß die Augen weit auf; und als er begriff, um was es sich handelte, war er plötzlich ganz Eifer, zur Stube hinauszukommen.

Einige Minuten später standen wir vor der Tür eines kleinen Hintergebäudes drunten im Flecken.

Während der Bauer nach einer Laterne suchte, hörte ich das scharfe und regelmäßige Reiben zwischen den Kauflächen eines großen Huftieres. So stark und jung klang es zu mir heraus in die Nacht. Dann und wann ward die Regelmäßigkeit des Kauens unterbrochen von einem kurzen, lebenskräftigen Prusten, einem weichen Hufschlag gegen den Lehmboden ... Wenig Laute vermögen mich zu stimmen wie diese. Wenn ich sie höre, gedenke ich vergessener Dinge, aus Zeiten, da mein Geschlecht einherritt über das große Festland von Sonnenaufgang bis -niedergang. Das war das lichte Volk, das mit der Sonne um die Erde ritt: die Pferde dampften, daß Nebel um sie stand. Die aufgerissenen Nüstern brannten gleich roten Augen in dem warmen Brodem. Tausende von Hufschlägen erklangen aus der Wolke, die sich schweißgesättigt vorwärts wälzte, als hätten die Pferde aller Steppen ihr ihren Atem eingehaucht. Das ungegerbte Riemenzeug schlug den Takt zur Gangart. Die Gebisse klirrten über den schäumenden Zungen. Die Schwerter sangen kalte Sänge. Die Bogensehnen pfiffen in Sturm und Wetter. Flüche schnitten gleich fressenden Blitzen durch die dampfende Windsbraut und fuhren nieder, daß die Erde blutete, wo sie vorübergebraust waren ... Das war der Hymnus des großen Wanderns, gesetzt für Huf und Lunge und Krieger zu Roß ...

Der Bauer öffnete von innen die Tür. Im gelbbleichen Laternenschein erblickte ich die Umrisse von Bauch und Beinen eines großen, gängigen Läufers. Rücken und Kopf vermochte ich nicht gleich zu unterscheiden. Aber beim Anblick dieser hohen Beine überkam mich die Empfindung, daß sie einem Tier gehören mußten, das, den Rücken gegen die niedere Decke gestemmt, dastand und Hals und Kopf durch das Strohdach hinausstreckte, um Ausblick zu halten über die Welt.

Als jedoch der Bauer mit gestrafftem Arm die Laterne hoch hob, sah ich das ganze Tier stehen, wie es sich gehörte, mit Hals und Kopf innerhalb des Raumes. Wohl füllte es den Eingang aus, so daß wir uns eng an die Wand drücken mußten; aber es war so fromm, daß wir beide ruhig neben ihm stehen und unter seinem Bauch durchkriechen konnten. Ich glaube, es war das größte Pferd von Trabertyp, das ich je gesehen habe; vielleicht auch das beste. Davon überzeugte ich mich, als ich selbst die Laterne nahm und begann, meine eigenen Betrachtungen anzustellen. Hätte ich das Tier bei vollem Tageslicht und auf gehörigen Abstand gesehen, so hätten sich mir alle seine Eigenschaften, alle Einzelheiten seines Wesens in einem einzigen augenblicklichen Eindruck für oder wider gesammelt. Jetzt mußte ich mich wie ein Anfänger, mit der Laterne in der Hand, langsam durch diese Einzelheiten hindurchbuchstabieren, zusammenrechnen, abziehen, um zur Klarheit über die Pferdeseele zu gelangen. Und so leuchtete ich mit meiner Laterne, während Hand und Auge langsam über den weichgerundeten Mähnenkamm, die lange, zartgeschweifte Linie des Rückens, den breiten, elastischen Fall der Kruppe, den schlankumrissenen Bauch hinstrichen ... Der Haarwuchs war so fein und dicht, wenn auch nicht gepflegt, um einen Käufer zu berücken. Unter dem Bauch, gegen die Hinterhand zu, war es dünn und leicht wie Flaum. Zwischen den Oberschenkeln war es nur noch die warme, weiche Haut. Ich griff tief dazwischen, um zu sehen, ob das Tier kitzlig war. Nein, nicht die Spur kitzlig; trotzdem es schon ein richtiger Hengst war ... Sollte er wirklich erst drei Jahr alt sein? Laß mich doch einmal nach deinen Zähnen schauen! Willst du wohl sehen lassen! Na schön! So muß ich die Zunge packen. Sollst sehen, wie du das Maul aufsperrst, wenn ich sie erst mit der ganzen Hand gefaßt habe und den Daumen in das rote glatte Fleisch bohre, daß sie mir nicht wie ein Aal zwischen den Fingern durchschlüpft! ... Und ich steckte die Hand in den einen Maulwinkel oberhalb der Lade, wo keine Zähne sind, und zog die Zunge heraus. Der Hengst setzte sich auf die Hinterhand und reckte den Kopf, daß das Maul in gleicher Höhe mit meinen Augen stand; aber ich ließ die Zunge nicht los, hielt fest aus Leibeskräften. Der warme Atem strömte mir aus dem offenen Schlund übers Gesicht. Ich konnte all seine Backzähne sehen, so viele er bei seinen jungen Jahren überhaupt hatte. Aber mich kümmerten ja nur die Schneidezähne. In ihnen konnte ich wie in einem offenen Buch lesen, wieviele Sommer der Hengst schon gesehen hatte. Die zwei innersten waren gewechselt – die beiden ersten Ersatzzähne hatte er. Mit denen würde er nun kauen, bis er eines Tages weder Hafer noch Heu, weder Gras noch Stroh mehr brauchte, bis er in einem gewaltigen Lauf zusammenbrach oder in höchstens fünfzehn Jahren an Alter und Elend, steif an Gliedern, mit Rippen, die dürr durch die Haut stachen, verendete.

