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IV. Kapitel.

Schon von frühem Morgen an war der Meister mit wahrem Bienenfleiß tätig; der Vormittag brachte allerlei Besuche, das Vorzimmer war von Menschen angefüllt, sechs bis acht Personen, die geduldig warteten, bis sie der alte Diener in das Allerheiligste vorließ, nachdem sie angemeldet waren: Orchesterdirektoren, der Mozartschüler Süßmayer, Schuppanzigh; mancher mußte unverrichteter Dinge wieder abziehen, wenn der Meister nicht bei Laune war.

Nur der alte Krumpholz, Violinist im alten Hoftheater, hatte jederzeit Zutritt. Er hatte ein feines, richtiges Gefühl für Tonkunst, ein untrügliches Gehör; in der Lehrzeit bei Haydn war er der eigentliche heimliche Berater, dem Beethoven, der sonst sehr zurückhaltend war mit seinen neuen Schöpfungen, alles vorspielte und jede Idee mitteilte. Ihm war der Meister von Herzen zugetan als seinem musikalischen Intimus; wogegen er erklärte, daß er von Haydn eigentlich nichts lernen konnte, und daher den Wunsch Haydns, er möge auf seine durch Lichnowskys Vermittlung bei Artaria erschienenen Trios unter seinem Namen die Bemerkung »Schüler Haydns« setzen, rundweg ablehnte. Das war zugleich auch die Antwort auf den bekannten Vorbehalt des Altmeisters gegen das dritte Trio.

Krumpholz, sein Narr, wie ihn der Meister wegen seiner Verzückung und Anhänglichkeit nannte, war mit dem Musiker und Sänger Czerny erschienen, der seinen begabten Sohn Karl mitgebracht hatte; der Meister sollte diesen in die Lehre nehmen.

Als sie in das Zimmer eintraten, kam ihnen Beethoven entgegen, in langhaariges, dunkelgraues Zeug gehüllt, so daß der junge Karl Czerny glaubte, Robinson Crusoe vor sich zu sehen, der eben seine Knabenlektüre bildete und seine Phantasie mächtig anregte. Wattebauschen steckten in seinen Ohren, der Meister klagte über Sausen im Ohr, dann über Koliken, die ihm zusetzten. Die Kompositionen zu seiner ersten öffentlichen Akademie seien knapp vor der Aufführung fertig geworden, während er unter heftigen Leibschmerzen, seinem alten Übel, litt; ein Arzt habe ihm Landaufenthalt verschrieben, ein anderer Pillen; dieser kalte Bäder, jener lauwarme.

Nach den Klagen über die verschiedenen Miseren führte der Meister seine Besucher ans Klavier heran und bedeutete dem Vater Czerny, indem er ihm ein Manuskript reichte: »Ich hab's kürzlich niedergeschrieben – eben jetzt brennt ein lustiges Feuer im Ofen, sehen Sie, und da soll es hinein.«

»Nun wir wollen einmal sehen«, sagte Krumpholz, der Narr, und las mit dem alten Czerny das Blatt durch und las es immer wieder.

»Du gütiger Gott!« jammerte der Narr, »in den Ofen! Welche Sünde!«

»Ich will's mal probieren,« meinte Czerny, »wenn es der Meister hören will.«

»Nun, so probiert es, wenn Ihr wollt«, war die Antwort.

Der Sänger begann, und Beethoven, eben noch finster und unruhig, wurde ernst; als das Lied zu Ende war und Czerny mit Krumpholz vor Begeisterung überfloß, sagte er ganz heiter:

»Nein, nein, lieber Alter; die Adelaide werden wir schon nicht verbrennen!«

Der junge Czerny hatte unterdessen Zeit, sich in dem Zimmer umzusehen. Es kam ihm recht wüst und zyklopenhaft vor. Ein wunderliches Durcheinander von Büchern, Musikalien und Briefen in allen Ecken und Enden, auf dem Klavier, am Fußboden und in den Winkeln. In einer Zimmerecke war ein kleiner häßlicher, rothaariger Mensch beschäftigt, in das Chaos Ordnung zu bringen; kostbare Originalmanuskripte, flüchtige musikalische Notizen, die Niederschriften unsterblicher Gedanken, gedruckte Noten, Korrekturbogen, die der Erledigung harrten, lagen wirr durcheinander und waren nun halbwegs gesichtet; aber der Meister, der ein bestimmtes Manuskript suchte, warf wieder alles kunterbunt durcheinander, darüber der kleine rote Kerl in unbändige Wut geriet und schrie, daß alles vergebliche Arbeit sei, und daß er sich einen anderen suchen möge, der ihm den Narren abgebe. Der Meister wieder beschuldigte den Famulus, daß er alles Wichtige und Kostbare verräume, so daß sich überhaupt kein Mensch mehr auskenne, und daß die scheinbare Unordnung nur eine Art höhere Ordnung sei, die Karl eben durch seinen blinden Eifer gestört habe. Es gab heftige Worte auf beiden Seiten mit dem Resultat, daß der Rothaarige davonlief.

Aus dem Zusammenhang der Debatte und den aufklärenden Äußerungen des Meisters ging hervor, daß dieser Karl sein Bruder sei, Musiker und nun auch Beamter in der Staatsschuldenkassa; er habe ihn, ebenso wie den Bruder Johann, der in einer Apotheke untergekommen sei, nach Wien kommen lassen, um besser für beide sorgen zu können, nachdem er, der Meister, als der Älteste, schon in Bonn gleichsam die Vaterstelle an ihnen vertreten und für die Ausbildung und Erziehung sich bemüht habe. Aber es sei ein rechtes Kreuz mit den Brüdern. Er habe gehofft, dankbare Hilfe an ihnen zu finden, er brauche eben jemand zur Erledigung der Korrespondenz und der geschäftlichen Angelegenheiten, für die ihm weder Zeit noch Geduld bliebe, so wichtig sie auch sind; zuerst habe ihm Johann Sekretärsdienste geleistet, aber mit ihm ging's gar nicht, und jetzt sei Karl eingesprungen, dieser nervöse, aufgeregte Mensch, mit dem auf die Dauer ebensowenig auszukommen sei. Er müsse doch wieder selbst auf alle Dinge sehen, sonst ginge alles schief; das eine oder andere verschwindet, man wisse gar nicht wie – kurzum nichts als Ärger!

