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Ja, diese Reise ist zu Tod und Verderben beistimmt. Ich kenne Pike jetzt, und wenn er entdeckt, wer Mellaire eigentlich ist, dann gibt es Mord und Totschlag. Denn Mellaire ist gar nicht Mellaire. Er ist auch nicht aus Georgia – vielmehr stammt er aus Virginia, und sein richtiger Name ist Waltham . . . Sidney Waltham. Er gehört zum virginischen Zweig der Walthams, ist zwar ein schwarzes Schaf, bleibt aber immerhin ein Waltham. Ich bin fest überzeugt, daß Pike ihn töten würde, wenn er erführe, wer Mellaire ist.
Ich werde erzählen, wie ich diese verblüffende Tatsache entdeckt habe. Es war gestern nacht. Kurz vor Mitternacht. Ich war wieder einmal auf die Kampanje gegangen, um die Frische des Südostpassats zu genießen, der uns jetzt vor sich herfegte – wir segelten dicht beim Winde, um Kap San Roque luvwärts zu umgehen. Pike hatte die Wache, und ich ging mit ihm auf und ab, während er mir Erlebnisse aus seinem bewegten Leben erzählte. Das hatte er schon oft getan, und namentlich hatte er mit Stolz – oder richtiger mit Ehrfurcht von seinem Lehrmeister gesprochen, unter dem er fünf Jahre gefahren war. Es war der »alte Kapitän Sommers«, wie er ihn immer nannte, »der feinste, aufrechteste und edelste Mann, unter dem ich je gefahren bin, Herr Pathurst«.
Nun – heute nacht kam die Rede auf traurige Ereignisse, und Pike verbreitete sich über die Schlechtigkeit der Welt und im besonderen über die Schlechtigkeit des Mannes, der Kapitän Sommers ermordet hatte.
»Er war schon ein alter Mann, über siebzig«, berichtete Pike. »Er hatte schon einmal einen kleinen Schlaganfall gehabt. Und dieser Teufel von Untersteuermann erwischte ihn einmal spät in der Nacht, als er im Bett lag, und prügelte den alten Mann zu Tode. Es war furchtbar! Sie erzählten mir damals davon! Es geschah im Hafen von San Francisco, an Bord der Jason Harrison . . . elf Jahre ist es her. Und wissen Sie, was man tat? Erstens ließ man den Mörder am Leben, obgleich er hätte gehängt werden müssen. Er spielte den Verrückten, weil ihm mal vor vielen Jahren irgendein verrückter Schiffskoch den Schädel eingeschlagen hatte. Und als er sieben Jahre im Zuchthaus gesessen hatte, ließ der Gouverneur ihn laufen, weil er aus guter Familie war, aus einer einflußreichen, alten Virginiafamilie, den Walthams – Sie haben wohl auch von ihnen gehört –, und die wandten jedes Mittel an, um ihn loszukriegen. Sidney Waltham hieß er.«
In diesem Augenblick gab ein Schlag auf die Schiffsglocke das Zeichen, daß die Wache in einer Viertelstunde abzulösen war. Den Steuermann hatte sein Bericht über den Tod seines Lehrmeisters so aufgeregt, daß er stehengeblieben war, und jetzt standen wir beide am Rand der Kampanje. Ein verhängnisvoller Zufall wollte, daß Mellaire schon eine Viertelstunde vor Beginn seiner Wache herauskam und die Kampanjetreppe heraufstieg. Während der Steuermann noch sprach, trat Mellaire zu uns.
»Daß man ihm das Leben ließ«, sagte der Steuermann, »solange er wenigstens im Zuchthaus saß – schön. Als sie ihn aber begnadigten, da schwur ich, ihn zu kriegen. Und das tue ich auch! Ich glaube weder an Gott noch an den Teufel, und es ist und bleibt eine verflucht dreckige und gemeine Welt, aber ich glaube an Vorahnungen, und ich weiß, daß ich ihn kriegen werde.«
»Und was werden Sie dann tun?« fragte ich.
»Tun?« Pikes Stimme war von Staunen erfüllt: konnte jemand so töricht sein, daß er das nicht von selbst begriff? »Tun? Nun, was tat er mit dem alten Kapitän Sommers? Seit drei Jahren ist er zwar verschwunden. Niemand hat etwas von ihm gehört. Aber er ist Seemann und wird früher oder später auf die See zurückkehren, und dann . . .«
Der Untersteuermann steckte sich gerade die Pfeife an, und beim Schein der flackernden Flamme sah ich Pikes Gorillaarme mit den ungeheuren geballten Fäusten gen Himmel gehoben, während sein Gesicht sich vor Aufregung verzerrte. Und im selben kurzen Augenblick sah ich die Hand des Untersteuermanns, die das Streichholz hielt, zittern.
»Und ich habe nie auch nur eine Photographie von ihm gesehen«, fügte Pike hinzu. »Aber ich habe eine ganz allgemeine Vorstellung davon, wie der Kerl aussieht, und außerdem hat er ein Zeichen, das nicht irreführen kann. Ich würde ihn selbst im Dunkeln erkennen. Ich brauche nur nachzufühlen.«
»Wie, sagten Sie, hieß der Kapitän, Steuermann?« fragte Mellaire scheinbar gleichgültig.
»Sommers . . . der alte Sommers«, antwortete Pike.
Mellaire wiederholte den Namen und sagte dann verwegen: »Hat er nicht mal die Lammermoor befehligt . . . vor dreißig Jahren, glaube ich . . .?«
»Ganz recht. Das ist er.«
»Dacht' ich doch, daß ich ihn kannte. Ich ankerte mal direkt neben ihm . . . in der Tafelbucht.«
»Oh, diese dreckige Welt«, murmelte Pike noch, als er sich langsam und mit schleppenden Schritten entfernte.
Ich sagte dem Untersteuermann gute Nacht und wollte nach unten gehen, als er mich mit leiser Stimme zurückrief.
»Herr Pathurst!«
Ich blieb stehen. Und da sagte er, überstürzt und verwirrt: »Ach, nichts . . . ich bitte um Verzeihung.«
Als ich in meiner Koje lag, fühlte ich, daß ich tatsächlich nicht imstande war, zu lesen. Immer wieder kehrten meine Gedanken zu dem zurück, was soeben an Deck geschehen war, und gegen meinen Willen tauchten die unheimlichsten Bilder wieder in meinem Kopfe auf.
Plötzlich kam Mellaire lautlos in meine Kajüte und hielt den Zeigefinger warnend vor den Mund. Erst als er neben meiner Koje stand, begann er flüsternd zu reden.
»Ich bitte um Verzeihung, Herr Pathurst. Ich bitte um Verzeihung, aber sehen Sie . . . ich kam zufällig vorbei und sah, daß Sie noch wach waren . . . ich dachte mir, daß es Sie nicht stören würde . . . sehen Sie, ich möchte Sie um eine Gefälligkeit bitten . . . ich . . . ich . . . äh . . .«
Ich wartete ruhig, daß er weitersprechen sollte, und in der Pause, während er sich die trockenen Lippen mit der Zunge netzte, sah mich das Wesen, das in seinem Gehirn verborgen war, durch seine Augen an und schien fast herauszuspringen und sich auf mich stürzen zu wollen.
»Es ist nur eine ganze Kleinigkeit«, begann er wieder, diesmal zusammenhängender, »eigentlich lächerlich . . . aber Sie werden sich vielleicht erinnern, daß ich Ihnen zu Beginn der Reise eine Narbe auf meinem Kopf gezeigt habe . . . eine ganz unbedeutende Geschichte, die ich mir einmal geholt habe . . . Aber ich geniere mich, sie jemand zu zeigen. Nicht um alles in der Welt möchte ich, daß zum Beispiel Fräulein West etwas davon wissen sollte . . . Sie verstehen . . . Sie haben ihr doch nichts davon gesagt?«
»Nein«, sagte ich. »Zufällig nicht.«
»Auch sonst niemand? Zum Beispiel Kapitän West? Oder Pike vielleicht?«
»Ich habe es keinem gesagt«, antwortete ich.
Er konnte die Erleichterung, die er empfand, nicht ganz verbergen. Das Verstörte verschwand aus seinem Gesicht. Das verborgene Wesen zog sich wieder tiefer in sein Gehirn zurück.
