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Nummer achtzehn war eine große Abteilung oder ein großer Käfig im Hundegang, groß genug, um einen einigermaßen angenehmen Aufenthalt für ein Dutzend irischer Terrier wie Michael abzugeben. Harris Collins verfuhr nämlich nach wissenschaftlichen Prinzipien. Für Hunde, die in der Cedarwild-Schule in Pension waren, wurde alles getan, so daß sie sich nach den Widerwärtigkeiten und der Mühsal, die sie sechs Monate bis zu einem Jahr oder länger auf der Landstraße hatten erdulden müssen, erholen konnten. Dies war der Grund, daß die Schule so populär als Pensionat für auftretende Tiere war, wenn die Besitzer Ferien hatten oder ohne Engagement waren. Harris Collins hielt seine Tiere sauber und in gutem Stande und beschützte sie vor ansteckenden Krankheiten. Kurz, er brachte sie auf die Beine, bis sie wieder auftreten und Kunststücke machen mußten.
Links von Michael, auf Nummer siebzehn, befanden sich fünf merkwürdig geschorene französische Pudel. Michael konnte sie nur sehen, wenn er in den Käfig gebracht oder herausgeholt wurde, aber er konnte sie riechen und hören, und in seiner Einsamkeit begann er sogar knurrend und scheltend eine Fehde mit Pedro, dem größten von ihnen, der in ihrer Nummer den Clown spielte. Sie waren die Aristokraten unter den auftretenden Tieren, und Michaels Fehde mit Pedro war eigentlich nicht ernst gemeint. Wären er und Pedro zusammengebracht worden, so würden sie sofort gute Freunde gewesen sein. In den langen, einförmigen Stunden aber gaben sie sich einer vorgetäuschten Aufregung hin und fanden es interessant, sich zu zanken, obgleich sie beide im Innersten gut wußten, daß es gar kein Streit war. Auf Nummer neunzehn, rechts von Michael, hauste eine trübselige Gesellschaft. Es waren Köter, die schimmernd und chemisch rein gehalten wurden, aber noch nicht für ein besonderes Fach bestimmt waren. Sie bildeten eine Art Rohmaterialreserve, die abgerichtet und als Ersatz in bereits existierende Truppen eingereiht werden konnte. Die Stelle, wo dieses Training stattfand, war die Hölle in der Manege.
In freien Augenblicken prüften Collins und seine Assistenten sie auch immer in allen möglichen Künsten, um zu untersuchen, ob sie irgendwie im Besitz besonderer Anlagen wären. So wurde ein Köter, der einige Ähnlichkeit mit einem Zwergwachtelhund hatte, mehrere Tage lang als Ponyreiter geprüft, der vom Rücken des Ponys durch Papierreifen springen und sich wieder auf den Rücken des Ponys fallen lassen mußte. Nach verschiedenen Stürzen und schmerzhaften Kontusionen wurde er als ungeeignet für das Kunststück kassiert und mußte eine Probe als Balancekünstler mit Tellern ablegen. Als auch das fehlschlug, wurde er zum Schaukelbretthund gemacht, der in einer Truppe von zwanzig Hunden bis zum Ende der Vorführung im Hintergrund figurierte. Nummer neunzehn war eine Abteilung, die ewig von Streit und Leiden erfüllt war. Hunde, die beim Training zu Schaden gekommen waren, leckten sich ihre Wunden, jammerten oder heulten und regten sich bei dem geringsten Anlaß unsagbar auf. Wenn ein neuer Hund seinen Einzug hielt – und das war eine alltägliche Begebenheit, da andere Hunde immer wieder fortgeholt wurden, um auf Reisen zu gehen –, wurde der Käfig stets von Streit und Kampf erschüttert, bis der neue Hund sich seinen Platz durch Kampf erzwungen oder ihn durch Nachgiebigkeit angewiesen erhalten hatte.
Michael ignorierte die Bewohner von Nummer neunzehn. Sie konnten ihn kriegerisch anschnaufen und knurren, er nahm keine Notiz von ihnen, sondern widmete sich lediglich Pedro und seinem unablässigen Zank mit ihm. Michael war auch häufiger und längere Zeit hintereinander in der Manege als sie.
»Ich traue Harry nicht zu, daß er sich in einem Hunde irren konnte.« Das war Collins' Standpunkt, und er suchte immer wieder herauszufinden, was Del Mar veranlaßt haben mochte, Michael für einen so einzigdastehenden Hund zu erklären.
Während dieser Versuche mußte sich Michael die unwürdigste Behandlung gefallen lassen. Sie prüften, ob er Hürdensprung machen, ob er auf den Vorderbeinen spazieren, Ponyreiten, Purzelbäume schießen oder mit andern Hunden Clownkunststücke machen könnte. Er mußte Walzer tanzen, und sie zogen, ruckten und zerrten mit vier Leinen an allen seinen Beinen. Bei einigen der Versuche gaben sie ihm ein Stachelhalsband, um ihn zu hindern, von einer Seite zur andern zu schwingen, oder vorn- oder hintenüber zu fallen. Sie gebrauchten Peitsche und spanisches Rohr und schnürten ihm die Schnauze zusammen. Sie schleppten ihn Leitern hinauf, damit er den Kopf in einen Wassertank steckte.
Sie versuchten ihn sogar im »Looping-the-loop« auftreten zu lassen – stürzten ihn eine schräge, offene Rinne hinunter, so daß seine Beine, von Peitschenschlägen angetrieben, sich so schnell bewegten, daß er mit der Anfangsgeschwindigkeit, die er hatte, und wenn er mit Leib und Seele gewollt hätte, die Innenseite der Schleife hätte hinauflaufen und, den Rücken abwärts, wie eine Fliege an der Decke, die Schleife hätte durchlaufen können. Aber er wollte nicht mit Leib und Seele, und wenn er sich nicht gleich zu Beginn durch einen Seitensprung aus der schrägen, offenen Rinne retten konnte, stürzte er jedesmal schwer auf die Innenseite der Schleife und zog sich Quetschungen und Wunden zu.
»Ich glaube nicht, daß es so etwas war, woran Harry dachte«, sagte Collins, denn er trat seinen Gehilfen gegenüber stets belehrend auf. »Aber vielleicht kann ich dadurch einen Wink über seine Spezialität erhalten.«
Aus Liebe, und wenn der Gott seiner Liebe, Steward, es gewünscht hätte, würde Michael sich bemüht haben, diese Kunststücke zu lernen, und er würde bei den meisten Erfolg gehabt haben. Hier aber, in Cedarwild, gab es keine Liebe, und seine Vollblutnatur ließ ihn sich unter dem Zwange eigensinnig weigern, zu tun, was er freudig aus Liebe getan hätte. Und da Collins kein Vollblutmensch war, war die Folge, daß die Zusammenstöße zwischen ihnen eine Zeitlang häufig und heftig waren. In diesen Kämpfen hatte Michael – das merkte er schnell – keine Möglichkeit. Er war stets im voraus zur Niederlage verurteilt. Es glückte ihm nicht ein einziges Mal, Collins oder Johnny mit den Zähnen zu fassen. Er war zu vernünftig, um einen Kampf fortzusetzen, in dem er zweifellos körperlich und seelisch zugrunde gegangen und zum Wahnsinn gebracht worden wäre. Statt dessen zog er sich in sich selber zurück, wurde traurig, blieb aber ruhig, und obwohl er sich nach keiner Niederlage je duckte, beherrschte er doch seinen Zorn.
Nach einiger Zeit, nachdem er kaum mehr in neuen Kunststücken geprüft worden war, wurde er die Leine samt Johnny los und war alle Zeit, die Collins in der Manege verbrachte, mit ihm zusammen. Nach mancher Lektion lernte er, daß er Collins überallhin folgen mußte; und er folgte ihm auch, haßte ihn aber unaufhörlich und vergiftete sein eigenes Gemüt. Immer mehr zog er sich in sich selber zurück, wurde traurig und grübelte viel. Und das alles war ungesund für seinen Geist. Er, der eine Frohnatur gewesen war, begann mürrisch, verschlossen und reizbar zu werden. Er fühlte keinen Drang mehr, zu spielen, sich zu tummeln und herumzulaufen. Er wurde körperlich ebenso still beherrscht wie geistig. Über Sträflinge in den Gefängnissen der Menschen kommt dieselbe schlaffe Ruhe. Er konnte stundenlang hinter Collins stehen, ohne sich für irgend etwas zu interessieren, während Collins irgendeinen Köter quälte und zu Kunststücken zwang.
Collins war immer belehrend. Ein aus seiner Schule hervorgegangener Schüler oder ein Gehilfe, der eine Empfehlung von ihm hatte, wurde als Inhaber eines Auszeichnungsdiploms in der Welt der Tierbändiger betrachtet.
»Es gibt keinen Hund, der von selber auf den Hinterfüßen ginge, geschweige denn auf den Vorderbeinen«, sagte Collins. »Hunde sind nicht dazu geschaffen. Sie müssen eben umgeschaffen werden, das ist das ganze Geheimnis der Tierdressur. Sie müssen umgeschaffen werden, und das sollen Sie, meine Herren, tun, das ist Ihre Aufgabe. Wer das nicht kann, der ist in dieser Fabrik nicht zu gebrauchen.
Bastarde und Köter, das ist es, was wir brauchen, Charles. Nicht ein einziger von zehn Vollbluthunden wird zu etwas, wenn er nicht feige ist. Und das ist es gerade, was sie von Kötern und Bastarden unterscheidet. Sie sind heißblütig wie Rennpferde. Sie sind empfindlich und haben Stolz, und das ist das schlimmste. Ich bin im Geschäft groß geworden und habe es mein ganzes Leben lang studiert. Ich habe Glück gehabt. Und das hat nur einen Grund: Ich kenne mein Geschäft. Denk' daran. Ich kenne mein Geschäft. Dazu kommt noch, daß Bastarde und Köter billiger sind. Du brauchst dir nichts draus zu machen, wenn du sie verlierst oder kaputt arbeitest. Du kannst immer wieder neue kriegen, und zwar billig, und ihre Dressur macht nicht viel Mühe.
Gib einem Köter eine ordentliche Tracht Prügel, und was tut er? Er leckt dir die Hand, ist gehorsam, kriecht auf dem Bauche und tut, was du willst. Sie sind Sklavenhunde, diese Köter. Sie sind nicht mutig, und du brauchst auch keinen Mut bei einem Hunde, der auftreten soll. Was du brauchst, ist Furcht und Beben. Gib einem Vollbluthund eine Tracht Hiebe, und du wirst sehen, was geschieht. Ich habe welche gekannt, die starben. Und wenn sie nicht sterben, was dann? Entweder werden sie eigensinnig oder boshaft oder beides. Manchmal beißen und schäumen sie direkt. Du kannst sie töten, aber du kannst sie nicht hindern, zu beißen und zu rasen. Dann werden sie nur eigensinnig, bodenlos eigensinnig. Es ist passive Resistenz. Sie wehren sich nicht. Du kannst sie totschlagen, aber es nützt dir nichts. Sie sind wie die Christen, die auf dem Scheiterhaufen verbrannt oder in Öl gesotten wurden. Sie haben ihre eigenen Gedanken, und von denen lassen sie nicht. Eher sterben sie ... und das tun sie auch. Ich kenne die Sorte.
»Sieh nun mal diesen Terrier«, sagte Collins und deutete mit einem Kopfnicken auf Michael, der mehrere Schritt hinter ihm stand und traurig die Vorgänge in der Manege verfolgte. »Ich habe ihm nie eine ordentliche Tracht Prügel gegeben und tue es auch nicht. Es wäre Zeitverschwendung. Er ist zu vernünftig, um auf dich loszugehen, wenn du ihn nicht zu hart anpackst. Tust du es aber, dann wird er einfach eigensinnig und weigert sich überhaupt, etwas zu lernen. Ich würde ihn auf der Stelle laufen lassen, wüßte ich nicht, daß Del Mar unfehlbar war. Der arme Harry wußte, daß er eine Spezialität ersten Ranges hatte. Und jetzt muß ich eben sehen, es herauszufinden.«
»Vielleicht ist er ein Löwenhund«, meinte Charles.
»Er gehört zu denen, die keine Furcht vor Löwen haben«, räumte Collins ein. »Aber was für ein besonderes Kunststück könnte er mit Löwen machen? Ihnen den Kopf in den Rachen stecken? Ich habe nie von einem Hund gehört, der das tat. Aber es ist ja eine Idee, und wir könnten es mit ihm versuchen. Alles andere haben wir ja bald mit ihm probiert.«
»Wir haben ja zum Beispiel den alten Hannibal«, sagte Charles.
»Er pflegte den Kopf einer Dame in den Rachen zu nehmen, als er in der Menagerie vom alten Sales-Sinker war.«
»Aber der alte Hannibal beginnt launisch zu werden«, wandte Collins ein. »Ich habe ihn beobachtet. Jedes Tier läuft Gefahr, daß mal eine Schraube bei ihm losgeht. Namentlich wilde Tiere. Ihr Leben ist ja nicht natürlich. Wenn das aber geschieht, dann gute Nacht. Du verlierst das Geld, das du in dem Tier angelegt hast, und wenn du deine Sache nicht verstehst, noch vielleicht dein Leben dazu.«
Und Michael wäre vielleicht mit Hannibal zusammen geprüft worden und Gefahr gelaufen, seinen Kopf in dem gewaltigen Rachen des Tieres zu verlieren, wäre ihm nicht ein glücklicher Zufall zu Hilfe gekommen. Denn gerade in diesem Augenblick empfing Collins eine hastige Mitteilung von seinem Löwen- und Tigerwärter.
»Der alte Hannibal wird verrückt«, lautete die traurige Meldung.
»Unsinn«, sagte Harris Collins. »Du wirst alt. Du wirst nicht mehr mit ihm fertig. Ich will es dir zeigen. Kommt alle mit. Wir wollen eine Viertelstunde Pause machen. Ich werde euch eine Nummer zeigen, wie ihr sie noch nie in einer Menagerie gesehen habt.«
Der Löwen- und Tigerwärter, dessen Gesicht Spuren von Tierkrallen trug, protestierte jammernd, als er seinen Chef Vorbereitungen machen sah, in Hannibals Käfig zu gehen, denn die ganze Vorbereitung bestand darin, daß er sich mit einem Besenstiel versah.
Hannibal war alt, aber er galt für den größten Löwen in Gefangenschaft und hatte noch alle Zähne. Er wanderte auf und ab und maß schwer und schwingend die Länge des Käfigs, wie gefangene Tiere zu tun pflegen, als sich plötzlich die unerwartete Zuschauerschar vor seinem Käfig zeigte. Er nahm jedoch nicht die geringste Notiz von ihr, wanderte nur weiter auf und ab, schwang den Kopf hin und her und drehte sich, sobald er das Ende des Käfigs erreicht hatte, geschmeidig und mit geschäftiger Miene um.
»So geht er schon zwei Tage«, jammerte sein Wärter. »Und wenn man zu ihm tritt, langt er gleich nach einem aus. Sehen Sie, was er mir getan hat.« Der Mann hielt den rechten Arm hoch. Hemd und Wolljacke waren zerfetzt, und rote, mit geronnenem Blut gefüllte Rinnen zeigten, wo die Krallen die Haut zerrissen hatten. »Und ich war nicht drinnen. Er tat es mit einem einzigen Schlag durch die Stäbe, als ich seinen Käfig säubern wollte. Wenn er nur brüllen wollte. Aber er gibt keinen Laut von sich, geht nur auf und ab.«
»Wo ist der Schlüssel?« fragte Collins. »Schön, laß mich ein, schließ hinter mir ab und zieh den Schlüssel heraus. Verlier ihn, vergiß ihn, wirf ihn fort. Ich habe Zeit zu warten, bis ihr ihn findet und mich wieder herauslaßt.«
Und Harris Collins, der in Todesangst lebte, daß die Mutter seiner Kinder ihm bei Tisch einen Teller heißer Suppe an den Kopf werfen würde, ging im Beisein des Personals und der Tierbändiger in den Käfig, nur mit einem Besenstiel bewaffnet. Dann wurde die Tür hinter ihm zugeschlagen.
Ein dutzendmal wanderte der Löwe auf und ab, ohne Notiz von dem ungebetenen Gast nehmen zu wollen. Als er ihm aber wieder den Rücken kehrte, trat Collins vor und stellte sich ihm mitten in den Weg. Als Hannibal zurückkam und den Weg versperrt fand, brüllte er nicht. Seine Muskeln spielten seidenweich unter dem hellbraunen Fell, und er schlug nach dem Hindernis, das ihm im Wege stand. Collins aber, der früher als der Löwe selbst wußte, was das Tier tun würde, schlug dem Tier zuerst mit dem Besenstiel über die empfindliche Schnauze. Hannibal wich mit kurzem Knurren zurück und langte blitzschnell mit seiner mächtigen Tatze zu einem neuen Schlage aus. Aber Collins kam ihm zuvor, und ein neuer Schlag über die Schnauze ließ ihn zurückweichen.
»Ich muß ihm den Kopf unten halten, darauf beruht die Sicherheit«, murmelte der Meister gedämpft. »Ach, das wolltest du? Da, nimm das.«
Hannibal, der sich in seinem Zorn zum Sprunge duckte, hatte den Kopf gehoben. Der gleich darauf folgende Schlag über die Schnauze zwang den Kopf zu Boden, und der König der Tiere zog sich, immer die Schnauze auf dem Boden, knurrend zurück.
»Der Mensch ist Herr und Meister, weil er einen Kopf hat, der denkt«, dozierte Collins; »er braucht bloß seinen Körper durch seinen Kopf beherrschen zu lassen, so daß er dem Tier immer einen Gedanken voraus ist. Jetzt sollt ihr sehen, wie ich mit ihm fertig werde. Er ist kein so hartgesottener Verbrecher, wie er sich selbst einzubilden versucht. Man muß ihm nur die Idee, die er sich in den Kopf gesetzt hat, austreiben. Das kann der Besenstiel. Paßt auf.«
Mit immer neuen Schlägen trieb er das Tier durch den Käfig zurück. Hannibal duckte zähnefletschend, knurrend und fauchend den Kopf und versuchte mit kleinen Tatzenschlägen den zudringlichen Besenstiel zu parieren, während er den Hinterleib zusammenzog und die Glieder einzuziehen versuchte, um der schmerzvollen Züchtigung zu entgehen. Die Schnauze hielt er dicht am Boden und war dadurch außerstande, zu springen. Schließlich hob er langsam den Kopf und gähnte.
»Jetzt ist er mürbe«, erklärte Collins zum erstenmal mit kräftiger Stimme, der keine Anstrengung anzumerken war. »Wenn ein Löwe mitten im Kampf gähnt, so weiß man, daß er nicht verrückt ist. Er muß vernünftig sein, sonst würde er losspringen, statt zu gähnen. Er weiß, daß er Prügel gekriegt hat, und das Gähnen bedeutet im Grunde nur: Ich gebe es auf; um alles in der Welt, laß mich in Frieden. Meine Schnauze tut mir schrecklich weh. Ich möchte dich gern packen, aber ich kann nicht. Ich will alles tun, was du wünschst, und ich will schrecklich artig sein, aber schlag mich nicht mehr auf meine empfindliche Schnauze.
Aber der Mensch ist Herr und Meister und kann das nicht so leicht nehmen. Man muß feststellen, daß man der Meister ist. Man muß es ihm mit Löffeln eingeben. Nicht aufhalten, wenn er aufgibt. Er muß die Medizin schlucken und den Löffel ablecken. Er muß den Fuß küssen, der ihn in den Staub drückt. Er muß den Stock küssen, mit dem er geprügelt wurde. Paßt auf!«
Und Hannibal, der größte Löwe in der Gefangenschaft, im Besitz aller seiner Zähne, ausgewachsen in dem Dschungel gefangen, ein wirklicher König der Tiere, Hannibal zog sich immer tiefer in die Ecke zurück, bedroht und bezwungen von einem kleinen Männlein mit einem Besenstiel in der Hand, und zog den Kopf immer tiefer auf die Brust zurück, ließ sein Gewicht auf den Ellbogen ruhen und schützte seine arme Schnauze mit den starken Tatzen, die mit einem einzigen Schlage das Leben aus Collins zitterndem Körper hätten reißen können.