»Das hat man von den lieben Brüdern! Eigentlich kann ich keinem vertrauen.« Mit diesem bitteren Wort schloß der Meister seine Klage. »Und ich brauche doch jemanden; der Alltag zerstört mich!«

Der Meister, im übrigen wohl befriedigt von dem guten Eindruck, den »Adelaide« auf die begeisterten Zuhörer machte, war gnädig gestimmt und nahm den jungen Czerny als Schüler auf, obwohl er hinzufügte, daß der Unterricht für ihn eine harte Fron sei. »Was hat sich doch die gute Hofrätin Breuning in Bonn für redliche Mühe gegeben, mich in der Jugend bei der Stange zu halten,« äußerte er erinnerungsselig, »wenn ich beim Grafen Westphal, wo ich Stunden zu geben hatte, vor der Haustür wieder umkehrte, weil es eben manchmal beim besten Willen nicht ging. Aber sie beobachtete mich vom Fenster aus, und dann gab's immer eine Strafpredigt. Wenn aber manchmal gar nichts half, dann pflegte sie zu sagen: er hat eben heute wieder seinen Raptus! Das ist mir aus der Jugend geblieben, der Raptus; damit man es nur weiß, wenn ich ab und zu meinen Schüler unverrichteter Dinge wegschicken muß. Nun setz dich her, mein Junge!«

Der Knabe spielte etwas vor aus Mozarts großem D-Dur-Konzert; der Meister rückte näher, spielte mit der linken Hand bei den akkompagnierenden Passagen die Orchestermelodie mit und äußerte sich wohl zufrieden.

»Der Knabe hat Talent, schicken Sie ihn wöchentlich einigemal zu mir.«

Krumpholz, sein Narr, war entzückt über den Ausspruch: drei Beglückte verließen das Haus.

Nachmittags kam Bruder Karl wieder zurück, etwas kleinlaut. Aber es war schon Ferdinand Ries da und hatte sich, wie sooft schon, über den Haufen hergemacht, um halbwegs Ordnung zu schaffen, eine reine Sisyphusarbeit, denn alsbald war ja doch alles wieder durcheinandergeworfen. Meister Ludwig schickte den Bruder weg.

»Laß das; das macht jetzt schon ein anderer!«

Wieder ging Karl wütend davon.

»Du kommst schon wieder,« rief er unter der Tür, »wenn du mich brauchst, aber dann kannst lange warten, bis ich nochmals einen Narren abgebe.« Und schlug die Tür krachend hinter sich zu.

»Der betrügt mich doch nur, wie mich Johann betrogen hat«, äußerte der Meister mit schlimmem Verdacht; »nie mehr über meine Schwelle!« Er rang förmlich die Hände: »Ach wohin wird das noch führen, wenn man sich nicht einmal auf die eigenen Brüder verlassen darf!«

Der Meister tat sich wirklich schwer mit dem Alltag.

Einige Tage später war Bruder Karl wieder da. Ganz verändert; grinsend freundlich, schmeichlerisch.

»Lieber Ludwig, wie geht's dir? Ich hab's gar nicht mehr ausgehalten vor Sehnsucht, dich zu sehen!«

Gerührt über soviel Liebe, schloß Ludwig seinen Bruder in die Arme.

»Herzensbruder, daß du nur wieder da bist! Du siehst ganz schlecht aus; fehlt dir etwas?«

»Ach Ludwig, ich wollte dir eigentlich gar nichts sagen, um dir das Herz nicht unnötig schwer zu machen – aber, aufrichtig gestanden, freilich fehlt mir etwas: du weißt, der kleine Gehalt, und bis zum Monatsende ist weit; ich getraue mich gar nicht zu fragen: könntest du mir mit einer Kleinigkeit aushelfen?«

»Aber natürlich, Herzensbruder! Ich bin zwar gerade auch nicht bei Kasse, und siehe, der Hauswirt hat einen Zettel heraufgeschickt wegen der schuldigen Miete; die 600 Gulden Jahresrente, die mir Fürst Lichnowsky ausgeworfen, erlauben auch keine allzu großen Sprünge – aber das tut alles nichts; abends kommt Freund Amenda, da wollen wir sehen, was sich vorläufig tun läßt.«

Karl war schlau; er wußte, wie er den Bruder zu nehmen hatte, der dankbar war für ein bißchen Liebe, wenn es auch nur eine sehr interessierte Liebe war; er nahm sie für echt.

»Aber dem Johann geht's doch gut in seiner Apotheke; hat dir der nicht beispringen können?« fragte der Meister.

»Lieber Ludwig,« beteuerte Karl, »du weißt doch, was Johann für ein selbstsüchtiger, aufgeblasener Mensch ist. Dem um etwas zu kommen, da ist man schon beim Rechten!« Und nun legte er los und schimpfte in einem Atem über den abwesenden Bruder. Er wußte, daß auch Ludwig auf ihn nicht gut zu sprechen war, und redete dem Meister zu Gefallen.