»Der Gefallen, um den ich Sie bitten möchte, Herr Pathurst, besteht darin, daß Sie mir versprechen, keinem etwas von dieser Bagatelle zu erzählen. Es ist wohl« – er lächelte, und seine Stimme wurde noch süßlicher als sonst – »so etwas wie Eitelkeit von mir. Sie verstehen, nicht wahr, Herr Pathurst?«
Ich nickte und machte eine ungeduldige Bewegung zum Zeichen, daß ich allein zu sein wünschte, um weiterzulesen.
»Ich kann mich also auf Sie verlassen, Herr Pathurst?«
Sein ganzes Wesen änderte sich. Es war in Wirklichkeit ein Befehl, und ich konnte fast – so schien es mir wenigstens – sehen, wie die Fangzähne des unheimlichen Wesens hinter seinen Augen drohend gefletscht wurden.
»Sicher«, antwortete ich kalt.
»Ich danke Ihnen, Herr . . . ich danke Ihnen aufrichtig«, sagte er und schlich sich aus meiner Kabine. Selbstverständlich las ich nicht weiter. Wie hätte ich es können? Ich schlief auch nicht. Meine Gedanken irrten umher und konnten keine Ruhe finden. Und erst gegen Morgen fiel ich endlich zum ersten Male in dieser Nacht in einen leichten Schlummer.
Eins scheint mir aber klar: Pike ahnt nicht, daß der Mörder seines alten Lehrmeisters an Bord der Elsinore ist. Er hat nie die furchtbare Narbe gesehen, die Mellaires – oder vielmehr Sidney Walthams – Schädel zerklüftet. Und ich werde es Pike auch nie verraten. Jetzt weiß ich aber, warum ich vom ersten Augenblick an den Untersteuermann nicht leiden mochte. Und ich verstehe jetzt auch das lebende Wesen, das hinter seinen Augen lauert. Ich habe dasselbe unheimliche Wesen in den Augen der drei Verbrecher gefunden. Sie sind ja, wie der Untersteuermann, Zuchthäusler. Der Zwang, die Geheimnistuerei und die eiserne Kontrolle des Gefängnislebens haben in ihnen allen eine zweite, furchtbare Persönlichkeit entwickelt.
Und noch eins ist klar. An Bord dieses Schiffes, das jetzt durch den Südatlantik läuft, sind alle Elemente einer Tragödie gegeben. Unsere Fracht besteht aus menschlichem Dynamit, das jeden Augenblick unsere kleine schwimmende Welt in tausend Stücke sprengen kann.
Wir sind jetzt schon südlich von Rio, und es geht immer weiter nach Süden. Das Gebiet der Passate haben wir hinter uns, und der Wind ist jetzt sehr launisch, Regenschauer und Windstöße beunruhigen die arme Elsinore. Eine Stunde können wir in einer toten Kalmte schlingern, und in der nächsten Stunde schießen wir dann mit einer Geschwindigkeit von vierzehn Knoten dahin und müssen die Segel bergen, so schnell die Matrosen nur arbeiten können. Auf eine lange, träge und windstille Nacht, in der es unmöglich ist, in der stickigen schwülen Luft der Kabine zu schlafen, kann ein Tag mit einer brennendheißen Sonne und einer öligen, hohlen Düning folgen. Und an anderen Tagen stampft dann wieder die Elsinore unter bewölktem Himmel mit beschlagenem Schleisegel und Obersegeln in einer kurzen Kappelsee.
Heute war die Kühlte gegen elf Uhr vormittags so steif, daß Pike das Großsegel bergen ließ. Das große Bramstagsegel war schon in den Vormars niedergeholt. Die Wache war aber nicht imstande, das Großsegel aufzugeien, und nachdem sie lange vergeblich gesungen und gehalt hatten, mußte schließlich die Freiwache herausgepurrt werden, um zu helfen.
»Du gütiger Himmel!« stöhnte Pike mir ins Ohr. »Zwei Wachen für so einen Fetzen, mit dem die Hälfte einer anständigen Wache ohne Mühe fertig werden könnte! Gucken Sie sich mal den Bootsmann an, der den andern ein Beispiel geben sollte.«
Der arme Nancy! Er war das traurigste, unglückseligste Geschöpf, das ich je gesehen hatte. Und Sundry Buyers war ebenso unfähig und kraftlos. In seinem Gesicht standen nur Verzweiflung und Hilflosigkeit geschrieben, und, die Hände gegen seinen Unterleib gepreßt, lief er hoffnungslos verwirrt umher, stets Arbeit suchend und nie imstande, sie zu finden.
»Du lieber Gott«, klagte Pike. »Wie soll man mit so einem Bootsmann jemand zur Arbeit antreiben? Und wenn sie erst bei Kap Horn alle Kräfte zugesetzt haben, was soll ich dann mit den Jammerlappen anfangen?«
Wenn der Wind flau ist, macht mein kleiner Stutzen mir großes Vergnügen. Ich habe schon an viertausend Patronen verschossen und betrachte mich schon fast selbst als Sachverständigen. Wenn ich einmal heimkomme, werde ich mich mit Scheibenschießen beschäftigen – es ist wirklich ein netter Sport.
»Papa kennt die See gründlich«, sagte Fräulein West heute nachmittag zu mir, als wir beisammen saßen. »Er versteht und liebt sie.«
»Vielleicht ist sie ihm auch nur eine Gewohnheit geworden«, meinte ich.
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, er kennt sich mit ihr aus. Und er liebt sie von ganzem Herzen. Deshalb ist er auch jetzt zu ihr zurückgekehrt. Alle seine Vorfahren waren ja Seeleute. Sein Großvater, Anthony West, machte von 1801 bis 1847 nicht weniger als sechsundvierzig Reisen. Und sein Vater Robert befuhr als Steuermann die Nordküste, noch ehe die Zeit des Goldfiebers eingesetzt hatte, und wurde dann Führer von einigen der größten Klipper, die Kap Horn mit Goldjägern umsegelten. Elijah West, Papas Urgroßvater, war in den Revolutionsjahren Kaperkapitän – er führte die bewaffnete Brigg New Defence. Und auch dessen Vorfahren waren Besitzer, Kapitäne oder Steuerleute auf Kauffahrteischiffen, die auf große Fahrt liefen . . . Anthony West führte 1808 und 1814 den großen Segler David Bruce und hatte Kaperbrief. Es war ein Schoner von zweihundert Tonnen, in Maine gebaut. Sie führte einen langen Achtzehnpfünder und zwei Zehnpfünder und lief wie der Wind. Er brach die Blockade von New Port, entwischte dann nach dem Kanal und der Biscaya und nahm für mehr als dreihunderttausend Dollar Prisen.
Papa liegt also die See im Blut. Jedes Schiff, mit dem er fährt, wird von ihm als eine besondere Individualität mit ihm eigentümlichen Eigenschaften empfunden. Ich habe ihn so oft in großen und gefahrvollen Augenblicken beobachtet . . . In allem, was mit Schiffen oder der See zu tun hat, ist er wirklich ein Künstler . . . es gibt kein anderes Wort dafür.«
»Sie denken groß und schön von Ihrem Vater«, bemerkte ich.
»Er ist der wundervollste Mann, den ich je getroffen habe«, antwortete sie. »Vergessen Sie nicht, daß Sie ihn nicht in seinen besten Jahren gekannt haben. Er ist nie wieder der alte geworden, seit meine Mutter tot ist.«
Sie brach plötzlich ab und schloß dann ebenso plötzlich:
»Sie kennen ihn nicht. Sie haben keine Ahnung, wie er ist.«
Ich glaube, wir werden heute einen sehr schönen Sonnenuntergang bekommen«, sagte Kapitän West gestern nachmittag.
Fräulein West und ich saßen in der Kajüte und spielten, ließen aber die Karten liegen und eilten an Deck. Der Sonnenuntergang hatte noch nicht begonnen, war aber doch sozusagen schon in Vorbereitung. Wir sahen, wie der Himmel seine Requisiten hervorholte – wie er die grauen Wolkenmassen in langen Reihen aufstellte oder in schweren Massen aufeinandertürmte, und wie er allerlei Farben auf seine Palette setzte – glühende Tinten, mit kräftigen, krassen Klecksen dazwischen.
