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Ich schlief diese Nacht schlecht. Zwar schlief ich sofort ein, wachte aber gleich wieder auf. Und dann versuchte ich vergeblich wieder einzuschlafen, bis ich es schließlich aufgab. Aber bei meinem nervösen Zustand auch noch an Hitzpickeln leiden zu müssen – und noch dazu bei diesem saukalten Winterwetter, das war des Guten doch zuviel!
Um vier zündete ich das Licht wieder an, um weiter zu lesen. Meine Kabine lag auf der Luvseite des Schiffes, und an Deck hörte ich die Schritte des wachhabenden Offiziers, der unaufhörlich auf und ab ging. Einer wachte also dort oben. Die Arbeit ging ihren Gang, wachsame Männer paßten auf, und solange die Reise dauerte, würde – darüber war ich mir klar – diese Wachsamkeit keine Stunde aussetzen. Um halb fünf hörte ich den Wecker des Stewards Alarm schlagen, aber er wurde sofort wieder zum Schweigen gebracht, und fünf Minuten später streckte ich die Hand aus und öffnete die Tür, um den Steward zu rufen. Ich hatte Verlangen nach einer Tasse Kaffee.
Der Steward schien wirklich ein Juwel zu sein. Zehn Minuten später brachte er mir eine Tasse wundervollen Kaffees. Dann las ich weiter, bis es hell wurde, und als es halb neun war, hatte ich schon im Bett gefrühstückt, war angezogen und rasiert und an Deck. Wir wurden noch geschleppt, aber wegen des leichten Nordwindes waren schon die Segel gesetzt. Im Navigationshaus saßen der Kapitän und der Lotse und rauchten. Am Steuer stand ein Mann, dem ich sofort ansah, daß er zu den wenigen Tüchtigen an Bord gehörte. Er war nicht groß, eher etwas untersetzt. Seine Stirn war hoch und intelligent. Ich erfuhr später, daß er Tom hieß – Tom Spinker, ein Engländer. Er hatte blaue Augen, helle Haut, Haar und Bart waren graumeliert; er schien gegen Fünfzig zu sein. Er grüßte mich gutgelaunt und lächelte freundlich dabei. Er hatte freilich nicht gerade die seemännische Art des Schulschiffsjungen Henry, aber ich erkannte doch sofort, daß er nicht nur ein befahrener, sondern sogar ein tüchtiger Seemann war.
Fräulein West tauchte mit rosigem Morgenteint aus dem Navigationshause auf. Als ich auf ihre Frage, wie ich geschlafen hätte, »ganz scheußlich« antwortete, bat sie um nähere Erklärung. Ich erzählte ihr deshalb von meinen Hitzpickeln und zeigte ihr die Blasen an meinen Handgelenken.
»Sie müssen ein Blutreinigungsmittel haben«, entschied sie sofort. »Warten Sie doch bitte einen Augenblick . . . Ich will sehen, was ich habe.«
Im selben Augenblick lief sie in die Kajüte und kam gleich darauf mit einem Glase Wasser in der Hand wieder, in das sie einen Teelöffel Cremor Tartari gerührt hatte.
Ich trank. Und um elf, als ich es mir auf meinem Deckstuhl bequem gemacht hatte, kam sie wieder und gab mir eine zweite Dosis. Bei dieser Gelegenheit rügte sie scharf, daß ich Wada erlaubt hatte, Possum Fleisch zu geben. Sie belehrte mich und Wada, daß es eine wahre Todsünde sei, so jungen Hunden Fleisch zu geben. Die Verpflegungsfrage des Hündchens erregte einen wahren Sturm in einem Wasserglase, und als alles vorbei war, hatte Fräulein West es verstanden, eine enge Verbindung zwischen uns beiden anzuknüpfen. Und sie hatte in mir das Gefühl wachgerufen, daß Possum uns eigentlich gemeinsam gehörte.
Das Gabelfrühstück bestärkte mich in meiner Bewunderung für den Koch. Im Laufe des Nachmittags ging ich deshalb in die Kombüse, um seine Bekanntschaft zu machen. Er war durch und durch Chinese, jedenfalls bis er den Mund öffnete, denn da wurde er plötzlich Vollblutengländer. Er sprach tatsächlich so kultiviert wie ein Oxforder Student. Auch er war alt, um die Sechzig, wenn er auch nur Neunundfünfzig zugeben wollte. Dreierlei fiel mir besonders an ihm auf: sein Lächeln, das sein ganzes glattrasiertes Asiatengesicht mit den schiefen Augen umfaßte, seine außergewöhnlich regelmäßigen, weißen Zähne, die ich für falsch hielt, bis der allwissende Wada mich eines Besseren belehrte; endlich seine Hände und Füße. Seine lächerlich kleinen, aber schöngeformten Hände waren es, die mich veranlaßten, mir auch seine Füße anzusehen. Auch sie waren lächerlich klein und sehr gut, fast stutzerhaft beschuht.
Gegen Mittag setzten wir den Lotsen ab, aber die Britannia bugsierte uns noch einige Stunden und warf erst los, als das offene Meer vor uns lag und das Land nur noch als ein schmaler blauer Streifen am Horizont zu sehen war. Erst jetzt begann unsere Reise wirklich, wenn seit unserer Abfahrt von Baltimore auch schon gut vierundzwanzig Stunden vergangen waren.
Als der Schlepper loswarf, stand ich am Kampanjebogen und schaute voraus. Fräulein West trat zu mir. Sie hatte in der Kajüte zu tun gehabt und war nur heraufgekommen, um – wie sie sich ausdrückte – ein bißchen frische Luft zu schöpfen.
Sie beobachtete den Himmel mehrere Minuten in äußerst sachverständiger Weise und sagte dann:
»Das Barometer steht heute sehr hoch . . . Die Brise wird nicht lange anhalten. Entweder schläft der Wind ein, oder er dreht sich. Dann gibt es eine Nordostkühlte.«
»Was würden Sie denn vorziehen?« fragte ich.
»Die Kühlte selbstverständlich. Sie bringt uns eher vom Lande weg und hilft mir außerdem schneller durch das Fegefeuer der Seekrankheit hindurch. Ja, ja«, fügte sie hinzu, »ich habe zwar gute Seebeine – aber am Anfang jeder Reise leide ich entsetzlich. Sie werden mich wahrscheinlich einige Tage nicht zu sehen bekommen.«
»Ich habe irgendwo gelesen, daß Lord Nelson nie eine gewisse Übelkeit überwand, wenn er auf See war«, sagte ich.
»Ich habe sogar meinen Vater gelegentlich seekrank gesehen«, antwortete sie. »Auch einige von den stärksten und abgehärtetsten Seeleuten, die ich je gekannt habe.«
Pike hielt einen Augenblick in seinem unaufhörlichen Auf- und Abwandern an Deck inne und lehnte sich neben uns an den Kampanjebogen. Ein Teil der Mannschaft arbeitete auf dem Deck unter uns. Meinem unerfahrenen Blick erschienen sie noch abstoßender als bisher.