Herrgott! Allerhöchstens fünfzehn Jahre hat er noch zu leben. Und dabei dürstet alles in ihm danach, dies armselige bißchen Zeit so rasch als nur möglich zu durchrennen. Da – die nächsten zwei Milchzähne strecken schon den Hals über das Zahnfleisch heraus – bereit, abzufallen wie zwei kleine, welke Frühlingsblüten ... Jedenfalls – drei Jahr alt ist er letztes Frühjahr gewesen; und nun soll er den Tanz der Landstraße tanzen, auf vier Beinen, auf dreien auch, wenn das vierte versagen sollte ... Lieber, du, dachte ich und ließ die Zunge los, auf vieren und auf dreien sollst du deinen Lauf laufen, bis du dich nicht mehr rühren kannst; bis dein vorgestreckter Traberhals dir schlapp auf die breiten Knie sinkt ... Breit – hab' ich gesagt? Sind sie etwa nicht breit und mächtig wie der Boden einer Meistervioline? Liegen nicht die Sehnen hinter ihnen gleich reingestimmten Saiten, die unter dem starken Schlag deines Herzens, dem Atem deiner tiefen Brust ertönen? Ich will meine Hände über sie gleiten lassen, langsam ... will ihnen folgen bis unten, wo das Schienbein sich ans Knie schließt als Hals des edlen Instrumentes, schmaler und schmaler sich reckt, sich ins Fesselgelenk einschwingt wie ein gebogener Nacken, und in der reingeschnittenen Krone des Hufs sich vollendet ... Hei! Wie du dir aufspielen wirst zu deinem Tanz auf den Wegen! Triller und Flageolett und alle Läufe, ausgenommen Galopp! Die Hinterhufe immer ein paar Fuß über die Spuren der Vorderhufe vorgreifend! Dicht an den Knien vorbei; als griffest du jedesmal in ihren Seitensträngen pizzikato eine wilde und langgezogene Melodie ... Ja, deine Hinterbeine sind gleich zwei schönen und starken Armen, trocken und fest im Gelenk wie geschälte Eichenäste! Greif aus in die Weite, daß es tönt in allen Sehnen und Saiten! Setze sie stolz über jede Spur, die von andern getreten ist, und waren es deine eigenen Vorderbeine! Recke sie segnend über den ewigen Kreislauf aller Wege in ewig gleicher Spur ...

Und nun hab' ich dich lang genug angesehen. Oder ja – laß mich, wenn ich schon dabei bin, dir die Finger in die Ohren und ähnliche Körperteile stecken, um die verborgenen Dinge deines Nervensystems zu ergründen. Das gehört dazu, wenn man sich ein Pferd besieht. Du verhältst dich ruhig solchem Auskundschaften deines Wesens gegenüber. Also hast du ein gutes Gewissen. Das dacht ich mir auch schon. Wie groß deine Augen sind, und wie tief und hart von Blick! Solltest du vielleicht etwa streitbaren und unbeugsamen Sinnes sein? Ja, wer weiß, wie sich der Sinn eines Tieres, das geboren ist zu einem großen Lauf, gestalten kann, wenn einfältige Hände es anfassen! Bist du aber streitbar und widerwillig von Natur – das werd' ich dir schon austreiben, mit tausend fressenden Peitschenhieben, mit tausend Stunden sich selbst verzehrenden Durstes! Ja, du – das glaub' mir nur!

Lieber! sagte ich bei mir selbst und faßte den Hengst mit beiden Händen ums Maul, daß ich seine festgeschlossenen nackten Lippen und die Grube über dem gegipfelten Unterkieferende fühlte – Lieber, du! wohl bist du ein Hengst. Aber doch bin ich schon so verliebt in dich, daß ich es gar nicht sagen kann. Alles gäbe ich um dich hin, meinen rechten Arm, fünfzig Tonnen Butter, auch weniger, wenn es sich machen läßt. Aber laß mich nicht an dir zweifeln müssen, laß mir allzeit meinen unerschütterlichen Glauben daran, daß du dein Äußerstes tun wirst, wenn ich es von dir fordere. Es soll nicht nutzlos, nicht gedankenlos gefordert werden! ...

Hier vernahm ich plötzlich die Stimme des Bauern. Er hatte die ganze Zeit mitgeschwatzt; aber ich hatte mich nicht weiter besonnen über das, was er sagte. – »Solch ein Pferd, Barin, das finden Sie unter Pferden nicht wieder. Nicht unter einer Million, nicht unter hunderttausend Pferden! Glauben Sie mir oder glauben Sie mir nicht! ... He, Barin, gefällt Ihnen das Tier nicht, daß Sie es so lange ansehen, ohne etwas zu sagen? He, Barin?«

»Ein bißchen schlotterig ist er ja ...«

»Schlotterig? Jesus Christus! Schlotterig sagen Sie, Barin? Schlotterig! Der ist, hol' mich der Teufel, so wenig schlotterig wie der Glockenturm im Kreml! Daß Sie es nur wissen!«

»Wollen wir nicht lange darüber reden! Was kostet das ›Fohlen‹?«

»Fohlen? Nennen Sie den Riesenblock da ein Fohlen? Soll mich die Erde verschlingen mit Haut und Haar, wenn Sie in Ihrem ganzen Leben ein ausgewachseneres Pferd gesehen haben als dies!«

Ich tat, als wollte ich gehen.

»Nun ja, also – wieviel?«

Der Bauer nahm mich väterlich beim Arm und sagte mit Rührung und Überzeugung:

»Geschenkt sollen Sie ihn haben, weil Sie es sind. Ich möchte vor allem den Hengst in guten Händen wissen, Barin! Für 200 Rubel sollen Sie ihn haben! Aber sagen Sie es niemand weiter!«

Und der Bauer streckte mir großmütig die Hand entgegen, als erwartete er, daß ich stracks einschlagen sollte. Ich schlug jedoch nicht ein, bot vielmehr statt dessen 100 Rubel; denn ich wußte, er würde sich sonst sogar noch bedenken, den Hengst für die 200 Rubel zu verkaufen.

