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Die Jahre hinken mühselig hin; und die paar Lichtblicke, die auf den Pfad des einsamen Dulders fallen, sind Almosen für den armen Pilger nach einem unbekannten fernen Ziel.
Er denkt an eine 10. Symphonie, an ein Requiem, an ein Oratorium »Sieg des Kreuzes«, denn er fühlt zu tief, daß die Erde im Zeichen des Kreuzes steht, und daß das Kreuz siegen müsse über alles, was vergänglich ist; aber ihm graut vor dem Anfang so großer Werke – – irgendwie ist etwas am Sterben, und dagegen sind die sommerlichen Kuraufenthalte in Baden machtlos.
Stephan Breuning ist erschrocken über das Aussehen des Meisters, als er ihn nach längerer Zeit wieder zu Gesicht bekommt. Der körperliche Verfall ist beängstigend: ein schwerkranker Mann tritt ihm entgegen, kaum zu erkennen; der einst so kraftvoll, selbstbewußte Meister – innerlich gebrochen und früh gealtert!
In der Nähe des Jugendfreundes, der sich mit seiner Frau und seinem Söhnchen Gerhard, Beethovens »Ariel«, des Leidenden annimmt und ihm das fehlende Familienleben einigermaßen ersetzt, hat der Meister eine schöne geräumige Wohnung in der Schwarzspanierstraße, in dem ehemaligen Klostergebäude der spanischen Benediktiner, bezogen: selbst Theresa hätte diese Behausung nicht für zu gering befinden können; sie ist mit leidlichem Wohlstand ausgestattet: hier meint der kranke Meister »wie ein altes Kind unter guten Menschen seine irdische Laufbahn zu beschließen« – doch denkt er, dazu ist noch lange Zeit.
Wien, das leichtlebige, schnell vergeßliche, hat seinen großen Genius alsbald wieder aus den Augen und mehr noch aus dem Sinn verloren, bis eines Tages wieder die Alarmnachricht durch die Stadt läuft: Beethoven schwer erkrankt – in materiellen Sorgen – die Engländer haben eine große Sammlung eingeleitet – – –
Darüber ist man in begreiflicher Aufregung, besonders wegen der Engländer – – Man schämt sich ein bißchen, daß man wieder einmal vor dem Ausland blamiert ist; man will sich beeilen, das Versäumte nachzuholen – – aber ein Größerer ist all den verspäteten Liebeserweisen zuvorgekommen, der »Dämon«, der dem Meister schon seit dessen Jugendtagen dunkle Sendboten schickte und nun in höchsteigener Person ans Tor klopft: der Tod – – –
In anscheinender Bewußtlosigkeit, nur von wenigen Getreuen umgeben, liegt der Meister auf dem Schmerzenslager.
Während seine Augen geschlossen sind, und die Umstehenden seine Auflösung erwarten, umgaukeln ihn freundliche Bilder. Sein Geist wandert umher an den geliebten Stätten seiner Bonner Jugend; die ernste schöne Frau, seine Mutter, neigt sich zu ihm und will ihn in ihre Arme schließen, es ist ihm, als ob er heimgekehrt wäre, ein müder Wanderer, um auszuruhen bei den Seinen. Er sieht sich wieder mitten im Freundeskreise des Hauses der Hofrätin Breuning; der Schattenriß Leonorens, der ihm kürzlich noch einmal in die Hände gekommen ist, gewinnt Leben und Gestalt in voller Jugendanmut, wie er sie immer vor Augen gehabt hat seit damals, als er in die Fremde ging, um niemals wiederzukehren. Sie faßt ihn an beiden Händen wie in jener Stunde und nimmt Abschied von ihm, er sieht wieder die heimliche Träne, die sie verstohlen fortwischt, und dann zerfließt die Gestalt – weiter, weiter geht die Wanderung, und er spürt, daß sie ungesehen an seiner Seite wandelt. Er fühlt, daß er an der Hand eines Liebesengels geht, der ihn weiterführt, höher und höher empor wie durch ein steiles Gebirge, fern und hoch über Wolken; in den Tälern wallen Nebelgestalten, unholde Gesichter, dämonische Fratzen grinsen herauf und wollen ihn fassen, ein dissonanzenreicher Geisterchor zieht hinter ihm her und will den Geängstigten umringen und in die Tiefe ziehen – – – die Angst schnürt ihm die Kehle zu, er will schreien: »Halte mich, ich stürze!