»Jetzt hat er vielleicht noch Mucken«, sagte Collins, »aber er soll doch meinen Fuß und den Stock küssen. Paßt auf!«
Er hob seinen Fuß, nicht prüfend und zögernd, sondern schnell und fest, setzte ihn auf den Hals des Löwen und hob dabei den Stock zum Schlage.
Und Hannibal tat, was der Meister vorausgesehen. Sein Kopf mit den gewaltigen, weit aufgerissenen Kiefern fuhr hoch, daß man die schimmernden Zähne sah. Aber es kam nicht zum Biß, der wartende Besenstiel fuhr ihm über die Schnauze, daß er den Kopf wieder sinken ließ.
Wieder reizte Collins Hannibal mit dem Ende des Besenstiels und hob ihn jedesmal hinterher zum Schlage. Und der große Löwe brüllte hilflos und hob jedesmal nur die Schnauze ein wenig höher, bis er schließlich die rote Zunge zwischen den Zähnen ausstreckte, den Schuh, der nicht besonders sanft auf seinem Hals ruhte, und hinterher den Besenstiel leckte, der ihm die Lektion erteilt hatte.
»Wirst du jetzt wieder ein guter Löwe sein?« fragte Collins und rieb mit seinem Fuß kräftig den Hals Hannibals.
Hannibal konnte sich nicht enthalten, vor Haß zu knurren.
»Wirst du ein guter Löwe sein?« wiederholte Collins und rieb noch kräftiger mit seinem Fuße.
Und Hannibal hob die Schnauze und leckte mit seiner roten Zunge wieder den braunen Schuh und die braune seidenbekleidete Fessel, die er mit einem einzigen Biß hätte zermalmen können.
Michael fand unter den vielen Tieren, die er in der Cedarwild-Tierschule traf, eine Freundin, aber es war eine merkwürdige, traurige Freundschaft. Sie wurde Sara genannt und war eine kleine grüne südamerikanische Äffin, die von Natur hysterisch, verdrießlich und ohne Sinn für Humor zu sein schien. Wenn Michael Collins durch die Manege folgte, traf er sie zuweilen, während sie auf die Probe in irgendeiner neuen Nummer wartete. Denn obwohl sie außerstande war, zu proben, und auch keine Lust dazu hatte, mußte sie es doch immer wieder, oder sie wurde, ohne selbst viel dabei zu tun zu haben, als Lückenbüßer unter bedeutenderen Artisten verwandt.
Aber sie rief stets nur Verwirrung hervor, indem sie lachte, vor Angst kreischte, oder sich mit den andern stritt. Jedesmal, wenn man versuchte, sie etwas tun zu lassen, protestierte sie beleidigt; und wenn man Gewalt anwenden wollte, beunruhigte ihr Kreischen und Schreien alle Tiere in der Manege und hielt die Arbeit auf.
»Macht nichts«, sagte Collins schließlich. »Sie wird in die nächste Affengruppe gesteckt, die wir zusammenstellen.«
Das war das letzte, schreckliche Los, das einem Affen auf der Bühne begegnen konnte: eine hilflose Puppe zu werden, die mit Hilfe verborgener Stöcke und Schnüre gezwungen wurde, eine ganze Nummer lang zu spielen.
Michael machte jedoch ihre Bekanntschaft, ehe dieses Urteil über sie gesprochen war. Bei ihrer ersten Begegnung sprang sie plötzlich wie ein schreiender, lachender kleiner Teufel auf ihn los und drohte ihm mit Nägeln und Zähnen. Aber Michael, der schon tief in Traurigkeit versunken war, sah sie nur ruhig an, ohne daß seine Nackenhaare sich sträubten oder seine Ohren sich im geringsten spitzten.
Einen Augenblick später sah sie, wie er, ohne sich um ihren Lärm und ihre Wut zu kümmern, den Kopf abwandte. Das brachte sie zum Schweigen. Wäre er auf sie losgesprungen, hätte er geknurrt, Zorn oder Wut gezeigt, wie die andern Hunde es taten, so würde sie geschrien und gebrüllt und ihm einen Schwall lärmender Vorwürfe entgegengeschleudert, um Hilfe gerufen und alle Welt zu Zeugen angerufen haben, daß sie ungerecht angegriffen worden war.
Jetzt schien Michaels ungewöhnliches Benehmen ihr zu gefallen. Sie näherte sich ihm prüfend, ohne weiteren Lärm, und der Junge, der auf sie aufpaßte, lockerte die dünne Leine, die sie hielt.
»Ich hoffe, daß er ihr das Rückgrat bricht«, war sein gottloser Wunsch, denn er haßte Sara und wollte lieber zu Löwen und Elefanten, als einer aufsässigen Äffin aufzuwarten, mit der nichts anzustellen war.
Und da Michael keine Notiz von Sara nahm, begann sie ihm den Hof zu machen. Es dauerte nicht lange, so berührte sie ihn schon, und kurz darauf legte sie ihm die Arme um den Hals und drückte ihren Kopf zärtlich gegen den seinen. Dann begann die endlose Erzählung ihrer Geschichte. Tag für Tag paßte sie ihm zu allen möglichen Zeiten in der Manege auf, klammerte sich an ihn und erzählte ihm leise, fast ohne nur je Atem zu schöpfen, ununterbrochen etwas, das, soweit er verstand, ihre Geschichte war. Jedenfalls klang es wie ein Bericht all ihres Unglücks und all der schändlichen Behandlung, deren Gegenstand sie war. Es war eine einzige bange Klage, und etwas davon mochte vielleicht von ihrer Gesundheit handeln, denn sie keuchte und hustete ziemlich viel, und ihre Brust schien stets zu schmerzen, nach ihrer Gewohnheit zu urteilen, immer die Handflächen behutsam dagegen zu pressen. Zuweilen hörte sie jedoch mit Klagen auf und streichelte und liebkoste ihn, wobei sie hin und wieder eine Reihe sanfter, weicher Laute ausstieß, die wie Summen klangen.
Ihre Hand war die einzige zärtliche Hand, mit der er auf Cedarwild in Berührung kam. Sie war immer freundlich, kniff ihn nie und zog ihn nie an den Ohren. Andererseits war er der einzige Freund, den sie hatte; und schließlich sehnte er sich morgens während der Arbeit nach ihr – und das, trotzdem jede Begegnung mit einer Szene endete, in der sie mit ihrem Wärter kämpfte, um nicht fortgebracht zu werden. Ihre Schreie und Proteste wurden von Wimmern und Jammern abgelöst, während die Leute ringsumher über das eigentümliche Liebesverhältnis zwischen ihr und dem Irischen Terrier lachten.
Harris aber duldete die Freundschaft der beiden und begünstigte sie sogar.
»Die beiden Sauertöpfe werden am besten miteinander fertig«, sagte er, »und es tut ihnen gut. Sie haben etwas, wofür sie leben, und das ist gesund. Aber eines schönen Tages, denkt an meine Worte, wird sie auf ihn losgehen und ihn ihre Liebe fühlen lassen, und die Freundschaft wird mit einem Knall bersten.«
Und was er prophezeite, ging halbwegs in Erfüllung, denn wenn sie auch nie auf ihn losging, war der Augenblick doch nicht fern, an dem ihre Freundschaft wirklich von einem furchtbaren Schlage getroffen werden sollte.
Am selben Tage verkaufte Harris Collins einen wertvollen Wink an einen Löwenbesitzer, der ohne Engagement war, und dessen drei Löwen sich auf Cedarwild in Pension befanden. Ihre Nummer war aufregend, ja, fast schreckenerregend, wenn man sie vom Zuschauerraum aus sah. Denn sie war so arrangiert, daß es, wenn die Tiere herumsprangen und brüllten, aussah, als wollten sie die schlanke kleine Dame vernichten, die mit ihnen zusammen auftrat, und sie, ausschließlich durch ihren unbeugsamen Mut und mit einer kleinen Reitpeitsche in der Hand, in Schach zu halten schien. »Das Dumme ist, daß sie anfangen, sich daran zu gewöhnen«, klagte der Mann. »Isadora ist nicht mehr imstande, sie zu reizen. Sie wollen einfach nicht auftreten.«
»Ich kenn sie«, sagte Collins. »Sie sind ja schon ziemlich alt und schlaff. Sehen Sie nur den alten Sark dort. Ihm sind so viele Platzpatronen ins Ohr gefeuert, daß er stocktaub ist. Und Selim – der hat sein Temperament mit seinen Zähnen verloren. Dafür kann er dem Portugiesen danken, mit dem er bei Barnum zu tun hatte. Sie haben wohl davon gehört?«
»Nein, ich habe mich oft darüber gewundert«, sagte der Mann kopfschüttelnd. »Es muß einen Zusammenstoß gegeben haben.«
»Eben. Der Portugiese machte es mit einer Eisenstange. Selim war schlechter Laune und langte mit der Tatze nach ihm aus, und der Mann schlug ihm die Eisenstange ins Maul, als er es gerade öffnen wollte, um zu brüllen. Der Mann hat es mir selbst erzählt. Selims Zähne rasselten wie Dominosteine auf den Boden. Aber er hätte es nicht tun sollen. Das hieß wertvollen Besitz vernichten. Jedenfalls wurde er deswegen entlassen.«
»Sie sind alle drei nicht mehr viel wert für mich«, sagte der Besitzer. »Sie wollen nicht mehr bei Isadora brüllen und zum Schlusse wild werden. Das war ja der Haupteffekt der Nummer. Es war unser Finale, und wir ernteten immer starken Beifall damit. Sagen Sie, was soll ich machen? Streichen? Oder ein paar junge Löwen anschaffen?«
»Für Isadora ist es sicherer mit den alten«, sagte Collins.
»Gewiß«, wandte Isadoras Mann ein. »Natürlich würde bei jungen Löwen die Arbeit und die Verantwortung auf mir ruhen. Aber wir müssen doch leben.«
Harris Collins schüttelte den Kopf.
»Was meinen Sie? – Haben Sie eine Idee?« fragte der Mann eifrig.
»Die Tiere werden noch viele Jahre leben«, erklärte Collins. »Wenn Sie Ihr Geld in junge Löwen stecken, laufen Sie Gefahr, daß die Tiere auf Sie losgehen. Und Sie können die Nummer ausgezeichnet weiter geben mit dem Material, das Sie haben; Sie müssen nur meinen Rat befolgen ...« Der Meister hielt inne, und der Löwenbesitzer öffnete den Mund, um etwas zu sagen.
»Was Sie«, fuhr Collins ruhig fort, »– sagen wir, dreihundert Dollar kosten wird.«
»Nur der Rat?« fragte der andere schnell.
»Der Ihnen unter Garantie nutzen wird. Sie wissen, was Sie für drei junge Löwen bezahlen müßten. Die dreihundert sind gut angelegt.«
»Das ist mir zu teuer«, wandte der andere ein. »Ich muß doch leben.«
»Das muß ich auch«, versicherte ihm Collins. »Deshalb bin ich hier. Ich bin Spezialist, und Sie bezahlen einen Spezialistenpreis.«
»Wenn der Rat aber nichts taugt?« kam es fragend und zweifelnd.
»Wenn er nichts taugt, bezahlen Sie nicht.«
»Na, also her damit.« Der Löwenbesitzer ergab sich. »Elektrizität in den Käfig.«
Zuerst verstand der Mann ihn nicht, dann aber ging ihm ein Licht auf.
»Sie meinen ...?«
»Ja, eben«, nickte Collins. »Und niemand braucht es zu wissen. Trockenelemente genügen vollkommen. Sie können sie glänzend unter dem Fußboden des Käfigs anbringen. Isadora hat nichts zu tun, als auf den Schalter zu treten; und wenn die Biester nicht, wenn sie einen elektrischen Schlag in die Füße kriegen, hochfliegen, rasen und brüllen, daß sie die Musik übertönen, dann können Sie nicht allein Ihre dreihundert behalten, sondern sollen noch dreihundert von mir dazu kriegen. Es ist genau, als tanzten sie auf einem rotglühenden Ofen. Sie springen, und jedesmal, wenn sie niederfallen, verbrennen sie sich die Tatzen wieder.
Aber Sie müssen sie ganz allmählich reizen«, ermahnte ihn Collins. »Ich werde Ihnen zeigen, wie Sie die Leitung anlegen müssen. Anfangs, zum Einarbeiten, nur ein schwacher Strom und dann immer kräftiger, bis der Vorhang fällt. Und das stumpft sie nie ab. Solange sie leben, werden sie ebenso lebhaft tanzen wie das erstemal. Was meinen Sie dazu?«
»Das ist sicher die dreihundert wert«, räumte der Mann ein. »Wenn ich mir mein Geld nur ebenso leicht verdienen könnte.«
Ich glaube, ich werde sehen müssen, ihn los zu werden«, sagte Collins zu Johnny. »Ich weiß, daß Del Mar recht gehabt haben muß, wenn er sagte, daß er einzig wäre, aber ich kann die Lösung nicht finden.«
Das wurde nach einem Kampf zwischen Michael und Collins gesagt. Michael, trauriger als je, war jetzt sogar jähzornig geworden und hatte, fast ohne gereizt zu sein, den Mann, den er haßte, angegriffen, dafür aber nur ein paar kräftige Fußtritte unter das Kinn geerntet.
»Er ist eine Goldmine«, sagte Collins; »aber wenn ich gehenkt werden soll, ich kann's nicht herauskriegen. Und er wird mit jedem Tag bissiger. Seht ihn an, warum wollte er jetzt auf mich losgehen? Ich habe ihm nichts getan. Er speichert soviel Wut in sich auf, daß er eines Tages selbst auf einen Schutzmann losgehen wird.«
Einige Minuten später bat ihn einer seiner Kunden, ein blonder, junger Mann, der drei dressierte Leoparden zum Training auf Cedarwild in Pension gegeben hatte, ihm einen Airedale zu leihen.
»Ich habe nur noch einen«, erklärte er »und kann nicht ohne zwei fertig werden.«
»Was ist denn mit dem andern passiert?« fragte der Meister.
»Alphonso – das ist das große Leopardenmännchen – wurde heute morgen böse und machte Hackfleisch aus ihm. Ich mußte ihn von seinen Leiden erlösen. Ihm war der Leib aufgerissen wie bei einem Pferd beim Stiergefecht. Aber er hat mich gerettet. Wäre er nicht gewesen, so würde es mir schlimm ergangen sein. Alphonso hat ein bißchen zu oft solche schlechten Perioden. Das ist der zweite Hund, den er mir getötet hat.«
Collins schüttelte den Kopf: »Ich habe keinen Airedale.« Aber in diesem Augenblick fiel sein Auge zufällig auf Michael. »Versuchen Sie es mit dem Irischen Terrier. Die haben dasselbe Naturell wie Airedales. Sind jedenfalls nahe Verwandte.«
»Ich nehme am liebsten Airedales als Löwenhunde«, wandte der Leopardenmann ein.
»Ein Irischer Terrier ist ein Löwenhund. Sehen Sie ihn sich an. Beachten Sie seine Größe und sein Gewicht. Und glauben Sie mir, er hat Temperament! Er will mit jedem kämpfen. Versuchen Sie es mit ihm. Ich leihe ihn Ihnen. Taugt er, so verkaufe ich ihn Ihnen billig. Ein Irischer Terrier als Leopardenhund, das wäre etwas Neues.«
»Wenn er sich bei den Katzen mausig macht, ist es aus mit ihm«, sagte Johnny zu Collins, als Michael von dem Leopardenmann fortgeführt wurde.
»Dann verliert die Bühne vielleicht einen Stern«, antwortete Collins achselzuckend. »Aber ich will ihn jedenfalls los sein. Wenn ein Hund so unverbesserlich mürrisch wird, ist er fertig. Man kann nichts mit ihm anstellen. Ich kenne das.«
Und Michael ging fort, um die Bekanntschaft Jacks, des überlebenden Airedales, zu machen, und um täglich mit den Leoparden trainiert zu werden. In den großen gefleckten Katzen erkannte er den Erbfeind, und noch ehe er in den Käfig geschoben wurde, war sein Nacken schon eine einzige Bürste, seine Haare sträubten sich nervös, und seine Augen waren starr. Es war ein nervenaufreizender Augenblick für alle Anwesenden, als der neue Hund im Käfig präsentiert wurde. Der blonde Leopardenmann, der auf den Plakaten Raoul Castlemon genannt wurde, unter seinen Freunden aber Ralf hieß, befand sich schon im Käfig. Der Airedale stand neben ihm, während draußen verschiedene Männer mit eisernen Stangen und langen, stählernen Gabeln standen. Diese Waffen wurden, zu augenblicklichem Gebrauch bereit, durch die Stangen gesteckt als Drohung für die Leoparden, die sehr wider Willen Kunststücke machen sollten.
Sie wurden sofort zornig über Michaels Zudringlichkeit, fauchten, schlugen mit den langen Schwänzen und kauerten sich zum Sprung zusammen. Aber im selben Augenblick sagte der Dompteur etwas in scharfem gebieterischem Ton und hob die Peitsche, während die Leute draußen ihre eisernen Geräte hoben und sie drohend in den Käfig steckten. Die Leoparden, die diese Geräte aus bitterer Erfahrung kannten, blieben in ihrer zusammengekauerten Stellung, obwohl sie immer noch fauchten und den Boden wütend mit den Schwänzen fegten.
Michael war kein Feigling. Er schlich sich nicht schutzsuchend hinter den Mann. Andererseits war er zu vernünftig, um das furchtbare Geschöpf anzugreifen. Statt dessen ging er mit gesträubtem Nackenhaar steifbeinig durch den Käfig, blickte der Gefahr ins Auge, ging steif wieder zurück und blieb neben Jack stehen, der ihn mit freundlichem Schnüffeln begrüßte.
»Der hat Mark in den Knochen«, murmelte der Dompteur gespannt, »läßt sich nicht einschüchtern.«
Die Situation war mit gutem Grunde spannend, und Ralf brachte sie mit Behutsamkeit und Vorsicht zur Entwicklung und hütete sich, eine plötzliche Bewegung zu machen, aber seine Augen waren wachsam überall, bei den Hunden, den Leoparden und den Leuten, die mit ihren Gabeln und Stangen draußen standen. Er ließ die zornigen Katzen sich aus ihrer zusammengekauerten Stellung erheben und trieb sie auseinander. Auf sein Kommando begab Jack sich zwischen sie. Michael folgte ihm aus eigenem Antrieb. Und wie Jack, ging auch er sehr steif und sehr vorsichtig auf seinen Posten. Einer von ihnen, Alphonso, fauchte ihn plötzlich an. Er fuhr nicht zusammen, obgleich sich sein Haar kräuselte, sondern fletschte nur seine Zähne mit leisem Knurren. Im selben Augenblick schoben sich die Eisenstangen in drohende Nähe Alphonsos, der seine gelben Augen von Michael zur Stange und wieder zurückschweifen ließ, aber nicht nach ihm schlug.
Der erste Tag war der schwerste. Später fanden sich die Leoparden mit Michael ab, wie sie sich mit Jack abgefunden hatten. Auf keiner Seite waren die Gefühle besonders freundlich, und es war auch nie die Rede von irgendeiner freundschaftlichen Annäherung. Michael wurde sich schnell darüber klar, daß es Mann und Hunde gegen die Katzen galt und daß Mann und Hunde zusammenhalten mußten. Täglich verbrachte er ein bis zwei Stunden im Käfig und beobachtete die Proben, ohne daß er und Jack etwas anderes zu tun hatten, als wachsam auf dem Posten zu sein. Zuweilen, wenn die Leoparden etwas besserer Laune zu sein schienen, ermutigte Ralf sogar die Hunde, sich hinzulegen. An unruhigen Tagen aber paßte er auf, daß sie stets sprungbereit waren für den Fall, daß er angegriffen werden sollte. Die übrige Zeit des Tages teilte Michael seinen großen Stall mit Jack. Wie für alle Tiere auf Cedarwild wurde auch für sie gut gesorgt, sie wurden häufig gewaschen und frei von Ungeziefer gehalten. Für einen nur dreijährigen Hund war Jack sehr gesetzt. Entweder hatte er nie gelernt, zu spielen, oder es schon wieder vergessen. Andererseits war er gutmütig, blieb immer gleich und fühlte sich verletzt durch das mürrische Benehmen, das Michael anfangs an den Tag legte. Aber Michael blieb nicht lange mürrisch, sondern fand Gefallen an ihrem stillen Zusammenleben. Sie zeigten ihre Gefühle nicht. Sie begnügten sich damit, stundenlang mit einem angenehmen Gefühl ihrer gegenseitigen Nähe wachzuliegen.