»Eine nette Sammlung, Herr Pike«, sagte Fräulein West.
»Die schlimmste, die ich je gesehen habe«, knurrte er, »und ich habe doch was erlebt in der Beziehung.«
»Sie sehen so verhungert aus«, bemerkte ich.
»Sind sie auch«, antwortete Fräulein West, und ihre Augen glitten mit demselben abschätzenden Viehhändlerblick, den ich bei dem Steuermann bemerkt hatte, über die Männer hin. »Aber sie werden bald dicker, wenn sie regelmäßige Mahlzeiten und keinen Whisky bekommen. Nicht wahr, Herr Pike?«
»Sicher. Und Sie werden sehen, wie sie aufleben werden. Vielleicht. Denn es ist eine verdammt faule Gesellschaft.«
Ich sah hinauf in die mächtigen Berge aus Segeltuch. Auf unseren Masten waren in allen Richtungen Segel aufgeblüht, aber dennoch setzten die Matrosen unter Befehl Mellaires immer noch dreieckige klüverähnliche Segel zwischen den Masten. Die Langsamkeit und Ungeschicklichkeit der Mannschaft war dabei so groß, daß ich den Steuermann fragte:
»Was würden Sie mit dieser Mannschaft machen, Herr Pike, wenn es jetzt Sturm gäbe und Sie alle Segel gesetzt hätten?«
Er zuckte die Achseln, als ob ich ihn gefragt hätte, was er bei einem Erdbeben in New York tun würde, wenn ihm die Wolkenkratzer auf den Kopf fielen.
»Was wir machen würden?« antwortete Fräulein West an seiner Statt. »Die Segel herunterholen. Oh, das geht schon, Herr Pathurst, mit jeder Mannschaft. Sonst wäre ich schon längst ertrunken.«
»Sicher«, stimmte der Steuermann ihr bei. »Und ich auch.«
»Die Offiziere können reine Wunder vollbringen, selbst mit der schlechtesten Mannschaft«, fügte sie hinzu.
Wieder nickte Pike zustimmend. Unwillkürlich betrachtete ich seine beiden gewaltigen Fäuste, die sich ganz instinktiv ballten.
»Ich erinnere mich, wie wir einmal San Francisco mit einer ganz hoffnungslosen Besatzung verließen«, lachte Fräulein West. »Es war die Lallah Rookh – Sie erinnern sich doch, Herr Pike?«
»Das fünfte Kommando Ihres Vaters«, nickte er. »Erlitt später Schiffbruch an der Westküste. Lief bei dem großen Erdbeben auf.«
»Ja, das Schiff meine ich. Unsere Mannschaft schien damals nur aus Kuhjungen, Maurern und Landstreichern zu bestehen. Kaum hatte der Schlepper losgeworfen, begann es zu wehen. Da vollbrachten unsere Steuermänner aber reine Wunder . . . Erinnern Sie sich an Silas Harding?«
»Ob ich mich erinnere!« rief Pike begeistert. »Das war ein Mann. Aber er muß schon alt gewesen sein!«
»Ja«, bestätigte sie. »Und ein furchtbarer Mann war er.« Sie wandte sich an mich. »Er war unser Steuermann. Die Männer waren alle seekrank und lauter unbefahrene Leute. Aber Harding kriegte doch die Segel herunter. Einer von den Grünlingen, ein Landstreicher – er hatte Herrn Harding offenbar schon von der richtigen Seite kennengelernt –, fiel von der Großuntermarsrahe. Glücklicherweise fiel er ins Großsegel, überschlug sich und landete an Deck auf den Füßen, ohne daß ihm etwas passiert war, aber zu seinem Pech direkt vor Harding. Ich weiß nicht, wer erstaunter war, aber ich glaube fast, Harding, denn er stand wie versteinert da – er hatte natürlich erwartet, den Mann zerschmettert zu sehen. Dem Mann aber erging es anders – er warf nur einen Blick auf Harding, dann sprang er wie ein Wilder in die Takelung und kletterte schleunigst wieder zu seiner Rahe hinauf.«
Fräulein West und Pike lachten so herzlich wie über einen guten Witz. Daß eine Dame und noch dazu eine so entzückende wie Fräulein West solche Dinge kannte und in diese Seite des Seemannslebens so tief eingeweiht war, gefiel mir nicht recht. Es bedeutete eine Verhärtung des Feinsten in ihrem Charakter – und das behagte mir gar nicht.
Ich betrachtete sie wieder, und wieder sah ich, wie fein ihre Haut war. Das Haar war dunkler als ihre Augenbrauen, die gerade und ziemlich niedrig über den mandelförmigen Augen lagen. Die Iris war grau, von einem warmen Grau, und ihr Blick war ruhig und fest, klug und lebhaft. Wenn man ihr Gesicht als Ganzes betrachtete, war das Bemerkenswerteste daran vielleicht der Ausdruck von tiefer Ruhe. Sie schien immer im Gleichgewicht, im Frieden mit sich selbst und der Welt zu sein. Beim Lächeln zeigte sie nur selten ihre Zähne, denn sie schien eigentlich nur mit den Augen zu lächeln. Wenn sie aber lachte, sah man die weißen Zähne, starke, gesunde, normale Zähne. Schön würde ich sie wohl nicht genannt haben, aber sie besaß vieles von dem, was eine Frau zu einer Schönheit macht.
»Fräulein West hat soeben den Wetterpropheten gespielt –«, sagte ich zu dem Steuermann. »Jetzt möchte ich gern wissen, was Sie vom Wetter denken?«
Pike ließ seinen Blick über die leise wogende Fläche des Meeres und über den Himmel schweifen. Einen Augenblick studierte er noch genau See und Himmel. »Bei dem hohen Barometerstand sollte ich fast meinen, daß wir eine leichte Kühlte aus Nordost bekommen werden . . . oder der Wind flaut ab, was eigentlich das Wahrscheinlichste ist.«
Fräulein West warf mir einen triumphierenden Blick zu, hielt sich dann aber plötzlich am Bogen fest. Die Elsinore wurde durch eine außergewöhnlich hohe Dünung gehoben, um gleich darauf wieder ins Wellental zu sinken. Dann schlingerte das Schiff unter donnerähnlichem Knattern der Segel nach Lee.
»Der Wind stillt schon, er läuft Schulen«, sagte Fräulein West, mit einem Anflug von Ärger. »Und wenn es so weitergeht, muß ich in wenigen Minuten ins Bett kriechen.«
Sie lehnte mein Mitgefühl ab.
»Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen, Herr Pathurst . . . Die Seekrankheit ist scheußlich und unappetitlich; aber im übrigen will ich lieber seekrank sein als Hitzpickel haben.«
Die Männer an Deck schienen wieder eine Dummheit begangen zu haben, nach der erhobenen Stimme Mellaires zu schließen. Ein Teil der Mannschaft trug in ihren Gesichtern deutliche Spuren von Schlägen – besonders einer von ihnen hatte ein so geschwollenes Auge, daß er es nicht einmal öffnen konnte.
»Es sieht aus, als ob er in der Dunkelheit gegen eine Deckstütze gelaufen wäre«, sagte ich.
Sehr beredt – aber auch ganz unwillkürlich und unbewußt – war der schnelle Blick, den Fräulein West auf die riesigen Fäuste des Steuermanns warf, deren Knöchel ganz frische Hautabschürfungen trugen. Dieser Blick gab mir einen tiefen Stich ins Herz: Sie wußte Bescheid.
An diesem Tage aßen wir drei Männer unser Mittagessen allein. Der Tisch war mit einem Schlingerbord versehen worden, denn in der Totenstille schlingerte die Elsinore hin und her. Fräulein West hatte sich schon längst zurückgezogen.
»Jetzt werden wir sie erst in einigen Tagen wiedersehen«, meinte Kapitän West. »Ihrer Mutter ging es ebenso; sie hatte sonst auch Seefüße, wurde aber immer bei Beginn der Fahrt krank.«
»Man muß eben erst zurechtgeschüttelt werden.« Pike setzte mich in Erstaunen durch die längste Bemerkung, die er bisher bei Tisch gemacht hatte: »Alle müssen wir zurechtgeschüttelt werden, wenn wir den festen Boden hinter uns lassen. Wir müssen die schönen Tage an Land vergessen, und dann beginnen die Wachen – immer wieder Wachen, vier Stunden an Deck, vier Stunden Ruhe. Und es wird einem anfangs verdammt sauer, bis man sich an die Änderung gewöhnt hat. Haben Sie übrigens zufällig diesen Winter die Hempel und Blanche Arral in New York gehört, Herr Pathurst?«
Ich nickte, immer noch ganz verblüfft über seine ungewohnte Beredsamkeit bei Tisch.
»Donnerwetter ja, wenn man denkt, daß man die hören kann, und dann soll man darauf verzichten und wieder Wache schieben. Pfui Deubel!«
»Lieben Sie die See denn nicht?« fragte ich.
Er seufzte.
»Ich weiß nicht recht. Aber selbstverständlich ist die See das einzige, was ich kenne.«
»Mit Ausnahme der Musik«, sagte ich.
»Ja, das ist wohl richtig, aber die See hat mich um die meiste Musik gebracht.«
»Aber die Schumann-Heink haben Sie doch sicher gehört?«
»Herrlich, herrlich!« murmelte er begeistert. »Ich habe ein halbes Dutzend Platten von ihr. Bei der zweiten Plattfußwache bin ich frei heute. Wenn Kapitän West also nichts dagegen hat, und wenn Sie Lust haben, sie zu hören – es ist wirklich ein guter Apparat.«
Als der Steward abgedeckt hatte, brachte dieses bemooste Überbleibsel aus den alten männertötenden und männerhetzenden Tagen, dieser Vagabund der Meere, aus seiner Kammer eine einfach herrliche Sammlung von Schallplatten. Er legte sie auf den Tisch, wo er auch seinen Apparat aufstellte. Kapitän West und ich machten es uns in den großen Ledersesseln bequem, während Pike das Grammophon bediente. Sein Gesicht wurde von den Hängelampen beleuchtet, so daß ich selbst den leisesten Ausdruck, der darüberglitt, beobachten konnte. Ich erwartete irgendeinen volkstümlichen Schlager zu hören – aber nein. Seine Platten gehörten ohne Ausnahme zu den allerbesten, und die liebevolle Sorgfalt, mit der er sie behandelte, war einfach eine Offenbarung für mich. Eine Zeitlang konnte ich meinen Blick nicht von den großen, brutalen Händen lassen, die jetzt plötzlich in allen Bewegungen eine so liebevolle Sorgfalt verrieten. Jede Berührung der Platten war eine Liebkosung, und während die Platte lief, hockte er träumend am Apparat.
Kapitän West saß unterdessen in seinem Sessel und rauchte seine Zigarre. Sein Gesicht war ganz ausdruckslos; er schien gänzlich unberührt von der Musik zu sein. Ich glaube überhaupt kaum, daß er sie hörte. Er erschien mir übernatürlich ruhig und übernatürlich fern. Und während ich ihn betrachtete, dachte ich darüber nach, worin seine Arbeit hier an Bord wohl eigentlich bestand. Ich hatte ihn bis jetzt noch nichts tun sehen. Das Einnehmen und Verstauen der Ladung hatte Pike überwacht. Erst als das Schiff in See stechen sollte, war Kapitän West an Bord gekommen. Ich hatte ihn noch keine Befehle erteilen hören. Mir kam es vor, als ob Pike und Mellaire die ganze Arbeit täten. Kapitän West rauchte Zigarren und kümmerte sich nicht um die Mannschaft der Elsinore.
Als Pike den »Halleluja-Chor« aus dem »Messias« und »Er bespeist die Seinen . . .« gespielt hatte, bemerkte er zu mir – fast wie eine Entschuldigung –, er liebe religiöse Musik besonders, und vielleicht stamme diese Vorliebe daher, daß er als Kind Chorknabe gewesen sei.
»Dann versetzte ich aber dem Herrn Pfarrer mit dem Baseballschläger eins über den Kopf«, schloß er seinen Bericht mit einem harten Lachen.
Und wieder versank er in glückliche Träume, während er Meyerbeers »König des Himmels« spielte. Als halb acht Glasen geschlagen wurde, brachte er Apparat und Platten wieder in seine Kammer, nachdem er sie sorgfältig eingepackt hatte.
Diese Nacht schlief ich wieder miserabel. Da ich in der vorigen zu wenig Schlaf bekommen hatte, klappte ich früh mein Buch zu und löschte das Licht. Aber kaum war ich eingeschlafen, als mein Hitzausschlag mich so furchtbar plagte, daß ich wieder aufwachte. Den ganzen Tag hatte ich nichts gespürt, aber im selben Augenblick, als ich das Licht ausschaltete, begann das verdammte Jucken von neuem. Wada war noch nicht zu Bett gegangen, und ich ließ mir deshalb von ihm etwas Cremor Tartari geben. Das half indessen nicht im geringsten, und als ich um Mitternacht die Wache ablösen hörte, schlüpfte ich in meinen Hausanzug und ging auf die Kampanje.
Ich sah, daß Mellaire jetzt die Hundewache hatte und seinen regelmäßigen Trott auf und ab an der Backbordseite der Kampanje begann.
»Ein schöner Abend, Herr Pathurst!« begrüßte er mich. »Nur dumm, daß wir keinen Wind haben, der uns auf die hohe See bringt.«
»Was halten Sie eigentlich von der Mannschaft?« fragte ich ihn, als wir einen Augenblick nebeneinander standen.