«, und zugleich fühlt er eine grausende Sehnsucht, in der Nacht, die ihn umklammert, zu versinken; wohlig weiche Arme umschlingen ihn: Lorelei – Giulietta! Vier klopfende Töne hämmern in sein Ohr, das Zaubergesicht der Holden verzerrt sich höhnisch, Abscheu erregend – ein kaltes satanisches Antlitz starrt ihm an ihrer Statt medusenhaft entgegen. Und immer dieses wahnsinnige Pochen und Hämmern, als ob die Hölle unter ihm entfesselt wäre, anzuhören wie Meeressturm, wie das Brechen und Bersten am beginnenden Weltgericht: jetzt erkennt er das furchtbare Gesicht: mein Dämon im Ohr! Dunkel wird es vor dem Blick, Finsternis deckt ihn zu; er fühlt die Hand, die ihn nicht losläßt: er hebt die Augen empor zu dem Genius, der ihn gehalten und geführt hat, und sieht ihm voll in das leuchtende Gesicht, das so freundlich mild herabblickt wie das liebliche Venusgestirn zwischen zerfetzten schwarzen Wetterwolken – es ist nicht Leonore, die er zu grüßen glaubte, es sind die Züge Theresas – – – Weiter führt ihn dieser Genius zwischen hohen ernsten Bäumen an den still ruhenden Teich, darin der Abendhimmel glänzt, weiter nach dem Hintergrund, wo die marmorweiße griechische Traumgöttin thront und über den niederen Mauersockel die Schattenhäupter der alten Linden hinaussehen in ein arkadisches Land voll Hirtenfrieden: Martonvásár – – – Dort sitzen sie am Mauerrand im flüsternden Gespräch von Seele zu Seele, schier ohne Worte. Sein unruhiges Herz fühlt sich jetzt erst ruhig und geborgen in dem Gedanken an die Unsterbliche, der ihm in schlimmen Zeiten, als ihn die Verzweiflung übermannen wollte, Halt und Trost gegeben hat, der ihn den Weg führte nach der Liebe grenzenlosem Reich, ins Elysium – – – Nun erst wird ihm ganz selig zu Sinn, wie einem, der das verheißungsvolle Ziel seines Wanderns und Sehnens bereits grüßt, und seine Seele spricht: »Wohl mir, daß es nun doch erreicht ist!« Eine plötzliche Angst will ihn erfassen: »Laß mich nur nicht zurück in jene dunkle Welt der Leiden unter mir, der ich kaum entronnen bin – – noch läßt sie mich nicht los und ruft mich: hörst du das Donnern, das Schicksalspochen, das mir solange im Ohr und in der Seele hämmerte – – der Dämon will mich wieder haben, ich will nicht mehr zurück – – – ach, noch bin ich nicht befreit – – –« »Fürchte nichts!« antwortet mild und ruhig der sanfte Genius des Todes, der ihn heimführt in die ewige Heimat: »ich halte dich – – – – – – – – – – – – –«
Ein starkes Gewitter ging um die fünfte Stunde des 26. März nieder – ein Blitz fährt prasselnd mit furchtbarem Donnerschlag herab und erleuchtet geisterhaft das Sterbezimmer. Ein dichtes Schneegestöber draußen, zuckende Blitze und fortrollende Donnerschläge – – –
»So pocht das Schicksal an die Pforte – – –«
Der Meister, der seit dem vorigen Nachmittag nicht mehr erwacht ist, öffnet plötzlich die Augen, erhebt die rechte Hand mit geballter Faust und blickt mehrere Sekunden lang starr in die Höhe mit ernster, drohender Miene, als wollte er sich noch einmal mit dem Dämon messen Aug in Auge, mit dem Schicksal, das er in seinen Symphonien immer wieder zum Kampf aufgerufen bis zum endlichen Sieg.