»Ja, ja,« sagte Ludwig, »ich kenne ihn; und in einigem hast du recht. Ein undankbares Geschöpf ist er, und das kränkt mich!«

»Und gegen dich hat er es scharf,« schürte Karl, »daß du nichts Rechtes bist und auch nichts Rechtes werden wirst: er beurteilt eben alles vom Geldstandpunkt; wer nichts hat, der gilt ihm nichts!«

Das brachte Ludwig erst recht gegen Johann auf: »So, also das ist seine Meinung! Der Elende, der alles, was er ist, mir zu verdanken hat! Seine Stellung, sein Einkommen, alles, was er ist und hat! Oh, dieser Mißratene! Sei nur guten Muts, Karl, du brauchst dich nicht erniedrigen vor ihm, ich werde für dich sorgen, wie ich früher gesorgt habe für euch beide!«

Der Familiensinn und das Pflichtgefühl, ein großväterliches Erbe, waren stark in dem Meister, und Karl verstand es vortrefflich, diese Tugenden für sich auszubeuten.

Abends kam wirklich der junge kurländische Theologe Amenda, der in Wien einige Studienjahre verbrachte und im Hause des Fürsten Lobkowitz Vorleser war. Dort hatte ihn der Meister kennengelernt und sofort eine warme Freundschaft zu ihm gefaßt. Amenda begleitete ihn oft auf Spaziergängen, verbrachte halbe Nächte in seinem Quartier, wo gemeinschaftlich musiziert wurde, denn Amenda war auch ein guter Violin- und Cellospieler; nebstbei war er Lehrer bei Mozarts Kindern, nachdem die Witwe Mozarts wieder geheiratet hatte und sich in guten Verhältnissen befand.

Fast sprichwörtlich war die Unzertrennlichkeit der beiden Freunde geworden, daß man rief: »Wo ist der andere?«, sobald man den einen sah.

In dem freundschaftlichen Beisammensein des Abends wurde fleißig musiziert, und der Meister phantasierte wundervoll auf dem Klavier.

Schließlich sagte Amenda: »Jammerschade, daß solche herrliche Musik mit dem Augenblick verschwindet, in dem sie geboren.«

»Du irrst«, sagte Meister Ludwig und wiederholte die extemporierte Phantasie ohne jede Abweichung.

Im Vorzimmer wurde heftiger Wortwechsel hörbar, der Diener wollte einen robusten Mann abweisen, der indessen den Alten beiseite schob und mit kurzem Anklopfen ungestüm hereintrat: »Mein Geld muß ich haben, sonst haben Sie morgen die Kündigung.«

Der Hausherr.

Ach, daß diese gemeine Prosa den hochbeschwingten Augenblick stören muß!

»Geld, Geld! Das ist leicht gesagt! Woher nehmen, wenn man's just nicht hat!«

»Nun, das wird doch nicht schwer sein«, meinte Amenda, der sich ins Mittel legte, um einen unliebsamen Auftritt zu verhüten. Denn der Meister wollte Grobheit mit Grobheit erwidern und den ungebärdigen Mahner vor die Tür setzen. Amenda hieß den Mann, im Vorzimmer zu warten oder in einer Viertelstunde wiederzukommen.

»Nun?!« wandte sich Meister Ludwig fragend und erwartungsvoll an Amenda.

»Nichts leichter als das«, erwiderte dieser kaltblütig. »Ich gebe dir ein Thema auf: Freudvoll und leidvoll. Du hast eine Viertelstunde Zeit zur Variation.«

Der Meister begriff nicht, was Amenda wollte, aber er ahnte einen dunklen Sinn und fügte sich.

Als die Zeit um war, gab er ihm mürrisch das Blatt: »Da ist der Wisch!« So begann die Bekanntschaft mit Goethes Dichtung.

Amenda ließ den Wirt wiederkommen und gab ihm das Blatt mit der Anweisung, sich das Geld bei den Verlegern Beethovens Steiner und Haslinger, den »Paternostergäßlern«, einzukassieren.

Etwas mißtrauisch nahm der Hauswirt diesen sonderbaren Schein in Empfang; es war kurz nach sieben Uhr, wenn er sich beeilte, so konnte er den einen oder anderen Chef der Verlagsfirma noch antreffen.

Es dauerte gar nicht lange, so kam der Mann hocherfreut zurück und entschuldigte sich wegen seines vorigen allzu aufdringlichen Benehmens; dabei tat er die Frage, ob er noch mehr solcher »Zettel« haben könne.

Dem Bruder Karl glänzten gierig die Augen, als er eine solche schnell funktionierende »Notenpresse« sah.

Ludwig erinnerte sich, daß ihn Karl angepumpt hatte; er ließ sich ein neues Thema aufgeben, und in einer weiteren halben Stunde hatte auch Karl seinen »Zettel«. »Das muß ich mir merken«, dachte er und empfahl sich eilends, in der Hoffnung, den Laden in der Paternostergasse noch offen zu finden.

Die Freunde waren allein.

Amenda machte eine betrübende Eröffnung.

»Habe ich dir schon gesagt,« begann er, »daß ich im Begriffe bin, Wien zu verlassen?«

»Nein, das darf nicht sein«, erwiderte der Meister erschrocken; »du kannst mich nicht allein zurücklassen in der großen fremden Stadt.«

»Ich habe eine Anstellung in der Heimat«, erwiderte der junge Theologe, der dem Meister merkwürdig ähnlich sah, besonders wenn er lachte. Ähnliche Züge, ähnliche Seelen – das mochte der geheime Grund der tiefen Sympathie und des Vertrauens sein, das der sonst so leicht mißtrauische Meister für Amenda empfand.