Dann kam die große Farbenorgie, deren dominierender Ton grün war. Alles war grün, grün und wieder grün – das Blaugrün des Frühlings und das welke Grün, das Gelbgrün und das lohfarbene Grün des Herbstes, Orangegrün, Goldgrün und Kupfergrün. Und alle diese grünen Töne waren von einem Reichtum, der jeder Beschreibung spottet . . . und dann verschwand und verwelkte der ganze Reichtum, dieses grüne Farbenspiel, und verbreitete sich über die grauen Wolken und über die See, die nun das wundervolle goldene Rot blanken Kupfers annahm, während die Tiefe in ihrer weichen, seidigen Fläche von dem duftigsten Erbsengrün getönt wurde. Dann legte sich über die Wolken ein langer schmaler Schwaden aus Rubin und Granatrot. Und über diesem Schwaden, von dem großen Farbenmassiv durch einen grauweißen Nebelstrich getrennt, lag ein anderer, noch schmälerer Streifen von rubinfeurigem Wein.
Als die Farben und die Abenddämmerung verschwanden und welkten, weinte der Mond, in Nebel gehüllt, und wie funkelnde Silbertropfen fielen seine Tränen in die dunkelviolette See. Und dann sank die Dunkelheit der Nacht auch auf uns herab, und wir erwachten aus unsern farbigen Träumen. Mit Schönheit gesättigt standen wir beide an der Reling und lehnten uns schweigend aneinander. –
Die Tage gleiten dahin, und die Jahreszeiten folgen in ihren Spuren. Gegen Ende des Winters haben wir Baltimore verlassen, während der Fahrt wurde es Frühling und Sommer, und jetzt haben wir schon Herbst und arbeiten uns dem Winter des stürmischen Kap Horn entgegen. Und wenn wir das Kap umsegelt haben und weiter nordwärts laufen, werden wir abermals durch Frühling und Sommer kommen, und es wird ein langer, langer Sommer sein. Denn wir folgen der Sonne nordwärts durch ihre Deklination und kommen im Sommer in Seattle an.
Wir sind jetzt auf der Höhe des La Plata, also in einem Gebiet, das wegen seiner Stürme gefürchtet ist. Pike hält Ausschau nach einem Pampero. Kapitän West scheint nach nichts Ausschau zu halten, aber ich habe doch festgestellt, daß er, sobald das Barometer oder der Himmel drohend erscheint, an Deck ist.
Die erste Probe des La-Plata-Wetters erhielten wir gestern abend. Wir hatten eine Flaute, und die Elsinore konnte ihren Kurs nur durch die hin und wieder aufkommenden Windstöße aus dem Norden halten, schlingerte aber verzweifelt in einer gläsernen, hohlen Dünung, der Nachwirkung eines Sturmes, der südlich von uns geweht hatte. Rechts voraus erhob sich schnell wie durch Zauber über dem Horizont ein dichter, schieferschwarzer Block, der eigentlich nicht die geringste Ähnlichkeit mit Wolken hatte. Es war nur eine unheimliche schwarze Masse, die immer höher stieg, bis sie über unseren Köpfen hing, um sich dann langsam nach rechts und links auszubreiten und schließlich das halbe Meer unsern Blicken zu verbergen. Und immer noch kamen hin und wieder leichte Windstöße aus Norden und strafften unsere Segel. Und immer noch schlingerte die Elsinore weiter durch die hohle glatte Dünung, während wir uns langsam dieser drohenden, schwarzen Wand näherten. Im Osten tobte ein Gewitter, und Blitze flammten dort auf, aber die schwarze Masse vor uns wurde von seltsamem Flackern und Wetterleuchten zerrissen.
Bald aber legten sich auch die Windstöße. In den Pausen zwischen dem Donnern des heraufziehenden Gewitters erreichten uns die Stimmen der Männer, die auf den Rahen waren, als befänden sie sich direkt neben uns und nicht mehrere hundert Fuß von uns entfernt. Beide Quartiere arbeiteten unter dem Kommando der Steuermänner, während Kapitän West in seiner gewohnten gleichgültigen Art auf der Kampanje auf und ab wanderte. Wenn er einen Befehl erteilte, tat er es so leise, als ob er sich mit dem Steuermann privat unterhielte – und auch nur, wenn Pike selbst die Kampanje betrat, um eine Frage an ihn zu stellen.
Und dann kam der Wind. Kam aus der Dunkelheit vorn mit der Plötzlichkeit eines Blitzes. Und gleichzeitig überfiel uns auch die schwarze Dunkelheit – man konnte sie sozusagen greifen. Es gibt keinen andern Ausdruck, dies zu beschreiben, als den alten Gemeinplatz, daß man keine Hand vor Augen sehen konnte.
Die Gabrielstimme des Samurais klang durch das Brüllen des Sturmes.
»Helm in Lee«, lautete sein hell klingender Sturmruf an den Rudergast. »Helm in Lee«, rief der Rudergänger zurück, undeutlich, unklar mit halberstickter, heiserer Stimme.
Dann kamen die Blitze über uns. Sie badeten uns in ihren blauen Flammen, jedesmal minutenlang. Und unterdessen brüllte und dröhnte der Donner unaufhörlich. Es war ein unheimliches Schauspiel – hoch oben das schwarze Gerüst von Spieren und Masten, von allen Segeln entblößt. Darunter die Matrosen, die wie riesige Käfer herumkletterten, um die Rahesegel zu bergen. Die wenigen Segel unter ihnen, die noch gesetzt waren, schimmerten weiß, drohend, unheimlich . . . und endlich, ganz unten: Deck und Brücke und Hütten der Elsinore und ein Gewirr von wehenden Tauenden und Klumpen und Knäuel von menschlichen Wesen, die schwankend heißten und halten.
Was jetzt geschah, weiß ich nicht. Nur das weiß ich, daß ich hin und wieder die Erzengelstimme hörte. Dann brach tiefe Dunkelheit über uns herein, und der Regen ergoß sich in gewaltigen Strömen. Man hatte den Eindruck, daß der Regen nicht nur von oben, sondern auch von unten kam, er durchdrang alles, bahnte sich seinen Weg in meinen Südwester durch das Ölzeug, unter meinen enggeschlossenen Kragen und in die großen Seestiefel hinein. Ich war betäubt und halb bewußtlos durch diesen gewaltsamen Angriff von Donner und Blitz, Wind, Dunkelheit und Wasser. Und doch stand die ganze Zeit neben mir auf der Kampanje der Herr und Meister ruhig und besonnen und offenbarte den elenden Geschöpfen drunten seine Weisheit und seinen Willen. Und sie gehorchten ihm. Aus aller Kraft halten sie die Brassen an, fierten Schote, braßten Rahen um, geiten Bauchgordinge auf, ließen Bullienen gehen, beschlugen und refften die mächtigen Segel oder ließen sie killen.
Genau weiß ich also nicht, was geschah, aber Fräulein West und ich klammerten uns eng aneinandergepreßt an den Bogen an. Meinen einen Arm hatte ich um sie gelegt, mit der andern Hand hatte ich den Bogen gefaßt. Ihre Schulter preßte sich eng an mich, und ihre eine Hand ballte sich um den Aufschlag meines Ölrocks. Eine Stunde später gingen wir über die Kampanje zum Navigationshaus – wir mußten uns gegenseitig helfen, den Halt nicht zu verlieren, weil die Elsinore in der immer schwerer werdenden See stampfte und bockte. Aber die Krisis war überstanden, das Schiff lebte, und wir lebten. Und mit Gesichtern, von denen das Wasser troff, und in denen unsere Augen heiter strahlten, sahen wir uns an und lachten fröhlich im hellen Licht des Navigationsraumes.
Am Fuß der Treppe sagte ich ihr Gute Nacht. Als ich an der offenen Tür der großen Kajüte vorbeiging, warf ich einen Blick hinein. Dort saß Kapitän West, den ich noch immer an Deck geglaubt. Seine Sturmkleidung hatte er schon abgelegt und die Seestiefel durch elegante Hausschuhe ersetzt. Er saß gemütlich zurückgelehnt in einem der großen Klubsessel. Mit weit geöffneten Augen starrte er durch den Rauch seiner Zigarre auf irgendwelche Visionen, die sich ihm vor dem Hintergrund der wild schwankenden Kajütenwand zeigten. –
Um elf Uhr heute morgen erlitt der Plata aber ein Fiasko. Letzte Nacht war es ein richtiger Pampero gewesen, wenn auch ein ziemlich sanfter. Heute morgen aber hatte es ausgesehen, als sollte es schlimmer werden, und da hielt er uns schließlich nur zum Narren. Im Laufe der Nacht war der Wind so abgeflaut, daß wir heute morgen schon alle Bramsegel gesetzt hatten. Gegen zehn Uhr schlingerten wir in einer toten Kalmte. Gegen elf begann es sich aber wieder verhängnisvoll im Südwesten zusammenzuballen.