Hin und wieder konnte Michael hören, wie Sara in der Ferne lockende Rufe ausstieß, die, wie er wußte, für ihn bestimmt waren. Einmal entwischte sie ihrem Wärter und entdeckte Michael, der gerade aus dem Leopardenkäfig kam. Mit einem schrillen Freudenschrei flog sie auf ihn zu, klammerte sich an ihn und berichtete ihm hysterisch alle Widerwärtigkeiten, die sie seit ihrer Trennung erfahren hatte. Der Leopardenmann sah nachsichtig zu und ließ sie die wenigen Minuten genießen. Zuletzt riß ihr Wärter sie von Michael los, an den sie sich anklammerte, während sie wie eine alte Vettel aufkreischte. Wütend sprang sie auf den Mann los, und ehe er sie an der Gurgel packen konnte, um sie zur Unterwerfung zu zwingen, hatte sie schon ihre Zähne in seinen Daumen und sein Handgelenk gebohrt. Alles das rief große Heiterkeit unter den Zuschauern hervor, während ihr Geschrei die Leoparden aufregte, daß sie fauchend gegen das Gitter sprangen. Und während sie fortgetragen wurde, jammerte sie still, fast wie ein verzweifeltes Kind. Obwohl Michaels Debüt bei den Leoparden so erfolgreich war, kaufte Raoul Castlemon ihn doch nicht. Mehrere Tage darauf wurde eines Morgens die Manege von Lärm und Aufruhr in den Tierkäfigen erschüttert. Die Unruhe, die mit einem Revolverschuß begann, verbreitete sich überall. Die verschiedenen Löwen begannen ein mächtiges Gebrüll, und die vielen Hunde wurden wie rasend. Alle Künstler in der Manege hielten in der Arbeit inne, weil die Nerven der Tiere erschlafften, so daß sie nicht imstande waren, weiter zu arbeiten. Mehrere Leute, unter ihnen Collins, liefen nach den Käfigen. Der Wächter Saras ließ ihre Leine los, um ihnen zu folgen.
»Das ist Alphonso – ich möchte darauf wetten«, rief Collins einem seiner Gehilfen zu, der neben ihm lief. »Er wird sich doch auf Raoul gestürzt haben.«
Der Kampf war schon vorbei, als Collins hinzukam. Castlemon wurde gerade herausgezogen, und im Laufen konnte Collins sehen, wie zwei Mann ihn auf den Boden legten, um die Käfigtür zuschlagen zu können. Im Käfig waren Alphonso, Jack und Michael zusammen eingeschlossen, aber in einem so wild kämpfenden, wirren Klumpen, daß schwer zu unterscheiden war, aus welchen Tieren er bestand. Vor dem Käfig tanzten die Leute herum, steckten eiserne Stangen hinein und versuchten die Tiere zu trennen. Am äußersten Ende des Käfigs lagen die beiden anderen Leoparden, leckten ihre Wunden, knurrten und schlugen nach den Eisenstangen, die sie vom Kampfe fernhielten.
Saras Ankunft und, was darauf folgte, dauerte nur wenige Sekunden. Die Kette nachschleppend, sprang die kleine grüne Äffin, dies geschwänzte weibliche Wesen, das sowohl lieb wie hysterisch sein konnte und eine Art Halbkusine des Menschenweibchens war, zu den engen Gitterstäben des Käfigs hinauf und zwängte sich hindurch. Gleichzeitig erfolgte eine heftige Umwälzung in dem kämpfenden, wirren Klumpen. Von einer Kraft geschleudert, als sollte er an der Wand des Käfigs zerschmettert werden, fiel Michael auf den Boden, versuchte aufzuspringen, brach aber zusammen und sank nieder, während das Blut ihm aus seiner furchtbar zugerichteten rechten Schulter strömte. Sara sprang zu ihm, schlang die Arme um ihn und drückte ihn zärtlich an ihre kleine, flache, behaarte Brust. Sie stieß betrübte Schreie aus, und als Michael sich auf seinem verletzten Bein zu erheben versuchte, schalt sie ihn mit barscher Zärtlichkeit und versuchte, ihn mit ihren Armen vom Kampfe fernzuhalten. In einer Pause plapperte sie auch in ihrer Wut scharfe, durchdringende Flüche gegen Alphonso, während ihre Augen boshaft funkelten.
Ein Brecheisen, das ihm in die Seite gestoßen wurde, nahm die Aufmerksamkeit des großen Leoparden in Anspruch. Er schlug mit der Tatze nach der Waffe, warf sich, als sie wieder gegen ihn gestoßen wurde, darüber und biß mit seinen Zähnen in das blanke Eisen. Dann stürzte er sich wieder gegen die Stangen des Käfigs und riß mit einem einzigen Tatzenschlage den Arm des Mannes nieder, der ihn gestoßen hatte. Das Brecheisen fiel zu Boden, und der Mann sprang zur Seite. Alphonso stürzte sich wieder auf Jack, der jetzt ein kläglicher Gegner war und nichts als stöhnen und zittern konnte, wo er oder vielmehr sein trauriger Überrest in einer Blutlache lag.
Es war Michael geglückt, auf seine drei Beine zu kommen, und jetzt versuchte er trotz Sara, die ihn festzuhalten versuchte, vorwärts zu wanken. Der wütende Leopard wollte gerade auf ihn losspringen, als seine Aufmerksamkeit durch einen neuen Stoß des Eisens abgelenkt wurde. Diesmal ging er geradeswegs auf den Mann los und stieß mit einer solchen Wucht gegen die Käfigstangen, daß das Gebäude zitterte. Mehrere Leute begannen ihn mit neuen Stangen zu bearbeiten, aber Alphonso ließ sich nicht halten. Sara sah ihn kommen und schrie ihn so schrill und wild an, wie sie konnte. Collins entriß einem der Leute einen Revolver.
»Töten Sie ihn nicht«, rief Castlemon und packte Collins Arm.
Der Leopardenmann war selbst übel zugerichtet. Der eine Arm hing ihm hilflos herab, und um sehen zu können, mußte er seine Augen, in die das Blut aus einer Kopfwunde lief, an der Schulter des Meisters reiben.
»Er ist mein Eigentum«, protestierte er. »Und er ist mehr wert als hundert kranke Affen und schlechtgelaunte Terriers. Und wir retten sie schon noch. Lassen Sie mir noch eine Chance. – Kann mir nicht jemand das Auge auswischen? Ich kann nicht sehen. Ich habe alle Platzpatronen verbraucht. Hat keiner welche?«
In diesem Augenblick schob Sara ihren Körper zwischen Michael und den Leoparden, der immer noch von den Stößen der Eisenstangen zurückgehalten wurde. Und im nächsten Augenblick begann sie ihn wie eine gefangene Katze anzuschreien, als könnte sie ihn durch einen bloßen Wutanfall verscheuchen.
Michael zog sie knurrend und mit gesträubtem Haar mit und hinkte ein paar Schritte vorwärts, dann aber gab die zerschmetterte Schulter nach, und er brach zusammen. Da geschah es, daß Sara ihre Großtat verrichtete. Mit einem letzten leidenschaftlichen Schrei sprang sie der ungeheuren Katze mitten ins Gesicht, riß und kratzte mit allen vier Händen und grub ihre Zähne in die Wurzeln seiner stumpfen Ohren. Der verblüffte Leopard erhob sich auf den Hinterbeinen, schlug mit der Vordertatze nach dem kleinen Teufel, der nicht loslassen wollte, und zerfetzte ihn.
Kampf und Leben der kleinen grünen Äffin dauerten zehn kurze Sekunden, aber das genügte, daß Collins die Tür ein wenig aufschieben, Michael mit einem schnellen Griff am Hinterbein packen und herausziehen konnte.
Auf Cedarwild kannte man keine so rohe Chirurgie wie die von Del Mar, sonst wäre Michael nicht am Leben geblieben. Ein wirklich tüchtiger, kühner Chirurg nahm fast eine Vivisektion mit ihm vor, setzte ihm die verstümmelte Schulter instand und unternahm Dinge, die er bei keinem Menschen gewagt hätte, die sich aber bei Michael als angebracht erwiesen. »Er wird lahm bleiben«, sagte der Arzt, während er sich die Hände abtrocknete und Michael betrachtete, der, fast den ganzen Körper in Gips, als unbeweglicher Gefangener dalag. »Was heilen soll, und das ist gesegnet viel, muß von selber heilen. Wenn seine Temperatur steigt, müssen wir seinem Elend ein Ende machen. Was ist er wert?«
»Kunststücke kann er nicht machen«, antwortete Collins. »Fünfzig Dollar vielleicht, jetzt aber bestimmt weniger. Lahmen Hunden kann man keine Kunststücke beibringen.« Die Zeit sollte zeigen, daß beide Männer unrecht hatten. Michael war nicht zu dauernder Lahmheit bestimmt, obwohl seine Schulter in den kommenden Jahren immer noch empfindlich war und er bei feuchtem Wetter ein bißchen hinkte. Im Gegenteil, Michael war dazu bestimmt, einen hohen Preis zu erzielen und ein Künstler ersten Ranges zu werden, wie Harry Del Mar es ihm prophezeit hatte. Vorläufig aber lag er viele traurige Tage in Gips, ohne daß seine Temperatur zu beunruhigender Höhe stieg. Die Pflege, die man ihm angedeihen ließ, war vortrefflich. Aber nicht aus Liebe und Ergebenheit. Sie war nur ein Teil des Systems auf Cedarwild, das dem Institut einen so großen Ruf verschafft hatte. Als er aus dem Gips genommen war, wurde ihm das instinktive Behagen, das alle Tiere darin finden, ihre Wunden zu lecken, aber noch vorenthalten, denn er blieb in fachmännisch angelegten Bandagen eingespannt und gewickelt, und als sie schließlich entfernt wurden, gab es keine Wunden mehr zu lecken, obwohl noch monatelang tief in der Schulter etwas schmerzte. Harry Collins quälte ihn nicht mehr mit Versuchen, ihm neue Kunststücke beizubringen, sondern überließ ihn eines Tages einem Ehepaar, das drei Tiere seiner Truppe an Lungenentzündung verloren hatte.
»Wenn es mit ihm geht, sollen Sie ihn für zwanzig Dollar haben«, sagte Collins zu dem Manne, Wilton Davis.
»Aber wenn er um die Ecke geht?« fragte Davis.
Collins zuckte die Achseln. »Ich werde mich nicht um ihn grämen. Ihm ist nichts beizubringen.«
Und als Michael Cedarwild in einer Lattenkiste verließ, war die Wahrscheinlichkeit groß, daß er nie zurückkehren würde, denn Wilton Davis war unter den Tierbändigern für seine Grausamkeit gegen Hunde bekannt. Er konnte gewissen Hunden, die besonders hervorragende Künstler waren, einige Sorgfalt angedeihen lassen, aber die gewöhnlicheren Statistenhunde bekam er zu billig. Sie kosteten drei bis fünf Dollar das Stück, und für Michael, der nichts gekostet hatte, war es noch schlimmer. Wenn er starb, bedeutete das für Davis nur die Mühe, sich einen neuen Hund zu suchen.
Im ersten Stadium seines neuen Abenteuers widerfuhr Michael kein besonderes Mißgeschick, trotz der Tatsache, daß er in einer Lattenkiste zusammengepreßt lag, ohne aufstehen zu können, und daß das Rumpeln der Kiste unzählige für seine Schulter schmerzhafte Rucke verursachte. Die Reise ging nur bis Brooklyn, wo er ordnungsgemäß an ein Etablissement zweiten Ranges abgeliefert wurde; Wilton Davis war ein so minderwertiger Dompteur, daß es ihm nie glückte, an einem erstklassigen Unternehmen engagiert zu werden. Die Widerwärtigkeiten in dem engen Käfig begannen, als Michael in einem großen Raum gegenüber der Bühne zu ungefähr zwanzig auf ähnliche Weise eingesperrten Hunden geschafft worden war. Das war eine traurige Versammlung, lauter gewöhnliche Köter, und die meisten von ihnen geistig niedergebrochen und elend. Mehrere hatten häßliche Kopfwunden, weil Davis sie geschlagen hatte. Es wurde keine Rücksicht auf diese Wunden genommen, und sie heilten nicht durch die Kreide, mit der man sie verschmierte, um sie zu verbergen, wenn die Hunde auftraten. Einige von ihnen heulten zeitweise jämmerlich, und jeden Augenblick fielen sie alle in ein Gebell ein, als wäre das das einzige, was sie in ihren engen Zellen noch tun könnten.
Michael war der einzige, der sich an diesem Chor nicht beteiligte. Er hatte längst – eine der Eigentümlichkeiten seines zunehmend mürrischen Wesens – aufgehört zu bellen. Er war unzugänglich geworden und nahm nicht mehr an derartigen Demonstrationen teil; er folgte auch nicht dem Beispiel, das die wütenden Hunde hier gaben, die immer durch die Stäbe ihrer Käfige schalten und knurrten. Michaels schlechte Laune war so eingewurzelt, daß er sich nicht einmal mehr streiten mochte. Sein einziger Wunsch war, in Frieden gelassen zu werden, und das wurde er in den ersten achtundvierzig Stunden zur Genüge.
Wilton war mit seiner Truppe zu früh eingetroffen, so daß sie fünf Tage Zeit hatten, ehe das neue Programm in Kraft trat. Da er die Pause benutzen wollte, um die Familie seiner Frau in New Jersey zu besuchen, hatte er einen Angestellten des Etablissements gemietet, um seine Hunde zu füttern und zu tränken. Das würde der Mann auch getan haben, hätte er nicht das Pech gehabt, mit dem Besitzer einer Wirtschaft in Streit zu geraten, einen Streit, der mit einem Schädelbruch und einer Fahrt mit dem Krankenwagen nach dem Hospital endete. Zu alledem wurde das Theater drei Tage geschlossen, um gewisse, von der Baupolizei verlangte Veränderungen vorzunehmen.
Keine Seele kam in die Nähe des Raumes und nach einigen Stunden begann Michael Hunger und Durst zu fühlen. Die Zeit verging, und der Drang nach Futter wurde durch den Drang nach Wasser verdrängt. Gegen Abend setzte ein anhaltendes Bellen und Kläffen der Hunde ein, das aber in den langen Nachtstunden in Wimmern und Jaulen überging. Michael allein verhielt sich schweigend und erduldete sein Elend still.
Der Morgen des zweiten Tages brach an; langsam schlichen die Stunden der nächsten Nacht zu; und die Dunkelheit senkte sich über eine Szene, die an sich genügt hätte, um alle Tierdressurnummern in allen Varietes und allen Gauklerzelten der ganzen Welt zu richten. Ob Michael träumte oder sich in einem Zustand nahe dem Delirium befand, davon erzählt die Geschichte nichts; wie dem nun aber auch sein mochte, so durchlebte er fast sein ganzes früheres Leben noch einmal. Er spielte wieder als kleines Hündchen auf der breiten Veranda von Herrn Haggins Plantagenbungalow in Meringe; schlich sich mit Jerry in den Dschungel am Ufer, um den Krokodilen aufzulauern; lernte von Herrn Haggins und Bob, das Beispiel Biddys und Terrences vor Augen, schwarze Menschen als geringere, verächtliche Götter zu betrachten, die stets mit Nachdruck in ihren Grenzen zu halten waren.
An Bord des Schoners Eugénie fuhr er mit Kapitän Kellar, seinem zweiten Herrn, und am Strande von Tulagi verlor er sein Herz an Steward mit den magischen Fingern und fuhr mit ihm und Kwaque auf dem Dampfer Makambo davon. Steward war es, der am häufigsten in seinen Visionen vor einem trüben Hintergrund von Schiffen und Menschen auftauchte, ebenso der alte Seemann, Simon Nishikanta, Grimshaw, Kapitän Doane und der kleine alte Ah Moy. Und zuletzt, aber am seltensten, tauchten Scraps auf und Cocky, das kleine, mutige daunenweiche Tier, das sich tapfer durch sein kurzes Lebensabenteuer in der klaren Sonne des Tages hindurchkämpfte. Und es schien Michael, als klammere Cocky sich von einer Seite an ihn und plappere ihm sein Kauderwelsch in die Ohren, und als klammere sich Sara von der andern Seite an ihn und erzähle ihm kichernd ihre endlose, unverständliche Lebensgeschichte. Und zuletzt schien es ihm, als spüre er tief an den Wurzeln seiner Ohren die magischen, liebkosenden Finger des geliebten Stewards.
»Ich habe wirklich kein Glück«, sagte Wilton Davis niedergeschlagen und starrte auf seine Hunde, während die Luft noch von den Flüchen zitterte, die er ausgestoßen hatte.
»Das kommt davon, wenn man sich auf einen versoffenen Theaterknecht verläßt«, bemerkte seine Frau sanft. »Es sollte mich nicht wundern, wenn die Hälfte von ihnen jetzt verreckte.«
Er ließ Eimer auf Eimer voll Wasser aus dem Hahne in der Ecke laufen und goß sie in einen großen verzinkten Kübel. Beim Geräusch des rinnenden Wassers begannen die Hunde zu winseln, zu kläffen und zu jammern. Einige versuchten ihm mit ihren geschwollenen Zungen die Hände zu lecken, als er sie barsch aus ihren Käfigen zog. Die Schwächeren krochen auf dem Bauch zum Kübel und wurden von den Starken niedergetreten. Sie hatten nicht alle Platz, die Stärkeren tranken zuerst, kämpfend, streitend und beißend. Unter den Vordersten befand sich Michael, der biß und wieder gebissen wurde, dem es aber doch glückte, einige schnelle Schlucke von dem lebenspendenden Wasser zu nehmen. Davis teilte nach rechts und links Fußtritte aus, damit alle etwas bekämen. Seine Frau half ihm, indem sie mit einem Schwapper dazwischenfuhr. Es war eine Hölle von Leiden, denn als ihr brennender Schlund vom Wasser erfrischt war, konnten die Tiere ihre Qual und ihr Elend wieder kläffend und heulend zum Ausdruck bringen.
Mehrere von ihnen waren zu schwach, um zum Wasser zu gelangen, so daß sie hingetragen wurden und es in den Mund gespritzt bekamen. Es war, als könnten sie nie genug bekommen. Sie lagen überall im Raum zusammengebrochen, aber jeden Augenblick kroch bald der eine, bald der andere zum Kübel und versuchte, noch mehr zu trinken. Inzwischen hatte Davis Feuer gemacht und einen großen Kessel mit Kartoffeln gefüllt.
»Hier riecht es wie in einem Stinktierbau«, bemerkte Frau Davis, während sie einen Augenblick innehielt, um sich mit der Puderquaste über die Nasenspitze zu fahren. »Liebster, wir müssen sie waschen.«
»Stimmt, Liebling«, stimmte ihr Mann ihr bei. »Und je schneller, desto besser. Wir können es tun, während die Kartoffeln kochen und abkühlen. Ich werde sie schrubben, und du kannst sie abtrocknen. Denk an die Lungenentzündung und reibe sie gründlich trocken.«
Es war ein schnelles, rauhes Bad. Er packte die Hunde und warf sie der Reihe nach in den Kübel, aus dem sie getrunken hatten. Wenn sie sich fürchteten oder irgendwie Einwände machten, schlug er sie mit der Scheuerbürste und der gelben Seifenstange, mit der er sie einseifte, auf den Kopf. Einige Minuten genügten für jeden Hund.
»Sauf, du Vieh, sauf – noch einen Tropfen«, sagte er und tauchte ihre Köpfe in das schmutzige Seifenwasser. Er schien sie für den schrecklichen Zustand, in dem sie sich befanden, verantwortlich zu machen und ihren Schmutz als eine persönliche Beleidigung zu betrachten.
Michael wehrte sich nicht, als er in den Kübel geworfen wurde. Er erkannte an, daß Bäder unumgänglich waren, wenn sie auch auf Cedarwild nach einem weit besseren Prinzip verabreicht wurden, und wenn Kwaque und Steward das Baden auch zu einer Art Liebeszeremonie gemacht hatten. So fand er sich denn nach Möglichkeit darein, abgeschrubbt zu werden, und alles wäre vielleicht gut abgelaufen, hätte Davis ihn nicht untergetaucht. Michaels Kopf kam mit einem warnenden Knurren hoch. Davis hielt die schwere Bürste zurück, mit der er ihm gerade einen Schlag versetzen wollte, und stieß einen leisen Pfiff aus.