»Du bist nicht allein,« sagte der Theologe, »du hast viele Freunde, die größer und mächtiger sind als ich; was konnte ich armer Student denn dir sein, dem anerkannten, viel umworbenen Künstler, außer daß ich ein Empfangender war und dir dankbar bin dafür.«

»Ich habe viele Bekannte, aber keine Freunde außer dir und etwa Stephan Breuning, Leonorens Bruder, der seit einiger Zeit auch hier ist, wie du weißt, und mir Wegeler, den Bonner Jugendfreund, ersetzt, der nun schon wieder in Bonn ist und mich verlassen hat wie du jetzt, der Glückliche!« Der Gedanke an Leonore stahl sich durch sein Gemüt, als er den Namen Wegelers und Steffens genannt hatte; sie waren ja ein unzertrennliches Bonnsches Kleeblatt gewesen. Und ein noch tieferer Schatten von Trauer senkte sich über ihn. »Jetzt bin ich arm und verlassen!«

»Wieso, Freund?« tröstete ihn Amenda, »du sitzest mitten im Glück, verwöhnt von den Großen, ein Liebling der Frauen – ich wollte, ich wäre an deiner Stelle!«

»Ach, unter diesen elenden egoistischen Menschen,« greinte der unzufriedene Künstler, der leicht zur Misanthropie neigte, »da ist allenfalls der Fürst Lichnowsky, der mir noch der liebste ist; er hat sich wenigstens generös gezeigt. Aber was sie tun, das geschieht doch auch wieder aus Eigennutz, und da kennen sie keine Rücksicht; wenn einem schon das Blut aus den Fingern spritzt, da heißt es trotzdem noch immer spielen, spielen, spielen, und schließlich trotzen sie es einem durch Bitten und Schmeicheln ab. Sie kümmern sich gar nicht darum, daß Phantasieren heißt: die Seele bloßlegen, daß man sich oft dabei wund und elend am ganzen Körper fühlt; für sie ist es ein bloßer Genuß – oh, wie ich diesen Genießerstandpunkt in der Kunst hasse, – wie ich ihn verachte!« –

Und da er schon im Zuge war, so goß er gleich die ganze Schale seines Unmuts aus, gleichviel ob er im Recht war oder nicht.

»Und was die anderen betrifft, wie etwa den Zmeskall, so weißt du, daß er mir ebensowenig wie alle übrigen gefallen kann, sie sind und bleiben zu schwach zur Freundschaft. Ich betrachte sie als bloße Instrumente, auf denen ich spiele, wie's mir gefällt; ich taxiere sie nach dem, was sie mir leisten. Seit ich mein Vaterland verlassen habe, bist du einer, den mein Herz erwählt hat und mit dem ich wie mit meinen Jugendfreunden das Vergnügen des Umgangs und der uneigennützigen Freundschaft teilen kann. Und nun gehst auch du, aber das muß eben sein – es ist nun mein Los, und das heißt: allein sein!«

Amenda wunderte sich ein wenig über das harte Urteil, das der Meister über seine Wiener Freunde fällte; doch er wußte, daß er die Übertreibung liebe und daß ihm jene doch mehr waren als bloße »Instrumente«; es war eben Seelenbekümmernis über das Scheiden des Freundes, die aus ihm sprach: sein Gemüt war verfinstert. Ihn auf freundlichere Gedanken zu lenken, brachte Amenda das Gespräch nochmals auf die Frauen; Wegeler wollte wissen, daß der Meister »immer in Liebesverhältnissen« war und mitunter Eroberungen machte, die manchem Adonis, wo nicht unmöglich, so doch sehr erschwert gewesen wären.

Er erinnerte ihn jetzt daran.

Der Meister lächelte wehmütig. »Du weißt, wie ich über diese Dinge denke: die längste Liebe hat nicht sieben Monate gedauert, und betrachtet man's genau, so war's nicht einmal eine Liebe. Die müßte kommen im Sturm, wie eine Katastrophe, die den ganzen Menschen um und um stürzt, das Innerste nach außen – aber ich fürchte, ich bin zu vernünftig dazu, vielleicht auch zu bedenklich und zu sehr an die eine Frau Kunst verschworen, als daß ich den Kopf an eine andere verlieren könnte. Es müßte denn sein, daß sie mich inspiriert und selbst so eine Art Muse wird – aber das gibt es wohl nicht!«

Er sann eine Weile nach und fügte in Erinnerungen verloren hinzu: »Einmal allerdings habe ich eine geliebt, die mir Herzensfreundin und Muse zugleich war: mit ihr wäre ich vielleicht glücklich geworden – vielleicht bilde ich mir das nur ein – genug an dem, sie gehört einem andern, du weißt ja: Leonore ... Wegeler irrt sich; seitdem ist mir Frau Venus beharrlich aus dem Wege gegangen; ist auch besser so – – –«

Eine Pause entstand.

»Kennst du die Komtessen Brunszvik?« fragte er plötzlich und ganz unvermittelt. »Ich glaube Theresa heißt die eine, Josephine die andere, die mit den Teufelsaugen.«

Amenda verneinte; er kannte wohl den Bruder Franz Brunszvik und erzählte, daß er bei Lobkowitz viel geschwärmt habe von Meister Ludwig; übrigens sei er selten in Wien, meistens in Ungarn auf seinem Gut und in dem kleinen Palais in Ofen-Pest – –

»Das hat mich neulich gepackt bei Lichnowsky, als ich sie zum erstenmal sah«, gestand Ludwig. »Ich dachte unwillkürlich an Leonore – ich bin immer ein wenig unglücklich, wenn ich an sie denke –, diesmal aber war ich wie verzaubert, ganz getröstet: ich hatte das Gefühl, die könnte mir ersetzen, was die Jugendliebe war, vielleicht mehr als das; zum erstenmal, daß Leonore in meinem Gefühl ausgelöscht war; aber dann war ich erst recht unglücklich: ich sah die ganze Hoffnungslosigkeit; diese stolzen Gräfinnen, auch wenn sie liebe Augen machen und gar süß und vertraulich tun –, es gibt eine Schranke, du kommst nicht hinüber, man braucht nur die hochgeborene Gräfin-Mutter anzusehen, liebenswürdig und eiskalt! Und wenn ich mich jetzt genau erinnern will, weiß ich gar nicht mehr recht, welche mich mehr bezaubert hat, die Theresa oder die Josephine; beide fließen mir jetzt in eine zusammen: die mit der Haarkrone und dem wunderbar schönen, fast traurigen Gesicht und die andere mit den brennenden Augen, die wie dunkles Feuer lodern: nein, Amenda, ich bin froh, daß ich sie nicht kenne und wahrscheinlich nicht mehr sehe, es wäre geschehen um meinen Frieden: freudvoll und leidvoll, das wäre jetzt mein Los; besonders aber leidvoll – es war schon das richtige Thema, das du mir aufgegeben hast.«