Der bewölkte Himmel senkte sich immer tiefer auf uns herab. Unsere hohen Toppen schienen die Wolkendecke zu streifen. Auch der Horizont rückte immer näher, bis er nur noch eine halbe Meile entfernt schien. Die Elsinore lag wie in einem kleinen, engen Universum von Nebel und See eingeklemmt. Blitze begannen zu spielen. Dann wurde der Himmel auf einmal vom Zenit bis zum Horizont von gespalteten Blitzen zerrissen, und die feuchte Luft verwandelte sich in ein unheimliches Grün. In der toten Stille begann der Regen erst ganz leise zu rieseln, bis er allmählich zu einer Sintflut von mächtigen Tropfen wurde. Es wurde immer dunkler und dunkler, eine grüne Finsternis . . . und obgleich es mitten am Tage war, mußten Wada und der Steward doch die Lampen der Hütte anzünden. Die grüne Finsternis wurde von den unaufhörlichen kleinen Blitzen in eine Flammenwand verwandelt, die immer wieder von den großen Blitzen zerfetzt wurde. Schließlich waren wir von einem elektrischen Wirbel umgeben, so daß es nicht möglich war, einen der Blitze in diesen unendlichen Flammenketten mit einem bestimmten Donner zu verbinden. Die Luft um uns brannte und brüllte einfach. Jeden Augenblick erwarteten wir, daß die Elsinore getroffen würde.
Und immer noch kein Wind. Die Spieren der Elsinore waren nackt, nur die Unterbramsegel waren gesetzt. Schlaff und schwer vom Regen hingen sie herab. Die Wolkenmasse wurde immer dünner und leichter, der Tag brach an, die grüne Finsternis wurde zu grauem Zwielicht, das Blitzen hörte auf, der Donner entfernte sich langsam . . . aber immer noch wehte kein Wind.
Eine halbe Stunde später schien die Sonne, in der Ferne grollte hin und wieder der Donner am Horizont. Und die Elsinore schlingerte immer noch in der toten Kalmte . . .
»Man kann nie wissen«, knurrte Pike mir ins Ohr, »vor dreißig Jahren verloren wir hier die Masten; es war genau so ein Wind wie gestern.«
Die Wache war gerade zu Ende, und Mellaire, der den Steuermann ablösen wollte, trat neben mich.
»Es ist eins von den dreckigsten Gewässern der ganzen Welt«, meinte er. »Vor achtzehn Jahren hat mir der Plata auch eins ausgewischt. Wir verloren die halben Masten, unsere Ladung rutschte, und schließlich kenterten wir. Ich war zwei Tage im Boot, ehe ein englisches Trampschiff uns auflas. Von den andern Booten wurde keins je wiedergefunden.«
»Die Elsinore hat sich aber heute nacht gut gehalten«, meinte ich zufrieden.
»Ach, es war ja auch gar nichts«, murrte Pike. »Warten Sie nur ab, bis Sie erst mal einen richtigen Pampero erleben.«
Dann wehte es wieder jeden Tag. Die mächtigen Wogen, die sich zu gewaltiger Höhe auftürmten, machten den Aufenthalt an Bord wenig gemütlich. Ich konnte es mir nur bequem machen, indem ich in die Koje törnte und mich mit Kissen umgab, die ich so fest wie möglich zwischen die Wand und meinen Körper preßte. Eines Tages stellte sich Pike in meine Kajütentür, hielt sich mit den Händen am Türrahmen fest und spreizte die Beine, um nicht bei dem unaufhörlichen, entsetzlichen Schlingern umgeworfen zu werden. Er hatte sich einen Augenblick freigemacht, um mir zu erzählen, daß er wirklich etwas Neues von diesem verdammten Pampero gelernt hätte. Der Wind sei aus einer verkehrten Ecke gekommen und hätte demzufolge überhaupt keine Daseinsberechtigung.
Er blieb immer noch stehen, und zwar in einer Weise, die ganz zufällig aussehen sollte, aber doch lächerlich durchsichtig war. Zuerst fragte er mich ganz dumm, ob der gute, kleine Possum vielleicht Symptome von Seekrankheit aufwiese. Dann erleichterte er sein erbostes Gemüt, indem er auf die Jammerlappen schimpfte, die die Fock hätten fliegen lassen. Dann bat er mich um Erlaubnis, sich eins meiner Bücher zu leihen, und wählte ausgerechnet Büchners »Kraft und Stoff«. Unterdessen überlegte ich, was er wohl von mir wollte. Schließlich ging er geradeswegs auf sein Ziel los.
»Sagen Sie mal, Herr Pathurst«, meinte er. »Erinnern Sie sich, wie lange es her ist, daß Mellaire in dieser Gegend die Masten verlor und kenterte?«
Ich wußte gleich, wo er hinwollte.
»Acht Jahre, nicht wahr?« log ich.
Pike dachte nach. »Ich begreife nicht, was für ein Schiff das gewesen sein kann, das vor acht Jahren hier kenterte«, sagte er dann, als spräche er mit sich selber. »Ich werde Mellaire mal fragen, wie das Schiff hieß.«
Dann schritt er wieder zur Tür, blieb aber plötzlich stehen, als ob ihm etwas Neues eingefallen wäre.
»Sagen Sie, Herr Pathurst, sollen es nicht zufällig achtzehn Jahre sein?«
Ich schüttelte energisch den Kopf. »Acht Jahre. Dessen erinnere ich mich ganz genau.«
Pike sah mich nachdenklich an, wartete, bis die Elsinore wieder einigermaßen gleichlastig wurde, und verabschiedete sich. Dann ging er auf die Diele hinaus.
Ich glaube seine Gedanken zu kennen. Schon seit langem kenne ich sein einfach fabelhaftes Gedächtnis für Schiffe, Offiziere, Ladungen, Stürme und Schiffbrüche.
Es ist auch klar, daß er sich in die Lebensgeschichte Sidney Walthams vertieft hat. Er läßt sich aber nicht träumen, daß Mellaire Sidney Waltham sein könne, sondern meint lediglich, Mellaire sei vielleicht vor achtzehn Jahren ein Schiffskamerad von Waltham gewesen, und zwar auf dem Schiff, das damals kenterte. Mellaire hätte wirklich vorsichtiger sein sollen.
Je öfter ich Fräulein West sehe, um so besser gefällt sie mir. Ich will keine Erklärung dafür suchen, ich weiß nur, daß sie ein Weib ist, und zwar ein begehrenswertes. Und eigentlich bin ich ja doch stolz darauf, ein Mann zu sein. All die Zeit, die ich nachts auf Studien verwendete, haben mich also doch nicht gänzlich verderben können. Dieser eine Satz hat mich wie mit einem Zauber gebannt: Ein Weib und begehrenswert, und er hallt unaufhörlich in meinem Hirn wieder. Ich mache gern weite Umwege, nur um Fräulein West flüchtig durch eine angelehnte Kabinentür oder in der Ferne in einem Gang zu sehen, ohne daß sie eine Ahnung davon hat. Ihr Haar ist wundervoll, und ihre weiche Anmut ist wie ein Zauber! Oh, ich weiß schon, wie die Frauen in Wirklichkeit sind, aber dieses Wissen macht sie nur noch wunderbarer. Ich weiß – und ich verpfände meine Seele für die Richtigkeit meiner Behauptung – ich weiß, daß Fräulein West mich tausendmal als ihren künftigen Gatten betrachtet hat, wenn ich einmal mit diesem Gedanken gespielt habe. Und dennoch . . . sie ist ein Weib und ist begehrenswert!
In diesem Bericht werde ich sie überhaupt nicht mehr Fräulein West nennen. Sie hat von jetzt an aufgehört, Fräulein West zu sein. In meinen Gedanken heißt sie nur Margaret. Margaret West! Welche geheimnisvolle Zauberkraft liegt in diesem Namen! Er enthält Stolz, Herrschertum und Abenteuer auf wilden Meeren und Eroberungen wilder ferner Welten.
Und . . . da ich gerade daran denke: sie ist vierundzwanzig Jahre alt. Ich habe nämlich Pike gefragt, wann der Zusammenstoß der Dixie mit dem Dampfer in der Bucht von San Francisco erfolgte. Vor zwölf Jahren – und damals war Margaret zwölf Jahre alt.
