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3. Kapitel. Das graue Junge

Es war anders als seine Geschwister. Deren Haarfarbe verriet schon den rötlichen, von der Mutter ererbten Schimmer, während es als das einzige wirklich graue Junge dem Vater glich. Es war ein richtiger Wolf, ein echter Sohn des alten Einauge selbst im Äußern, nur mit dem Unterschiede, daß es zwei Augen statt des einen des Vaters hatte. Die Augen des grauen Wölfleins waren noch nicht lange offen, als es schon mit großer Deutlichkeit sah. Doch als dieselben noch geschlossen waren, hatte es schon gefühlt, geschmeckt, gerochen. Es kannte die beiden Brüder und auch die beiden Schwestern und hatte schon angefangen, auf linkische Weise mit ihnen zu tollen und sogar sich mit ihnen zu zanken, wobei, wenn es wütend wurde, ein drolliger, rasselnder Ton in der kleinen Kehle erzitterte, ein Ton, der später zum Grollen werden sollte. Auch hatte es, lange bevor seine Augen sich öffneten, gelernt, durch Berührung, Geschmack und Geruch die Mutter zu erkennen, die für ihn eine Quelle von Wärme, von flüssiger Nahrung und Zärtlichkeit war. Sie hatte eine sanfte, liebkosende Zunge, die ihm wohltat, wenn sie sein weiches Körperchen berührte, und es drückte und schmiegte sich dicht an sie, bevor es einschlummerte.

Die ersten vier Wochen seines Daseins wurden größtenteils schlafend verbracht, als es aber erst sehen konnte, blieb es länger wach und lernte die Welt, die es umgab, kennen. Zwar war es eine düstere Welt, aber es wußte das nicht, da es keine andere kannte. Sie war nur schwach erleuchtet, aber seine Augen hatten sich noch an kein anderes Licht gewöhnt. Auch war sie sehr klein; ihre Grenzen waren die Wände der Höhle, aber da es keine Kenntnis von der großen Welt draußen hatte, so bedrückte die Enge seines Daseins es nicht.

Es hatte früh entdeckt, daß eine Wand seiner Welt von den übrigen verschieden war; dies war der Eingang zur Höhle und die Quelle des Lichtes. Lange bevor es eigene Gedanken und bewußte Willensregungen hatte, machte es diese Entdeckung, und die Wand übte eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf es aus. Noch bevor seine Augen geöffnet waren und es um sich blicken konnte, hatte das von dort kommende Licht auf seine geschlossenen Lider gewirkt, und Augen und Sehnerven hatten seltsam angenehme Empfindungen verspürt, wenn Licht, Wärme und Farben dieselben trafen. Das Leben in seinem Körper, in jeder Ader desselben, das unbewußte Leben, hatte sich nach diesem Lichte gesehnt und diesen seinen Körper in derselben Weise dahin getrieben, wie sinnreiche Einrichtungen bei den chemischen Bestandteilen der Pflanze dieselbe zur Sonne hintreiben.

Von Anfang an, bevor noch sein bewußtes Leben zu dämmern begann, war es nach dem Eingang zur Höhle gekrochen, und darin war es mit seinen Geschwistern stets einig gewesen. Nie kroch eines von ihnen in die dunklen Winkel der hintern Wand. Das Licht zog sie an, als wären sie Pflanzen; die chemischen Bestandteile, die Leben in ihnen erzeugten, verlangten das Licht als eine Notwendigkeit des Daseins, und die winzigen Körperchen krochen blindlings wie die Ranken eines Weinstocks danach. Später, als jedes persönliche Triebe entwickelte und bewußte Begierden empfand, wurde die Anziehungskraft des Lichtes immer stärker. Immer wieder krochen sie darauf zu und wurden von der Mutter zurückgetrieben. Dabei lernte das graue Junge außer der weichen, liebkosenden Zunge der Mutter noch andere Eigenschaften an ihr kennen. Wie es immer wieder nach dem Lichte kroch, entdeckte es an ihr eine Nase, die durch einen scharfen Puff ihm einen Verweis erteilte, und auch eine Pfote, die sich auf es legte und mit schnellem, wohlberechnetem Stoß es um und um kegelte. So lernte es das, was wehe tat, kennen, und auch, wie man es vermeiden könnte, indem man davor seitwärts oder rückwärts auswich. Dies waren schon bewußte Handlungen und die ersten abstrakten Begriffe, die es sich von der Welt machte. Vorher war es wie ein Automat vor dem, was wehe tat, zurückgewichen, so wie es auch wie ein solcher zum Lichte gekrochen war; nun wich es vor dem Schmerz zurück, weil es ihn kannte.