Der Meister trat ans Klavier, er war aufs neue angeregt, immer wenn er im Herzen Sturm fühlte, und begann zu phantasieren. Der Schmerz, der Freund, die Liebe, sie waren vergessen, oder sie traten in anderer Gestalt hervor, als Klangerscheinung, eine geisthafte Existenz, in der etwas wie Schicksal lag, eine Ankündigung.

Unheimliche, düstere Klopfmotive melden sich, ein dämonischer Anfang, dem bald ein Ausbruch von Leidenschaft folgt, ein tönendes Gewoge, wie wenn die See heult. Dann ein traumhaftes, gebetartiges Thema, wie eine himmlische Erscheinung, engelmild. Und wieder der Aufschrei der Leidenschaft, verzweifeltes Ringen nach dem Licht und dem Frieden, nach der Engelgleichen, im Kampf mit Dämonen, wahre Seelenstürme bis zur grausigen Wildheit gesteigert.

Es waren Ahnungen von Dingen, die möglich sind oder gar unvermeidlich.

Ab und zu machte der Meister Notizen, um diesen oder jenen Gedanken der Improvisation festzuhalten. »Das könnte ich brauchen,« sagte er wie zu sich selbst, »das könnte was werden!« Und dann fiel das Wort: »Appassionata müßte man's nennen – –«

Zum endgültigen Abschied Amendas sollte ein Festschmaus veranstaltet werden, den Meister Ludwig in seiner Wohnung gab. Es war damit kein Ohrenschmaus gemeint, der die Gäste entzückt hätte, sondern ein richtiger Küchenschmaus; der Künstler liebte es, sich auch als Kochkünstler zu zeigen, was freilich weniger Entzücken weckte. Der ewigen Gasthausküche – beim »Schwanen«, oder im »Fischtrüherl«, oder im »Jägerhorn«, oder beim »Römischen Kaiser«, beim »Schwarzen Kamel«, im »Blumenstöckl«, in der »Eiche« auf der Brandstatt und wie sie alle hießen, die bevorzugten Altwiener Lokale, wo gerne Musiker verkehrten – überdrüssig geworden, kam er auf die barocke Idee, zu der ihn sein Unabhängigkeitssinn trieb, gelegentlich sein eigener Küchenchef zu sein. Der Diener verstand nichts von der Kocherei, also hieß es eigenhändig zupacken; der Meister wollte den Freunden beweisen, daß er auch auf diesem Gebiete seinen Mann stellen könne. Um nicht betrogen zu werden, was seine ewige Furcht war, begab er sich schon am frühen Morgen in eigener Person auf den Markt, wählte mit großer Umsicht und Kennermiene, schimpfte über die Preise, feilschte – und kaufte schließlich schlecht und teuer.

Die Freunde wußten schon, was ihrer bei Meister »Mehlschöberl« – das war sein Spitzname als Koch – harrte. Es waren nur die Intimsten geladen: außer Amenda als dem Gefeierten das »Falstafferl«, »Baron Dreckfahrer«, nämlich Zmeskall, der Kapellmeister Hummel, kurz »Natzl« genannt, und Steffen Breuning, der Bonner Jugendfreund, der in der Hofkriegskanzlei tätig war. Die Freunde hatten verabredet, vorher insgesamt in einer Gastwirtschaft ein tüchtiges Frühstück zu nehmen und von dort aus zum Diner in des Meisters Wohnung zu ziehen, wo man die Speisen als bloße »Schaugerichte« unbehelligt vorüberspazieren zu lassen entschlossen war. Man war gewitzigt. Nur durfte man es »Mehlschöberl« ja nicht merken lassen.

Alles kam, wie man es bei solchen Anlässen schon gewohnt war: der Hausherr empfing seine Gäste als Koch im Nachtjäckchen, eine stattliche Schlafmütze auf dem struppigen Kopf, eine blaue Schürze um die Lenden gebunden, das braune Gesicht brandrot erhitzt wie Meister Vulkan von der emsigen Tätigkeit am Feuerherde.

Die Vorbereitungen zogen sich wie gewöhnlich in die Länge; schon anderthalb Stunden harrten die Gäste der Dinge, die da kommen sollten, geduldig zwar, aber doch mit dem bangen Wunsche, daß die Prüfung gnädig vorübergehen sollte.

Endlich schlug die große Stunde; der Diener begann zu servieren. Man wußte es schon von früher und hatte sich auch diesmal nicht getäuscht: die Suppe war mager wie die Bettelsuppe der Gasthöfe; das Rindfleisch halb gar und zäh, etwa für einen Straußenmagen berechnet; das Gemüse ein Gemengsel von Zellstoff, Fett und Wasser, unvermengt, der Braten halb verkohlt.