Manches derbe Wort fiel zwischen uns. Wir wünschten uns gegenseitig allerhand Gutes und Liebes, wie das so Schick und Brauch ist beim Pferdehandel, und als wir nach Verlauf einer halben Stunde ausgeredet hatten, war der Hengst mein, um den Preis, den der alte Politow für ihn angesetzt hatte.

Als wir wieder in die Schenkstube traten, bat ich Politow, den Bauern auszuzahlen, damit es am folgenden Tag nicht etwa Schwierigkeiten gäbe, im Fall er sich nicht mehr daran erinnerte, daß er sein Geld erhalten und was er damit angefangen hatte.

Petruscha hatte sich mittlerweile ebenfalls eingefunden. Wir waren die einzigen Überlebenden auf der Walstatt. Der alte Politow hatte jeden zu Boden geschlagen, der seinem Schenktisch nahe gekommen war, und setzte sich nun selber zu uns mit einem Glas Tee, um den Handel besiegeln zu helfen und Neuigkeiten von seinem und des Hengstes Geburtsort zu erkunden. Als es nichts mehr zu bereden gab, schickte ich Petruscha hinunter, um bei unserem neuen Pferd Wache zu halten. Noch vor Tagesgrauen sollte es gestriegelt und vor Politows kleinen Rennschlitten gespannt sein. Wir wollten sogleich Parade fahren mit ihm, ohne Vorsichtsmaßregeln wie schweres Geschirr, Waldschlitten und dergleichen. Der Bauer hatte ja, wie er sagte, das Tier schon ein paarmal gefahren. So mochte er helfen einspannen und zusehen, ob auch wir fahren konnten.

Ich legte mich in mein Bett und ging im Schlaf über ewig grüne Waldwiesen, wo untadelige Traberhengste friedlich Seite an Seite grasten, einer immer noch untadeliger als der andere. Und als ich endlich an einem lauten Gewieher erwachte, merkte ich, daß es nicht lang mehr bis Tagesanbruch war und daß Petruscha eben im Begriff stand, den Hengst einzuspannen.

Kurz darauf war ich unten im Hof. Der Bauer stand neben dem Hengst, hielt ihn und redete Worte des Abschieds zu ihm, so gut er es eben verstand, während Petruscha das Tier mit Armen und Beinen in das Gefängnis spannte, das die russische Anschirrung für ein Pferd bedeutet. Ist es erst einmal drin, so braucht es sich entweder gar nicht mehr zu rühren, wenn es nicht will. Oder auch kann es durchgehen, d. h. wenn es das mit unter eine der Stangen heruntergezerrtem Maul oder so nach hinten gerissenem Hals und Kopf zuwege bringt, daß die Nüstern in die Glocke unter dem Krummholz schnauben. Aber viele Pferde gibt es nicht, die das können. Sie müssen schon parieren, wenn sie ordentlich eingeschirrt sind und das Riemenzeug hält und der Kutscher nicht das Pech hat, gleich zu Beginn des Kampfs gegen einen Baum anzurempeln oder einen Abhang hinunterzukollern ... Und Petruscha wußte das. Er hatte mehr als einmal Gelegenheit gehabt, Betrachtungen über derartige Dinge anzustellen. Darum schnallte er eigenhändig selbst den kleinsten Riemen fest, daß er auch nicht um eines Fingers Breite rutschen konnte, und ob man wie man so sagt, in einer Tour bis nach Moskau führe ...

In dem schwachen Tagesschein vermochte ich den Hengst nur eben zu unterscheiden, während ich auf ihn zuging. Ich fühlte in mir einen seltsamen Drang, mich zu bekreuzigen, als ich ihn so da stehen sah. Aber ich tat es nicht; denn der Bauer, vielleicht auch Petruscha, wenn der es nicht besser gewußt hätte, hätten es vielleicht mißverstehen und glauben können, ich ängstige mich vor dem bißchen Fahrt mit einem jungen, fremden Hengst und riefe darum den Schutz des Himmels an.

»Fertig!« sagte Petruscha und nickte bekräftigend, nachdem er den Oberzügel durch den Glockenring gezogen hatte, damit sie in der Stadt nicht anschlagen sollte, noch dazu bei einer Einspännerfahrt.