»Ich habe viele merkwürdige Mannschaften in meinem Leben gesehen, Herr Pathurst, aber noch keine wie diese. Knaben, Greise, Krüppel und . . . haben Sie nicht gesehen, wie Tony, der Grieche, vorgestern über Bord sprang? Na, das ist alles nur der Anfang. Haben Sie den kleinen vertrockneten Schotten bemerkt?«
»Der immer so mürrisch und bösartig aussieht, und der vorgestern abend am Ruder stand?«
»Eben den – Andy Fay heißt er. Nun, Andy Fay hat sich soeben bei mir über O'Sullivan beklagt. Er sagt, daß er ihm das Leben bedrohe. Als Andy Fay abgelöst wurde, um acht, fand er O'Sullivan dabei, sein Rasiermesser zu schleifen. Ich werde Ihnen die ganze Unterhaltung wiedergeben, wie Andy sie mir erzählte:
»Da sagte O'Sullivan zu mir: ›Herr Fay, ich möchte Ihnen mal was sagen!‹ ›Heraus damit‹, sagte ich. ›Was willst du?‹ ›Verkaufen Sie mir Ihre Stiebel, Herr Fay‹, sagte er sehr höflich zu mir. ›Aber was willst du denn damit?‹ fragte ich. ›Sie würden mir einen großen Gefallen damit erweisen, Herr Fay‹, sagte er. ›Schon möglich‹, sagte ich. ›Aber es sind meine einzigen, und du hast doch selbst welche.‹ ›Herr Fay, die brauche ich bei schlechtem Wetter‹, sagte O'Sullivan. ›Ich werde sie in Seattle bezahlen, wenn ich die Heuer kriege‹, sagte er. ›Nicht zu machen. Und außerdem hast du mir gar nicht gesagt, was du damit anfangen willst‹, sagte ich. ›Aber das will ich Ihnen sagen, Herr Fay‹, sagte er. ›Ich will sie über Bord schmeißen.‹ Da drehte ich mich um und wollte weggehen, und da sagte O'Sullivan ganz höflich, und dabei schliff er weiter an seinem verdammten Rasiermesser: ›Herr Fay‹, sagte er. ›Wollen Sie so freundlich sein und mal herkommen? Ich möchte Ihnen gern die Kehle abschneiden.‹ Und da wußte ich, daß mein Leben in Gefahr ist, und nun komme ich vertrauensvoll zu Ihnen, Steuermann, denn dieser Mann ist verrückt, Steuermann!‹«
»Oder wird es bald«, meinte ich. »Ich habe ihn schon beobachtet – das ist doch der große Bursche, der immer vor sich hinmurmelt?«
»Das ist er«, antwortete Mellaire.
»Gibt es viele von der Sorte auf See?« fragte ich.
»Mehr, als mir lieb ist, Herr Pathurst.«
Er steckte sich eine Zigarette an. Mit einer raschen Bewegung nahm er die Mütze ab, beugte den Kopf und hielt das flackernde Streichholz hoch, damit ich sehen konnte.
Ich sah einen graumelierten Kopf und einen Schädel, der nicht kahl, aber doch nur teilweise mit Haar bedeckt war. Und quer über diesen Schädel lief die furchtbarste Narbe, die ich je in meinem Leben gesehen habe. Das Streichholz erlosch, ich sah die Narbe deshalb nur flüchtig, aber ich hätte schwören mögen, sie war so tief, daß ich zwei Finger hätte hineinlegen können. Sie war eine nur mit Haut überzogene Kerbe, und ich bin fest überzeugt, daß das Gehirn selbst direkt unter der Haut lag.
Er setzte die Mütze wieder auf und lachte heiter und beruhigend.
»Ein verrückter Schiffskoch war es, der mich so zurichtete, Herr Pathurst. Mit seiner verfluchten Fleischaxt! Wir waren mehrere tausend Meilen von jedem Hafen entfernt – in der Südsee –, aber der Koch hatte sich in den Kopf gesetzt, daß wir im Hafen von Boston lagen und ich ihm nicht erlauben wollte, an Land zu gehen. Ich kehrte ihm gerade den Rücken und ahnte deshalb nicht, was eigentlich mit mir geschah.«
»Aber wie haben Sie nur eine so furchtbare Verwundung überstehen können?« fragte ich ihn. »Sie müssen eine außergewöhnliche Konstitution besitzen.«
Er zuckte die Achseln.
»Ich lag in meiner Koje – viele Wochen lang – es war eine verdammt lange Fahrt – und als wir Hongkong erreichten, war das Ding geheilt, und ich hatte schon wieder die Wache als dritter Steuermann übernommen – damals fuhren wir immer mit drei Steuermännern.«
Es sollten viele Tage vergehen, bis ich erfuhr, welche Rolle diese Narbe an Mellaires Kopf noch in seinem Schicksal und dem der Elsinore spielen sollte.
Wir sprachen weiter miteinander, und er erzählte mir viele andere Erlebnisse zur See – namentlich mit Verrückten, die die See in besonderem Maße unsicher zu machen schienen. Und dennoch konnte ich mich mit dem Manne nicht aussöhnen. Freilich fand ich weder in dem, was er sagte, noch in der Art, wie er es erzählte, irgend etwas, das nicht in Ordnung gewesen wäre. Es wurde mir an sich nicht schwer, seine allzu süßliche Sprechweise und seine übertrieben höflichen gesellschaftlichen Formen zu übersehen. Das war es also nicht. Obgleich ich aber hier im Dunkeln nicht einmal seine Augen sehen konnte, hatte ich doch immer das unheimliche, vermutlich ganz instinktive Gefühl, daß hinter diesen Augen, in diesem Schädel ein anderes fremdes Wesen verborgen lag, das mich beobachtete, maß und studierte und stets etwas anderes sagte, als es meinte.
Als ich hinunterging, tat ich es mit dem sonderbaren Gefühl, mit der einen Hälfte eines Doppelwesens gesprochen zu haben. Die andere Hälfte hatte sich in keiner Weise geäußert, und dennoch fühlte ich, daß sie da war und sich gewandt hinter der Larve von Fleisch und Worten verbarg.
Aber ich konnte immer noch nicht schlafen. Es muß die Wärme des Bettes sein, die meine Hitzpickel verschlimmert, dachte ich. Das furchtbare Jucken hörte immer auf, wenn ich meine Leselampe wieder anzündete. Kaum aber hatte ich die Lampe wieder ausgelöscht und die Augen geschlossen, so wurde ich auch schon wieder gequält und gestört. Auf diese Weise verrann Stunde um Stunde, in denen ich mich – abgesehen von den vergeblichen Versuchen einzuschlafen – mühselig durch ein Buch hindurchackerte.