Es war wie seine Geschwister ein wildes, kleines Tier. Was konnte man auch anders von einem Fleischfresser erwarten! Es stammte von solchen her, sein Vater und seine Mutter hatten nur von Fleisch gelebt. Die Milch, die es in den ersten Tagen seines schwachen Lebens gekostet, hatte sich aus Fleisch gebildet, und nun fing es, vier Wochen alt, und wenige Tage, nachdem seine Augen sich dem Lichte geöffnet hatten, an, selber Fleisch zu fressen, halbverdautes, das die Wölfin für die fünf Jungen, die schon zu große Ansprüche an ihre Nahrung machten, ausspie.

Aber es war auch das stärkste und wildeste von allen Jungen. Es konnte lauter grollen und knurren als eines der andern. Seine Wutanfälle waren toller als die ihren. Es lernte zuerst, wie es eines der Jungen mit einem schlauen Streich der Pfote um und um kehren konnte. Es zerrte und riß wohl ein anderes am Ohr, während es durch die zusammengebissenen Zähne knurrte, und es war ganz sicher, daß es der Mutter die meiste Mühe machte, es vom Eingange zur Höhle zurückzuhalten.

Mit jedem Tage wuchs der Zauber des Lichtes für das graue Junge. Es machte sich beständig auf, um an dem Eingang zur Höhle auf Abenteuer auszugehen, und beständig wurde es zurückgetrieben. Allerdings wußte es nicht, daß das ein Eingang sei; was wußte es davon, ob und wie man zu andern Orten gelangen könne! Es kannte ja keine andern, noch viel weniger, wie man dahin kommen könnte. So blieb der Eingang der Höhle für ihn eine Wand, aber eine lichte Wand. Was die Sonne für die draußen Wohnenden, das war diese Wand für es, die Sonne seiner Welt. Sie zog es an wie das Licht die Motte; es strebte immer danach. Das Leben, das sich so schnell in ihm entwickelte, trieb es unablässig nach der hellen Wand. Das Leben in ihm wußte, daß es der einzige Weg hinaus sei, der einzige, den es betreten könnte, aber das Kleine selber wußte nichts davon. Es wußte überhaupt nicht, daß es ein Draußen gäbe.

Es war doch etwas höchst Seltsames um diese Wand. Der Vater – es war schon so weit gekommen, den Vater als den einzigen, weiteren Bewohner seiner Welt zu erkennen, als ein der Mutter ähnliches Geschöpf, das nahe am Licht schlief und Fleisch brachte –, der Vater hatte die sonderbare Gewohnheit, durch die ferne, weiße Wand zu verschwinden. Das konnte das graue Wölflein nicht begreifen. Zwar erlaubte ihm die Mutter nie, sich jener Wand zu nähern, doch war es den andern Wänden nahe gekommen und hatte eine harte Mauer am Ende seiner kleinen, zarten Nase angetroffen. Und das hatte wehe getan, also ließ es nach einigen Versuchen die Wände in Ruhe. Ohne darüber nachzudenken, hielt es das Verschwinden des Vaters durch die Wand für eine Eigentümlichkeit desselben, wie Milch und halbverdautes Fleisch es bei der Mutter war. Übrigens dachte das Wölflein nicht weiter darüber nach, wenigstens nicht nach Art eines Menschen. Sein Gehirn arbeitete in unklarer Weise, wenn auch die Schlußfolgerungen ebenso scharf und richtig waren, wie die eines Menschen. Es nahm jedoch die Dinge hin, ohne sich um das Warum und das Wozu zu kümmern. Seine Idee war, sich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, warum, sondern wie etwas geschah. Das genügte ihm allein. So nahm es an, als es mehrmals mit der Nase gegen die hintere Wand gerannt war, daß es durch Mauern nicht verschwinden könnte, wohl aber könnte es der Vater. Aber das Verlangen, den Unterschied zwischen sich und dem Vater ausfindig zu machen, quälte es nicht im mindesten; Logik und Physik gehörten nicht zu den Tätigkeiten seines Gehirns.