»Führ ihn zum Tor hinaus!« sagte ich und setzte mich in den Schlitten. Die Schlaufe am Ende des Peitschenschafts hatte ich mir ums Handgelenk gewickelt, so daß die Peitsche frei niederhing und zur Hand war, sobald ich mit einer halben Wendung nach rückwärts griff. Die Leinen ließ ich locker, als hielte ich sie überhaupt nicht. Und so führte der Bauer den Hengst vor zu dem geöffneten Tor. Petruscha schob von hinten nach, damit der Anfang ganz von selbst gehen sollte. Unterm Tor hob der Hengst den Kopf hoch in den weißen Morgen. Der Bauer ließ ihn los, und ich ließ ihn fühlen, daß da einer die Zügel hielt. Im selben Augenblick setzte er sich in Trab, und Petruscha enterte über die Schlittenkufen zu mir herein. Wir fuhren! Der Hengst wußte nicht recht, was es bedeuten sollte. Er hielt den Kopf hoch und blickte sich um, atmete die leichte Frostluft ein und prustete voll Wohlbehagen. Die Beine hob er so unsicher, als wäre er sich nicht klar darüber, wie und wohin er sie setzen sollte und wozu sie zu brauchen wären auf den neuen und unbekannten Wegen, die sie da traten. Links von uns begann man die Pferde zu Markte zu treiben. Er wieherte ein paarmal grüßend zu ihnen hinüber; aber als ich ihm mit den Zügeln je einen weichen Schlag auf beide Seiten der Kruppe gab, vergaß er augenblicklich, wonach er gewiehert hatte, und ging weiter, in einem langen, schlenkernden Trab. Als wäre er in den Stangen geboren, so ging er. Keine Bocksprünge, kein Widerstand gegen Zügel oder Gebiß. Alles war, wie es sein sollte, als hätten wir wirklich eingespannt, um die vierhundert Werst nach Moskau in einer Tour zurückzulegen. Wir kamen über das Bahngeleise. Solch einen Weg hatte der Hengst noch nie gesehen; aber glücklicherweise kam kein Zug. Es kamen just nicht allzuviele auf dieser Strecke. Auf der andern Seite lief ein kleiner Schlittenpfad durch Wald und freies Feld. Den schlugen wir ein, um niemand zu begegnen. Ich saß und schaute gradaus auf die vier starken Beine, unter denen der Weg dahinglitt. Ich lauschte dem regelmäßigen Spiel der Hufe in dem feinen Frostschnee, dem spröden Klang der Kufen, der tönte und tönte gleich einem leisen Flöten, lauschte diesem Trab- und Schlittensang, und ward höher erfüllt von ihm als von aller Kirchen Psalmenchören. Hoch und edel trug der Hengst während des Laufs den langen Schweif. Die dunkeln Hautflächen zwischen den schweren Innerflankenmuskeln rieben sich beständig gegeneinander und feuchteten sich nach und nach durch die Wärme der Reibung. Die kastanienbraunen Haare legten sich dicht und weich an den Körper, wurden tief und dunkel von Farbe. Unter dem Riemenzeug zeigten sich schmale, dunkle Streifen, dunkler noch als der übrige Körper. Binnen kurzem würden sie plötzlich die Farbe wechseln und kleine weiße Schweißstriemen zeigen, die wachsen würden und wachen, mit dem Tempo der Fahrt; bis sie, wenn das Pferd sein Äußerstes und Bestes gab, aufsprudelten in schaumweißen Blasen. Aber noch wollte ich das Äußerste nicht verlangen von dem Hengst. Wozu? Hatte ich etwa zwanzig Werst von hier in knapp einer Stunde ein Stelldichein, um das ich Leben und Seligkeit eines guten Pferdes opfern wollte? Oder war ich sinnlos betrunken, daß es mich lüstete, die ganze Welt einen Teufelstanz an meinem Schlitten vorbeitanzen zu sehen? ... Nein! Das hat noch Zeit. Aber trotzdem werden wir heut eine kleine Probe machen auf den großen Lauf in straffen Zügeln! Wer weiß! vielleicht siehst du nach mehr aus, als du bist! ...

Ich parierte den Hengst zum Schritt durch, während ich nach einer Lichtung zu umbog. Er hatte auch gar nichts dagegen, dahin zurückzukehren, von wo er gekommen war. Aber ich hielt und gab Petruscha die Zügel. Ich wollte aussteigen und mir das Tier ansehen. Ich ging im Kreis darum herum und dachte an Dinge, die hinter allen Gedanken liegen, da wo alles Wissen und Verstehen grau ist: Was denkt der Hengst? Was meint er zu all diesem Riemenzeug, und dem Trab und uns beiden im Schlitten? Wie spiegelt sich all das in seiner Vorstellung und seinen Veranlagungen wieder? Was kann es nützen, daß alle Winkel seines Baus so symmetrisch sind, wie sie es bei einem Traber sein sollen, und genau die Anzahl Grade messen, die Bedingung sind zur Entfaltung des größten Trabs, wenn ... ja, wenn in seiner eigenen Vorstellung von der Bedeutung des Trabs da oder dort eine Kleinigkeit fehlt? ... Hm ... Ich blieb stehen und sah von der Seite auf den Hengst. Plötzlich trafen sich unsere Augen. Eine einzige kleine Sekunde lang hatte er nach mir herüber geschielt, wie unversehens, ganz zufällig; irgendwohin mußte er ja sehen. Aber er hatte mir ganz einfach das Maß genommen, mich gewogen und abgeschätzt mit einem hurtigen Seitenblick seiner großen, flaschengrünen Augen. Ich kannte diesen Seitenblick. Es ist der Blick, mit dem ein störrisches Pferd auf Kutscher und Zaumzeug zurückschaut, wenn es nicht mehr will, wenn es auf strafende Peitschenhiebe mit den Hinterhufen antwortet und sich selber in die Flanken beißt wie ein Skorpion in der Bratpfanne! Jawohl, ich kannte ihn, diesen Blick! Wie sollte ich ihn nicht kennen, ich, der ich eine Leidenschaft habe für just diese Pferde, diese besten aller Pferde, weil sie sich nur fahren und reiten lassen von dem, der sie überwindet und ihren Blick zwingt ...

Was meinte der Hengst mit diesem Blick? Ging er da etwa in den Stangen und heuchelte, als wäre er als vollendeter Traber, mit Riemenzeug und allem geboren, um plötzlich, eines schönen Tags, wenn es ihm nicht mehr paßte, Komödie zu spielen, still zu stehen, hinten auszuschlagen und sich in die Flanke zu beißen? ... Tod und Teufel! Er äußerte Zweifel an unserer Zusammengehörigkeit, an unserem Zukunftsglück als Pferd und Mann! Da lief er und tat, als wären wir füreinander geschaffen, und war dabei voller Zweifel! Er ging also nur um seiner eigenen, sündigen Lust willen in den Stangen! Es machte ihm Spaß, fügsam zu sein und die Beine zu strecken und arglose Pferdeliebhaber mit seinen falschen Reizen zu umgarnen! ... So, also von dem Schlag bist du! Und dennoch, es soll uns nicht scheiden! Nein, herjagen werd' ich dich vor meiner blutigen Treibschnur, bis deine ewige Seele dir gleich einer blauen Flamme zu den Nüstern herausschlägt; bis du keine Lust und keine Sehnsucht mehr kennst als die eine: den Werst in weniger Sekunden zu machen, als je ein sterbliches Pferd ihn gemacht hat. Ja, deines Lebens höchster Glückstraum soll es werden, dich zu Tode laufen zu dürfen ...