Es ist soviel zu erzählen. Wo und wie diese verrückte Reise mit der verrückten Mannschaft enden wird, davon kann man sich überhaupt keine Vorstellung machen! Aber die Elsinore läuft immer weiter, und jeder Tag ihrer Geschichte wird mit Blut geschrieben. Und während dieses ganze schwimmende Drama sich immer mehr den eisigen Stürmen von Kap Horn nähert, flüstere ich furchtlos und besessen immer wieder vor mich hin: Margaret – ein Weib! Margaret – und begehrenswert!
Doch zurück zu meinem Bericht. Es ist heute der erste Juni. Seit dem Pampero sind schon zehn Tage verstrichen. Seitdem sind wir durch Nebel, Regen und Sturm weitergesegelt und befinden uns jetzt fast auf der Höhe der Falklandinseln. Die Küste von Argentinien liegt westlich von uns hinter dem Horizont, und zu irgendeiner Stunde heute haben wir den fünfzigsten Grad südlicher Breite passiert. Hier beginnt die eigentliche Fahrt um Kap Horn, denn so berechnet der Fachmann sie: vom fünfzigsten Grad im Atlantischen bis zum fünfzigsten Grad im Stillen Ozean.
Unsere Wetteraussichten sind gut. Die Elsinore läuft bei günstigem Winde weiter. Aber es wird mit jedem Tage kälter. Der große Ofen in der Kajüte prasselt, und im ganzen Achterteil des Schiffes ist es warm und gemütlich. An Deck aber ist die Kälte schneidend, und Margaret und ich müssen auf der Kampanje jetzt dicke Handschuhe tragen. Unsere armen Hühner! Jetzt, da wir uns dem südlichen Winter bei Kap Horn nähern, wo sie tatsächlich ihre dichteste Federtracht dringend brauchen, beginnen sie zu mausern; jetzt ist ja Sommer in dem Lande, aus dem sie stammen.
Gestern wurden für die Fahrt um Kap Horn allerlei Vorbereitungen getroffen, die nichts Gutes verheißen. Alle Brassen wurden von den Koveinnägeln des Großdecks entfernt und so angeordnet, daß man von den Decken der Hütten aus mit ihnen arbeiten kann. Offenbar erwartet man also, daß unser Deck öfters unter Wasser gerät. Ein Schiff mit voller Ladung auf hoher See ist einfach wie ein Holzklotz, der vom Wasser überspült wird, so daß man jetzt zu beiden Seiten des Decks in Schulterhöhe Rückenpaarden aufzieht. Die beiden eisernen Pforten, die von der Hütte direkt an Deck führen, sind verbarrikadiert. Erst wenn wir im Stillen Ozean nordwärts laufen, werden sie wieder geöffnet.
Und während wir uns so auf unsere Fahrt um Kap Horn vorbereiten, wird die Situation an Bord mit jedem Tage dunkler und unheilverkündender. Heute morgen wurde Petro Marinkowitsch von der Wache Mellaires tot auf dem Kabelgatsluk aufgefunden. Der Körper wies zahlreiche Messerstiche auf, und die Kehle war durchgeschnitten. Zweifellos ist der Mord von einigen Backsgasten verübt, aber es ist nicht möglich, ein Wort aus den Leuten herauszubekommen.
Die asiatische Clique in der Kabine des Kochs hat ihren eigenen Verdacht bezüglich des Todes von Marinkowitsch, will aber nichts sagen. Kopfschütteln und dunkle Andeutungen sind alles, was ich aus dem Steward und aus Wada herausbringe. Louis, der chinesische Mischling mit dem Oxforder Akzent, war indessen offenherziger.
»Wir sind von verschiedener Rasse, wir und die anderen«, sagte er. »Und die beste Politik, die wir treiben können, ist, sie in Ruhe zu lassen. Bedenken Sie meine Lage. Ich arbeite vor dem Mast in der Kombüse. Ich stehe in beständiger Verbindung mit den Matrosen. Ich schlafe sogar in ihrem Teil des Schiffes und bin dabei einer gegen alle. Der einzige Landsmann, den ich an Bord habe, ist der Steward, und der schläft achtern. Ihr Diener und die beiden Segelmacher sind Japaner. Sie sind nur entfernt verwandt mit uns Chinesen, wenn wir auch zusammenhalten wollen, was auch geschehen mag.«
»Aber wie steht es mit Knirps?« sagte ich und dachte an die Diagnose, die Pike mit Bezug auf dessen Blutmischung gestellt hatte.
»Den erkennen wir nicht an«, antwortete Louis sehr freundlich. »Er ist Portugiese, Malaie, sogar Japaner, aber von gemischter Rasse, und außerdem ist er ja nicht richtig im Kopf.«
»Aber wie stellen Sie sich denn das Ende vor?«
»Wir werden höchstwahrscheinlich nach Seattle kommen . . . jedenfalls einige von uns. Aber eines kann ich Ihnen sagen, mein Herr: ich fahre schon ein langes Leben auf See, aber eine Besatzung wie diese hab' ich noch nie gesehen. Es sind nur wenige Seeleute, es sind aber auch sehr böse Leute dabei . . . und der Rest besteht aus Idioten oder noch Schlimmerem. Ich nenne keine Namen, mein Herr, aber es gibt Männer an Bord, die ich nicht gern zu Feinden haben möchte. Ich bin nur Louis, der Koch. Ich tue meine Arbeit und damit gut, mein Herr.«
Und Louis entfernte sich unter unzähligen Bücklingen . . .
Die Lage ist indessen viel schlimmer geworden, als ich je gedacht hätte. Ich will nur zwei Episoden aus den letzten drei Tagen erwähnen. Mellaire ist im Begriff, die Nerven zu verlieren. Auf die Dauer kann er die Spannung nicht ertragen, auf demselben Schiff zu leben wie der Mann, der Rache für die Ermordung Kapitän Sommers' geschworen hat.
Schon vor einigen Tagen hatten Margaret und ich bemerkt, daß Mellaire ganz blutunterlaufene Augen hatte, und daß sein Gesicht sehr zerquält aussah, und wir dachten, daß er krank sei. Jetzt haben wir aber das Geheimnis erfahren. Wada liebt Mellaire nicht, und als er mir heute morgen das Frühstück brachte, konnte ich aus dem lustigen, schadenfrohen Ausdruck seiner Mandelaugen sehen, daß er eine delikate Schiffsneuigkeit auf Lager hatte. Seit einigen Tagen, so erzählte er mir, hätten er und der Steward sich mit der Lösung eines interessanten Kajütmysteriums beschäftigt. Im Heckraum stand eine Kanne mit Holzspiritus, und in der letzten Zeit hatte ihr Inhalt bedeutend abgenommen. Sie übernahmen die Rollen von Sherlock Holmes und seinem famosen Dr. Watson. Zunächst stellten sie fest, daß die Verringerung immer nur nach den Mahlzeiten stattfand. Nun konzentrierte sich ihr Verdacht auf zwei Personen, Mellaire und den Zimmermann, die allein in diesem Raum arbeiteten. Alles übrige war natürlich Kinderspiel. Kam Mellaire vor dem Zimmermann, so verschwand etwas Holzspiritus – kamen und gingen sie zusammen, so blieb der Bestand unvermindert. Der Zimmermann war nie allein in dem Raum. Die Indizienkette war also geschlossen. Und jetzt hat der Steward allen Spiritus unter seiner Koje gelagert. Nun ist Holzspiritus aber bekanntlich ein gefährliches Gift. Was für eine Konstitution muß der Untersteuermann haben! Kein Wunder, daß seine Augen blutunterlaufen waren. Ich habe Margaret natürlich kein Wort davon gesagt. Dagegen möchte ich Pike sehr gern eine kleine Warnung zukommen lassen, andererseits weiß ich, daß die Enthüllung von Mellaires Identität wieder ein Menschenleben kosten würde.
Unterdessen laufen wir immer noch nach Süden, nach der ungastlichen Spitze des Kontinents. Wenn die steife Kühlte anhält, werden wir morgen vor der Küste von Feuerland, ganz in der Nähe der Straße von Le Maire sein, durch die Kapitän West laufen will, wenn der Wind uns günstig bleibt.