»Hallo!« sagte er, »sieh mal her, Schatz, das ist der Irische Terrier, den ich von Collins kriegte. Er taugt nichts. Das sagte Collins. Nur zum Ausfüllen. – Mach', daß du wegkommst!« befahl er Michael. »Diesmal sollst du so davonkommen, Herr Frechdachs. Aber du kannst dich drauf verlassen, ich werde sehr bald ein Wörtchen mit dir reden, daß dir der Schädel brummt.«
Während die Kartoffeln abkühlten, verscheuchte Frau Davis die hungrigen Hunde mit scharfen Schreien. Michael lag finster brütend ein wenig abseits und beteiligte sich nicht am Wettlauf, als der Trog freigegeben wurde.
»Wenn sie nach allem, was wir für sie getan haben, noch Spektakel machen, dann gib ihnen einen Tritt in die Rippen, mein Schatz«, sagte Davis zu seiner Frau. »Da, nimm! So, das wolltest du?« sagte er zu einem großen Hund, indem er ihm einen heftigen Tritt in die Seite versetzte. Das Tier heulte vor Schmerz auf, floh und sah, als es sich in Sicherheit gebracht hatte, traurig nach dem dampfenden Futter hinüber. Als die Kartoffeln aufgefressen waren, wurden die Hunde wieder auf weitere vierundzwanzig Stunden in ihre Käfige gesperrt. Es wurde Wasser in ihre Trinkschalen gegossen, und abends wurden sie, immer noch in ihren Käfigen, reichlich mit gekochter Kleie und Hundekuchen gefüttert. Das war Michaels erste Mahlzeit, denn er hatte sich mürrisch von den Kartoffeln ferngehalten.
Die Probe fand auf der Bühne statt, und für Michael begannen gleich die Widerwärtigkeiten. Wenn der Vorhang aufging, sollten die zwanzig Hunde in einem Halbkreis auf Stühlen sitzen. Während sie hingesetzt wurden, fand vor dem Vorhang die vorhergehende Nummer statt, und es war daher durchaus notwendig, daß strengstes Schweigen beobachtet wurde. Wenn der Vorhang dann aufging und die ganze Bühne sichtbar wurde, waren die Hunde dazu abgerichtet, in ein starkes Bellen auszubrechen. In seiner Eigenschaft als »Füller« hatte Michael nichts zu tun, als auf einem Stuhl zu sitzen. Aber er mußte ja erst auf den Stuhl hinauf, und als Davis es ihm befahl, begleitete er die Order mit einer Ohrfeige. Michael knurrte drohend.
»Ach so!« höhnte der Mann. »Frechdachs macht sich mausig. Na, auch gut, dann haben wir's gleich hinter uns. Und ich kann dich umtaufen und dich ›guter Hund‹ nennen. Liebling, achte einen Augenblick auf die andern Hunde, ich will dem Frechdachs die Anfangsgründe beibringen.«
Je weniger wir von der Abstrafung, die folgte, reden, desto besser. Michael kämpfte einen hoffnungslosen Kampf und wurde furchtbar verprügelt. Zerschlagen und brütend saß er auf dem Stuhl, ohne sich aktiv an der Nummer zu beteiligen, und arbeitete sich nur in immer tieferen, bitteren Gram hinein. Schweigsam zu bleiben, bis der Vorhang aufging, fiel ihm nicht schwer. Als der Vorhang aber aufging, weigerte er sich, an dem rasenden Bellen und Kläffen der anderen Hunde teilzunehmen.
Die Hunde verließen auf Kommando ihre Stühle, zuweilen einzeln, zuweilen zu zweien, zu dreien, oder in größeren Gruppen, und führten die gewöhnlichen Hundekunststücke aus, wie auf den Hinterbeinen gehen, springen, hinken, walzen und Salto mortales schlagen. Wilton Davis' Geduld war nicht groß, und seine Hand fiel während der ganzen Proben immer wieder schwer nieder, wie das schrille Schmerzensgekläff der Trägen und Dummen bezeugte.
Im Laufe dieses und am Vormittag des nächsten Tages fanden im ganzen drei Proben statt. Michaels Widerwärtigkeiten hörten vorläufig auf. Auf Kommando nahm er schweigend seinen Platz auf dem Stuhle ein und blieb still sitzen. »Da siehst du wieder, Liebling, was der Stock zuwege bringt«, prahlte Davis vor seiner Frau. Keiner der beiden Ehegatten ließ sich träumen, welchen Skandal Michael bei der ersten Vorstellung verursachen sollte.
Hinter dem Vorhang war alles auf der Bühne bereit. Die Hunde saßen in kläglichem Schweigen auf ihren Stühlen, während Davis und seine Frau ihnen andauernd drohten, damit sie stillblieben, und Dick und Daisy Bell vor dem Vorhang das Publikum der Matinee durch ihren Gesang und Tanz erfreuten. Und alles ging gut, und niemand im Publikum würde geahnt haben, daß die ganze Bühne hinter dem Vorhang voller Hunde war, hätten nicht Dick und Daisy angefangen, mit Orchesterbegleitung »Fahr' mit mir nach Rio«, zu singen.
Michael konnte nichts dafür. Wie einst durch die Maultrommel Kwaques, durch die Liebe Stewards und durch die Harmonika Del Mars, wurde er jetzt durch das Orchester und die Männer- und die Frauenstimme mitgerissen, die die Töne des Liedes trällerten, das Steward ihn gelehrt hatte. Gegen seinen Willen und trotz seiner schlechten Laune riß es ihm mit zwingender Kraft die Kiefer auseinander und ließ die ganze Kehle mitsingend vibrieren. Jenseits des Vorhangs ertönte ein Kichern von Kindern und Frauen, das zu einem Rauschen anwuchs und die Stimmen Dicks und Daisys übertönte. Wilton Davis fluchte wild, er sprang über die Bühne zu Michael. Aber Michael heulte weiter, und das Publikum lachte. Michael hatte noch nicht mit dem Heulen aufgehört, als der kurze Knüppel ihn traf. Der Schlag und der Schmerz ließen ihn innehalten und einen unwillkürlichen Schmerzensschrei ausstoßen.
»Reiß ihm den Kopf ab, Liebster«, rief Frau Davis, und nun folgte ein heftiger Kampf. Davis versetzte dem Hund wohlberechnete Schläge, die man ebensogut hören konnte wie das Knurren Michaels. Das Publikum achtete, von der Komik der Situation ergriffen, weder auf Dick noch auf Daisy Bell. Deren Nummer war verdorben. Und die Davis'sche Nummer war lächerlich gemacht, wie Wilton sich ausdrückte. In übertragenem Sinne riß er Michael den Kopf ab, aber das Publikum jenseits des Vorhangs war erbaut und begeistert. Dick und Daisy konnten nicht fortfahren. Das Publikum wollte nicht sehen, was vor, sondern was hinter dem Vorhang geschah. Michael wurde, halb erwürgt, von einem Hausknecht abgeführt, und der Vorhang hob sich vor der vollzähligen Schar – das heißt vollzählig bis auf den einen leeren Stuhl. Die Jungens im Publikum waren die ersten, die die Verbindung zwischen dem leeren Stuhl und dem früheren Lärm entdeckten, und sie begannen nach dem abwesenden Hund zu rufen, das Publikum nahm den Ruf auf, die Hunde bellten noch erregter. Die Heiterkeit verzögerte um fünf Minuten die Vorstellung, die, als sie endlich in Gang kam, seitens der Hunde von Heiserkeit und Unruhe und seitens Wilton Davis von ausgesprochen schlechter Laune geprägt war.
Als der Vorhang vor dem heiteren Publikum gefallen war und die Hunde hinter die Bühne gebracht worden waren, ging Wilton Davis hinunter, um nach Michael zu sehen, der, statt in einer Ecke zusammenzukriechen, noch zitternd von der Mißhandlung zwischen den Beinen des Hausknechts stand und drohte, sich kräftiger als je zu verteidigen, wenn er angegriffen werden sollte. Unterwegs begegnete Davis dem singenden und tanzenden Paar. Die Frau befand sich in einer tränenvollen Wut, die des Mannes war trockener.
»Sie sind ein schöner Hundedresseur«, erklärte er kriegerisch.
»Hier haben Sie, was Sie verdienen.«
»Bleiben Sie fort, oder ich schlage Sie nieder«, antwortete Wilton Davis desperat und schwang eine kurze Eisenstange in der Rechten. »Wenn Sie übrigens wollen, so warten Sie nur ein bißchen, dann werd' ich's Ihnen zeigen. Zuerst aber muß ich den Hund totschlagen. Kommen Sie mit, wenn Sie es sehen wollen. – Der Teufel soll ihn holen. Wie konnte ich das ahnen. Er war ganz neu. Auf den Proben hat er nicht gemuckst. Wie konnte ich ahnen, daß er heulen würde, wenn wir hinter Ihnen standen?«
»Sie haben ja einen Höllenspektakel gemacht.« Mit diesen Worten begrüßte der Direktor des Etablissements Davis, als der mit Dick auf den Fersen zu Michael trat, der zwischen den Beinen des Hausknechts lag und dem sich die Haare sträubten.
»Nichts gegen das, was ich jetzt zu tun gedenke«, antwortete Davis, packte die Eisenstange fester und hob sie. »Ich will ihn totschlagen, ich will ihm das Leben zum Leibe herausprügeln.«
Michael, der die Drohung erkannte, knurrte, krümmte sich zum Sprunge und hielt die Augen fest auf die eiserne Waffe gerichtet. »Ich glaube, Sie werden das nicht tun«, versicherte der Hausknecht Davis.
»Er gehört mir«, behauptete der Dompteur mit überzeugender Kraft.
»Ja, aber gegen Ihr Besitzrecht stelle ich Ihren gesunden Menschenverstand«, antwortete der Hausknecht. »Rühren Sie ihn nur ein einziges Mal an, dann werden Sie etwas erleben. Sie dürfen nicht so roh gegen den Hund sein. Er war das erstemal in seinem Leben auf der Bühne, nachdem er zwei Tage gehungert und gedurstet hatte, o ja, ich weiß Bescheid, Herr Direktor.«
»Wenn Sie den Hund totschlagen, kostet es Sie einen Dollar für den Abdecker, um den Kadaver fortzuschaffen«, warf der Direktor ein.
»Den will ich mit Freuden bezahlen«, sagte Davis und hob wieder die eiserne Stange.
»Ihre Tierquälerei ist zum Kotzen«, sagte der Hausknecht. »Aber alles hat seine Grenzen. Und ich sage Ihnen: Versuchen Sie nur ein einziges Mal, ihn mit der eisernen Stange anzurühren, dann rühre ich Sie an, und zwar hart genug, daß ich meine Stellung verliere und Sie ins Krankenhaus geschickt werden.«
»Hören Sie mal, Jackson ...« begann der Direktor drohend.
»Sie brauchen mir nichts zu sagen«, lautete die Antwort, »ich habe meinen Entschluß gefaßt. Wenn der Mistkerl den Hund auch nur mit einem Finger anrührt, dann bin ich ganz sicher, daß ich meine Stellung verliere. Ich hab' es satt, diese Kerle die Hunde zu Tode prügeln zu sehen.«
Der Direktor sah Davis an und zuckte hilflos die Achseln. »Lassen Sie es nicht zum Äußersten kommen«, ermahnte er. »Ich möchte Jackson nicht verlieren, und wenn er erst einmal anfängt, bringt er Sie ins Krankenhaus. Schicken Sie den Hund wieder dorthin, wo Sie ihn hergeholt haben. Ihre Frau hat mir von ihm erzählt. Stecken Sie ihn in eine Kiste und schicken Sie ihn per Nachnahme zurück. Collins wird nichts dagegen haben. Er wird ihm das Singen austreiben und etwas aus ihm machen.«
Davis schielte noch einmal nach dem grimmig aussehenden Jackson, konnte sich aber nicht entschließen.
»Ich will Ihnen etwas sagen«, fuhr der Direktor überredend fort. »Jackson wird alles besorgen, ihn in die Kiste stecken und wegschicken – nicht wahr, Jackson?«
Der Hausknecht nickte mürrisch, streckte dann die Hand aus und streichelte freundlich Michaels zerschlagenen Kopf.
»Na ja«, sagte Davis, indem er sich zum Gehen wandte. »Laß ihn sich für den Hund zum Narren machen, wenn er mag. Aber wenn Sie ebensolange beim Bau wären wie ich, dann ...«
Eine Postkarte von Davis an Collins erklärte die Gründe für die Rückkehr Michaels. »Er singt zuviel für meinen Geschmack«, drückte Davis es aus und gab damit ahnungslos Collins den Schlüssel zu dem, was er vergebens gesucht hatte, was er allerdings, ebenso ahnungslos, nicht verstand, als er zu Johnny sagte:
»Nach den Prügeln, die er gekriegt hat, ist es kein Wunder, daß er gesungen hat. Diese Menschen verstehen nicht, mit ihren Tieren umzugehen. Sie schlagen ihnen beinahe den Kopf ab und ärgern sich, daß sie nicht lustig wie die Engel sind. Nimm ihn mit, Johnny.
Wasch ihn und leg' ihm überall, wo die Haut zerschunden ist, den gewöhnlichen Verband an.
Ich gebe ihn auf, aber ich werde ihn in der nächsten Hundetruppe unterbringen.«
Zwei Tage später entdeckte Harris Collins durch einen reinen Zufall selbst, wozu Michael taugte. In einer Pause in der Manege hatte er ihn holen lassen, um vor dem Besitzer einer Hundetruppe, der mehrere Hunde zum Auffüllen brauchte, eine Probe abzulegen. Außer dem, was er bereits konnte, wie auf Kommando aufstehen, sich niederlegen, kommen und gehen, hatte Michael es abgelehnt, auch nur die einfachsten Anfängerkunststücke, die jeder Varietehund kennen muß, zu lernen. Collins ließ ihn stehen, um sich nach der andern Seite der Manege zu begeben, wo ein Affenorchester in einer Art mimischer Szene aufgestellt und eingeübt wurde.
Obgleich die Affen erschrocken und aufsässig waren, wurden sie doch gezwungen, ihre Nummer auszuführen, indem man sie an ihre Stühle und Instrumente festband und mit Schnüren an ihnen zerrte und zog. Der Dirigent, ein älterer, hitziger Affe, saß auf einem Drehstuhl, auf dem er gehörig angebunden war. Wenn er mit langen Stangen von der Bühne fortgestoßen wurde, bekam er einen hysterischen Wutanfall. Gleichzeitig wurde sein Stuhl durch eine Schnurmaschinerie herumgewirbelt. Auf das Publikum mußte das einen Eindruck machen, als ob er wütend über die Fehler seines Orchesters wäre, und das Publikum mußte diese Wut äußerst komisch finden. Wie Collins sagte:
»Ein Affenorchester hat immer Erfolg. Man lacht darüber, und Lachen bringt Geld. Die Leute müssen unwillkürlich über die Affen lachen, weil sie ihnen selbst so ähnlich sehen, und weil die Leute sich ihnen doch für überlegen halten. Wir können nicht sehen, was für Narren wir selber sind. Darum bezahlen wir dafür, die Affen Torheiten machen zu sehen.«
Man konnte kaum von einer Dressur der Affen sprechen, eher von einer Dressur der Männer, die den geheimen Schnurmechanismus bedienten. Hier setzte Harris Collins seine Kräfte ein.
»Es ist gar nicht ausgeschlossen, daß Sie sie dazu kriegen können, eine richtige Melodie zu spielen, meine Herren. Das steht ganz in Ihrer Macht und hängt nur davon ab, wie Sie die Schnüre ziehen. Also los jetzt. Lassen Sie uns irgendeine Melodie versuchen, die alle kennen. Und denken Sie daran, daß Ihnen das wirkliche Orchester immer weiterhelfen wird. Na, welche kennen Sie alle? Wissen Sie nicht irgendeine leichte, die das Publikum auch kennt?«
Er ging ganz in seiner Idee auf und ließ einen Kunstreiter kommen, dessen Nummer darin bestand, auf dem Rücken eines galoppierenden Pferdes Geige zu spielen und dabei Saltos zu schlagen. Diesen Mann ließ er in langsamem Takt leichte Melodien spielen, so daß die Gehilfen folgen und entsprechend an den Schnüren ziehen konnten.
»Natürlich können Sie sie auch schauerlich falsch spielen lassen«, sagte Collins zu ihnen, »und dann ziehen sie alle wie wahnsinnig an den Schnüren, stoßen den Dirigenten und lassen ihn herumschnurren, das gibt einen Knalleffekt. Das Publikum glaubt, er habe ein wirklich feines musikalisches Gehör und sei wütend, weil das Orchester so falsch spielt.« Mitten in dieser Arbeit kamen Johnny und Michael. »Der Mann sagt, er will ihn nicht geschenkt haben«, sagte Johnny zu seinem Chef.
»Schön, schön, führ' ihn in den Stall zurück«, befahl Collins eilig. »Na, meine Herren, halten Sie sich bereit. ›Heimat, süße Heimat!‹ Los, Fisher! Takt halten, ihr andern! So! Bei vollem Orchester müssen sie Bewegungen machen, die der Melodie entsprechen. Schneller, Sie da, Simmons. Sie hinken immer nach.«
Aber da geschah das Unerwartete. Statt sofort zu gehorchen und Michael fortzuschaffen, zögerte Johnny in der Hoffnung, zu sehen, wie der Dirigent auf seinem Stuhl herumgewirbelt wurde. Der Geiger, der ein paar Schritt von Michael niederhockte, spielte »Heimat, süße Heimat« laut, langsam und mit deutlicher Betonung.
Und Michael konnte nicht anders. Ebensowenig hätte er das Knurren lassen können, wenn er mit einem Knüppel bedroht wurde; ebensowenig hätte er es lassen können, Dick und Daisy Bells Nummer zu verderben, als er von den Tönen von »Fahr' mit mir nach Rio« hingerissen wurde; er konnte sich ebensowenig beherrschen wie Jerry, der auf dem Deck der Ariel singen mußte, wenn Villa Kennan die Arme um ihn schlang, ihn so herrlich in die Wolke ihres Haares hüllte und durch ihren Gesang in den Morgen der Zeiten zurückführte, wo er mit dem alten Rudel der Vorfahren gejagt hatte. Wie auf Jerry wirkte auch auf Michael Musik als ein Zaubermittel, das ihn träumen ließ. Auch er erinnerte sich des entschwundenen Rudels und rief es klagend, und während er die nackten, schneebedeckten Hügel und die Sterne, die in der kalten, dunklen Nacht funkelten, zu sehen meinte, glaubte er ein schwaches Antwortgeheul von den andern Hügeln zu hören, wo das Rudel sich versammelte.
Und in seine Wachträume von einem früheren Dasein mischte sich die Erinnerung an Steward und die Liebe für Steward, von dem er eben die Reihe Töne singen gelernt hatte, die jetzt von dem geigenden Kunstreiter wiederholt wurde. Und Michaels Kinn senkte sich, sein Hals vibrierte, seine Vorderfüße machten kleine unruhige Bewegungen, als wäre er auch im Begriff, wieder durch alle Zeiten zu dem schattenhaften entschwundenen Rudel zurückzukehren und mit ihm über die schneebedeckten Einöden nach Beute zu jagen.
Alle die geisterhaften Gestalten des entschwundenen Rudels waren um ihn her, während er sang. Der Geiger hielt überrascht inne, die Leute stießen den Affendirigenten des Affenorchesters und ließen ihn auf seinem Drehstuhl schnurren, daß er vor Wut raste, und Johnny lachte. Harris Collins aber spitzte die Ohren. Er hatte gehört, daß Michael genau der Melodie folgte. Er hatte ihn singen hören, nicht nur heulen, sondern singen. Es wurde ganz still. Der Affendirigent hörte auf, sich zu drehen und zu schimpfen, die Leute, die ihn gestoßen hatten, hielten Stangen und Schnüre in Ruhe, und das übrige Affenorchester zitterte nur aus Furcht, welche neue Grausamkeit es jetzt wohl erleiden sollte. Der Geiger starrte. Johnny wand sich immer noch vor Lachen. Harris Collins aber grübelte tief, kratzte sich den Kopf und grübelte weiter.