»Petruscha,« fragte ich, während ich wieder auf den Schlitten zuging, »Petruscha, was denkst du?«

Petruscha blickte listig erst auf den Hengst, danach auf mich, und antwortete dann:

»Ich glaube, er hat uns gleichsam so ein bißchen zum Narren!«.

»Glaubst du? Na, also – sitz' fest!«

Ich faßte entschlossen die Zügel und brachte den Hengst in Gang. Bedächtig setzte er ein; im selben Nu zog ich ihm die Treibschnur über Oberschenkel, Flanke und hinterste Rippe. Der Hengst machte vor Überraschung einen großen, unbeholfenen Sprung vorwärts, und noch, einen – und wieder einen, heftiger und heftiger, so oft er die Treibschnur gleich einer Feuerzunge über seinen Rumpf lecken fühle. Er fand vor lauter Schrecken nicht Zeit zu traben, sondern setzte vorwärts, in großen Sprüngen, als fliehe er vor einer Herde Schlangen. Aber ich ließ nicht locker. Zuletzt raste er in einer wilden, wahnwitzigen Flucht den Weg entlang. Der Schlitten schlingerte handlos hinter dem Durchgänger drein. Petruscha hielt mit dem linken Arm sich selber und mit dem rechten mich fest, damit wir nicht hinausgeschleudert wurden. Und als der Hengst sich selbst vergessen hatte und völlig in der Mystik des Laufs aufgegangen war, ließ ich die Peitsche sinken und nahm die Zügel an, um ihn wieder fest in die Hand zu bekommen. Aber es war, als hätten wir eine Lawine vor dem Schlitten und nicht ein Pferd. Er wollte sich nicht halten lassen, bis ich ihm den Kopf dermaßen zurückriß, daß ihn, die Augen nach hinten standen und er so bei jedem Sprung einen Abgrund unter den Füßen zu fühlen schien. Er mußte nachgeben. Als er den Kopf wieder unten, hatte und in seine natürliche Gangart zurückgefallen war, da dachte er nicht mehr daran, gen Himmel zu fahren, sondern senkte den Kopf auf die Brust und ging in einem Trab, der sein Orloffsches Traberblut verriet. Die Zügel schnitten in meine langgestreckten Handgelenke. Ich stemmte die Füße gegen den Schlittenboden, um nicht vornüber gerissen zu werden. Der Schnee fegte zu uns herein. Der Weg glitt dahin wie ein Wasserfall. Ich hörte auf weiter Welt nichts als den gewaltsamen Lauf des Hengstes und sein angespanntes Atemholen, sah nichts als eine Strecke Wegs, die sich mit reißender Geschwindigkeit näherte und im nächsten Augenblick unter den flüchtigen Hufen des Hengstes zermahlen ward. Wir nahmen Steigung und Senkung des Bahnüberganges als einen einzigen Eindruck, und fuhren der Stadt zu. Der Schaum stand dem Hengst um Brust und Flanken; aber er gab nicht nach. Es war, als hätte ich eine Lokomotive eingespannt und säße auf dem Tender und kutschierte. Aber einhalten mußte ich ihn, wenn wir nicht die Stadt in zwei Hälften spalten und wie ein Phantom jenseits verschwinden wollten. Und ich redete beschwichtigende Worte zu dem Hengst, überzeugte ihn von meinen friedlichen Absichten, bis ich ihn so weit hatte, daß er Schritt ging. Er tat es ungern, dachte bloß daran, weiterzukommen, so viel Weg als möglich hinter sich zu bringen; aber nach und nach beruhigte er sich doch, so daß wir daran denken konnten, ihn wieder zu Stalle zu bringen!

»Ein Traber von Gottes Gnaden!« dachte ich, als wir durch Politows Tor fuhren. »Nie wieder soll meine Hand sich gegen ihn erheben! Nur zurückhalten muß man ihn noch, daß er nicht allzu scharf ins Zeug geht bei seiner Jugend! Mit jedem Tag, der vergeht, wird er zunehmen an Ausdauer, und dem großen Meisterlauf entgegenwachsen ...«

»Aggei Andreewitsch, guten Tag! Und Glück zum Kauf!« hörte ich plötzlich eine Stimme sagen. Und als ich mich umsah, erblickte ich einen reichen Butterbauern, der hinter das Tor zurückgewichen war, während wir einfuhren. Er hielt die Mütze in der Hand, eine Ehre, die er mir sonst nicht zu erweisen pflegte, da er seine Butter nicht an mich verkaufte.

»Danke!« erwiderte ich trocken.

»Scharf gefahren sind Sie! Gott bewahre! Was sind Sie scharf gefahren mit dem Tier! ... Glauben Sie, er hält es aus, bei seiner Jugend?«

»Haben Sie etwa Lust, selbst in die Stangen zu treten an Stelle des Hengstes, weil Sie sich darein mischen?«

Der Butterbauer schwieg und sah zu, während wir ausspannten und den Hengst trocken rieben.

Jeder Nero in dem Tier war gespannt. Es sah aus, als wäre ihm auf einmal etwas aufgegangen, als hätte es seine Mission hier auf Erden begriffen und verzehrte sich vor Sehnsucht danach, sie zu erfüllen. Es war mit andern Worten eins von den Pferden, die man vorspannen muß, wenn man ein Weib betören will und alles übrige ohne Erfolg versucht hat ...