Die andere Geschichte ereignete sich heute nacht. Pike spricht zwar nicht darüber, aber er kennt sich mit der Mannschaft aus. Ich bin überzeugt, daß Pike sich seit dem Tode des Marinkowitsch nach Eintritt der Dunkelheit nicht mehr an Deck wagt. Aber er vertraut sich keinem Menschen an und spielt das gefährliche Spiel allein zu Ende.
Kurz nach der Plattfußwache ging ich gestern abend nach dem Vorderkastell, und zwar im Auftrage Margarets, die mich gebeten hatte, dem Steward einige Anweisungen von ihr zu bringen. Ich wollte mich gerade nach der Kampanje zurückbegeben, als unheimliche Schreie von Pinguinen auf dem dunklen Meer meine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Ich kletterte hinter das Backbordboot, so daß ich in der Dunkelheit nicht zu sehen war. Kaum war ich in meinem Versteck, als ich die schleppenden Schritte des Steuermanns hörte, der von der Kampanje über die Laufbrücke kam. Es war eine finstere Nacht, und die Elsinore glitt glatt und sauber durch die leisen Wellen. Pike blieb am Rand der Hüttendecke stehen.
Nach seiner Haltung zu urteilen, schien er zu lauschen. Von dem großen Deck unten hörte man ein leises Murmeln von Stimmen, und ich konnte feststellen, daß es Bub Twist, Nasen-Murphy und Bert Rhine, also die drei Banditen, waren. Jedoch waren auch Steve Roberts, der Cowboy zur See, und Mellaire dabei, obgleich sie Freiwache hatten und um Mitternacht wieder an Deck sein mußten. Besonders unrecht war es natürlich von Mellaire, daß er sich mit den Matrosen einließ – ein schweres Vergehen gegen die Schiffsdisziplin.
Ich blieb in meinem Versteck und lauschte.
Fünf Minuten vergingen. Zehn Minuten. Die Männer sprachen immer noch miteinander. Das Schreien der Pinguine ging mir auf die Nerven. Ich sah, wie Pike den Kopf nach dem Geräusch wandte – er starrte direkt zu mir herüber, bemerkte mich aber nicht. Dann lauschte er wieder auf das Flüstern in seiner Nähe.
War es nun Zufall, daß Mulligan Jacobs auf die Brücke ging, oder tat er es, um sich zu überzeugen, ob die Luft rein sei, das weiß ich natürlich nicht. Ich kann nur berichten, was tatsächlich geschah. An der Seitenwand des Mittschiffhauses ist eine Leiter, und diese Leiter kletterte Mulligan Jacobs so lautlos hinauf, daß ich seine Anwesenheit erst bemerkte, als ich Pike knurren hörte: »Was hast du hier zu suchen, zum Kuckuck?«
»Was geht Sie das an?« fauchte Mulligan Jacobs zur Antwort.
Pike fuhr mit so furchtbaren Verwünschungen auf ihn los, daß ich sie nicht wiederholen kann. Dann fragte er wieder, was Jacobs wollte.
»Ich hab' vorhin beim Aufscheren meinen Tabak vergessen«, sagte der Krüppel. Nein, er sagte es nicht – er spie es heraus, als ob die Worte Gift wären, das seinen Gegner töten konnte.
»Mach, daß du wegkommst, oder ich schmeiß' dich hinunter«, tobte der Steuermann.
»Alter Schuft!« lautete die Antwort des furchtbaren Krüppels.
Pike packte ihn am Kragen und hob ihn hoch.
»Willst du jetzt gehen? Oder soll ich dich hinunterschmeißen?« fragte der Steuermann.
»Du alter Schuft . . . du alter Schuft . . . du alter Schuft«, wiederholte Mulligan Jacobs unaufhörlich in seiner viehischen Wut.
»Sag das noch mal, und ich schmeiß' dich über Bord«, stieß Pike schließlich mit heiserer Stimme hervor.
»Alter Schuft«, jappste Mulligan Jacobs.
Der Steuermann schleuderte ihn weit von sich, und der Krüppel flog an Deck, aber selbst da knurrte er noch vernehmlich:
»Alter Schuft, alter Schuft . . .«
Pike knirschte mit den Zähnen. Er lehnte seinen Arm auf das Geländer der Laufbrücke und legte seinen Kopf auf den Arm. So stand er eine volle Minute und stöhnte: »Großer Gott, großer Gott.«
Dann ging er langsam mit schleppenden Schritten wieder über die Brücke zurück.
Land ahoi!« Das war der erste Ruf gestern morgen. Es lief mir kalt den Rücken hinab, als es auftauchte, das erste Land, das ich seit unserer Abreise von Baltimore vor vielen Jahrhunderten erblickte. Keine Sonne schien. Der Morgen war feucht und kalt, und der frische Wind drang unbarmherzig durch die Kleider. Hin und wieder ging ein kleiner Schneesturm über uns hin. Vom Lande war nichts zu sehen als Schnee. Lange, niedrige, schneebedeckte Bergketten hoben sich aus dem grauen Ozean. Nirgends sahen wir Anzeichen von Leben, es war ein ödes, wildes, trauriges und unbewohntes Land. Als wir uns gegen elf Uhr der Le-Maire-Straße näherten, hörten die Böen auf und wurden von einer stetigen, steifen Kühlte abgelöst. Dazu setzte die Gezeitenströmung in einer uns günstigen Richtung ein.
Kapitän West zögerte nicht. Die Weisungen, die er Pike erteilte, waren ruhig und schnell. Der Rudergast legte das Ruder hart um, und beide Wachen enterten in die Wanten, um Reuel- und Obersegel loszumachen. Und doch wußte Kapitän West ganz genau, welche Gefahr er lief, wenn er durch diesen Friedhof verlorener Schiffe segelte.
Als wir vor vollen Segeln in die schmale Straße einliefen, glitt die zackige Küste der Tierra del Fuego mit schwindelnder Schnelligkeit an uns vorüber. Wir waren ihr ganz nahe, ebenso nahe jedoch der zerklüfteten Küste von Staten-Island. Hier, in einer windumrauschten Bucht, zwischen zwei schroffen Felswänden, blieb Kapitän West, der hin und wieder sein Glas benutzte, auf seiner Wanderung über Deck plötzlich stehen und beobachtete lange einen bestimmten Punkt im Meere. Ich richtete mein Glas auf dieselbe Stelle und sah schaudernd die vier Masten eines großen Schiffes aus dem Wasser ragen. Es konnte nicht lange her sein, daß es gescheitert war.
»Ein deutsches Salpeterschiff«, sagte Pike.
Kapitän West nickte: »Es sieht aus, als sei es längst verlassen. Schicken Sie aber doch ein paar Leute mit guten Augen in den Mars, Steuermann. Vielleicht sind Überlebende an Land.«
Aber wir fuhren weiter, ohne ein Anzeichen von Leben zu sehen. Pike ging händereibend auf und ab und lachte leise vor sich hin. Er erzählte mir, daß es Schiffsführer gäbe, die vierzig Reisen um Kap Horn gemacht und nicht ein einziges Mal wie wir das Glück gehabt hätten, durch die Straße laufen zu können. Gewöhnlich geht die Fahrt östlich um Staten-Island herum. Und hier, an der äußersten Spitze der Welt, wo der große Westwind, unbehindert von jeglichem Land, um die schmale Zunge schlüpfen kann, hier muß man sich den westlichen Kurs Zoll für Zoll, Meile für Meile erkämpfen. Die Bücher für Segelkunde geben immer wieder denselben Rat: Laufe westwärts . . . was du auch tust, immer westwärts!
Als wir die Straße verließen, war es früh am Nachmittag, und immer noch wehte derselbe stetige Wind. Pike war ganz außer sich. Als seine Wache zu Ende war, konnte er sich kaum von Deck losreißen.
»Morgen sind wir auf der Höhe von Kap Horn«, sagte er vergnügt. »Denken Sie, was das heißt! Wir werden uns herumschleichen – ganz still und leise! Die gute alte Elsinore! Vorn hat sie freilich eine gottverlassene Rasselbande, aber an ihrem Helm sitzt der liebe Gott!«
Mellaire benahm sich ganz anders.