»Ihr wollt mir doch nichts erzählen«, begann er unsicher. »Ich weiß. Ich hab' es gehört. Der Hund hat mitgesungen. Oder nicht? Ich richte die Frage an euch alle. Tat er es, oder nicht? Der verfluchte Köter hat gesungen. Darauf möchte ich den Kopf wetten. – Wartet, Jungens; laßt die Affen pausieren. Das müssen wir ein bißchen näher untersuchen. – Herr Geiger, spielen Sie noch einmal ›Heimat, süße Heimat‹.
Los! Spielen Sie kräftig, laut und langsam. – Jetzt paßt alle auf und hört zu und sagt mir, ob ich verrückt geworden bin, oder ob der Hund nicht der Melodie folgt. – Was meint ihr? Tut er's nicht?«
Es war kein Zweifel. Sobald die ersten Takte gespielt waren, senkte sich Michaels Unterkiefer, und seine Vorderfüße begannen unruhig zu trippeln. Harris Collins trat dicht zu ihm und sang mit ihm.
»Harry Del Mar hatte recht, als er sagte, der Hund sei einzig, und als er seine Truppe verkaufte. Er wußte Bescheid. Das ist ein Caruso-Hund. Nicht die Spur wie die Hunde in dem Heulchor, mit dem Kingman herumzuziehen pflegte. Nein, dies ist ein wirklicher Sänger, ein Solist. Kein Wunder, daß er kein Kunststück lernen wollte, er hatte ja seine Spezialität. Und den hatte ich dem Hundemörder Wilton Davis so gut wie geschenkt! Na, er ist ja Gott sei Dank wiedergekommen. – Johnny, du mußt jetzt besonders gut auf ihn aufpassen. Bring ihn mir heute nachmittag in meine Villa, dann werde ich ihn richtig prüfen. Meine Tochter spielt Geige. Wir werden sehen, welche Stücke er mit ihr singen kann. Der Hund ist eine Goldgrube, darauf könnt ihr euch verlassen.«
So wurde Michael entdeckt. Die Probe am Nachmittag fiel teilweise gut aus. Nachdem Collins vergebens versucht hatte, ihm unbekannte Stücke vorzuspielen, kam er zu dem Ergebnis, daß er noch zwei weitere Lieder singen konnte und wollte. Viele Stunden und viele Tage wurden eingehender Untersuchung geopfert. Er versuchte tagelang, Michael neue Melodien beizubringen, aber Michael war eigensinnig. Sobald jedoch eines der Lieder gespielt wurde, die er vom Steward gelernt hatte, gab er nach. Er konnte nicht anders. Der Zauber der Töne war stärker als er. Schließlich hatte Collins fünf von den sechs Liedern entdeckt, die er konnte! Nur »Shenandoah« sang Michael nie, weil Collins und seine Tochter das alte Seemannslied nicht kannten und daher nicht imstande waren, es ihm vorzuspielen.
»Fünf Lieder genügen, wenn er auch nicht eine Note mehr dazulernt«, erklärte Collins. »Die machen ihn überall zum größten Schlager. Er ist eine Goldgrube. Weiß Gott, wenn ich jung und frei wäre, ich würde selbst mit ihm auf die Reise gehen.«
Und es endete damit, daß Michael für zweitausend Dollar an einen gewissen Jakob Henderson verkauft wurde. »Für den Preis schenke ich ihn Ihnen beinahe«, sagte Collins. »Wenn Sie sich nach sechs Monaten nicht weigern, ihn für fünftausend zu verkaufen, dann verstehe ich das Geschäft nicht mehr. Er wird Ihrem letzten rechnenden Hund völlig den Wind aus den Segeln nehmen, und Sie brauchen nicht mehr selbst jede Minute, die die Nummer dauert, zu arbeiten. Wenn Sie ihn nicht mit fünfzigtausend versichern, sobald er Erfolg gehabt hat, sind Sie dümmer, als erlaubt ist. Ich sage Ihnen, wenn ich jung und frei wäre, könnte ich mir nichts Besseres wünschen, als selbst mit ihm auf die Reise zu gehen.«
Es zeigte sich, daß Henderson ganz anders war als die Herren, die Michael bisher gehabt hatte. Der Mann war eine Art neutralen Wesens. Er war weder gut noch schlecht, er trank weder, noch rauchte oder fluchte er. Er ging weder in die Kirche, noch war er Temperenzler. Er war Vegetarianer, aber kein fanatischer, liebte das Kino, wenn es fremde Gegenden und Städte zeigte, und verwandte den größten Teil seiner Zeit darauf, Swedenborg zu lesen. Er war völlig leidenschaftslos. Keiner hatte ihn je in Wut geraten sehen, und alle erklärten, daß er geduldig wie Hiob sei. Er hatte sogar Hemmungen gegenüber Schutzleuten, Güterexpedienten und Zugführern, wenn er sie auch nicht fürchtete. Er fürchtete überhaupt nichts, sowenig er etwas liebte, außer seinem Swedenborg. Sein Charakter war ebenso farblos wie die neutralen Anzüge, die er trug, wie das neutrale Haar, das seinen Scheitel bedeckte, und wie die neutralen Augen, mit denen er die Welt betrachtete. Er war weder dumm, noch klug oder gelehrt. Er opferte dem Leben nur wenig, verlangte nur wenig vom Leben und lebte in der Artistenwelt so unangefochten wie ein Einsiedler mitten im Getriebe der Welt. Michael liebte ihn weder, noch haßte er ihn, sondern nahm ihn im Grunde einfach als etwas Gegebenes hin. Sie durchreisten die Städte und hatten nie einen Streit miteinander. Nicht ein einziges Mal sprach Henderson mit Michael in einem strengen Ton, und nicht ein einziges Mal knurrte Michael ihn drohend an. Sie fanden sich einfach ineinander, lebten zusammen, weil der Strom des Lebens sie nun einmal zusammengeführt hatte. Das Verhältnis zwischen ihnen war selbstverständlich kein herzliches. Henderson war der Herr, Michael war Hendersons Gut und Eigentum. Michael war für ihn etwas ebenso Totes, wie er selbst es allen Dingen gegenüber war.
Jakob Henderson war jedoch ehrlich und rechtschaffen, geschäftstüchtig und methodisch. Wenn sie nicht mit den ewigen Zügen reisten, badete er Michael einmal täglich gründlich und trocknete ihn hinterher ebenso gründlich ab. Er war beim Baden nie grob oder heftig. Michael wurde sich nie recht klar darüber, ob er dieses Bad mochte oder nicht. Es gehörte, wie alles andere, zu seinem Los hier auf Erden, wie es zu dem Hendersons gehörte, ihn zu baden.
Michaels Arbeit selbst war ziemlich leicht, aber einförmig. Abgesehen von der Zeit, die er auf den ewigen Reisen, mit den unaufhörlichen Fahrten von Stadt zu Stadt verbrachte, trat er einmal jeden Abend, sieben Abende in der Woche, und zweimal wöchentlich des Nachmittags auf. Wenn der Vorhang aufging, stand er allein und in Gala auf der Bühne, wie es sich für einen Solisten ersten Ranges gehörte. Henderson stand, ungesehen vom Publikum, in der Kulisse und sah zu. Das Orchester spielte vier von den Liedern, die Michael von Steward gelernt hatte, und Michael sang sie, denn sein moduliertes Geheul war wirklich Gesang. Er ließ sich nie dazu herab, mehr als eine Zulage zu geben, und die war stets »Heimat, süße Heimat«. Wenn sie vorbei war und das Publikum durch Klatschen und Trampeln seinem Beifall und seiner Begeisterung über den Caruso-Hund Luft machte, zeigte Jakob Henderson sich auf der Bühne, verbeugte sich, lächelte unbeweglich froh und dankbar und ließ seine rechte Hand auf Michaels Schulter ruhen, wie um ihr kameradschaftliches Verhältnis anzudeuten, worauf beide, Henderson und Michael, sich verbeugten, und der Vorhang dann unwiderruflich fiel.
Und doch war Michael ein Gefangener, Gefangener auf Lebenszeit. Er wurde gut gefüttert, regelmäßig gebadet und bekam reichliche Bewegung, hatte aber nie eine Minute Freiheit. Auf den Reisen verbrachte er Tage und Nächte im Käfig, der jedoch so bequem eingerichtet war, daß er in seiner vollen Höhe aufrecht darin stehen und sich umdrehen konnte, ohne sich die Glieder allzusehr zu verrenken. In den Hotels der Provinzstädte wurde er zuweilen aus seiner Kiste herausgelassen und teilte das Zimmer mit Henderson. Sonst durfte er, wenn nicht im selben Etablissement andere Tiere auftraten, frei in den Ställen herumlaufen. Seine Gastspiele dauerten von drei Tagen bis zu einer Woche. Aber er hatte nie Gelegenheit, auch nur einen Augenblick frei herumzulaufen, ohne in seinen Bewegungen von den Wänden eines Raumes oder von einer an dem Halsband um seine Kehle befestigten Kette gehemmt zu sein. War das Wetter gut, so ging Henderson oft am Nachmittag mit ihm spazieren. Aber er war stets an der Leine, und der Weg führte fast immer in irgendeinen Park, wo Henderson die Leine an der Bank befestigte und seinen Swedenborg vornahm. Michael war nicht imstande, auch nur eine einzige wirklich freie Handlung zu unternehmen. Andere Hunde liefen frei umher, spielten miteinander oder stritten sich. Näherten sie sich in der Absicht, ihn zu untersuchen oder seine Bekanntschaft zu machen, so unterbrach Henderson unweigerlich seine Lektüre, bis er sie verjagt hatte.
Als lebenslänglicher Gefangener mit einem apathischen Wächter wurde das Leben für Michael grau und einförmig. Seine Verdrießlichkeit wurde zu tiefwurzelnder Melancholie. Er hörte auf, sich für das Leben und die Freiheit des Lebens zu interessieren. Nicht, daß er das Leben, das sich um ihn her regte, mit galligen Blicken betrachtet hätte, man könnte eher sagen, daß seine Augen es nicht mehr sahen. Vom Leben ausgeschlossen, übersah er das Leben. Er entwickelte sich zu einem rein mechanischen Sklaven, der fraß, badete, in seinem Käfig reiste, regelmäßig auftrat und viel schlief.
Er hatte Stolz – den Stolz des Vollblutgeschöpfes, den Stolz des nordamerikanischen Indianers, der als Sklave nach den westindischen Plantagen geschickt wurde, aber klaglos und ungebrochen starb. Michael erging es ebenso. Er fand sich in den Käfig und die Kiste, weil sie seinen Kräften und seinen Zähnen zu stark waren. Er vollführte seine Sklavenarbeit, trat auf und war Jakob Henderson gehorsam; aber er liebte seinen Herrn weder, noch fürchtete er ihn, und die Folge von alledem war, daß seine Seele sich nach innen gegen sich selber kehrte. Er schlief viel, sank oft in Gedanken und litt, ohne Aufhebens davon zu machen, unter einem unendlichen Einsamkeitsgefühl. Hätte Henderson einen Versuch gemacht, sein Herz zu gewinnen, so würde er sicher darauf eingegangen sein; aber Henderson interessierte sich nur für die phantastischen geistigen Schnörkel Swedenborgs, während Michael ihm nur sein tägliches Brot verschaffte.
Zuweilen gab es Ungemach. Michael fand sich auch darein. Besonders unangenehm waren ihm die Eisenbahnfahrten im Winter. Dann konnte es geschehen, daß er direkt nach dem letzten Auftreten in einer Stadt abends stundenlang in seiner Kiste auf einem Blockwagen stehen mußte, um auf den Zug zu warten, der ihn nach der nächsten Stadt bringen sollte. Auf dem Bahnsteig in Minnesota geschah es eines Nachts, daß zwei Hunde einer Truppe auf einem Blockwagen neben ihm erfroren. Er war selbst völlig durchfroren, und die Kälte biß scharf in seiner von dem Leoparden zerfetzten Schulter; aber seine bessere Konstitution und die größere Sorgfalt, die er im allgemeinen genoß, ließen ihn die Nacht überstehen.
Im Vergleich mit andern auftretenden Tieren wurde er gut behandelt.
Er sah Grausamkeiten, ohne sie persönlich kennenzulernen. Und er nahm sie hin als etwas, das eben mit zum Leben gehörte, wie er Tag und Dunkelheit, die schneidende Kälte auf den rauhen, zugigen Bahnsteigen und die mystische andere Welt, die er in seinen Träumen ahnte, hinnahm, und wie er beim Singen das ebenso mystische große Nichts hinnahm, in dem die Meringe-Plantage, Schiffe, Ozeane, Menschen und Steward verschwunden waren.
Zwei Jahre lang sang Michael sich durch die Vereinigten Staaten hindurch und erntete Ruhm für sich und ein Vermögen für Jakob Henderson. Freie Zeit kannte er nicht. Sein Erfolg war so groß, daß Henderson lachend alle Angebote ausschlug, über den Atlantischen Ozean zu gehen und in Europa zu reisen.
Es war im Orpheum in Oakland in Kalifornien, und Harley Kennan war im Begriff, die Hand nach seinem Hut unter dem Nebensitz auszustrecken, als seine Frau sagte: »Aber Lieb, es ist keine Pause jetzt. Es kommt noch eine Nummer.«
»Eine Hundenummer«, antwortete er und verlor sich in Erklärungen, denn er pflegte stets bei Vorführungen dressierter Tiere das Theater zu verlassen. Villa Kennan warf einen schnellen Blick in das Programm.
»Natürlich«, sagte sie und fügte dann hinzu: »Aber es ist ein singender Hund, ein Caruso-Hund, und es steht da, daß niemand auf der Bühne ist als der Hund allein. Laß uns dies eine Mal bleiben und sehen, wie er im Vergleich mit Jerry ist.«
»Irgendein armes Tier, das durch Folter zum Heulen gebracht wird«, brummte Harley.
»Aber er ist allein auf der Bühne«, wandte Villa Kennan ein. »Außerdem können wir ja gehen, wenn es zu arg wird. Ich begleite dich natürlich. Aber ich möchte gern hören, wieviel besser Jerry singen kann als der hier. Und hier steht auch, daß er ein Irischer Terrier ist.«
Es endete damit, daß Harley Kennan blieb. Die zwei geschwärzten Komiker beendeten ihre Nummer nebst drei Zugaben, und dann ging der Vorhang vor der ganz leeren Bühne auf. Ein rauhhaariger Irischer Terrier kam ruhig hereinspaziert, begab sich ruhig in die Mitte der Bühne, bis fast ganz an das Rampenlicht, und stellte sich dem Kapellmeister gegenüber. Wie im Programm erwähnt, stand er allein auf der Bühne.
Das Orchester spielte die ersten Takte eines Liedes, der Hund gähnte und setzte sich. Aber das Orchester war ein für allemal instruiert, die Anfangstakte immer wieder zu spielen, bis der Hund einfiel, ihn dann jedoch zu begleiten. Das drittemal öffnete der Hund das Maul und begann. Es war kein bloßes Heulen. Es war zu weich und gedämpft, als daß man es überhaupt Heulen nennen konnte. Es war auch mehr als rhythmisches Geräusch. Die Töne, die der Hund sang, waren rein, und es war die richtige Melodie.
Aber Villa Kennan hörte kaum hin.
»Der ist viel besser als Jerry«, flüsterte Harley ihr zu.
»Sag' mal«, flüsterte sie gespannt zurück. »Hast du den Hund je gesehen?«
Harley schüttelte den Kopf.
»Du hast ihn schon gesehen«, behauptete sie. »Sieh das verkümmerte Ohr. Denk' nach! Erinnere dich!«
Der Mann schüttelte immer noch den Kopf.
»Denk' an die Salomoninseln«, sagte sie eindringlich. »Denk' an die Ariel. Denk' daran, wie wir aus Malaita, wo wir Jerry fanden, nach Tulagi zurückkamen, denk' daran, daß er dort einen Bruder, einen Niggerjäger auf einem Schoner, hatte.«
»Und der hieß Michael. – Nur weiter.«
»Und der hatte dasselbe verkümmerte Ohr«, fügte sie hastig hinzu. »Und er war rauhhaarig, und er war der leibhaftige Bruder Jerrys, und seine Eltern waren Terrence und Biddy auf Meringe. Und Jerry ist unser Singvögelchen. Und dieser Hund singt. Und er hat ein verkümmertes Ohr. Und er heißt Michael.«
»Unmöglich«, sagte Harley.
»Erst wenn das Unmögliche sich ereignet, wird das Leben lebenswert«, wandte sie ein. »Und das hier ist gerade eine der amüsanten Unmöglichkeiten. Ich weiß es.«
Der Mann in ihm sagte immer noch, daß es unmöglich sei, und das Weib in ihr behauptete immer noch, daß hier das Unmögliche sich einmal ereignet hätte. Der Hund auf der Bühne sang jetzt »God save the King«.
»Das zeigt, daß ich recht habe«, behauptete Villa. »Kein Amerikaner würde in Amerika einen Hund ›God save the King‹ lehren. Ursprünglich hat der Hund einem Engländer gehört, der ihm das Lied beigebracht hat. Die Salomoninseln sind englisch.«
»Die sind ein gutes Stück weg«, sagte er lächelnd. »Was ich aber auffällig finde, ist das Ohr. Jetzt erinnere ich mich. Ich weiß noch, wie wir mit Jerry am Strande von Tulagi waren und sein Bruder in einem Walboot von der Eugenie an Land kam, und dieser Bruder hatte dasselbe schiefe, verkümmerte Ohr.«
»Und noch etwas«, sagte Villa. »Wie viele singende Hunde haben wir je gekannt. Nur einen! Jerry! Offenbar ist das eine große Seltenheit. Es ist wahrscheinlicher, daß ein und dieselbe Familie ähnliche Typen hervorbringt, als daß verschiedene Familien es tun. Jerry gehört zu der Familie von Terrence und Biddy, und das hier ist Michael.«
»Er war rauhhaarig und hatte zudem ein verkümmertes Ohr«, antwortete Harley in Gedanken versunken. »Ich kann ihn deutlich vor mir sehen, wie er im Vordersteven des Walboots stand, und wie er mit Jerry den Strand entlang lief.«
»Wenn Jerry morgen mit ihm den Strand entlang liefe, wärst du dann überzeugt?«
»Das war seine Gewohnheit, und Terrence und Biddy hatten vor ihnen dieselbe Gewohnheit«, räumte er ein. »Aber es ist weit von den Salomons nach den Vereinigten Staaten.«
»Jerry ist ja genau so weit hergekommen«, antwortete sie. »Und wenn Jerry von den Salomoninseln nach Kalifornien kommen konnte, ist es da merkwürdiger, daß Michael es auch konnte? – Oh, hör' nur!«
Der Hund auf der Bühne sang jetzt seine Zugabe »Heimat, süße Heimat«. Als das Lied zu Ende war, trat Jakob Henderson unter stürmischem Beifall aus der Seitenkulisse auf die Bühne und verbeugte sich zusammen mit dem Hunde. Villa und Harley schwiegen einen Augenblick. Dann sagte Villa plötzlich und ganz ohne Anlaß:
»Ich bin jetzt so dankbar für etwas ganz Bestimmtes.«
Er sah sie erwartungsvoll an.
»Nämlich, daß wir so ekelhaft reich sind«, erklärte sie. »Und das heißt, daß du den Hund haben willst und mußt, und daß du ihn auch bekommst, nur weil ich es mir leisten kann, mich dir zu fügen«, neckte er sie.
»Weil du nicht anders kannst«, antwortete sie. »Du mußt dir doch klar darüber sein, daß es Jerrys Bruder ist. Du mußt doch wenigstens einen geheimen Verdacht haben ...?«
»Den habe ich auch«, nickte er. »Das Unmögliche geschieht ja auch hin und wieder einmal, und vielleicht gerade jetzt. Natürlich ist es nicht Michael. Aber andererseits, warum sollte er es nicht sein? Laß uns hinter die Bühne gehen und uns erkundigen.«
»Wieder ein paar Mitglieder vom Tierschutzverein«, dachte Jakob Henderson, als der Herr und die Dame vom Direktor des Theaters in seine kleine Garderobe geführt wurden. Michael, der im Halbschlaf auf einem Stuhl lag, nahm keine Notiz von ihnen. Während Harley mit Henderson sprach, untersuchte Villa Michael, aber Michael hatte kaum die Augen geöffnet, als er sie auch schon wieder schloß. Die Menschenwelt war ihm zu gleichgültig, und er war zu verdrießlich, um höflich zu sein, wie er es in alten Tagen Menschen gegenüber gewesen war, die zufällig zu ihm kamen und ihm den Kopf streichelten, törichte Dinge sagten und ihrer Wege gingen, um ihn nie wieder zu sehen.