Am besten schmeckte es dem Festgeber; der höfliche Beifall der Gäste würzte das Mahl und versetzte ihn in rosigste Laune; aufgemuntert, selbst tüchtig zuzugreifen, würgte jeder ein paar Bissen hinunter und beteuerte, schon übersatt zu sein; im übrigen hielten sie sich wacker an das frische Brot, Obst und Backwerk und besonders an den süffigen Ofener Wein, der Hausmarke des Meisters, und ließen »Mehlschöberl«, die komische Person in der Burleske »Das lustige Beilager«, hochleben. Meister Ludwig war kein Kostverächter, er verschmähte keineswegs einen guten Tropfen; in der Regel aber hielt er sich an klares Brunnenwasser, das er freilich übermäßig und in Strömen trank. Der tüchtige Zug lag schon in der Familie; der Großvater, Hofmusikkapellmeister in Bonn, aus Belgien eingewandert, führte nebenher einen Weinhandel, seine Frau, die Großmutter, erlag der Trunksucht, und leider auch der Vater war ein Trinker und hatte dadurch sich und die Familie ruiniert. Der göttlichen Natur des Meisters lag der Mißbrauch fern; Wassertrinken war kein Laster.

Nur der Kaffee war seine Leidenschaft, den er selbst braute, sechzig Bohnen auf jede Tasse, und der unter seinen Gästen mit Recht berühmt war. Waren auch die lukullischen Genüsse bei solcher Tafel mehr als mäßig, so ersetzten gute Laune und heitere Reden reichlich das Fehlende, und schließlich wurden die Gäste herrlich entschädigt durch das musikalische Nachgericht, das der Meister seinen Freunden bot und das allen die Hauptsache war. Auch das durfte man natürlich nicht merken lassen, denn im Hinblick auf seine Kochkünste war der Meister empfindlicher als auf seine Klavierkünste, darin er viel eher eine Kritik vertrug. Zum Glück ergriff er nur selten das Küchenzepter und entsagte alsbald den Ausflügen auf dieses entlegene Gebiet, durch Magenverstimmungen nachdrücklich gewarnt, die sich regelmäßig nach einem solchen Symposion einzustellen pflegten.

So war allmählich der Nachmittag im schönsten Verein verflogen, man wußte kaum wie; abends entschloß man sich doch, gemeinsam in den »Schwan« zu gehen und dort erst den Scheidenden zu feiern. Das Abschiedsweh wurde in Wein ertränkt, bis endlich spät nachts so ziemlich alle Absterbens Amen waren. Die Narkose erleichterte den Trennungsschmerz, und als man doch am nächsten oder vielmehr übernächsten Tag das bürgerliche Gleichmaß wieder gefunden hatte, war Amenda im Postwagen schon viele Meilen fern, und man konnte kaum mehr denken, daß das Leben die beiden Freunde, die eine Strecke weit so einträchtig miteinander gewandert waren, je wieder zusammenführen werde. Aber gerade die Ferne und Trennung wirkte festigend auf diese eigenartige Freundschaft. Das hatte der Meister schon mit seinen Bonner Jugendfreunden erfahren. Er blieb ihnen treu, weil sie fern waren. Dadurch rückten sie in eine ideale Zone, die keine Trübung durch die sonst unvermeidlichen täglichen Reibungen erleiden konnte. Die Nähe, der tägliche Umgang, war viel gefährlicher. Und der Meister war alles, nur kein bequemer Freund.

Das Frühjahr lockte hinaus; Meister Ludwig entschloß sich auf ärztlichen Rat, einige Wochen eine Badekur in Baden zu machen. Aber auch der kurze Badeaufenthalt war für ihn keine Arbeitspause, sondern erst recht eine ungestörte Gelegenheit zu neuem emsigem Schaffen.

Dem entsprachen auch die umfänglichen Anstalten, die zu solchem Zwecke gemacht wurden.

Eines Morgens schwankte ein vierspänniger Lastwagen mit einem turmhohen Bau von Musikalien, Manuskripten, Notizheften, Büchern und etlichen Gerätschaften zum Linienwall hinaus nach den elysischen Bezirken des lieblichen Badens am Südostrande des Wiener Waldes, wo die Quellennymphe unter klassizistischen Badetempeln ein arkadisches Idyll gefunden hat. Ernste Tannenwälder ziehen die Höhen hinauf, von droben schauen Burgruinen talwärts. Klassizismus und Romantik. So liebt es der Meister, denn beides ist ihm verwandt.

Ferdinand Ries, der Schüler und Famulus, soll binnen wenigen Tagen nachkommen und mit Meister Ludwig die Einsamkeit teilen.

Er selbst wandert zu Fuß dem Wagen voraus, seelenvergnügt. Lerchenjubel, sanfte Lüfte, schaukelnde Kornfelder. Ideen schwirren heran, wetterleuchten durchs Gemüt; das dicke Zimmermannsblei hat zu tun im flüchtigen Festhalten der Eingebungen. Vergessen ist die Welt, der Sänger schwebt schon halb im Elysium. Vergessen auch der Möbelwagen.

Todmüde, staubbedeckt, schweißtriefend kommt der Meister spät abends ans Ziel. Nirgends der Lastwagen zu sehen. Endlich, am Kirchenplatz findet er seine Sachen abgeladen, zu einem Haufen aufgestapelt, eine Rotte Buben herum. Der Kutscher, der sein Geld im voraus empfangen hatte, ist längst heimgefahren.

Zuerst Wut, dann schallendes Gelächter, und schließlich mit Hilfe der Buben ein stundenlanges Bergen der Habseligkeiten in den Mietzimmern, wo dann alles kunterbunt durcheinanderliegt, in gewohnter Weise. Aber, Gott sei Dank, man ist endlich glücklich installiert.

Am übernächsten Tag kommt Ries an, und nun geht das Leben seinen geregelten Gang. Ries ist sozusagen Verbindungsoffizier mit der Außenwelt, er besorgt alles Nötige, begleitet Meister Ludwig auf den ausgedehnten Spaziergängen, macht auch gelegentlich die Kopiatur der neuen Kompositionen, ist Gesellschafter, vernünftig, bescheiden, diskret; er empfängt dafür Unterricht und freie Station.