Über meinem Kopf hörte ich das ewige Auf und Ab des Untersteuermanns. Um vier Uhr wurde die Wache abgelöst, und jetzt erkannte ich den schleppenden Gang Pikes. Eine halbe Stunde später begann die Elsinore zu krängen. Ich konnte hören, wie Pike Befehle fauchte, und bisweilen vernahm ich das Trappeln und Schleifen vieler Füße über meinem Kopf. Die Elsinore krängte immer mehr nach meiner Seite, bis ich das Wasser durch die Lichtpforte sehen konnte; dann richtete sie sich wieder auf und rauschte mit solcher Schnelligkeit durch das Wasser, daß ich durch das dicke Glas den Schaum zischen und singen hörte. Der Steward brachte mir den Kaffee, und ich las weiter, bis es hell wurde und Wada mein Frühstück brachte. Als ich auf die Kampanje kam, sah ich, daß die Elsinore mit vielen beschlagenen Segeln durch eine grobe See unter bedecktem Himmel dahinrauschte. In der Kajüte saß Kapitän West und rauchte seine Zigarre. Dabei las er in der Bibel. Fräulein West erschien gar nicht, und ich freute mich, daß ich zu dem Hitzausschlag nicht auch noch seekrank geworden war.
Es war ein sehr trüber Tag. Keine Sonne. Hin und wieder Regenschauer. Und unaufhörlich schlugen Sturzseen über die Luvreling. Wenn ich durch die runden Deckfenster der Kajüte nach vorn auf das große Deck blickte, konnte ich sehen, wie die Seeleute, wenn sie heißten und halten, von den über das Deck schlagenden Sturzseen durchnäßt wurden. Aber zwischen diesen Männern, die sich festkrallten, wo sie konnten, gingen bald Pike, bald Mellaire umher, aufrecht, ohne zu wanken, mit der Sicherheit, die nur Kraft und Autorität verleihen. Sie verloren nie das Gleichgewicht. Sie wichen weder Schaum noch Spritzern aus, gingen keiner Sturzsee aus dem Wege. Sie waren anders ernährt, waren von einem ganz anderen Geist beseelt, waren aus Stahl im Vergleich mit den Schwächlingen, die sie zur Arbeit trieben.
Nach dem Mittagessen gab es heute leider kein Schallplattenkonzert. Diesmal hatte Pike die Plattfußwache und mußte deshalb an Deck sein.
Dieses ewige Nichtschlafenkönnen! Eine neue qualvolle Nacht, und dann wieder ein langer trüber Tag mit graubewölktem Himmel und bleierner, grober See. Und kein Fräulein West! Auch Wada war jetzt seekrank, wenn er sich auch heldenmütig auf den Beinen hielt und mir behilflich zu sein versuchte, obgleich er kaum aus den verglasten Augen sehen konnte. Ich schickte ihn zu Bett und las alle die endlos langen Stunden, bis meine Augen müde geworden waren und mein Gehirn ganz umnebelt war.
Kapitän West war übrigens nicht sehr unterhaltend. Je mehr ich von ihm sah, desto mehr wunderte ich mich. Er hatte das Gleichgewicht und das Wesen, die einem zurückhaltenden, übergeordneten Wesen ziemen, aber dennoch stellte ich mir bisweilen die Frage, ob es nicht nur äußere Form war und sonst nichts. Manchmal glaube ich fast, daß hinter dem Gepräge edler Rasse, dem Anschein großer Kraft und der aristokratischen Haltung seiner hohen Gestalt in Wirklichkeit gar nichts Tieferes steckte.
Dann wieder grübelte ich, was sich wohl hinter diesen klaren blauen Augen verbergen möchte.
So fern die beiden Steuermänner auch ihren Leuten waren, so groß der Abstand zwischen ihnen auch sein mochte, der Abstand zwischen Kapitän West und seinen beiden Offizieren war doch noch größer. Ich hatte noch nicht bemerkt, daß er mit Mellaire je ein Wort über das unvermeidliche »Guten Morgen« hinaus auf der Kampanje gesprochen hätte, und mit Pike, der doch dreimal täglich am Tische mit ihm saß, schien er auch noch keine längere Unterhaltung geführt zu haben.
Noch etwas: Worin bestehen eigentlich die Obliegenheiten des Kapitäns? Vorläufig hatte er nichts getan, als dreimal täglich zu essen, sehr viele Zigarren zu rauchen und jeden Tag einen Spaziergang von insgesamt einer Meile Länge auf der Kampanje zu machen. Die Steuermänner mußten die gesamte Arbeit tun, und es ist eine verdammt schwere Arbeit . . . vier Stunden an Deck und vier Stunden Freizeit, Tag und Nacht in unaufhörlichem Wechsel. Ich beobachtete Kapitän West und war tatsächlich erstaunt. Er konnte zurückgelehnt im Sessel der Kajüte sitzen und unbewegt Stunde auf Stunde vor sich hinstarren, bis ich eine fast unüberwindliche Neigung verspürte, ihn zu fragen, woran er nur so lange dächte. Bisweilen zweifelte ich, daß er überhaupt an etwas dachte. Ich war nicht imstande, ihn zu ergründen.
Alles in allem war es ein trauriger Tag, mit Regenschauern und Sturzseen über das Deck. Ich begann einzusehen, daß es bedeutend schwieriger ist, als ich gedacht hatte, ein Segelschiff mit fünftausend Tonnen Kohle an Bord um Kap Horn zu führen. Die Elsinore ging so tief, daß sie wie ein Holzklotz war, der immer wieder überspült wurde. Die sechs Fuß hohe Schanzkleidung aus Eisen konnte nicht verhindern, daß die Seen über das Deck stürzten, das Schiff wurde durch ihr Gewicht noch tiefer gedrückt, bis es ganz tot dalag.
Ja, es war ein trübseliger Tag gewesen. Die beiden Steuermänner hatten sich in Wachen und Ruhestunden abgelöst. Kapitän West hatte auf dem Diwan der großen Kajüte geschlafen oder die Bibel gelesen. Fräulein West war immer noch krank. Ich hatte mich in meinen Büchern müde gelesen, und mein Gehirn war vom Schlafmangel so umnebelt, daß ich ganz melancholisch war. Selbst Wada bot durchaus kein erheiterndes Schauspiel – mit kleinen Zwischenräumen kroch er aus dem Bett, um mit seinen kranken, glasigen Augen meine Wünsche ausfindig zu machen. Ich selbst hatte keinen anderen Wunsch, als selbst seekrank zu werden. Nie in meinem Leben hätte ich gedacht, daß eine Seereise so unbeschreiblich eintönig und so wenig ermunternd sein könnte, wie diese zu werden schien.