»Seit einer halben Stunde schon wart' ich auf Sie,« nahm der Butterbauer das abgebrochene Gespräch wieder auf, als wir in den Hof traten. »Gleich nachdem Sie weggefahren waren, kam ich. Wer konnte auch denken, daß Sie so früh dran sein, um Mitternacht Pferde einhandeln würden! ...« Der Butterbauer strich sich mit dem Fausthandschuh über den Bart, während er fortfuhr:

»Ich werd' Ihnen sagen – den Hengst habe ich selbst kaufen wollen. Wahrhaftigen Gott, das wollt' ich. Es kann ja nichts nützen, ihn schlecht zu machen; Sie haben ja selbst gesehen, was in ihm steckt. Und dennoch, Aggei Andreewitsch – es wäre vielleicht doch möglich, daß Sie ihn wieder verkauften und einen andern kauften. Und kurz und gut: was kostet der Hengst?«

»Er ist nicht feil!« antwortete ich und ging weiter nach der Schenkstube zu.

»Lassen Sie mir ihn ab, aus Freundwilligkeit! Ich hab' ihn meinem Sohn versprochen. Er will zu Fastnacht heiraten und muß ein ordentliches Fuhrwerk haben, des Mädchens wegen. Sie verstehen ...«

»Ich habe dann und wann meinen Freunden ein Pferd abgetreten, wenn sie mich darum gebeten haben. Aber Freunde solcher Art sind wir ja doch wohl nicht. Außerdem wäre es weder für Sie noch für Ihren Sohn ein Vergnügen, den Hengst zu fahren.«

Wir waren in der Schenkstube angelangt, wo der alte Politow bereits wieder stand und Branntwein ausschenkte.

»Einzig und allein um den Hengst zu kaufen bin ich auf den Markt gekommen,« beharrte der Bauer. »Ich habe von ihm gehört; und jetzt sehe ich, daß er das ist, was man von ihm gesagt hat. Was soll nun der Junge anfangen, wenn er heiraten soll und kein Pferd hat?«

»Kaufen Sie ihm ein anderes Pferd.«

»Erbarmen Sie sich! Lassen Sie mir das Tier. Es geht um Leben und Glück des Jungen! Was soll er anfangen, wenn er den Hengst nicht hat zu seiner Brautfahrt! ...«

Hier verlor ich gegen meinen Willen die Geduld:

»Ich handle nicht mit Pferden! Scheren Sie sich zum Teufel mitsamt Ihrer Brautfahrt!« sagte ich laut und ging auf den Schenktisch zu. Aber ich hätte so laut nicht fluchen sollen; denn schon fühlte ich in meiner Hand eins der großen Doppelgläser, und im nächsten Augenblick hatte ich es, ohne Einspruch zu erheben, geleert: es war ja doch ein »Übereinkommen«. Und ob es nun das starke Maß Branntwein machte, oder die angeborene Lust des Mannes, mit Pferden und ähnlichen Dingen zu prahlen – ich sagte etwas, was ich eigentlich gar nicht hatte sagen wollen ... Mag sein, auch, daß » er« daran schuld war, der mir das Glas in die Hand gespielt hatte, daß »er« es war, der mir den flüchtigen, zweifelnden Seitenblick zurückrief, mit dem der Hengst mich angesehen hatte. Denn tatsächlich wär es das, was der Sache den Ausschlag gab, als der Bauer hartnäckige fortfuhr:

»Was kostet der Hengst! Oder ist er überhaupt nicht für Geld feil? Wollen Sie das damit sagen?«

»Dreihundert Rubel!« ließ ich mich hinreißen zu antworten.

Im selben Nu begriff ich auch, wer da die Finger im Spiel gehabt hatte.

Aber – gesagt war gesagt.

Der Bauer tat einen Schritt rückwärts:

»Dreihundert Rubel! ... Das Doppelte! ... Erbarmen Sie sich! ...«

Ich fühlte, daß mein Gesicht weiß ward und daß es mir schwarz wurde vor den Augen. Ich ging zur Tür hin und hörte mich selber sagen:

»Er ist nicht feil. Aber ich habe nun einmal gesagt dreihundert Rubel. Es gilt nur solange, bis ich zur Tür hinaus bin!«

Aber ich kam nicht zur Tür hinaus. Der Bauer hielt mich mit der einen Hand fest und zog mit der andern die Brieftasche heraus. Ehe ich es wußte, hatte ich die dreihundert Rubel in der Hand und den Hengst verloren. Man rief nach dem Kauftrunk, und was weiß ich ... Ich aber ging ohne mich umzusehen hinauf in mein Zimmer. Dort setzte ich mich hin, trommelte auf den Tisch und dachte an dies und das, um den Hengst zu vergessen. Doch immer wieder kam ich auf ihn zurück. Und da es nun einmal nichts half, an andere Dinge zu denken, fing ich an, mich über ihn und über mich selber lustig zu machen, um den Schmerz zu betäuben.

… Also z. B. die »Kastanien« an den Beinen des Hengstes. So klein und fein waren sie, wie Narben, die eben erst verheilt sind, eine an der Innenseite jedes Beines. Eigentlich glichen sie Augen. Ob wirklich etwas Wahres sein konnte an der alten Volkssage, daß die »Kastanien« ursprünglich als Augen gedacht waren, einstens, als Gott der Herr das Pferd schuf? Er hatte nämlich bei dieser Gelegenheit den Teufel zu Rate gezogen, und der Teufel meinte, das Pferd müßte die Augen an den Beinen haben, damit es den Weg besser sehe. Der Herrgott bedachte sich's, und gab am Ende doch dem Pferd die Augen in den Kopf, wie seinen anderen Geschöpfen auch. Aber um dem Teufel für den guten Rat, der im Grunde unsern Herrgott belustigt hatte, eine Aufmerksamkeit zu erweisen, setzte er auf die Innenseite jedes Pferdebeines ein Mal, zum Zeichen, daß er und der Teufel es sich bedacht hatten, ob es nicht besser wäre für das Pferd, mit den Beinen zu sehen. Und im Dunkeln sieht das Pferd tatsächlich besser mit den Beinen als mit den Augen; versucht es das aber bei Tag, so wird es wohl freilich stolpern. Sicher ist eins: daß seit der Zeit immer der Teufel die Hand im Spiel hat bei Pferdebeinen und Pferdehändeln Und jedem, der sich damit befaßt ...