Eines Abends kommt Ries heim und tritt in das Zimmer des Meisters, prallt aber sofort zurück, als er eine dichtverschleierte, anscheinend junge schöne, jedenfalls aber sehr elegante Dame bei ihm auf dem Sopha sitzen sieht.

Ries fürchtet, daß er ungelegen käme, und will sich sofort unauffällig entfernen. Aber da winkt ihm schon der Meister zu und fordert ihn auf:

»Bleiben Sie nur, und spielen Sie einstweilen!«

Ries setzte sich hin und spielte, indessen hinter seinem Rücken der Meister mit der Dame plauderte. Es dauerte sehr lange.

In einer zufälligen Kunstpause hört der Junge seinen Herrn und Meister zur Fremden sagen:

»Lüften Sie doch Ihren Schleier! Ich komme mir vor wie auf einem Maskenball. Und ich gestehe, daß ich begierig bin – – –«

»Und ich war ebenso begierig auf Sie – ich interessierte mich für den berühmten Künstler; finden Sie das ungewöhnlich oder unrecht? Denken Sie nicht schlecht von mir – – –«

Ries hatte unwillkürlich die Pause verlängert, und der Meister rief ihm sofort zu: »Ries, spielen Sie etwas Verliebtes!« Und dann zur Schönen: »Was ich denke, kann Ihnen ja gleich sein – ich kenne Sie leider gar nicht!« Das Gespräch ging unverständlich fort.

Der Schüler hielt inne.

»Ries, etwas Melancholisches!« befahl der Meister.

»Sie werden mich vielleicht eines Tages kennen,« sagte die Schöne hinter ihm, »aber Sie sollen dann nicht wissen, daß ich es war, die bei Ihnen war. Vielleicht werde ich es Ihnen einmal sagen, vielleicht auch nicht, das hängt von Umständen ab, die ich nicht voraussehen kann.«

Der Meister mußte plötzlich etwas Ungeschicktes gesagt haben, wodurch die Dame beleidigt schien; denn Ries hörte sie plötzlich sagen: »Als Kavalier wissen Sie, daß ich in Ihrem Schutz stehe, besonders in dieser Lage, in die mich mein romantischer Fürwitz und meine Verehrung geführt hat; wenn Sie meinem Ruf schaden, so schaden Sie Ihrem noch mehr, und die Gesellschaft würde Ihnen das nie verzeihen.«

Der Meister suchte nun durch gute Laune wieder gutzumachen, was er verdorben zu haben schien, und schrie dem Klavierspieler, der wieder nachließ, übermütig zu: »Vorwärts, Ries, etwas Leidenschaftliches!«

»Woran soll ich Sie wieder erkennen, schöne Unbekannte!«

»Sie sollen mich nicht wieder erkennen! Ich bin Ihnen eine Unbekannte und will es bleiben. Ob ich schön bin, können Sie nicht wissen.«

»Werde ich Sie je kennen? Ich habe den Wunsch, das Unbekannte lockt, es ist das Romantische! Und man sagt mir nach, daß ich Romantiker bin.«

»Dann wird Sie diese Episode freuen und Ihrer Kunst vielleicht von einigem Gewinn sein.«

»Sie weichen meiner Frage aus, Verehrte. Ob Sie mir ewig Geheimnis bleiben wollen – –«

»Ja und nein – Sie werden mich kennen als eine andere; mehr kann ich Ihnen nicht versprechen – – –«

Der Meister horchte ein wenig auf den Spieler, sprang dann auf und schrie: »Ja Mensch, das sind ja lauter Sachen von mir!«

In der Tat hatte Ries Motive aus des Meisters Ludwig Arbeiten aneinandergereiht und durch kurze Übergänge verbunden, bei der Wahl immer auf die allgemeine Charakteristik bedacht: etwas Verliebtes, etwas Melancholisches, etwas Leidenschaftliches – – es fand sich alles und stimmte vortrefflich.

Die Dame hatte sich erhoben, dankte mit wenigen gewählten Worten für die köstlichen Augenblicke und bat, nicht auf des Rätsels Lösung zu drängen, es würde sich eines Tages vielleicht ganz mühelos ergeben. Sie sagte noch »Auf Wiedersehen!«, machte eine graziöse Bewegung und schwebte hinaus.

Meister und Schüler sahen sich verdutzt an.

»Ries, kennen Sie die Dame?«

Der Gefragte verneinte und gab die Gegenfrage zurück:

»Ja, kennen Sie sie selbst nicht?!«

»Keine Ahnung; sie ist wenige Augenblicke vor Ihnen erschienen und erklärte, sie wolle ungenannt und ungekannt bleiben. Ich möge mir auch keine Mühe geben und nicht auf irgend jemand aus dem Gesellschaftskreis schließen, denn sie gehöre nicht dem Personenkreis an, in dem ich bisher verkehrte, und ich sei ihr bis nun auch da nie begegnet.«

»Hm,« lächelte Ries etwas knabenhaft und sagte großartig: »Galantes Abenteuer!«

»Können Sie sich ungefähr denken, wer sie sein mag?« fragte der Meister. »Kommt sie Ihnen nicht irgendwie bekannt vor?«

»Nicht im mindesten, aber daß sie den vornehmen Ständen angehört, glaube ich durchaus; es muß doch wenigstens eine Gräfin sein, um sich solche Kaprice in den Kopf zu setzen. Eine andere wagt das gar nicht. Vielleicht ist sie eine Ausländerin, eine Russin oder Engländerin, die sind so emanzipiert!«

»Jedenfalls scheint sie jung und schön, zweifellos vornehm. Kommen Sie, Ries, wir müssen herausbekommen, wer sie ist; wir folgen ihr unauffällig nach, und haben wir ihre Wohnung, dann wird sich auch Name und Stand erforschen lassen.«

Sagte es, und stürmte hinaus, Ries ihm nach.