Wie die meisten Geschöpfe der Wildnis lernte es früh den Hunger kennen. Es kam eine Zeit, wo das Fleisch nicht nur mangelte, sondern wo auch die Milch in der Mutterbrust versiegte. Zuerst winselten und schrieen die Jungen, es dauerte jedoch nicht lange, so überkam sie die Sucht zu schlafen, und nun schlummerten sie meistens. Da gab es kein Spiel mehr, keinen Zank, keine drolligen Wutanfälle, keinen Versuch zu knurren, auch hörten die Wanderungen auf Abenteuer nach der fernen, weißen Wand auf. Die Jungen schliefen, während das Leben nur schwach in ihnen glimmte und allmählich niedersank. Einauge war der Verzweiflung nah. Er suchte weit und breit, er schlief nur noch wenig im Lager, das nun elend und trübselig geworden war. In den ersten Tagen nach der Geburt der Jungen war Einauge mehrmals zum Indianerlager hingewandert und hatte Kaninchen aus den Schlingen gestohlen, als aber der Schnee schmolz und die Ströme auftauten, zogen die Indianer fort, und auch diese Nahrungsquelle versiegte.

Als das graue Junge wieder ins Leben zurückkehrte und an der fernen, weißen Wand Interesse zeigte, fand es die Bevölkerung seiner Welt sehr zusammengeschrumpft. Nur noch eins der Geschwister war übrig, alle andern waren fort; und als es wieder kräftiger wurde, war es gezwungen, allein zu spielen, denn auch die letzte Schwester lief nicht mehr herum und hob nicht einmal mehr den Kopf empor. Zwar wurde sein Körperchen durch das Fleisch, das es nun bekam, runder, allein für jene war die Nahrungsfülle zu spät gekommen. Sie schlief nur noch, ein winziges Skelett aus Haut und Knochen, in dem die Lebensflamme schwach und schwächer flackerte und endlich ausging.

Dann kam eine Zeit, wo das graue Wölflein den Vater in der Wand nicht mehr erscheinen und verschwinden sah, wo er sich nicht am Eingange zum Schlafe niederlegte. Dies geschah am Ende einer zweiten, doch weniger harten Hungersnot. Die Wölfin wußte, warum Einauge nicht zurückgekommen war, allein wie sollte sie das, was sie gesehen hatte, dem grauen Jungen mitteilen? Denn als sie selber die linke Gabel des Flusses nach Beute hinaufgegangen war, da hatte sie dort, wo die Luchsin wohnte, Einauges einen Tag alte Spur gefunden und am Ende derselben alles, was von ihm übrig war. Es waren da noch viele Zeichen des Kampfes, der ausgefochten worden war, und des Rückzuges der Luchsin in ihr Lager nach gewonnenem Siege, vorhanden. Bevor die Wölfin umkehrte, hatte sie dies Lager gefunden, aber es waren sichere Anzeichen da, daß die Luchsin drinnen sei, und so hatte sie sich nicht hineingewagt.

Danach vermied die Wölfin den linken Flußarm auf ihren Jagdzügen. Sie wußte wohl, daß in dem Lager der Luchsin Junge waren, und sie kannte jene als ein starkes, heimtückisches Geschöpf und als eine tüchtige Streitkraft. Zwar hätten ein halb Dutzend Wölfe einen fauchenden Luchs vor sich her auf einen Baum hinauftreiben können, doch für einen Wolf allein war es eine gefährliche Sache, es mit einer Luchsin aufzunehmen, die Junge hatte.

Aber Wildnis bleibt Wildnis, und die Mutterliebe bleibt die schützende, verteidigende Liebe, ob in der Wildnis oder außerhalb derselben, und es sollte eine Zeit kommen, wo die Wölfin sich um des grauen Jungen willen auch den linken Flußarm hinaufwagen und dem Lager in den Felsen und dem Zorn der Luchsin Trotz bieten sollte.


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