Das klingt höchst wahrscheinlich, dachte ich bei mir selber. Aber warum hat nicht der Teufel dafür gesorgt, daß wir Augen auf der Zunge haben, damit sie sich vorsehen könnte, ehe sie redet? Ja, warum wohl nicht? O nein, solch einen Rat zu. geben, davor hat er sich freilich gehütet!

Was man gesagt hat, das hat man gesagt, und man muß die Folgen auf sich nehmen. Und das mußte ich auch, wohl oder übel!

Also wickelte ich meine übrigen Geschäfte ab und tat, als wäre nichts. Ich war gekommen, um Butter zu kaufen, und ich kaufte Butter. Als ich damit fertig war, fuhren Petruscha und ich wieder heim, wie jeden Montag abend.

 

Die Zeit verging, und ich hatte an anderes zu denken als an meine verspielte Liebe. Doch ward ich ab und zu daran erinnert, wenn ich zufällig etwas aus der Gegend hörte, in die der Hengst gekommen war. Es ging ihm nicht gut, soviel begriff ich wohl; nicht so gut, wie es ihm hätte gehen müssen ...

Eines Tages, – wohl gut ein Jahr war darüber hingegangen, meldete sich bei mir der Butterbauer.

»Na,« sagte ich, nachdem die üblichen höflichen Redensarten und Erkundigungen nach Wetter und Wind erledigt waren, »und was macht der Hengst?«

»Der Hengst? Tja, dem geht's gut, so auf seine Art ... Tja ...«

»Also hat er Ihnen Freude gemacht, und Ihrem Sohn auch?«

»Tja ... ein recht stattliches Tier war es ja, so dem Aussehen nach. Aber so recht wohl in den Stangen hat er sich ja nicht gefühlt.«

»So–o!«

»Nä–ä. So recht wohl war's ihm nicht.«

»Hat Ihr Sohn ihn nicht fahren können?«

»Fahren können? Und ob er ihn hat fahren können. Nur eben – laufen hat er nicht wollen! So ganz nach und nach ist das gekommen. Anfangs war er willig genug. Aber dann fiel er immer mehr ab, und zuletzt ging er einfach nicht mehr.«

»Das war ja unangenehm für Ihren Sohn.«

»Und ob es unangenehm war! Denn grade wie der mit seiner Braut von der Hochzeit heimfahren wollte, ging er nicht mehr.«

»Unerhört!«

»Will's meinen. Der Hengst ging einfach nicht von der Stelle; und als mein Sohn ihn ein bißchen mit der Peitsche kitzelte, schmiß er ihm und der Braut die Hinterhufe ins Gesicht und warf sich gegen die Stangen, daß ich nachher ein paar neue an den Schlitten machen mußte.«

»Das war ja rechtes Pech, bei einer Brautfahrt!«

»Jawohl, eine böse Vorbedeutung. Überhaupt Glück hat er uns nicht gebracht, der Hengst ... Häh – äh ...«

»Wie ist es denn später gegangen?«

»Gar nicht ist es gegangen; es war rein nichts mit ihm anzufangen; schließlich wurde er so bissig, daß er keinen Menschen mehr an sich heran ließ. Man müßte ihn einfach gehen lassen in seiner Box.«

»Also weder gestriegelt noch sonst besorgt?«

»Nä–ä doch, Gott behüte!«

»Da mag er wohl gut aussehen jetzt!«

»Wohl, wohl! Wie der Leibhaftige sieht er aus ... Hoh ... rh! Nicht zum Wiedererkennen, vor lauter Mist!«

»Was wollen Sie jetzt mit ihm anfangen?«

»Och ... nichts ... Er taugt weiter auch zu nichts mehr, lahmt außerdem auf den Hinterbeinen, von einem Schlag, den der Junge ihm aufs Kreuz gegeben hat, als er ihn beißen wollte.«

»Da müßte man ihn doch umbringen!«

»Nicht so, ja? Das hab' ich auch gedacht! Denn wie gesagt – er hat uns kein Glück gebracht ... Meine Söhnerin hat jetzt im Oktober ... laß sehen, ja, es stimmt: Februar, März, April ... ja, also im Oktober, ein totes Kind zur Welt gebracht.«

»Das tut mir leid.«

»Ja, und da dacht' ich mir: daran ist niemand anders schuld als das Satansbiest, und eigentlich müßte man es ganz einfach totschlagen.«

»Das meine ich auch, nachdem Sie es kreuzlahm geschlagen haben. Sie können es ja hinters Ohr schießen, wenn niemand sich zu ihm hinein getraut. So merkt es auch nichts.«

»Richtig, ja! Daran hab' ich gar nicht gedacht. Wahrhaftigen Gott nicht! Aber wir haben uns auch ohne Gewehr geholfen.«

»Ohne Gewehr geholfen?«

»Tja, sehen Sie, wir haben ihn ein, paar Tage lang dursten lassen; und als wir dann mit dem Eimer kamen, dachte er an nichts weiter als an das Wasser, und da haben wir ihm das Messer in die Brust gestoßen ...«

»Was haben Sie?«

»Ihn in die Brust gestochen ... Aber glauben Sie, der wäre verreckt, wie eine jede andere ehrliche Kreatur? Na, meiner Seel'! Eine halbe Stunde lief er noch drin herum mit dem Messer in der Brust, eh' sein Blut heraus war ... Ihm die Haut abzuziehen, das hat sich keiner getraut. Nicht einmal die paar Rubel fürs Fell kriegte ich, ließ ihn wie er war, den Krähen und Wölfen. Nä ... Glück haben wir nicht gehabt mit dem Pferd, das Sie mir da verkauft haben ...«

Ich schwieg und sah unverwandt auf ein großes Böttchermesser, das vor mir auf dem Kontortisch lag. Aber ich beherrschte mich. Ein Geschäftsmann darf sich keinen persönlichen Gefühlen und Rücksichten hingeben. Soviel hatte ich aus meinen Erfahrungen im Butterhandel gelernt. Und dies Prinzip gilt sicherlich auch für andere Ware, auch wenn der Einzelne es immer wieder von vorn lernen muß, so oft er die Branche wechselt.