Wieder ein Morgen mit bewölktem Himmel und bleierner See. Die Elsinore hat die Hälfte ihrer Segel gesetzt, sie läuft mit klappernden Schlagpforten, und das Wasser strömt aus ihren Speigatten. Es geht ostwärts, immer weiter in den Atlantischen Ozean hinein. Und ich hatte die letzte Nacht nur anderthalb Stunden geschlafen. Im selben Augenblick, wenn ich die Lampe auslösche und einnicken will, fängt das Jucken sofort an, und überall an meinem Körper entstehen kleine Knoten oder Blasen.
Fräulein West ist immer noch seekrank, aber ganz scheint die Krankheit sie doch nicht mit Beschlag zu belegen, denn von Zeit zu Zeit schickt sie mir den Steward mit einer Dosis Cremor Tartari.
Aber heute habe ich eine Offenbarung gehabt. Ich habe endlich Kapitän West entdeckt: er ist ein Samurai, eines dieser höheren Wesen, die die Dinge durchschauen und Herren des Lebens und ihrer Mitmenschen in einer Weise sind, die jenseits von Güte und Weisheit der gewöhnlichen Sterblichen liegt. Aber lassen Sie mich erzählen:
Heute schlug der Wind um. Plötzlich um acht Punkte, also um ein Viertel des ganzen Kreises. Denken Sie sich einen steifen Wind, der heulend aus Südwest kommt . . . und dann einen andern noch schwereren und gewaltigeren, der das Schiff mit plötzlichen Stößen aus Nordwest trifft. Wir wären durch einen Küselwind gelaufen, versicherte Kapitän West mir und fügte hinzu, es sei schon möglich, daß der Wind den ganzen Kompaß durchlaufen würde.
In Seestiefeln, Ölzeug und Südwester hatte ich einige Zeit auf der Kampanje verbracht, wo ich mich am Bogen festhielt und wie gebannt auf die armen Teufel von Matrosen starrte, die oft bis an den Hals im Wasser standen und bisweilen ganz untertauchten oder wie Strohhalme auf dem Deck herumgeschleudert wurden, während sie unaufhörlich heißten und halten, stumpfsinnig blind, offenbar in Todesangst, und das alles zur Begleitung der schmetternden Befehle Pikes. Mir erschien es fast als ein Spaß, ihnen zuzusehen, es war beinahe wie im Zirkus. Der Wind heulte noch lauter, und die See kochte und gischte in wilder Wut. Der Ernst der Lage wurde mir erst klar, als zwei Mann auf Deck liegenblieben. Der eine war Jare Jakobsen, ein stumpfsinniger Skandinavier, der sich das Bein gebrochen hatte und vorausgetragen wurde, während man den andern, Bub Twist, bewußtlos und mit blutendem Kopf wegschaffen mußte.
Als der Sturm seinen Höhepunkt erreicht hatte, mußte ich mich am Kampanjebogen festklammern, damit mich der Wind nicht hinunterwarf. Und mein Gesicht schmerzte von den Nadelstichen der fliegenden Schaumspritzer. Ich hatte das Gefühl, daß der Wind mir das ganze Spinngewebe, das die Schlaflosigkeit über mein Gehirn gelegt hatte, wieder herausblies.
Und unterdessen ging Kapitän West auf und ab, schlank, aristokratisch, voller Anmut, selbst in seinem Ölzeug, das von Wasser troff. Es kostete ihn auch nicht die geringste Mühe, seinen Körper den heftigen Schlingerbewegungen der Elsinore anzupassen.
Bei diesem Wetter nahm er sich Zeit und Muße, mir zu erzählen, daß wir durch einen Küselwind gingen, und daß der Wind den ganzen Kompaß durchlaufen würde. Ich sah, daß er dauernd den bedeckten Himmel, an dem die Wolken dahinjagten, im Auge behielt. Mir schien es, als könnte der Wind nicht noch schlimmer werden. Er aber hatte offenbar am Himmel gefunden, was er suchte. Und da hörte ich zum erstenmal seine Stimme. Es war eine Stimme, wie geschaffen für das Meer: klar wie eine Glocke, rein wie Silber, von einer unsagbaren Schönheit und Kraft, mühelos und doch alles beherrschend! Das furchtbare Brüllen des Sturmes heulte in den Stags, grölte in den Wanten, schlug die steif angesetzten Leinen klatschend gegen die stählernen Masten und gab in den unzähligen, winzigen Tauen hoch oben ein Höllenkonzert von schrillem Pfeifen und Kreischen. Und doch klang die Stimme des Kapitäns klar und deutlich durch diesen irrsinnigen Lärm hindurch, süß und weich wie Musik und doch mächtig wie die Stimme des Erzengels am Jüngsten Tage. Und die Stimme erreichte den Mann am Steuerruder und Pike, der bis zu den Hüften im Wasser stand, und brachte ihnen Befehle. Und der Mann am Steuerrad gehorchte und gab brüllend und fauchend seine Befehle weiter an die armen Teufel, die sich am Boden wälzten, aber doch gehorchten. Und wie die Stimme war auch das Gesicht – ein solches Gesicht hatte ich nie zuvor gesehen . . . es war das Gesicht eines überirdischen Geistes, rein durch seine Weisheit, erleuchtet durch den Glanz der Macht und Ruhe. Der Samurai war in Donner und Blitz auf den Flügeln des Sturmes angeritten gekommen, um die mächtige, schwer arbeitende, so komplizierte und schwerfällige Elsinore durch den Sturm zu lenken und das Menschenbündel auf ihr nach seinem Willen zu führen – nach seinem Willen, der der Wille der Weisheit war.
Und dann beugte sich Kapitän West gleichgültig, unbekümmert, schlanker, größer und in seinem triefenden Ölzeug aristokratischer als je, zu mir, berührte leicht mit seiner Hand meine Schulter und zeigte achteraus über unsere Windviering. Ich blickte hin, aber ich konnte nichts sehen als See und Himmel, die ineinander verflossen, und eine dunkle Wolkenbank, die an der Brust der See riß und zerrte. In derselben Sekunde verstummte der Südweststurm. Kein Wind wehte, kein Lüftchen regte sich. Nichts war geblieben als eine ungeheure Stille in der Luft.
»Was ist denn das?« fragte ich verdutzt.
»Der Wind schlägt um«, sagte er. »Von dort kommt er.«
Und jetzt kam ein Windstoß aus Nordwesten, ein sausender Sturm, ein gewaltiger atmosphärischer Schlag, der verwirrte und betäubte und die Takelung wieder ihren harfenden Protest singen ließ. So stark war der Windstoß, daß er mich gegen den Bogen preßte und mir den Atem mit solcher Kraft in die Lungen zurückdrückte, daß ich fast erstickte . . . ich mußte den Kopf drehen. Ich fühlte mich wie ein Strohhalm vor dieser gewaltigen Kraft.
Und wieder lauschte der Mann am Ruder auf die Stimme des Erzengels, während Kapitän West selbst, schlank und aufrecht, in stetem Gleichgewicht, das Gesicht in den Wind gerichtet, dastand oder langsam auf und ab ging.