»Komme, wann du willst, ich gehe dir mutig entgegen – –!«
Seine erhobene geballte Rechte sinkt wieder nieder; die Augen schließen sich zur Hälfte – – – – – –
Nach wenigen Augenblicken läuft die Kunde durch die Stadt:
»Beethoven ist nicht mehr!«
Der Himmel hatte sein Akkompagnement zu dem Heimgang eines ganz Großen gegeben, ähnlich dem Trauermarsch auf den Tod eines Helden in der »Eroika«. Wie Elias auf dem Donnerwagen war die Seele des großen Meisters in seine ewige Heimat entschwebt, die er in seiner Neunten, auf den Flügeln seines Genius vorauseilend erahnt, erspäht, erlauscht hatte, und dahin seine Sehnsucht an der Hand des Liebesengels ging.
Wie ein Held wurde er zu Grabe getragen. Diesmal säumte Wien nicht und war auf den Beinen wie immer, wenn es eine »große Leich« gab. Die Stadt ehrte ihre Großen; besonders wenn sie tot sind.
Zwanzigtausend Menschen folgten dem Leichenzug; zweihundert Wagen fuhren hinter dem Sarg hinaus zu dem Zyklopentor des stimmungsvollen Währinger Friedhofs, mehrere Hofwagen darunter, und in einem ein tiefverschleiertes Frauenbild: Theresa – als Stiftsdame. Sie hatte sich von aller Welt zurückgezogen und lebte in frommer Abgeschlossenheit dem Vergangenen und seligerer Zukunft. Martonvásár stand seitdem öde und verlassen; nur der Geist der Liebenden zog wie ein seufzender Hauch um die alten Linden und um das Marmorbild der Göttin der Träume – – –
Was irdisch und vergänglich ist, verweht. Die Erdenspur verwischt. Nur der Geist bleibt, der brausend durch seine Musik fährt und die Hörer im Innersten aufrüttelt. Es ist wie Pfingstwehen.
Auch die geringe irdische Habe des Meisters ging alsbald in alle Winde wie Spreu. Der Jugendfreund Steffen Breuning ordnete den Nachlaß. Einer Kassette, die er öffnet, entfällt ein altes zusammengefaltetes, beschriebenes Blatt.
Ein Liebesbrief.
Die Freunde stehen vor einem Rätsel.
»Wer ist die unsterbliche Geliebte?«
Keiner weiß es.
So tief hat der verewigte Meister sein Geheimnis gehütet.
Die Musik allein trägt das Geheimnis weiter. Oh, wer's doch verstände! Die Neunte! Ein einziger Hymnus an die Unsterbliche!
Und das Lied:
»Einst, o Wunder! entblüht auf meinem Grabe
Eine Blume der Asche meines Herzens – – –«
Der Ton und das Lied verwehen nicht.
Und auch dieses vergilbte Blatt nicht. Zeugnis tragischer Liebe. Neben dem Heiligenstädter Testament ein Dokument dieses Herzens. Und ein Vermächtnis an die Menschheit.
Ein kongenialer Dichter, Franz Grillparzer, gibt diesem Vermächtnis aus leidverwandtem Schicksal Wort und Deutung, als dem Meister ein Grabmal am Währinger Friedhof gesetzt wird – das Dichterwort klingt fort durch alle Zeiten mit der Mahnung an die Menschheit:
»Selten sind sie, die Augenblicke der Begeisterung in dieser geistesarmen Zeit – – Heiliget euch! Der hier liegt, war ein Begeisterter. Nach einem trachtend, um eines sorgend, für eines dürstend, alles hingebend für eines: so ging dieser Mann durchs Leben. Nicht Gattin hat er gekannt, noch Kind; kaum Freude, wenig Genuß. Ärgerte ihn ein Auge, er riß es aus und ging fort, fort, fort bis ans Ziel. Wenn noch Sinn für Ganzheit in uns ist, in dieser zersplitterten Zeit, so laßt uns sammeln an seinem Grab. Darum sind ja von jeher Dichter gewesen und Helden, Sänger und Gotterleuchtete, daß an ihnen die armen zerrütteten Menschen sich aufrichten, ihres Ursprungs gedenken und ihres Zieles – – –!«
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