Villa Kennan gab, schmerzlich enttäuscht, ihre Annäherungsversuche auf und lauschte auf das, was Jakob Henderson von dem Hunde zu erzählen hatte. Harry Del Mar, ein Tierbändiger, hätte – das erfuhr sie – den Hund irgendwo an der pazifischen Küste, wahrscheinlich in San Franzisko, gefunden; er hätte den Hund mit nach dem Osten genommen, sei aber durch einen Unfall in New York ums Leben gekommen, ehe er irgend jemand etwas von dem Tier erzählt hätte. Das sei alles, abgesehen davon, daß Henderson einem gewissen Harris Collins zweitausend Dollar bezahlt habe und diese Geldanlage für die beste seines Lebens hielte.
Villa Kennan wandte sich wieder dem Hunde zu.
»Michael«, flüsterte sie zärtlich. Und Michaels Augen öffneten sich halb, er zitterte und die Muskeln an den Ohrwurzeln strafften sich.
Diesmal sah Michael sie mit gehobenem Kopf, offenen Augen und steifen, gespitzten Ohren an. Seit damals am Strande von Tulagi hatte er diesen Namen nicht aussprechen hören. Von jenseits der Jahre und Meere erreichte ihn das Wort wie eine Botschaft von allem Vergangenen. Die Wirkung war elektrisierend, denn im selben Augenblick strömte alles, was hinter dem Worte »Michael« lag, wieder in sein Bewußtsein. Er sah wieder Kapitän Kellar von der Eugénie, der ihn zuletzt mit diesem Namen gerufen hatte, und Herrn Haggin, Derby und Bob auf der Meringe-Plantage und Biddy und Terrence und unter diesen Schatten aus der entschwundenen Vergangenheit und vor allem auch seinen Bruder Jerry.
Aber war es die entschwundene Vergangenheit? Der Name, den er seit Jahren nicht gehört, war zurückgekehrt, war mit diesem Herrn und dieser Dame ins Zimmer gekommen. All das dachte er nicht, aber zweifellos handelte er ganz, wie wenn er es gedacht hätte. Er sprang vom Stuhl und lief zu der Dame. Er schnupperte an ihrer Hand, während sie ihn streichelte. Und als er sie dann wiedererkannte, wurde er ganz toll. Er sprang davon, stürzte durch das Zimmer, schnupperte unter dem Waschtisch und schnüffelte in allen Ecken. Wie in einem Wahnsinnsanfall kehrte er zu der Dame zurück und winselte ungeduldig, während sie ihn liebkoste. Einen Augenblick darauf schoß er, immer noch von Wahnsinn ergriffen, davon und jagte durchs Zimmer.
Jakob Henderson sah mit milder Mißbilligung zu.
»Sonst pflegt er so etwas nicht zu tun«, sagte er. »Er ist ein sehr ruhiger Hund. Vielleicht sind Krämpfe im Anzug, obwohl er noch nie Krämpfe gehabt hat.«
Niemand verstand es, nicht einmal Villa Kennan. Nur Michael. Er suchte nach der entschwundenen Welt, die zurückgekommen war und sich ihm durch den Klang seines früheren Namens aufgedrängt hatte. Wenn dieser Name aus dem großen Nichts zu ihm wiederkehren konnte wie diese Dame, die er einmal am Strande von Tulagi gesehen hatte, so konnten auch alle anderen Dinge von Tulagi und aus dem großen Nichts wiederkehren. Wie sie leibhaftig hier vor ihm stand und ihn bei Namen rief, so konnten auch Kapitän Kellar und Herr Haggin und Jerry irgendwo in ebendiesem Zimmer oder vor der Tür stehen.
Er lief zur Tür, winselte und kratzte daran.
»Vielleicht denkt er, daß irgend jemand draußen steht«, sagte Henderson und öffnete ihm die Tür.
Und das war es gerade, was Michael dachte. Er war selbstverständlich darauf vorbereitet, durch die offene Tür die Südsee wogen zu sehen, auf ihrem Busen Schoner, Schiffe, Inseln und Riffe und all die Menschen und Tiere und Dinge tragend, die er einmal gekannt, geliebt und nicht vergessen hatte.
Aber nichts von dem Vergangenen schwamm zur Tür herein. Draußen war nichts als das Gewöhnliche. Niedergeschlagen kam er wieder zu der Dame, die ihn immer noch Michael nannte und streichelte. Sie war doch jedenfalls wirklich. Dann begann er den Herrn zu beschnuppern und setzte ihn sofort mit dem Strande von Tulagi und dem Deck der Ariel in Verbindung, und seine Erregung nahm wieder zu.
»Ach, Harley, ich weiß, daß er es ist!« rief Villa. »Kannst du ihn nicht prüfen? Kannst du nicht beweisen, daß er es ist?«
»Aber wie?« fragte Harley grübelnd. »Er scheint seinen Namen wiederzuerkennen. Das regt ihn auf. Und obwohl er uns nie so genau gekannt hat, scheint er sich unserer doch zu erinnern und sich darüber aufzuregen. Wenn er nur sprechen könnte ...«
»Ach, sprich! Sprich!« sagte Villa flehend zu Michael, indem sie ihm mit den Händen Kopf und Schnauze umfaßte und ihn hin und her schob.
»Passen Sie auf, gnädige Frau«, warnte Henderson sie. »Er ist ein sehr mürrischer Hund und liebt nicht, daß man sich etwas Derartiges mit ihm herausnimmt.«
»Mir erlaubt er es schon«, lachte sie aufgeregt. »Mich kennt er ... Harley!« sie unterbrach sich im selben Augenblick, als ihr leise eine Idee dämmerte. »Ich weiß, wie wir ihn prüfen können. Hör zu! Erinnerst du dich, Jerry war Niggerjäger, ehe wir ihn bekamen. Und Michael war auch Niggerjäger. Versuch' Trepang-Englisch mit ihm zu reden. Tu, als seiest du auf irgendeinen Nigger böse und sieh, was er tut.«
»Ich muß gründlich nachdenken, ehe ich etwas Trepang-Englisch ausgraben kann«, sagte Harley und nickte beifällig zu ihrem Vorschlage.
»Ich werde seine Aufmerksamkeit ablenken«, sagte sie eifrig. Sie setzte sich und beugte sich zu Michael hinab, daß sein Kopf, in ihrem Arm verborgen, an ihrer Brust lag, und während sie ihn hin und her zu wiegen begann, summte sie leise, wie sie es mit Jerry zu tun pflegte. Er wurde auch nicht zornig über das, was sie sich herausnahm, im Gegenteil, wie Jerry gab er sich ihrem Summen hin und begann leise mit ihr zusammen zu summen.
»Mein Wort!« begann Harley Kennan in zornigem Ton. »Was Name du fella Junge bleiben dies fella Ort. Du machen mich cross auf dich zuviel!«
Und bei diesen Worten sträubten sich Michael die Haare, er entzog sich den Händen der Dame, die ihn zurückhielten, und machte knurrend kehrt, um den schwarzen Nigger zu sehen, der in diesem Augenblick ins Zimmer gekommen und den weißen Gott erzürnt haben mußte. Aber kein Schwarzer war zu sehen. Immer noch mit gesträubten Haaren blickte er zur Tür. Harley richtete selbst den Blick auf die Tür, und Michael wußte ohne den Schatten eines Zweifels, daß draußen ein Nigger von den Salomons stand.
»He! Michael!« rief Harley. »Jag' das schwarze fella Junge über Bord.«
Mit einem wilden Knurren warf Michael sich gegen die Tür. Sein Anprall war so wütend und kräftig, daß die Tür aufsprang. Die leere Türöffnung, die er von einem Nigger ausgefüllt zu sehen erwartet hatte, erschreckte ihn, und er kroch zusammen, krank und schwindlig von diesem täuschenden Etwas, das sich bald offenbarte und bald verschwand und seinen Spott mit ihm trieb.
»Und jetzt«, sagte Harley zu Jakob Henderson, »wollen wir geschäftlich miteinander reden ...«
Als der Zug in Glen Ellen im Mondtal ankam, war es Harley Kennan selbst, der die Seitentür des Gepäckwagens aufschob und Michael heraushob. Es war das erstemal, daß Michael eine Eisenbahnfahrt gemacht hatte, ohne in einer Lattenkiste eingesperrt zu sein. Nur mit Halsband und Kette versehen, hatte er die Reise von Oakland hierher gemacht. In dem wartenden Automobil fand er Villa Kennan, und nachdem ihm die Kette abgenommen war, durfte er zwischen ihr und Harley sitzen. Während der Wagen den zwei Meilen langen Weg entlang surrte, der sich den Sonoma hinaufwand, sah Michael kaum die Bäume und Lichtungen des Waldes, an denen sie vorbeiglitten. Er war seit drei Jahren in den Vereinigten Staaten und die ganze Zeit sorgsam in Gefangenschaft gehalten worden, Käfig, Lattenkiste und Kette waren sein Los gewesen, enge Räume, Gepäckwagen und Bahnsteige. Am nächsten war er dem Lande noch gekommen, wenn er an Bänken in den verschiedenen Parks angebunden war, während Henderson seinen Swedenborg las. Bäume, Berge und Felder bedeuteten ihm daher nichts mehr. Sie waren unzugänglich, ebenso unzugänglich wie das Blau des Himmels und die treibenden wolligen Wolken.
»Du scheinst nicht begeistert über das Gut zu sein, wie, Michael?« bemerkte Harley.
Beim Klang seines alten Namens blickte er auf und bezeigte seine Erkenntlichkeit, indem er die Ohren zurücklegte, sie ein klein wenig zittern ließ und Harleys Schultern mit der Schnauze berührte.
»Sehr demonstrativ scheint er auch nicht zu sein«, meinte Villa. »Wenigstens im Vergleich mit Jerry.«
»Warte, bis sie sich treffen«, lächelte Harley im Gedanken an das, was kommen sollte. »Jerry wird Lärm genug für beide machen.«
»Wenn sie sich nach so langer Zeit noch aneinander erinnern«, sagte Villa.
»Ich bin gespannt, ob sie es tun werden.«
»In Tulagi taten sie es,« erinnerte er sie, »und damals waren sie schon ausgewachsene Hunde und hatten sich seit ihrer Welpenzeit nicht gesehen. Denk' daran, wie sie bellten und über den ganzen Strand galoppierten. Michael machte den meisten Lärm, wenigstens doppelt soviel wie Jerry.«
»Jetzt aber tut er so furchtbar erwachsen und zahm.«
»Drei Jahre können ihn schon zahm gemacht haben«, behauptete Harley.
Aber Villa schüttelte den Kopf.
Als der Wagen vor dem Hause vorfuhr und Kennan als erster ausstieg, ertönte das winselnde frohe Willkommengebell eines Hundes, das Michael nicht ganz unbekannt war. Das frohe Bellen verwandelte sich in ein mißtrauisches, eifersüchtiges Knurren, als Jerry an der streichelnden Hand Kennans die Anwesenheit eines anderen Hundes witterte. Einen Augenblick später entdeckte er, daß das Geschöpf, von dem die Witterung ausging, sich im Automobil befand, und er sprang hinein. Michael, der knurrend vorsprang, hatte nicht Zeit genug, dem wütenden Angriff zu begegnen, und wurde auf dem Boden des Wagens umgeworfen.
Die Natur des Irischen Terriers, der stets und in einem Maße wie nur wenige andere Hunderassen umgänglich und bereit ist, seinem Herrn zu gehorchen, kam sofort bei Jerry und Michael zum Ausbruch, als sie Harley Kennans Stimme hörten. Sie ließen voneinander ab und enthielten sich trotz dem gedämpften, polternden Knurren in ihren Kehlen eines neuen Angriffs. Der kleine Auftritt hatte nur so wenige Sekunden oder Bruchteile von Sekunden gedauert, daß sie, ehe sie aus dem Auto herausgekommen waren, keine Zeit hatten, zu zeigen, ob sie sich erkannten. Sie waren immer noch komisch steifbeinig, und die Haare sträubten sich ihnen, während sie abseits standen und witterten.
»Sie kennen sich!« rief Villa. »Laß uns warten und sehen, was sie tun werden.«
Was Michael betraf, so beruhigte er sich ohne Überraschung mit der unzweifelhaften Tatsache, daß Jerry aus dem großen Nichts zurückgekehrt war. Derartige Dinge geschahen jetzt zu häufig, aber es waren nicht die Dinge selbst, sondern alles, was in und hinter ihnen lag, das ihn fast betäubte. Wenn der Herr und die Dame, die er zuletzt auf Tulagi gesehen hatte, jetzt aus dem großen Nichts zurückgekehrt waren, so konnte und mußte auch der geliebte Steward jeden Augenblick auftauchen.
Statt die Annäherungsversuche Jerrys zu erwidern, schnupperte Michael und sah sich suchend nach Steward um. Jerrys erster freundschaftlicher Gruß bestand darin, daß er den Wunsch nach einem Wettlauf ausdrückte. Er bellte den Bruder herausfordernd an, galoppierte davon und machte ein Dutzend Sprünge, galoppierte wieder zurück und berührte gemütlich mit seiner einen Vorderpfote Michael, um seiner Aufforderung weiteren Nachdruck zu verleihen, ehe er wieder fortgaloppierte.
Michael war so viele Jahre nicht mit einem andern Hund zusammen gelaufen, daß er Jerrys Aufforderung zuerst nicht recht verstand. Nichtsdestoweniger war ein solcher Wettlauf der allgemeine Ausdruck für Freude und Freundschaft in der Hundewelt, und seine diesbezügliche Neigung war besonders ausgeprägt gewesen, weil er sie von Terrence und Biddy, den beiden bekannten, verliebten Vagabunden auf den Salomoninseln geerbt hatte.
Als Jerry ihn das nächste Mal mit der Pfote berührte, bellte und in einem verlockenden Halbkreis davonjagte, setzte Michael ihm unwillkürlich, wenn auch langsam nach. Aber er bellte nicht, und nach einem Dutzend Sprüngen blieb er plötzlich stehen und sah Villa und Harley an, als wolle er sie um Erlaubnis bitten.
»Ganz recht, Michael«, rief Harley freundlich, und indem er die Hand ausstreckte, um Villa aus dem Auto zu helfen, kehrte er ihm den Rücken, um ihm noch deutlicher sein Einverständnis zu zeigen. Und Michael sprang wieder fort und fühlte dunkel eine altbekannte Freude, als er Jerry puffte, der ihn wieder puffte, während sie Seite an Seite dahinliefen. Aber die Freude war am größten bei Jerry, und er war es auch, der am wildesten lief und galoppierte, am eifrigsten puffte, sich wand und drehte, die Ohren spitzte und kläffende Schreie ausstieß. Jerry bellte auch, Michael aber nicht.
»Er pflegte zu bellen«, sagte Villa. »Viel mehr als Jerry«, fügte Harley hinzu.
»Dann haben sie ihm das Bellen abgewöhnt«, schloß sie. »Er muß furchtbare Prüfungen durchgemacht haben, daß er das Bellen vergessen hat.«
Der grüne Frühling Kaliforniens wurde vom gelbbraunen Sommer abgelöst, während Jerry, der immer umherschweifte, Michael die fernsten und höchsten Stellen des Kennanschen Gutes im Mondtal zeigte. Die Pracht der wilden Blumen verschwand, bis schließlich auf den sonnenverbrannten Bergesseiten nichts übrig war als gelber Mohn, der zu dem blassesten Goldschimmer verblichen war, und Mariposa-Lilien, die verweht auf schlanken Stengeln im trockenen Grase standen, Mariposa-Lilien, glühend wie die schönpunktierten Schmetterlinge, wenn sie eine Weile reglos zwischen den Flügelschlägen schwebten.
Und Michael, der sich stets der Führung des überströmenden Jerry anvertraute, suchte das ganze Jahr hindurch, was er nicht finden konnte.
»Er sucht etwas, er sucht etwas«, sagte Harley zu Villa. »Es existiert nicht mehr. Es ist nicht hier. Was mag er wohl suchen?«
Es war Steward, aber Michael fand ihn nie. Das große Nichts hatte ihn verschlungen und wollte ihn nicht loslassen. Hätte Michael aber eine zehntätige Dampferreise über die Südsee nach den Marquesas unternommen, so würde er Steward und mit ihm Kwaque und den alten Seemann gefunden haben, die alle drei als Lotusesser am paradiesischen Strande von Taiohae lebten. Michael würde auch in dem grasbedeckten Bungalow unter den hohen Avocados oder ringsumher manch fremdes Getier gefunden haben – Katzen und Küken, Schweine, Esel und Ponies, ein paar Sperlingspapageien und ein oder zwei boshafte Affen; aber keinen einzigen Hund und keinen Kakadu. Denn Dag Daughtry hatte feierlich alle Hunde für Tabu erklärt. Nach Killeny-Boy, versicherte er, wolle er keinen anderen Hund haben. Und Kwaque widerstand ohne Worte der Versuchung, einen der weißen Kakadus zu erwerben, die von den Matrosen der Handelsschoner an Land gebracht wurden.
Aber es verging lange Zeit, ehe Michael seine Suche nach Steward aufgab, und wenn er über die Bergpfade lief oder in die tiefen Felsspalten kletterte, war er stets erwartungsvoll und darauf vorbereitet, Steward oder die unverkennbare Fährte, die zu ihm führen sollte, zu finden.
»Er sucht etwas, er sucht etwas«, murmelte Harley Kennan neugierig, während er neben Villa ritt und Michaels unaufhörliches Suchen beobachtete. »Jerry ist jetzt auf Kaninchen und Fuchsfährten aus, aber Michael interessieren die nicht besonders, wie du siehst. Er benimmt sich wie jemand, der einen großen Schatz verloren hat und nicht weiß, wo er ihn suchen soll.«
Michael lernte bei dem abwechslungsreichen Leben im Wald und auf den Feldern viel von Jerry. Das Umherschweifen mit Jerry war offenbar das einzige Vergnügen, denn er spielte nie. Die Spiellust in ihm war erloschen. Die Jahre, die er als dressiertes Tier auf der Bühne und in Harris Collins' Leidensschule verbracht, hatten ihn nicht eigentlich verdrossen oder schwermütig gemacht, aber er war gedämpft und bedrückt. Seine Elastizität, seine unmittelbare Frische waren verschwunden. Wie der Leopard seine Schulter mit den Klauen gezeichnet hatte, so daß feuchtes und kaltes Wetter die alte Wunde wieder schmerzen ließ, so war auch sein Gemüt von dem gezeichnet, was er durchgemacht hatte. Er hatte Jerry gern, freute sich, daß er mit ihm Zusammensein und mit ihm laufen konnte; aber es war immer Jerry, der anführte, immer Jerry, der den Jagd- und Verfolgungsschrei erhob, der zornig, eifrig und lüstern ein Eichhörnchen anbellte, das in einem Baum, vierzig Fuß über dem Boden, Zuflucht gesucht hatte. Michael sah und hörte zu, beteiligte sich aber nicht an diesem Begeisterungsanfall. Ebenso sah er zu, wenn Jerry furchtbar komische Kämpfe mit »Normannen-Häuptling«, dem großen Hengst, ausfocht. Es war nur Scherz, denn Jerry und Normannen-Häuptling waren erprobte Freunde, und obwohl der große Hengst mit zurückgelegten Ohren und offenem, bißbereitem Maul Jerry in rasendem Kreislauf durch das ganze Gehege jagte, dachte er doch nicht daran, ihm etwas zu tun, sondern wollte nur seine Rolle in dem fingierten Kampfe spielen. Aber dennoch vermochte keine Aufforderung Jerrys Michael zu bewegen, mitzumachen. Er begnügte sich damit, außer Reichweite sitzend, zuzusehen.
»Warum spielen?« hätte Michael fragen können, da alle Lust zum Spielen ihm vergangen war.
Wenn es aber ernste Arbeit gab, war er Jerry sogar überlegen. Wegen der Maul- und Klauenseuche und der Schweinecholera war fremden Hunden der Zutritt zu Kennans Gut untersagt. Das hatte Michael bald gelernt, und wildernden Hunden gab er nicht lange Bedenkzeit. Ohne auch nur warnend zu bellen oder zu knurren, fuhr er unter tödlichem Schweigen auf sie los, biß und riß sie, rollte sie immer wieder in den Staub und verjagte sie vom Gute. Das war, wie Niggerjagd, eine Arbeit, die für die Götter besorgt werden mußte, die er doch liebte, und auf deren Wunsch er die Jagd unternahm.