Es war ein wundervolles Bild. Jetzt lernte ich erst die See und die Männer kennen, die sie beherrschen. Kapitän West hatte sich in seiner wahren Gestalt gezeigt. Als der Sturm auf seinem Höhepunkt und die Lage kritisch war, hatte er die Führung der Elsinore übernommen, und Pike war das geworden, was er in Wirklichkeit nur war: der Vorarbeiter einer Arbeiterschicht, der Sklavenpeitscher.
Eine Minute ungefähr schlenderte Kapitän West noch auf und ab, dann ging er hinunter, jedoch erst, nachdem er noch, die Hand auf der Türklinke des Navigationshauses, einen letzten prüfenden Blick auf die sturmzerwühlte See und den finsteren Himmel geworfen hatte, die er sich beide unterjocht hatte.
Zehn Minuten darauf guckte ich durch die Kajütentür hinein. Seestiefel und Ölzeug waren schon fort. Die Füße in Pantoffeln auf einem Schemel, lag er zurückgelehnt in einem großen Ledersessel und rauchte träumend seine Zigarre, während er irgendwelchen Gedanken nachhing. Falls seine Augen sahen, dann war es etwas, das sich jenseits der Kajütenwand, der Reling und meiner Vorstellungskraft befand. Ich hatte einen ungeheuren Respekt vor ihm bekommen, obgleich ich ihn jetzt noch weniger als früher kannte, was freilich sehr wenig besagen wollte.
Eine böse Nacht folgte – gleich schlimm für die Elsinore wie für mich. Das Schiff wurde schrecklich umhergeworfen. Durch Schlafmangel erschöpft, schlief ich früh ein, um nach einer Stunde wieder aufzuwachen, ganz verzweifelt über all die juckenden Blasen auf meiner Haut, wieder Cremor Tartari, wieder Lesen, immer neue Versuche einzuschlafen, bis mir der Steward kurz vor fünf den Kaffee brachte. Dann hüllte ich mich in meinen Schlafrock und schlich mich, gequält und verstört, in die große Kajüte. Ich setzte mich in einen Ledersessel und döste vor mich hin, bis ich durch einen gewaltigen Ruck des Schiffes hochgeschleudert wurde. Ich versuchte es mit dem Sofa und versank sofort in tiefen Schlaf – um mich ebenso schnell auf dem Fußboden zu finden, wo ich hingekollert war.
Ich begab mich in den Speisesaal, warf mich auf einen angeschraubten Stuhl und schlief wieder ein, den Kopf auf den Armen und die Arme auf dem Tisch. Und Viertel nach sieben weckte der Steward mich durch kräftiges Rütteln, weil der Tisch gedeckt werden sollte.
Halb bewußtlos durch die Schwere, die stets nach kurzem Schlaf auf einem lastet, zog ich mich an und taumelte auf die Kampanje in der Hoffnung, daß der Wind mein Gehirn rein wehen würde. Pike hatte die Wache und ging mit seinen schleppenden Schritten an Deck auf und ab. Der Mann ist ein wahres Wunder – neunundsechzig Jahre alt, mit einem harten Leben hinter sich, und doch stark wie ein Löwe!
Ich lehnte mich an den Kampanjebogen und starrte voraus über das furchtbar mißhandelte Deck. Alle Klapp-Pforten und Speigatten hatten genug zu tun, um das Gewicht zu erleichtern, das der Atlantik unaufhörlich an Bord schleuderte. Ein Stück der hölzernen Finknetzreling war mitsamt ihren Koveinnägeln gegen die Steuerbord-Schanzkleidung unmittelbar unter den Besanwanten geschleudert worden, und eine verblüffende Menge von Tauen und Takeln schwamm jetzt dort im Wasser herum. Nancy und fünf oder sechs Mann arbeiteten, in Todesangst zitternd, um Ordnung zu schaffen.
Ich sagte zu Pike, daß die Männer mir magerer und schwächer erschienen als im Anfang, und er zögerte einen Augenblick mit der Antwort, während er sie mit seinem kühlen Viehhändlerblick abschätzte.
»Mag schon sein«, sagte er schließlich zornig. »Es ist eben eine faule Bande, nichts mit ihnen aufzustellen. In meinen jungen Tagen wurden wir bei solcher Arbeit noch fett, das heißt, fett ja nicht, dazu schufteten wir zu schwer. Aber immer in Form, das war es. Aber dieser dreckige Plunder . . . Sagen Sie mal, Herr Pathurst, Sie erinnern sich doch an den Mann, mit dem ich am ersten Tage sprach, und der sagte, daß er Charles Davis hieß?«
»Von dem Sie meinten, daß etwas bei ihm nicht stimmte?« fragte ich.
»Eben der! Er liegt jetzt mit dem verrückten Griechen im Mittschiffshaus, und er wird nicht so viel Arbeit leisten, wie auf einem Fingernagel Platz hat. Er hat den ganzen Körper voll von Löchern, so groß, daß ich die Faust hineinstecken kann. Ich weiß nicht, ob es Brandgeschwüre sind, Krebsbeulen, Löcher von Kanonenkugeln oder was sonst . . . und da hat der Kerl noch die Frechheit, mir zu erklären, daß sie erst hier an Bord aufgebrochen seien. Aber ein Wunder ist der Bengel doch! Ich beobachtete ihn die ersten Tage, schickte ihn zu Topp ließ ihn in den Vorraum klettern, um einige Tonnen Kohle zu trimmen, und er verzog nicht eine Miene. Als er dann schließlich bis zum Hals im Salzwasser stand, da war er erledigt . . . und jetzt ist er frei von aller Arbeit . . . und zwar für die ganze Reise. Jede Woche wird er seine Heuer erheben und dabei den ganzen Tag im Bett liegen und keinen Finger rühren.«
Er schwieg einen Augenblick, um seine zerschlagenen Knöchel zu betrachten, als ob er feststellen wollte, wieviel Antriebskraft noch in ihnen steckt. Dann seufzte er:
»Und dann sollten Sie den buckligen Schurken sehen, der zu Mellaires Wache gehört. Der ganze Kerl wiegt kaum seine hundert Pfund und muß etwa fünfzig Jahre alt sein. Und so einer spielt den befahrenen Seemann an Bord der Elsinore! Und was noch schlimmer ist, schiebt der Bengel einem die Verantwortung zu – er ist ein gemeines Luder, eine Giftschlange, eine bösartige Wespe. Und er fürchtet sich nicht im geringsten, weil er genau weiß, daß man nicht den Mut hat, auf ihn loszuschlagen, aus reiner Angst, ihn zu Apfelmus zu hauen. Ja, ja, der ist eine Perle, damit Sie Bescheid wissen, falls jemand eine Pardune heruntergerutscht kommt, um Sie zu fragen. Und falls Sie es noch nicht wissen sollten, so kann ich Ihnen noch erzählen, daß er Mulligan Jacobs heißt.«
Als ich nach dem ersten Frühstück wieder an Deck kam – Mellaire hatte eben die Wache –, sah ich noch einen, der offenbar zu den besseren Leuten gehörte. Er stand am Steuerrad – ein kleiner, kräftig gebauter, muskulöser Mann von etwa fünfundvierzig Jahren, mit dunklem, an den Schläfen bereits ergrautem Haar, einem kräftigen Adlergesicht, dunkler Haut und scharfblickenden klugen schwarzen Augen. Mellaire bestätigte mein Urteil, indem er mir erzählte, daß es der beste Seemann in seiner Wache sei. Da er den Mann immer den »Malteser Londoner« nannte, fragte ich ihn, was er damit meinte, und er sagte:
»Erstens, daß er Malteser ist, Herr Pathurst, und zweitens, daß er Cockney wie ein Londoner spricht. Und Sie können ruhig wetten, daß er die Glocken von London läuten hörte, ehe er noch ein Wort sprechen konnte.«
In diesem Augenblick erschien Fräulein West auf der Kampanje. Sie sah so frisch und rosig aus wie je, und wenn sie wirklich seekrank gewesen war, so konnte man es ihr jedenfalls nicht ansehen. Als sie mich begrüßte, bemerkte ich wieder ihre lebhaften, elastischen Bewegungen und ihre zarte Haut. Das Haar, auf dem sie eine weiße Strickmütze trug, war glatt und gepflegt.