»Das gibt es gar nicht«, sagte er zu mir. »Kein Schiff ist je auf diese Weise um Kap Horn herumgekommen. Sie werden sehen: es gibt Sturm. Er kommt ganz sicher aus Südwest. Wetten wir um ein Pfund Tabak, Herr, daß wir binnen vierundzwanzig Stunden die Segel wieder einholen müssen. Ich setze zehn Pfund gegen fünf, daß wir in einer Woche noch nicht um das Kap herum sind, zwanzig Pfund gegen fünf, daß wir heute in vierzehn Tagen noch nicht den fünfzigsten Grad im Pazifik erreicht haben.«
Kapitän West hatte sich wieder mit seiner Zigarre in den Klubsessel gesetzt. Er verlor überhaupt kein Wort über die Sache, obgleich Margaret und ich strahlender Laune waren und während der ganzen Plattfußwache Duette sangen.
Und heute morgen lag Kap Horn mehr als sechs Meilen nördlich von uns. Wir waren also da, waren an der gefährlichen Stelle und eilten weiter nach Westen.
»Was kostet der Tabak heute?« neckte ich Mellaire.
»Der Preis steigt«, gab er zurück. »Ich möchte tausend Wetten von der Sorte laufen haben.«
Ich sah mir den Himmel an, konnte aber nichts finden, was seine Bemerkung irgendwie begründete. Das Wetter war einwandfrei.
Auf der Kampanje traf ich Pike. Als Gruß ließ er nur ein Grunzen hören.
»Es geht ja herrlich vorwärts«, wagte ich fröhlich zu bemerken.
Er antwortete nicht, sondern starrte mit einem Ausdruck, der noch säuerlicher als sonst war, auf den grauen Himmel im Südwesten. Dann knurrte er: »Es zieht auf. Können Sie nicht sehen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Warum, glauben Sie denn, holen wir die Fetzen ein?« knurrte er.
Ich blickte hinauf. Die Obersegel waren bereits eingeholt, und jetzt kam die Reihe an die Reuel. Die Bramrahen wurden heruntergenommen, während Geitaue und Gordingen die Segel blähen ließen. Dabei erschien es mir, als ob die nördliche Kühlte uns jetzt noch günstiger wäre als bisher.
»Der Teufel soll mich holen, wenn ich etwas merken kann«, sagte ich.
»Dann gucken Sie sich mal das Barometer an«, grunzte er, drehte sich um und entfernte sich.
Im Kartenraum zog Kapitän West sich schon die Seestiefel an, und das allein hätte mir mehr sagen können als das Barometer, wenn das auch beredt genug war. Letzte Nacht hatte es auf 30,10 gestanden, jetzt zeigte es 28,64. Nicht einmal während des Pamperos war es so tief gefallen.
»Das übliche Kap-Horn-Programm«, meinte Kapitän West lächelnd, während er die Hand nach seinem Ölrock ausstreckte. Und doch konnte ich es immer noch nicht glauben.
»Ist es noch weit weg?« fragte ich.
»Gleich geht es los«, sagte er. Und dann hörte ich Pike seine Befehle brüllen, während sich in meinem Herzen eine leise Ehrfurcht vor Kap Horn zu regen begann.
Eine Stunde darauf liefen wir mit Backbordhalsen und gerefftem Fock- und Großsegel. Der Wind war nach Südwest gedreht, und wir trieben gegen das Land. Kapitän West gab dem Steuermann Befehl, alles zum Halsen bereitzumachen. Beide Wachen blieben an Deck, um die nötigen Manöver vorzunehmen.
Es war erstaunlich, wie grob die See im Lauf so kurzer Zeit geworden war. Der Wind war schon zu einem Sturm angewachsen, der in gewaltigen Stößen daherkam. Wir waren in graue Finsternis gehüllt. Die Lampen in den Kajüten waren schon angezündet. Die Seen brachen sich an der Luvreling, brausten ständig über sie hinweg und hielten das Deck halb unter Wasser. Auf den Decken der beiden Hütten und auf der Kampanje stand die ganze Besatzung in mehrere Gruppen geteilt – alle im Ölzeug. Vorn führte Mellaire das Kommando. Pike leitete die Gruppe auf dem Mittschiffshaus und auf der Kampanje. Kapitän West schlenderte auf und ab, sah alles, sagte nichts. Was es jetzt zu tun gab, war Sache der Steuermänner.
Der Sturm, der immer steifer wurde, brüllte jetzt, als ob die Hölle losgelassen wäre. Immer und immer wieder wurden die Leute auf dem Mittschiffshaus, die sich mit gesenkten Köpfen gegen den Sturm beugten, in den Gischt der Wellen eingehüllt, die sich an der Reling brachen. So furchtbar waren die Windstöße, daß die Elsinore nicht vor ihrem Ruder aufkommen wollte. Sie krängte stark über, der Sturm schüttelte und peitschte sie, aber ihr Bug fiel nicht ab, und immer näher trieben wir der furchtbaren, eisernen Küste. Wir warteten. Alle drei Gruppen von Männern warteten. Ruhelos und erregt wartete auch Pike – seine grauen Augen waren ebenso hart wie die eisige Kälte, sein Mund ebenso rauh wie die Elemente, die er bekämpfte. Der Samurai wartete ruhig, gleichgültig, fern. Und Kap Horn wartete, wartete auf das Schiff und auf unsere Knochen.
Aber da fiel die Elsinore ab. Der Winkel, in dem die Stöße des Sturmes unsere Segel trafen, änderte sich, und bald flogen wir mit furchtbarer Schnelligkeit vor dem Winde dahin. Das Manöver war geglückt. Die Rahen wurden scharf eingebraßt, die Bulinen angezogen, die Luvbrassen festgesetzt. Und die Elsinore, die jetzt auf Steuerbordhalsen lag, hatte viele tausend Meilen des Südmeeres in Lee.
Bevor ich hinunterging, hörte ich Kapitän West zum Steuermann sagen, daß die beiden Wachen, da sie ja sowieso jetzt an Deck wären, auch gleich noch ein Reff am Focksegel einstechen könnten, ehe sie es festmachten. Ich konnte die schwarzen Gestalten der Männer auf der Fockrahe sehen. Sie schienen mit dem Reffen gar nicht weiterzukommen.
»Zwei Wachen auf einer einzigen Rahe und werden nicht mal mit so nem Handtuch fertig«, knurrte Pike. »Was soll da erst werden, wenn wir einen ganzen Monat hier liegen müssen?«
»Einen ganzen Monat!« rief ich erschrocken.
»Ein Monat ist gar nichts für das schlimme Vorgebirge«, sagte er barsch. »Ich habe sieben Wochen hier gelegen, und dann mußten wir kehrtmachen und den andern Weg nehmen.«
»Um die Erde herum?« japste ich.
»Das war die einzige Möglichkeit, nach San Francisco zu kommen«, antwortete er. »Kap Horn ist eben Kap Horn, hierher macht man keine Badereisen.«
Haben Sie Lust mit aufzuentern?« fragte Margaret mich, kurz nachdem wir von Tisch aufgestanden waren.
Sie stand verführerisch im Türrahmen meiner Kabine und hatte schon Ölzeug, Südwester und Seestiefel an.
»Solange wir unterwegs sind, habe ich es noch nie erlebt, daß Sie über Deck waren«, fuhr sie fort. »Sind Sie schwindelfrei?«
Ich legte ein Lesezeichen in mein Buch, sprang aus der Koje, wo ich es mir mit Kissen auf allen Seiten bequem gemacht hatte, und klatschte in die Hände, um Wada zu rufen.
»Wollen Sie wirklich?« rief sie eifrig.
»Wenn Sie einverstanden sind, daß ich die Führung übernehme«, antwortete ich überlegen. »Und wenn Sie mir versprechen, sich gehörig festzuhalten. Wohin geht es denn?«
»Auf den Kreuzmasttopp, das ist das leichteste. Und was das Festhalten betrifft, so erinnern Sie sich bitte freundlichst, daß ich schon oft oben gewesen bin. Denken Sie lieber an sich!«
»Schön«, sagte ich, »meinetwegen können Sie vorangehen. Ich werde mich schon festhalten . . .«
Sie sah mich prüfend an, während ich die Hand nach meinem Ölrock ausstreckte.
Auf der Kampanje war es wundervoll, schrecklich und düster. Der ungeheure Weltraum war uns greifbar nahe. Er hüllte uns in einen Mantel von stürmischem Wind und schäumendem Gischt. Graue Finsternis umgab uns. Über das große Deck konnte man überhaupt nicht kommen, und die Ablösung am Steuer mußte deshalb über die Laufbrücke gehen. Es war jetzt zwei Uhr, und seit mehr als zwei Stunden hingen die armen durchfrorenen Geschöpfe auf der vereisten Rahe, immer noch entkräftet und hoffnungslos. Kapitän West blieb einen Augenblick in Lee des Navigationshauses stehen und beobachtete die Leute.