Ich tat also, als wäre nichts und antwortete bloß:

»Nein, da haben Sie recht!«

Denn ich begriff wohl, daß der Butterbauer nicht zu mir gekommen war, nur um mir diese Geschichte zu erzählen.

»Aber reden wir nicht weiter davon,« fuhr er fort. »Wenn Sie der Mann sind, solch ein Pferd so günstig zu verkaufen, so müssen Sie es ja noch viel besser verstehen mit solch einer Butter wie der meinigen ...«

Das meinte ich auch, und der Butterbauer ward mein Kunde. Zwar verdiente er keine hundert Prozent; aber er begnügte sich auch mit weniger; und von dem Hengst sprachen wir nie wieder.

 

Doch wenn ich jetzt in einsamen Zeiten mich verleiten lasse, über dies und jenes nachzugrübeln, da stellt in meinen Selbstbetrachtungen immer der Hengst sich ein. Wäre es nicht fruchtlos, zu bereuen, so würd' ich vielleicht bereuen, daß ich ihn, nachdem wir uns einmal gefunden hatten, in andere Hände übergehen ließ. Aber meine Reue macht das Geschehene nicht ungeschehen. Ich muß die Folgen auf mich nehmen, heut und am äußersten Tag. Und wenn es einen solchen Tag gibt, da wird wohl der Hengst vor den Richterstuhl des Allerhöchsten treten und mich anklagen, weil ich nicht einen großen Traber aus ihm gemacht habe. Vielleicht wird das schwerer gegen mich in die Wagschale fallen als alle meine anderen Sünden zusammengenommen. Und vielleicht seh ich just darum so deutlich, wie es möglicherweise an jenem äußersten Tag, wenn die Posaunen all das tote Leben zu Gerichte rufen, zugehen wird. Ich sehe die große Gerichtstagstraße voll von allerhand großen und kleinen Skeletten. Aus Gräbern und Schlupfen wimmeln sie hervor und klappern mit den bleichen Gebeinen, daß es gen Himmel schreit, daß ein Schauern geht durch die stillestehende Welt ob all dem Tod, der in ihr gewesen ist. Auch ich bin aus meiner Urne gekrochen und laufe als kleiner Aschehaufen auf dem Fußsteig längs der großen Gerichtsstraße her. Ich habe grade genug zu tun, mein armes bißchen Staub zusammenzuhalten, damit ich nicht von den großen, gottgefälligen, richtigen Gerippen zu Boden getreten werde, die vorandrängen, um mit ihrem guten Gewissen als die Allerersten zu kommen. Aber plötzlich höre ich etwas, das mich so erschreckt, daß ich rasch in den Graben springe und mich ducke. Und lang eh ich etwas sehe, höre ich auch schon, was es ist. Ich kenne den Hufschlag und den Takt im Gang. Und richtig, da kommt er, schlenkernd, in seinem langen Trab, mitten auf der Straße. Den ganzen Zug der Gerippe spaltet er, so eilig hat er's, noch zurechtzukommen als Blutzeuge, eh meine Sache abgehandelt wird. Ich blicke scheu auf und ihm nach, um zu sehen, ob er auch alle Indizien bei sich hat? Ja, er hat nichts vergessen, alles hat er mit sich, das gebrochene Kreuz und das Messer in der Brust! Ganz seltsam wird mir zu Mute, daß er so aussehen soll. Und ich wende mich ab, um seine Brust nicht mehr zu sehen. Aber im selben Augenblick höre ich mitten durch den schweren Rassellauf ein paar zarte Glockentöne, so fein und spröde wie der Silberklang von Schlittenglocken. Sollte er sich mit einem Glockenspiel aufgeputzt haben, zu Ehren des jüngsten Gerichts? Oder hat er geglaubt, es sei Schlittenbahn auf der großen Himmelsstraße? denke ich bei mir selber und seh mich wieder nach ihm um. Und wie ich nähersehe, entdecke ich – was ich am wenigsten erwartet hätte – ein kleines phosphorleuchtendes Kinderskelett auf seinem Rücken. Da saß es und läutete so fein mit den zarten kleinen Knöchelchen, als wäre es ein richtiges Glockenspiel und nicht das Skelett des armen, totgeborenen Kindes ... Das Kind hatte ich ganz vergessen! ... Aber auch das hat er als Zeugen gegen mich mitgenommen ... Ich habe wahrhaftig keinen besonderen Grund, zu eilen, daß ich zum Richtstuhl komme. Ach nein, dahin komme ich noch immer früh genug, denke ich, während ich im Graben sitze ...

Trotzdem, als zuletzt die Cherubim kommen und die Nachzügler vor sich her treiben, muß auch ich durch die Pforte. Aber da tu ich mich zusammen mit zwei andern Aschenhaufen, die es gleichfalls nicht eilig gehabt haben, und als wir so vor den Richter treten als Eins in Dreieinigkeit, ist selbstverständlich keine Rede mehr von Identifizierung oder sonstigen Prozeduren unsretwegen, so viel auch der Teufel protestiert. Aber lange, noch lange höre ich von einem Lusthaus im Paradies her, wieder Hengst mit den Vorderhufen auf einem der erloschenen Sterne im Himmelsboden des Richtersaals scharrt und mich doch nicht mehr hervorscharren kann.

Ich glaube fast, er ist um seiner Störrischkeit willen in die Hölle gekommen und das totgeborene Kind mit ihm, weil es auf seinem Rücken saß und eingeschlafen war ...


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