Er liebte Villa und Harley nicht heiß und leidenschaftlich, wie er Steward geliebt hatte, aber er hegte bald eine tiefe, schlichte Liebe für sie. Er bemühte sich nicht, sie an den Tag zu legen, indem er sich wand und drehte und winselnde, kläffende Annäherungsversuche machte. Das überließ er Jerry. Aber er war immer wirklich froh, wenn er mit Villa und Harley Zusammensein konnte, und wenn ihm, gleich nach Jerry, ihre Anerkennung zuteil wurde. Augenblicke tiefster Zufriedenheit hatte er, wenn er neben Villa und Harley vor dem offenen Kamin saß, seinen Kopf gegen ein Knie lehnte und hin und wieder eine Hand spürte, die sich ihm auf den Kopf legte oder behutsam mit seinem verkümmerten Ohr spielte.
Jerry ließ sich sogar herab, mit Kindern zu spielen, die hin und wieder zu Besuch kamen und unter der Obhut der Familie Kennan lebten. Michael ließ sich Kinder gefallen, solange sie ihn nicht störten. Wurden sie zudringlich, so warnte er sie, indem er mit gesträubtem Haar einen knurrenden Kehllaut ausstieß; dann erhob er sich und ging würdig fort. »Ich verstehe es nicht«, sagte Villa. »Er war so voll von Spaßen, Witzen und Streichen wie nur einer. Er war viel toller und unruhiger als Jerry und viel lärmender. Wenn er nur sprechen könnte, hätte er sicher eine furchtbare Geschichte von all dem zu erzählen, was ihm zugestoßen ist, seit wir ihn auf Tulagi sahen, und bis wir ihn im Orpheum wiederfanden.«
»Das hier gibt vielleicht einen Wink«, antwortete Harley und zeigte auf Michaels Schulter, wo der Leopard ihm die Wunde geschlagen an jenem Tage, als Jack, der Airedale, und Sara, die grüne Äffin, starben.
»Er pflegte zu bellen. Ich weiß, daß er bellte«, fuhr Villa fort. »Warum bellt er nicht mehr?«
Und Harley zeigte auf die Narbe an der Schulter und sagte: »Das hier erklärt es vielleicht, und möglicherweise hundert ähnliche Dinge, deren Narben wir nicht sehen.«
Aber die Zeit sollte kommen, da sie ihn wieder bellen hörten – nicht einmal, sondern zweimal. Und beide Male war es nur der Vorgeschmack einer anderen, ernsten Stunde, in der er, ohne Bellen, mit der Tat zeigen sollte, wie er die liebte und ehrte, die ihn von der Kiste und dem Rampenlicht erlöst und ihm die Freiheit im Mondtal geschenkt hatten. Unterdessen lernte er bei seinem unaufhörlichen Umherschweifen mit Jerry alle Wege und alles Leben auf dem Gute kennen, vom Hühnerhof und Ententeich bis zum höchsten Gipfel des Sonoma. Er lernte, wo die Hirsche zu finden waren, wenn ihre Zeit kam, wenn sie die Pflaumengärten, Weinberge und Apfelbäume plünderten, wenn sie die tiefsten Felsschluchten und die geheimsten Dickichte aufsuchten, und wenn sie stampfend die offenen Lichtungen betraten und auf den nackten Bergesseiten klappernd im Kampfe die Zacken gegeneinanderstießen. Unter Jerrys Führung, immer auf den schmalen Pfaden hinter ihm herlaufend, wie es sich für einen gesetzten Hund schickte, lernte er Launen und Gewohnheiten von Füchsen, Waschbären und Wieseln und von der ringelschwänzigen Katze kennen, die aussah wie eine Mischung von Katze, Waschbär und Wiesel. Er lernte die Vögel kennen, die auf dem Erdboden ihr Nest bauten, und lernte die Gewohnheiten von Feldwachteln, Bergwachteln und Fasanen unterscheiden. Die Eigentümlichkeiten und Verstecke der verwilderten Hauskatzen lernte er ebenso kennen wie die leichtsinnigen Liebesabenteuer der Bergfarmerhunde mit schweifenden Präriewölfen.
Ehe das erste Kurzhornkalb getötet wurde, wußte er schon Bescheid mit dem Berglöwen, der auf gut Glück aus dem Mendocino-Distrikt herabgekommen war, er kehrte zerschrammt und blutend von dem Zusammenstoß heim, als lebhaftes Zeugnis dessen, was er entdeckt hatte, und veranlaßte dadurch Harley Kennan, am nächsten Tage zu Pferd, eine Büchse quer über dem Sattelknopf, die Fährte zu verfolgen. Ebenso entdeckte Michael, was Harley Kennan nicht ahnte, und was es seiner Ansicht nach nicht auf seinem Gute gab – den vorspringenden Felsen im dichtesten Dickicht des Bergwaldes, wo zwanzig Klapperschlangen ihren Winterschlaf hielten und sich in der Sonne wärmten.
Der Winter hielt, freudig wie gewöhnlich, seinen Einzug im Mondtal. Die letzten Mariposa-Lilien verschwanden in dem verbrannten Grase, während der kalifornische Spätsommer in der stillen Luft in Purpurnebel traumhaft zu Ende ging. Zuerst kamen einige milde Regenschauer, dann fiel Schnee auf dem Gipfel des Sonoma. Beim Hause war die Luft morgens frisch und trocken, mittags aber freute man sich doch über den Schatten, und draußen im Freien blühten unter der Wintersonne die Rosen, und die Apfelsinen und Zitronen reiften goldgelb. Aber tausend Fuß tiefer, auf dem Grunde des Tales, waren die Morgen weiß von Reif.
Und Michael bellte zweimal. Das erstemal, als Harley Kennan auf einem feurigen jungen Fuchs über einen schmalen Bach setzen wollte. Villa hielt, auch zu Pferde, auf der anderen Seite, sah in das kleine Tal hinab und wartete, was das Pferd tun würde. Michael wartete auch, stand aber näher. Anfangs lag er am Ufer des Baches, keuchend nach dem schnellen Lauf. Aber er wußte nicht viel von Pferden, und seine Angst um Harley Kennans Wohlergehen brachte ihn bald auf die Beine.
Harley sprach dem Pferd freundlich zu und war die Geduld selbst, während er es zum Sprunge anzutreiben suchte. Aber das Tier blieb jedesmal, wenn es abspringen sollte, plötzlich stehen, und das Vollblut in seinen Adern ließ es schwitzen und schäumen. Das sammetweiche junge Gras wurde von seinen Hufen aufgerissen, und seine Angst vor dem Bach war so groß, daß es, wenn es in einem kurzen Galopp bis zum Ufer gekommen war, plötzlich erstarrt stehenblieb und sich dann bäumte. Das war zuviel für Michael. Als das Pferd die Vorderfüße wieder auf den Boden setzte, sprang er auf den einen Huf los und bellte. Sein Bellen enthielt Tadel und Drohung, und als das Pferd sich wieder bäumte, sprang er ihm nach, und seine Zähne schnappten gerade vor der Nase des Pferdes zusammen.
Villa kehrte um und ritt auf der anderen Seite des Baches den Hang hinab. »Wahrhaftig«, rief sie. »Hör« nur! Er bellt wirklich!«
»Er glaubt, das Pferd will mir etwas tun«, sagte Harley. »Es ist eine Herausforderung. Er hat das Bellen nicht vergessen. Er sagt dem Pferd Bescheid.«
»Wenn er es ins Maul schnappt, wird es schlimm«, warnte Villa. »Sei vorsichtig, Harley, sonst geht er auf das Pferd los.«
»Na, Michael, hinlegen, brav sein«, befahl Harley. »Es ist alles in Ordnung, sag' ich dir. Alles in Ordnung. Hinlegen.«
Michael legte sich gehorsam, aber unter Protest nieder, und er folgte mit den Augen dem Bocken des Pferdes, während alle seine Muskeln angespannt und sprungbereit waren für den Fall, daß das Pferd Harley Kennan bedrohen sollte.
»Ich kann ihm seinen Willen jetzt nicht lassen, sonst nimmt er nie ein Hindernis«, sagte Harley zu seiner Frau, indem er kehrtmachte, um auf passenden Abstand vom Bach zurückzugaloppieren. »Entweder kriege ich ihn hinüber, oder ich falle herunter.«
In voller Fahrt kam er zurück, und wider Willen hob sich das Pferd, außerstande, anzuhalten, kam hinüber, und zwar so gut, daß es wohl vier Meter jenseits landete.
Das zweitemal bellte Michael, als Harley, dasselbe feurige Pferd reitend, auf dem höchsten Punkt eines steilen Bergwaldpfades ein Gatter zu schließen versuchte, das nicht richtig hing. Michael sah so lange wie möglich mit Ruhe die Gefahr an, in der sein Menschengott schwebte, sprang aber zuletzt, wütend und bellend, nach dem Kopf des Pferdes.
»Jedenfalls hat sein Bellen geholfen«, räumte Harley ein, während er das Gatter schloß. »Michael hat dem Pferd zweifellos erzählt, daß es mit ihm zu tun kriegte, wenn es sich nicht ruhig verhielte.« »Auf alle Fälle ist er nicht stumm«, lachte Villa. »Wenn er auch nicht gerade redselig ist.«
Und redseliger wurde Michael nie. Nur bei diesen beiden Gelegenheiten, als sein Herr und Gott in Gefahr schien, hörte man ihn bellen. Er bellte weder den Mond noch das Echo von den Bergen oder sonst etwas Verborgenes an. Ein bestimmtes Echo, das man direkt vom Hauptgebäude des Gutes hören konnte, war eine unerschöpfliche Quelle der Aufregung für Jerry. Wenn Jerry es anbellte, lag Michael mit verdrießlichem Ausdruck daneben und wartete, bis das Duett vorbei war.
Er bellte auch nicht, wenn er fremde Hunde angriff, die auf dem Gute umherschweiften.
»Er schlägt sich wie ein Veteran«, sagte Harley, als er einen solchen Zusammenstoß miterlebt hatte. »Er ist kaltblütig, vollkommen ruhig.«
»Er ist vorzeitig alt geworden«, sagte Villa. »Er hat keine Lust mehr zum Spielen und macht sich nichts daraus, etwas zu sagen. Aber gleichviel, ich weiß, daß er dich und mich liebt –«
»Ohne viele Worte darüber zu verlieren«, vollendete ihr Mann den Satz für sie.
»Das kannst du aus seinen ruhigen Augen strahlen sehen«, fügte sie hinzu.
»Er erinnert mich immer an einen der Überlebenden von Leutnant Greeleys Expedition, den ich einmal gekannt habe«, räumte er ein. »Er war ein geworbener Soldat und einer der wenigen Überlebenden. Er hatte soviel durchgemacht, daß er genau so still und schweigsam wie Michael war. Er langweilte die meisten Menschen, die ihn nicht verstehen konnten. In Wirklichkeit war es selbstverständlich umgekehrt. Sie langweilten ihn. Sie kannten so wenig vom Leben, daß er im voraus wußte, was sie zu sagen hatten. Und man konnte kaum ein Wort aus ihm herausbringen. Nicht, daß er das Reden vergessen hatte, er sah nur nicht ein, warum er reden sollte, wenn ihn doch keiner verstehen wollte. Er war tatsächlich unter allzu bitteren und schmerzlichen Erfahrungen erstarrt. Aber man brauchte nur ihn und seine erstaunliche Ruhe anzusehen, um zu fühlen, daß er durch tausend heiße und kalte Höllen geschritten war. Seine Augen harten denselben ruhigen Blick wie die Michaels, und sie waren ebenso klug. Ich möchte jede Summe geben, um zu erfahren, wie er die Narbe an der Schulter bekam. Es muß ein Tiger oder ein Löwe gewesen sein.«
Wie der Berglöwe, mit dem Michael einen Zusammenstoß in den Bergen gehabt hatte, war der Mann auf gut Glück aus dem Mendocino-Distrikt herabgekommen, indem er die unebensten Bergesstrecken überquert und bei Nacht das weite Tal passiert hatte, wo die Anwesenheit von Menschen eine Gefahr für ihn bedeutete. Wie der Berglöwe war der Mann Menschenfeind, und alle Menschen waren seine Feinde, die sein Leben forderten, das er durch weit furchtbarere Taten verspielt hatte als der Löwe, der nur aus Hunger Kälber tötete.
Wie der Berglöwe war der Mann ein Mörder. Aber im Gegensatz zum Löwen standen sein unsicheres Signalement und der Bericht über seine Taten in allen Zeitungen, und die Menschen interessierten sich für ihn bedeutend mehr als für den Löwen. Der Löwe hatte Kälber auf den Weiden des Hochlandes getötet, der Mann aber hatte, um zu rauben, eine ganze Familie getötet – den Postmeister, seine Frau und ihre drei Kinder in dem Bergdorf Chisholm.
Zwei Wochen lang hatte der Mann sich einer scharfen Verfolgung entzogen. Zuletzt war er vom Russenfluß aus durch das Santa-Rosa-Tal mit seinen verstreut liegenden Höfen nach den Sonomabergen gegangen. Zwei Tage hatte er sich an den wildesten, unzugänglichsten Stellen des Kennanschen Gutes versteckt, ausgeruht und viel geschlafen. Er hatte Kaffeebohnen mitgebracht, eine Beute aus dem letzten Hause, das er geplündert hatte. Die Zeiger hatten sich viermal um das Zifferblatt der Uhr bewegt, während er, furchtbar ermattet, schlief und nur hin und wieder aufstand, um gierig vom Ziegenfleisch zu essen, große Mengen warmen oder kalten Kaffees zu trinken und dann wieder in einen tiefen, von schweren Träumen geplagten Schlaf zu fallen. Und inzwischen war ihm die Zivilisation mit ihrer kräftigen Organisation und ihren verwickelten Erfindungen, einschließlich der Elektrizität, auf den Fersen. Die Elektrizität hatte ihn umzingelt. Man wußte, daß er sich in den wilden Felsschluchten des Sonomaberges aufhielt, und der Berg war von einer Kette bewaffneter Polizisten und von Abteilungen bewaffneter Farmer besetzt. Für sie war ein Mörder, der in ihrer Gegend umherschweifte, weit furchtbarer als ein Löwe. Das Telephon auf Kennans Gut und die Telephone auf allen andern Gütern, die an den Sonomaberg grenzten, hatten oft geklingelt und zielbewußte Gespräche und Verabredungen weiterbefördert.
Als die Streitkräfte begonnen hatten, die Bergwälder zu durchdringen, und der Mann gezwungen wurde, bei hellem Tage einen Vorstoß ins Mondtal zu machen, um die sicheren Berge zu erreichen, die zwischen ihm und dem Napatal lagen, ritt Harley Kennan zufällig auf dem feurigen jungen Pferde aus, das er gerade zuritt. Er war nicht ausgeritten, um den Mann zu verfolgen, der den Postmeister und seine Familie ermordet hatte. Der Berg wimmelte von Menschenjägern, was ihm nicht unbekannt war, da zwei Dutzend von ihnen die Nacht auf seinem Hofe geschlafen und gegessen hatten. Die Begegnung zwischen Harley und dem Manne war daher ganz zufällig, aber verhängnisvoll! Es war nicht die erste Begegnung mit Menschen, die der Mann an diesem Tage hatte. In der Nacht zuvor hatte er mehrere von den Lagerfeuern der Streitkräfte bemerkt. Bei Tagesanbruch war er bei dem Versuch, auf dem südwestlichen Hang nach Petaluma durchzubrechen, nicht weniger als fünf verschiedenen Abteilungen von Meiereibesitzern mit Winchesterbüchsen und Schrotflinten begegnet. Als er, scharf verfolgt, zurückfloh, war er einer Schar Dorfburschen aus Glen Ellen und Caliente in die Arme gelaufen. Die Schüsse aus ihren Eichhorn- und Vogelflinten hatten ihn nicht getötet, aber sein Rücken war an Dutzenden von Stellen mit Schrotkörnern gepfeffert, die kleinen Bleistücke waren ihm auf unglaublich schmerzhafte Weise unter die Haut gedrungen.
Bei seinem hastigen Rückzug in die Schlucht hinab war er mitten in eine Herde Kurzhornstiere geraten, die ihn, weit erschrockener als er selber, auf dem Waldboden umgerissen, in ihrem panischen Schrecken über ihn hinweggetrampelt und seine Büchse unter ihren Klauen zerbrochen hatten. Waffenlos, verzweifelt und von stechenden Schmerzen in den Hautwunden und Quetschungen gepeinigt, hatte er die Waldhänge auf Wildwechseln umgangen, zwei Felsschluchten passiert und wollte gerade den Reitweg, den er in der dritten Felsschlucht fand, hinabsteigen. Auf diesem Wege traf er den Reporter, der heraufgestiegen kam. Der Reporter war – nun ja, eben ein Reporter aus der Stadt, der nur das Stadtleben kannte und noch nie Teilnehmer an einer Menschenjagd gewesen war. Sein Pferd, das er sich im Tal gemietet hatte, war ein abgearbeitetes, schlaffes Tier mit krummen Knien, das ruhig stehenblieb, während sein Reiter von dem wildaussehenden, gewalttätigen Manne, der auf einer scharfen Biegung des Weges vorsprang, von seinem Rücken gezerrt wurde. Der Reporter schlug seinen Angreifer einmal mit der Reitpeitsche. Hierauf erhielt er eine Tracht Prügel von der Art, wie er sie oft bei Matrosenprügeleien und in Wirtshäusern in seinen jungen Reporterjahren gesehen und geschildert hatte, die er aber jetzt zum ersten Male selber zu schmecken bekam.
Der Mann entdeckte zu seinem großen Ärger, daß der Reporter bis auf einen Bleistift und einen Block Schreibpapier unbewaffnet war. In seiner Enttäuschung darüber, daß er keine Waffe erhielt, verprügelte er den Reporter noch einmal und ließ ihn dann jammernd in den Farren liegen; und auf dem Pferde des Reporters, das er mit der Reitpeitsche des Reporters antrieb, setzte er seinen Weg fort.
Jerry, auf der Jagd immer der eifrigste, war weiter umhergeschweift als Michael, als sie beide Harley Kennan auf seinem frühen Morgenritt begleiteten. Gerade deshalb sah oder verstand Michael, der seinem Herrn auf den Fersen folgte, nicht, wie die Katastrophe begann. Und das tat Harley Kennan im übrigen auch nicht. An einer Stelle, wo eine steile, acht Fuß hohe Böschung zu dem Wege, auf dem er ritt, abfiel, wurden Harley und das unruhige junge Pferd von etwas überrascht, das die Manzanitabüsche über ihnen durchbrach. Aufblickend sah er ein widerspenstiges Pferd und einen kräftigen Mann aus der Luft auf sich herabstürzen. Bei dem flüchtigen Blick, zu dem ihm Zeit blieb, während er das Pferd anhielt und ihm dann die Sporen gab, damit es seitwärts sprang, bemerkte Harley Kennan die zerschrammte Haut und die zerrissenen Kleider, die wildbrennenden Augen und die ausgezehrten, von einem zottigen Bart bedeckten Züge des gejagten Mannes.
Das Mietspferd hatte Ursache, sich gegen den Sprung zu sträuben. Es war sich nur allzu klar darüber, wie sehr sein armes Knie und seine rheumatischen Gelenke den Sprung büßen würden, und so schlug es die Hufe in den moosbedeckten Hang und setzte nur eben weit genug vom Hange ab, um nicht zu stürzen. Aber selbst so schlug seine Schulter auf die des unruhigen, jungen Pferdes und warf es um. Harley Kennans Bein geriet unter das Pferd und brach, und das junge Pferd stürzte so unglücklich, daß es sich das Rückgrat brach.
Der von allen bewaffneten Männern der Gegend verfolgte Mann sah zu seinem größten Ärger, daß Harley Kennan, sein letztes Opfer, wie der Reporter unbewaffnet war. Als er abgestiegen war, fauchte er vor Wut und Enttäuschung und gab dem hilflosen Mann mit voller Überlegung einen Tritt in die Seite. Er wollte ihm gerade einen zweiten Tritt versetzen, als Michael sich einmischte und ihm seine Zähne in den Schenkel bohrte.
Mit einem Fluch riß der Mann sein Bein los, aber Michaels Zähne zerrissen ihm Fleisch und Hosen.