»Wir wollen das Reffen lieber aufgeben«, sagte er zu Pike. »Machen Sie nur das Segel fest. Sie können ja meinetwegen doppelte Seisinge anlegen.« Mit seinen schleppenden Schritten ging der Steuermann nach vorn. Hin und wieder mußte er stehenbleiben, wenn der Gischt oder die Seen über ihm zusammenschlugen. Und als er das Vorderkastell erreicht hatte, begann er seiner Verachtung über die jämmerliche Mannschaft Luft zu machen, die so elend war, daß nicht einmal beide Quartiersvölker zusammen ein Focksegel reffen konnten.
Er hatte natürlich recht. Sie konnten es nicht schaffen, so gut ihr Wille auch sein mochte – denn das habe ich erkannt, die Leute tun ihr Bestes, wenn der Befehl zum Bergen der Segel gegeben wird. Wahrscheinlich haben sie einfach Angst. Es fehlt ihnen der eiserne Charakter Pikes, die Weisheit und der stählerne Wille des Samurais. Das Fehlen dieser Eigenschaften ist ja eben der Grund, daß sie im Schweinekoben des Volkslogis leben müssen.
Margaret hielt es nicht für unter ihrer Würde, sich auf meinen Arm zu stützen, als sie auf die Finknetzreling an der Leeseite der Kreuzmastwanten kletterte. Aber es war nur eine Anerkennung meiner ritterlichen Höflichkeit, denn in der nächsten Sekunde schwang sie sich kühn außenbords auf die Wevelinge. Dann begann sie zu entern. Ich folgte ihr, fast ohne daran zu denken, wie gefährlich dieser Ausflug für einen Neuling war – so regte mich ihr Beispiel und meine Verachtung der Jammergestalten des Vorderkastells an. Was andere Männer konnten, konnte ich auch. Und keine Tochter eines Samurais sollte das Vergnügen haben, mich zu übertreffen.
Aber es war eine langsame, mühselige Arbeit. Wenn das Schiff nach der Windseite schlingerte, wurde man hilflos wie ein Schmetterling gegen die Wanten gepreßt. Der Druck war in solchen Augenblicken so groß, daß man weder Hand noch Fuß heben konnte, man brauchte sich nicht einmal festzuhalten, man wurde vom Wind einfach an der Wante festgeklebt.
Durch den Schnee, der zu fallen begann, sah ich, wie das Deck unter mir immer kleiner wurde, so klein, daß ein Sturz ein gebrochenes Rückgrat oder den Tod bedeutet hätte – wenn man nicht etwa in die See gefallen und im eisigen Wasser ertrunken wäre. Margaret kletterte inzwischen immer weiter. Ohne Aufenthalt stieg sie bis unter den Mars, ergriff mit den Händen die Püttinge und schwang sich leicht und furchtlos hinauf, wobei sie ihre Bewegungen genau dem Schlingern des Schiffes anpaßte. Dann stand sie sicher droben. Ich kam ihr nach. Ich flüsterte weder Gebete, noch kannte ich Angst oder Schwindel, als ich dem Deck den Rücken kehrte und unter die Plattform kroch, während ich mich mit den Händen vorfühlte, denn im Schneegestöber konnte ich nichts sehen. Ich befand mich wie in einer Verzückung. Ich hätte alles wagen mögen. Wäre sie durch die Luft gesprungen, um mit ausgebreiteten Armen an der Brust des Sturmes gen Himmel zu steigen – ich wäre ihr ohne Zaudern nachgesprungen.
Als mein Kopf über dem Rand des Marses auftauchte, so daß ich sie wieder sehen konnte, bemerkte ich, daß sie mich mit sturmklaren Augen betrachtete. Und als ich mich mühelos um die Wanten schwang, sah ich Beifall in ihren Augen.
Dann setzte sie sich und ließ ihre Beine in den großen derben Seestiefeln im Schneegestöber hin und her baumeln. Ich setzte mich neben sie.
Hier oben waren wir ganz allein. Wir waren ans äußerste Ende der Welt gekommen. Doch sieh . . . aus dem Schnee tauchte ein mächtiger Albatros auf. Mit einer Schnelligkeit von mindestens achtzig bis neunzig Meilen die Stunde ließ er sich, ohne die Flügel zu regen, vor dem Winde treiben. Er mußte seine fünfzehn Fuß von einer Flügelspitze bis zur andern messen. Noch ehe wir ihn sahen, hatte er die Gefahr erkannt, kippte leicht und graziös auf die Seite, machte einen kleinen Bogen und vermied auf diese Weise mühelos einen Zusammenstoß. Kopf und Hals waren ihm von Alter oder Frost bereift, und sein klares rundes Auge sah uns an, während er vorbeiflog und in einem großen Kreis durch den Sturm in Lee verschwand.
Schnell, wie der Schneesturm gekommen war, legte er sich wieder, und als es klar wurde, konnten wir die lange, schmale Gestalt des Schiffes unter uns überblicken – das ganze Großdeck war von einer zischenden Flut bedeckt, die Galion von brechenden Seen überspült, und der Ausguck, der sich, um sein Leben nicht in allzu große Gefahr zu bringen, auf die Decke des Vorderkastells gelegt hatte, krallte sich fest, um nicht von den gewaltigen Wogen über Bord geschwemmt zu werden. Gerade unter uns sahen wir Mellaire, der mit einer Handvoll Leute im Begriff stand, Steuertaljen an der Ruderpinne zu befestigen, um das Steuerreep zu entlasten. Und wir sahen den Samurai in Lee des Navigationshauses auftauchen. Er bewegte sich mit gewohnter Sicherheit auf dem wahnsinnig rollenden Deck, während er sich mit Pike unterhielt und ihm anscheinend irgendwelche Instruktionen erteilte.
Der graue Kreis unserer Welt hatte sich jetzt um einige hundert Schritt erweitert, und wir konnten den tollen Tanz der See betrachten. In unendlichen Reihen rollten die Wogen gegen die Elsinore, verschlangen einen Augenblick ihre schlanke und zerbrechliche Gestalt, schleuderten dann Hunderte von Tonnen Wasser auf ihr Deck und warfen das Schiff schließlich gen Himmel, um mit schäumenden Kämmen wieder in der düster-grauen Dunkelheit in Lee zu verschwinden.
Und die mächtigen Albatrosse kreisten unter uns, lavierten gegen den Sturm und sausten erhaben, mit fast größerer Schnelligkeit als der Wind selbst, davon.
Margaret wandte ihren Blick von dem mächtigen Schauspiel ab und sah mich mit beredten und fragenden Augen an. Mit Fingern, die trotz dicken Fäustlingen ganz gefühllos geworden waren, bog ich die Ohrenklappe ihres Südwesters beiseite und rief ihr zu:
»Das ist mir alles nichts Neues. Ich bin hier schon längst gewesen. Mit meinen Vorfahren habe ich das alles schon durchlebt. Mit ihnen war ich bereits hier. Jetzt erst weiß ich, daß meine Vorfahren Wikinger waren. Ich bin einer von den Helden vergangener Zeiten. So gut wie sie gehöre ich jenen Tagen an. Ich habe die vereisten Meere bekämpft und besiegt.«
Sie lachte ihr bezauberndes Lachen. Aber ein Schneegestöber kam über uns. Unsere Wangen brannten vor Kälte. Die Elsinore wurde auf die Seite geschleudert, als sollte sie sich nie wieder aufrichten – wir aber klammerten uns fest und flogen in einem mächtigen Bogen durch die Luft.
»Und die Bücher?« erkundigte sie sich spöttisch, als wir uns anschickten, hinabzuentern.
»Die können zum Teufel gehen, nebst all den gehirnschwachen, weltkranken Narren, die sie geschrieben haben«, antwortete ich.
Und wieder lachte sie ihr berauschendes Lachen – aber der Wind verwehte den Laut, als sie sich in den Raum hinausschwang. Sie spannte alle Muskeln und schwebte frei in der Luft, bis ihre Füße den Halt gefunden hatten, den sie nicht sehen konnte. Dann verschwand sie unter dem gefährlichen Mars aus meinem Gesichtskreis.