Die Nacht war mondhell; von weitem sahen die beiden ihre dunkle Gestalt, dann war sie plötzlich verschwunden.

Sie liefen, so schnell sie konnten, ein Gewirr von ländlichen Gassen und Gärten; die Geheimnisvolle war nirgends zu entdecken.

Silberhell und tannenschwarz öffnete sich das Helenental, Wasser rauschte und plauderte neben der mondweißen Straße. An ein Nach-Hause-Gehen war jetzt nicht zu denken. Unter allerlei Gesprächen und Vermutungen verging die Zeit, sie wanderten noch gut anderthalb Stunden umher, auf das lebhafteste angeregt.

Beim Heimweg sagte der Meister noch zu seinem Getreuen: »Ich muß herausfinden, wer sie ist, und Sie müssen mir helfen, Ries.«

Noch bis tief in die Nacht saß der Meister am Klavier. Es war ja sein urpersönliches Instrument, sein Seelenorgan, mit dem er vertrauteste Zwiesprache hielt. Was er dem treuesten Freund nicht zu sagen vermochte, weil Worte schließlich unzulänglich werden, das vertraute er dem Klavier an. Sein freies Phantasieren und seine Klaviersonaten waren intimes Bekenntnis, gleichsam Tagebuch. Nur daß niemand recht wußte, was er sich bei seiner Musik dachte. Es war sein tiefstes Geheimnis. Die anderen mochten ahnen; ganz verstehen niemand. Indem er eine verstehende Seele zu ergreifen glaubte, war es schon wieder mehr ihr eigenes Wesen, das sich in dem Tonbild spiegelte und ihr eigenes Gleichnis suchte, als jenes des Meisters, der seine Seele hineingelegt hatte. So blieb es undurchdringliches Mysterium; nur eines wußte man, und das war das unerhört Neue und Bezaubernde: es war Ausdruck des persönlichen Seelenlebens wie nie vor ihm.

Was nun unter seinen Händen am Klavier erblühte, war traumhaft wie die Mondnacht draußen mit ihren lockenden Werbungen und ihrer unerfüllten Sehnsucht. Zerfließende Harfenakkorde in schwermütigen Adagioharmonien, aufschäumende Presti, fiebernde Erregung und darüber schwebender Gesang mit melancholischer Grundstimmung. Ein musikalisches Gleichnis auf das seltsame Erlebnis dieses Abends, darüber der Schleier des Geheimnisses gebreitet war, und das eben deshalb um so aufwühlender wirkte. In flüchtigen Umrissen entstand die sogenannte Mondschein-Sonate.

Als der Meister inmitten der einstürmenden Eingebungen innehielt und bemerkte, daß Ries noch immer wartend dasaß, sagte er nur kurz: »Ich kann Ihnen heute keine Stunde geben«, und vertiefte sich sofort wieder in seine Arbeit. Das war für den Schüler das Zeichen, daß er für diesmal entlassen war und sich stillschweigend entfernen sollte, um den Besuch der Muse, nicht weniger geheimnisvoll als jene schöne Unbekannte, nicht länger zu stören. Immer wieder kehrten die Gedanken zu der Fremden zurück; sie war fast schon unwirklich geworden, eine flüchtige reale Verkörperung der Göttin Phantasie. Keine andere Spur ihrer Anwesenheit war geblieben als jene Skizzen und Entwürfe der neuen Sonate, die aus diesem eigenartigen Vorkommnis entsprossen waren, die geistige Frucht jener mysteriösen Annäherung. Ob sich das Rätsel jemals lösen werde?

Meister Ludwig war bald darauf nach Wien zurückgekehrt. Eines Tages kam Ries in heller Aufregung, er habe die Fremde wiedergesehen. Sie sei in einer Karosse gefahren; er lief hinterdrein, so schnell er konnte; aber alsbald sei der Wagen seinem Gesichtskreis entschwunden. Zufällig sei ihm Zmeskall begegnet, dem er den entschwindenden Wagen habe im letzten Augenblicke zeigen können. Zmeskall, der nur einen flüchtigen Blick erhaschte, meinte, sie sei die Geliebte eines ausländischen Prinzen, wenn ihn der Augenschein nicht täusche. Es sei allerdings fraglich, ob er recht gesehen habe.

Der Meister zweifelte. Es war ihm fast zur inneren Gewißheit geworden, daß er die Geheimnisvolle wiedersehen werde. »Sie kommt wieder,« meinte er, »wer weiß, als was sie sich dann entpuppen wird!«

Und zugleich hatte er das unbestimmte Gefühl, als ob es besser wäre, ihr nicht wieder zu begegnen. Ob sie nicht die Verkörperung eines Verhängnisses sei, das sich ihm in dieser verführerischen Form näherte? Er war eine zu gerade, sittlich gesunde Natur, um an einem so dunklen Spiel sein Gefallen zu haben. Leichtfertige, frivole oder auch nur ungeklärte Verhältnisse waren ihm ein Greuel. »Was hatte die Unbekannte zu verbergen; warum gab sie sich nicht zu erkennen? Hatte sie etwas zu verbergen? Um so schlimmer für sie!« Das waren die Erwägungen, die sich immer wieder einstellten. Eigensinnig liefen die Gedanken zu ihr zurück und ließen ihn Theresa und Josephine fast vergessen. Selbst das Bild Leonorens war entschwunden. Stets drängte sich die Geheimnisvolle vor. Der Meister war schon ärgerlich über sich selbst geworden. »Sie ist wie ein Dämon, der mich unsichtbar verfolgt! Hätte ich sie doch nie gesehen! Was stört sie meine Ruhe?« Und er beschloß, sie hart und abweisend zu behandeln, wenn sie ihm je wieder begegnen würde.


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