»Guter Hund, Michael«, rief Harley beifällig, der hilflos unter dem Pferde eingeklemmt lag. »He! Michael!« fuhr er fort und ging zu Trepang-Englisch über. »Jag' das fella weiße Mann zu Hölle aus Busch hier heraus!«
»Ich werde dir zum Lohn dafür den Kopf zertreten«, sagte der Mann zähneknirschend zu Harley.
So roh die Taten und Worte des Mannes auch waren, hätte er doch fast geweint. Die lange Verfolgung, auf der er gegen alle und alle gegen ihn kämpften, hatte ihn zu entkräften begonnen. Er war von Feinden umgeben. Selbst Knaben hatten sich gegen ihn erhoben und ihm Schrot in den Rücken geschossen, und Schlachtvieh hatte ihn zu Boden getreten und seine Büchse zerstampft. Alles verschwor sich gegen ihn. Und jetzt kam ein Hund und zerriß ihm das Bein. Er ging dem Tode entgegen. Noch nie war ihm das so klar gewesen. Alles war gegen ihn. Sein Drang zu weinen war hysterisch, und Hysterie kann einen Verzweifelten zu furchtbaren Gewalttaten bringen. Trotz der Sinnlosigkeit war er bereit, seine Drohung, Harley Kennan totzutreten, auszuführen. Nicht, weil Kennan ihm etwas getan hatte. Im Gegenteil, er hatte ja Kennan angegriffen und ihn zu Boden geschleudert, daß er sich das Bein unter dem Pferde brach. Aber es schwebte ihm dunkel vor, daß er, wenn er Harley Kennan tötete, sich an der ganzen Menschheit im allgemeinen rächte. Ging er selbst in den Tod, so wollte er doch so viele wie möglich in den blutigen Untergang mit hineinziehen.
Ehe er jedoch den Mann am Boden treten konnte, ging Michael wieder auf ihn los. Das zweite Bein wurde samt der Hose zerrissen, als er ihn abschüttelte. Dann gab er Michael mitten im Sprunge einen Tritt, der ihn unter die Brust traf und den Hang hinabfliegen ließ. Das Unglück wollte, daß Michael den Boden nicht erreichte. Krachend flog er durch einen Manzanitabusch und blieb in einer spitzen Astgabel, zwei Meter über dem Boden, hängen.
»Jetzt«, sagte der Mann grimmig zu Harley, »werde ich tun, was ich sage. Jetzt werd' ich dir den Kopf zertreten.«
»Ich habe Ihnen doch nicht das Geringste getan«, versuchte Harley zu verhandeln. »Ich habe nicht viel dagegen, ermordet zu werden, möchte aber doch gern wissen, warum.«
»Weil ihr mich gejagt und mir nach dem Leben getrachtet habt«, knurrte der Mann und kam näher. »Ich kenne euch. Ihr seid alle mit dabei gewesen. Du sollst mir für alle andern büßen.«
Kennan war sich vollkommen klar darüber, in welch ernster Gefahr er sich befand. Er selbst war hilflos, und ein wahnsinniger Mörder stand im Begriff, ihn zu töten, und zwar auf eine entsetzliche Weise. Michael konnte ihm nicht zu Hilfe kommen, er hing kopfüber im Manzanitastrauch gefangen, die Lenden in der Astgabel eingeklemmt, und mühte sich vergebens, loszukommen. Den ersten Tritt, den der Mann auf sein Gesicht zielte, wehrte Harley mit den Armen ab; und ehe der Mann zum zweiten Male treten konnte, zeigte Jerry sich plötzlich auf dem Schauplatz. Er bedurfte keiner Ermutigung oder Anweisung seines geliebten Herrn. Blitzschnell fuhr er auf den Mann los und bohrte ihm, ohne Schaden anzurichten, die Zähne in den nicht ausgefüllten Teil der Hosen über der Hüfte, zog ihn jedoch durch sein Gewicht halb zu Boden.
Und der Mann kehrte sich mit doppelter Wut gegen Jerry. Wahrlich, die ganze Welt war gegen ihn. Die Gegend selbst ließ Hunde auf ihn herabregnen. Von den Hängen des Sonomaberges aber drangen jetzt Rufe der bewaffneten Verfolger an sein Ohr und hinderten ihn, seinen Beschluß auszuführen. Sie stellten den Tod dar, der ihn verfolgte, und sie waren es, vor denen er fliehen mußte. Mit einem zweiten Tritt befreite er sich von Jerry und sprang auf das Pferd des Reporters, das ohne Zeichen von Unruhe noch stand, wo es gelandet war.
Das Pferd galoppierte unwillig und steifbeinig davon, während Jerry fauchend und knurrend folgte.
»Es wird alles gut, Michael«, sagte Harley beruhigend. »Reg' dich nicht auf. Es ist schon gut. Das Schlimmste ist vorbei. Es wird schon jemand kommen und uns aus der Klemme helfen.«
Aber der kleinere der beiden Äste, die die Gabel bildeten, brach, Michael fiel kopfüber zu Boden und blieb einen Augenblick bestürzt liegen. Gleich darauf aber war er wieder auf den Füßen und schoß den Weg entlang, in der Richtung, wo er Jerry bei der Verfolgung bellen hörte. Jerrys Bellen endete plötzlich in einem lauten Schmerzensschrei, der Michael Flügel verlieh. Michael schoß an ihm vorbei und sah ihn heulend auf der Erde liegen. Das Mietspferd war in seinem steifbeinigen Galopp gestolpert und hatte, als es zappelnd wieder auf die Beine kam, Jerry getreten und ihm das eine Vorderbein gebrochen.
Der Mann jedoch, der sich umsah und merkte, daß Michael ihm dicht auf den Fersen war, kam zu dem Ergebnis, daß wieder ein neuer Hund ihn angriff. Aber er fürchtete Hunde nicht. Er fürchtete nur Menschen mit Büchsen und Schrotflinten, die das letzte, endgültige Unglück über sein Haupt bringen sollten. Der Schmerz in seinem blutenden Bein, das von Jerry und Michael zerrissen war, vermehrte noch seine Wut gegen die Hunde.
»Wieder ein Hund«, dachte er grimmig, beugte sich vor und schlug Michael mit der Peitsche ins Gesicht. Zu seiner Überraschung krümmte der Hund sich nicht unter dem Schlage. Er kläffte und heulte nicht vor Schmerz. Er bellte weder, noch knurrte oder fauchte er. Er benahm sich, als hätte er keinen Schlag erhalten. Als Michael nach dem rechten Bein des Mannes sprang, traf ihn die Peitsche von oben herab zwischen Schnauze und Augen. Michael wurde seitwärts geschleudert, landete wieder auf dem Boden und schoß in weiten Sprüngen hinterher, um ihn einzuholen und wieder anzuspringen.
Aber der Mann hatte noch etwas bemerkt. Wenn er aus dieser Nähe mit der Peitsche zuschlug, mußte er sehen, daß Michael während des Schlages die Augen offen hielt. Er krümmte sich weder, noch blinzelte er, wenn die Peitsche auf ihn niedersauste. Das war unheimlich. Michael sprang wieder zu, und wieder gab der Mann ihm einen wohlgezielten Schlag mit der Peitsche. Nicht mit einem Blinzeln verriet der Hund, daß der Schlag getroffen hatte.
Und nun überschlich eine ganz neue Angst den Mann. Sollte das nach allem, was er durchgemacht hatte, das Ende sein? War dieser tötend schweigsame rauhhaarige Terrier das Wesen, das bestimmt war, ihn zu vernichten, ihn, den die Menschen nicht hatten fassen können? Er war nicht einmal sicher, ob es ein wirklicher Hund war. War es vielleicht irgendein furchtbarer Rächer aus der mystischen Welt jenseits des Lebens, gesandt, um ihn auf diese Art endgültig abzutun? Der Hund lebte nicht, der einen mit voller Kraft geführten Peitschenschlag hinnehmen konnte, ohne sich zu krümmen oder zurückzuweichen.
Zweimal noch schleuderte er den Hund, als er ansprang, mit einem wohlgezielten Peitschenschlag zur Seite. Aber der Hund kam immer wieder mit derselben Sicherheit und mit demselben Schweigen. Da übermannte ihn der Schrecken, er jagte dem Pferd die Fersen in die alten Rippen, schlug es mit der Peitsche auf den Kopf und unter den Bauch, bis es galoppierte, wie es seit Jahren nicht galoppiert war. Das Pferd raste dahin, es spürte die Angst des Mannes, der seine Rippen mit den Absätzen peinigte und es grausam über Nase und Ohren schlug.
Die größte Schnelligkeit, die das Pferd leisten konnte, war nicht so groß, daß es Michael hätte entkommen können. Aber bei jedem Sprung begegnete der Hund dem unabwendbaren Peitschenschlage, der ihn durch seine Kraft seitwärts schleuderte. Obwohl seine Zähne jedesmal in bedenklicher Nähe von dem Bein des Mannes zusammenschlugen, mußte er doch immer wieder aus aller Kraft laufen, um den entsetzten Mann und das wahnsinnig galoppierende Pferd einzuholen.
Enrico Piccolomini beobachtete die Jagd und nahm selbst zum Schluß an ihr teil; und dieses sein einziges großes Abenteuer in dieser Welt brachte ihm Wohlstand und Unterhaltungsstoff bis ans Ende seiner Tage. Enrico Piccolomini war Holzhauer auf Kennans Gut. Auf einer runden Felskuppe, von der man den Weg übersehen konnte, hatte er zuerst die galoppierenden Hufe und das Klatschen der Peitschenhiebe gehört. Einen Augenblick später hatte er den Wettlauf zwischen Mann, Pferd und Hund gesehen. Als sie gerade unter ihm waren, keine zwanzig Fuß entfernt, sah er, wie der Hund auf seine seltsame schweigende Art direkt in die niedersausende Peitsche sprang und seine Zähne in das Bein des Reiters bohrte. Er sah, wie der Hund den Mann durch sein Gewicht halb aus dem Sattel zog. Er sah, wie der Mann sich an den Zügel klammerte, um das Gleichgewicht zu bewahren, und er sah, wie das Pferd, sich bäumend, wankend und stolpernd, den Mann das letzte bißchen Gleichgewicht verlieren ließ, so daß er mit dem Hunde zu Boden stürzte.
»Und dann sind sie wie zwei Hunde, wie zwei Bestien«, pflegte er viele Jahre später bei einem Glase Wein in seinem kleinen Gasthaus in Glen Ellen zu berichten. »Der Hund läßt das Bein des Mannes los und springt, um den Mann an der Kehle zu packen. Und der Mann wälzt sich herum und packt den Hund an der Kehle. Und der Hund macht keinen Lärm. Er gibt keinen Ton von sich. Weder vorher noch nachher. Da die zwei Hände des Mannes ihm den Atem nehmen, kann er keinen Lärm mehr machen. Aber solch ein Hund ist er nicht. Er will keinen Lärm machen, und das Pferd steht da und sieht zu, und das Pferd hustet. Es ist sehr merkwürdig, was ich sehe.
Und der Mann ist toll. Nur ein toller Mann kann tun, was ich ihn tun sehe. Ich sehe, wie der Mann die Zähne fletscht wie ein anderer Hund und den Hund in Pfoten, Schnauze und Leib beißt. Wenn er den Hund in die Schnauze beißt, beißt der Hund ihn in die Backe. Und Mann und Hund schlagen sich wie die Teufel, und der Hund kratzt mit den Hinterbeinen wie eine Katze. Und wie eine Katze reißt er dem Mann mit seinen Krallen das Hemd von der Brust und reißt ihm die Haut von der Brust, bis er über und über rot von Blut ist. Und der Mann heult und kreischt und macht einen Lärm wie ein wilder Berglöwe. Und immer noch würgt er den Hund. Es ist ein höllischer Kampf.
Und der Hund gehört Herrn Kennan – einem feinen Mann –, ich habe zwei Jahre für ihn gearbeitet. Und ich will deshalb nicht zusehen, wie Herrn Kennans Hund totgeschlagen und zerrissen wird von dem Mann, der wie ein Berglöwe kämpft. Ich laufe den Berg hinunter, aber ich bin aufgeregt und vergesse meine Axt. Und der Hund ist fast erledigt, die Zunge hängt ihm bis zum Hals heraus, und seine Augen sind wie von Spinnweben bedeckt. Aber er kratzt immer noch die Brust des Mannes mit seinen Hinterbeinen auf, und der Mann heult wie ein Berglöwe.
Was soll ich tun? Und ich habe meine Axt vergessen. Der Mann will den Hund töten. Ich sehe mich nach einem großen Stein um. Es gibt keinen Stein. Ich sehe mich nach einem Knüppel um. Ich kann keinen Knüppel finden. Und der Mann will den Hund töten. Ich will Ihnen erzählen, was ich tue. Ich bin kein Dummkopf. Ich trete den Mann. Meine Schuhe sind sehr schwer, nicht wie die, die ich jetzt trage. Es sind Holzhauerschuhe mit sehr dicker Sohle und aus hartem Leder mit vielen eisernen Nägeln. Ich trete dem Mann ins Gesicht, auf den Hals, gerade hinterm Ohr. Ich trete einmal. Es ist ein guter Tritt. Es genügt. Ich kenne die Stelle. Gerade unterm Ohr.
Und der Mann läßt den Hund los. Er schließt die Augen, öffnet den Mund und liegt ganz still da. Und der Hund beginnt wieder zu atmen. Und mit dem Atem kommt das Leben wieder, und gleich will er den Mann töten. Aber ich sage: ›Nein‹, obwohl ich bange vor dem Hund bin. Und der Mann kommt wieder zu sich. Er öffnet die Augen, und er sieht mich an wie ein Berglöwe. Und ich bin bange vor ihm, wie vor dem Hunde. Was soll ich tun? Ich habe die Axt vergessen. Ich will Ihnen erzählen, was ich tue. Ich trete den Mann noch einmal unters Ohr. Dann nehme ich meinen Gürtel und mein Taschentuch und binde ihn. Und die ganze Zeit sage ich ›nein‹ zu dem Hunde, er soll den Mann in Frieden lassen. Und der Hund sieht mich an. Er weiß, daß ich den Mann binde und sein Freund bin. Und der Hund beißt mich nicht, obgleich ich sehr bange bin. Der Hund ist ein furchtbarer Hund. Weiß ich das nicht? Hab' ich nicht gesehen, wie er einen starken Mann aus dem Sattel zieht? – Einen Mann, der wie ein Berglöwe ist?
Aber dann kommen Leute. Sie haben alle Schießwaffen – Büchsen, Schrotflinten, Revolver und Pistolen. Und ich denke gleich, daß die Gerechtigkeit sehr schnell ist in den Vereinigten Staaten. Ich habe soeben einem Mann an den Kopf getreten, und eins, zwei, drei, gerade so schnell kommen Männer mit Büchsen, um mich ins Gefängnis zu bringen, weil ich einen Mann an den Kopf getreten habe. Zuerst verstehe ich nicht recht. Die vielen Männer sind böse auf mich. Sie schelten mich aus und sagen häßliche Dinge; aber sie verhaften mich nicht. Oh! Ich fange an zu verstehen! Ich höre sie von dreitausend Dollar reden. Ich habe ihnen dreitausend Dollar genommen. Das ist nicht wahr, das sage ich ihnen auch. Ich sage, daß ich noch nie einem Manne auch nur einen Cent genommen habe. Da lachen sie. Und mir ist wohler, und ich verstehe besser. Die dreitausend Dollar sind die Belohnung der Regierung für diesen Mann, den ich mit meinem Gürtel und meinem Taschentuch gebunden habe. Und die dreitausend Dollar gehören mir, weil ich dem Mann an den Kopf trat und seine Hände und Füße band.
Und so arbeite ich nicht mehr für Herrn Kennan. Ich bin ein reicher Mann. Dreitausend Dollar, die alle mein sind, von der Regierung, und Herr Kennan sorgt dafür, daß sie mir von der Regierung bezahlt und nicht von den Männern mit den Büchsen genommen werden. Nur weil ich dem Mann, der wie ein Berglöwe war, an den Kopf trat. Das nenne ich Glück. Das ist Amerika. Und ich freue mich, daß ich von Italien hergereist bin, um auf Herrn Kennans Gut Holz zu hauen. Und ich eröffne dies Gasthaus in Glen Ellen für die dreitausend Dollar. Ich weiß, das ist viel Geld für ein Gasthaus. Hatte mein Vater nicht, als ich ein Junge war, ein Gasthaus in Napoli? Jetzt habe ich zwei Töchter auf dem Gymnasium. Ich habe auch ein Automobil.«
»Du lieber Gott, das ganze Gut ist ein Hospital«, rief Villa Kennan später, als sie auf die breite Schlafveranda trat und Harley und Jerry ausgestreckt liegen sah, den einen mit geschientem Bein, den andern das Bein in Gips gelegt. »Sieh Michael an«, fuhr sie fort. »Ihr seid nicht die einzigen mit gebrochenen Knochen! Ich habe eben entdeckt, daß seine Nase, wenn sie nicht gebrochen ist, es eigentlich hätte sein müssen nach all den Schlägen, die er darauf bekommen hat. Ich habe ihm jetzt eine Stunde lang heiße Umschläge gemacht. Sieh nur!«
Michael, der auf ihre Aufforderung hin mitgekommen war, zeigte eine lächerlich geschwollene Nase, als er schnüffelnde Grüße mit Jerry austauschte und mit der Stummelrute wedelte, um Harley zu begrüßen, der seinerseits wiedergrüßte, indem er ihm eine Hand auf den Kopf legte.
»Er muß es im Kampf gekriegt haben«, meinte Harley. »Der Kerl schlug ihn immer wieder mit der Peitsche, sagte Enrico Piccolomini, und selbstverständlich gerade auf die Schnauze, wenn er ihn ansprang.«
»Und Piccolomini sagt, daß er nicht ein einzigesmal heulte, wenn er geschlagen wurde, sondern nur weiter lief und sprang«, fuhr Villa begeistert fort. »Denk' nur, ein Hund, nicht größer als Michael, zieht einen Mörder, den Dutzende von Polizisten nicht fangen konnten, aus dem Sattel!«
»Und für uns hat er noch mehr getan«, fügte Harley hinzu. »Wäre Michael nicht gewesen – und Jerry übrigens auch – wären sie beide nicht gewesen, so glaube ich wirklich, der tolle Kerl hätte mir den Kopf zertreten, wie er wollte.«
»Die gesegneten Tiere!« rief Villa mit strahlenden Augen, während ihre Hand mit einem schnellen, tiefdankbaren Druck die ihres Mannes ergriff. »Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen über das Wunder der Hunde«, fügte sie hinzu, indem sie mit einem schnellen Blinzeln die Tränen zurückdrängte und ihre Bewegung beherrschte.
»Das letzte Wort vom Wunder des Hundes wird nie gesprochen werden«, sagte Harley, indem er ihren Händedruck erwiderte und ihre Hand losließ, um ihr zu helfen.
»Und deshalb wollen wir jetzt etwas Richtiges sagen«, lächelte sie. »Jerry, Michael und ich. Wir haben in aller Heimlichkeit geübt, um dich zu überraschen. Bleib nur liegen und hör' zu. Es ist der Lobgesang. Lach' nicht.«
Sie beugte sich vom Stuhl, auf dem sie saß, herab und zog Michael an sich, so daß er zwischen ihren Knien saß, während ihre Hände ihm Kopf und Kiefer umfaßten, und seine Schnauze halb unter ihrem Haar begraben war.
»Nun, Jerry«, rief sie streng, wie wohl eine Gesanglehrerin gerufen hätte. Jerry wandte aufmerksam den Kopf, sah sie an, lächelte verständnisvoll mit den Augen und wartete.
Villa stimmte den Lobgesang an, aber die Hunde fielen schnell mit ihrem leisen, weichen Geheul ein, wenn man es überhaupt Heulen nennen konnte, so leise, weich und genau war es. Und alles, was in dem großen Nichts verschwunden war, tauchte beim Singen in der Seele der beiden Hunde auf, und sie sangen sich zurück durch das große Nichts in das Land der Vorzeit, liefen noch einmal mit dem entschwundenen Rudel und waren dabei doch nicht ganz ohne Gefühl von dem gegenwärtigen, unzweifelhaften zweibeinigen Gott, der Villa hieß, und der mit ihnen sang und sie liebte.
»Warum wollen wir kein Quartett daraus machen?« sagte Harley Kennan und fiel mit seiner eigenen Stimme ein.
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