»Und wie ist es Ihnen ergangen?« fragte sie, fuhr aber gleich fort: »Ich habe wundervoll geschlafen heute nacht! Eigentlich war meine Krankheit schon vorgestern vorbei, aber ich habe mir einen Tag völliger Ruhe gegönnt. Ich habe zehn geschlagene Stunden ununterbrochen geschlafen.«
»Ich wünschte dasselbe auch von mir sagen zu können«, antwortete ich trübselig.
»Gott, sind Sie denn krank gewesen?«
»Im Gegenteil«, erwiderte ich trocken. »Aber das wäre mir lieber gewesen. Ich habe keine vier Stunden geschlafen, seit ich an Bord kam. Dieser verfluchte Hitzausschlag!«
Ich hielt ihr das geschwollene Handgelenk vor die Augen. Sie warf einen Blick darauf, blieb dann plötzlich stehen, nahm es in ihre beiden Hände und unterwarf es einer gründlichen Prüfung.
»Du lieber Gott!« rief sie und begann zu lachen.
Ich wußte nicht, was ich davon denken sollte. Ihr Lachen war wirklich eine Freude für mein Ohr, so weich, so gesund und freimütig. Andererseits fand ich es wenig erheiternd; daß die Ursache mein bedauernswertes Schicksal war.
»Sie Ärmster«, sagte sie schließlich, noch glucksend vor Lachen. »Und wenn ich daran denke, daß ich das ganze Cremor Tartari so ganz zwecklos verschwendet habe.«
»Es scheint ja . . . sehr . . . sehr komisch zu sein«, sagte ich etwas steif, aber nur, um zu merken, daß es gar keinen Zweck hatte, Fräulein West gegenüber den Steifen zu spielen. Sie begann einfach wieder zu lachen.
»Was Sie nötig haben, Herr Pathurst«, sagte sie und lachte wieder, »ist nämlich eher eine äußerliche Behandlung . . .«
»Bitte erzählen Sie mir nur nicht, daß ich die Windpocken oder Masern bekommen hätte«, rief ich entrüstet.
»Nein, nein.« Sie schüttelte ihren Kopf, während sie einen neuen Lachanfall hatte. »Sie haben nämlich einen ganz schweren Anfall –«
Sie machte absichtlich eine Pause und sah mir dann in die Augen.
»Von Wanzen«, schloß sie ihren Satz.
Und dann fügte sie ganz ernst hinzu: »Das bringen wir aber gleich in Ordnung. Ich werde die Räume unten gründlich untersuchen, obwohl ich ja weiß, daß weder Papa noch ich welche haben. Und obwohl es meine erste Reise mit Pike ist, weiß ich doch, daß er ein viel zu hartgesottener Seemann ist, um nicht nachzusehen, ob sein Raum sauber ist. Bei Ihnen (ich hatte wirklich Angst, daß sie sagen würde, ich hätte sie mitgebracht), bei Ihnen müssen sie wohl aus dem Vorderkastell eingeschleppt sein. Vorn haben sie ja immer Wanzen. Es ist am besten, wenn Sie gleich mit Wada sprechen, daß er irgendwo ein vorläufiges Nachtlager für Sie einrichtet. Die nächsten paar Nächte müssen Sie in der großen Kajüte oder im Navigationshaus verbringen. Und sorgen Sie, bitte, dafür, daß Wada alles Silber und anderes Metall, das anlaufen könnte, aus Ihrer Kabine herausnimmt. Denn jetzt räuchern wir aus, und dann müssen wir auch das Paneel abreißen und wieder aufsetzen. Sie können mir die Sache ruhig anvertrauen. Ich kenne dies Ungeziefer gründlich.«
Dann wurde gründlich reingemacht und alles auf den Kopf gestellt. Zwei Nächte konnte ich nicht in meiner Kabine schlafen – die eine verbrachte ich im Navigationshaus, die andere in der großen Kajüte. Ich schlief fast ununterbrochen, und noch jetzt bin ich ganz verblödet vor lauter Schlafen. Dank einem seltsamen Prozeß meiner Einbildungskraft scheint es mir Wochen, ja Monate zurückzuliegen, daß ich Baltimore an jenem eiskalten Märzmorgen verließ. Und doch hatten wir damals den 28. März, und heute sind wir in der ersten Woche vom April.
Fräulein West ist das tüchtigste und praktischste weibliche Wesen, das ich je getroffen habe. Unter ihrer Anleitung wurden Kojen, Schränke, Regale und alles überflüssige Holzwerk herausgerissen. Sie arbeitete mit dem Zimmerbaas von morgens bis abends. Und als dann eine Nacht lang ausgeräuchert war, wurden zwei Matrosen beauftragt, die Säuberungsaktion mit Terpentin und Bleiweiß zu vollenden. Jetzt ist der Zimmermann eifrig dabei, meine Räume wieder instand zu setzen, und in zwei oder drei Tagen hoffe ich, sie wieder beziehen zu können.
Aus den zwei Leuten, die mit Terpentin und Bleiweiß arbeiten sollten, wurden freilich vier. Denn die ersten wurden von Fräulein West wieder weggeschickt, weil sie ihr für diese Arbeit weniger geeignet schienen. Der eine von ihnen, der – wie er mir sagte – Steve Roberts hieß, ist eine ganz interessante Erscheinung. Ich hatte indessen erst wenig mit ihm gesprochen, als Fräulein West ihn wegschickte und Pike mitteilte, daß sie richtige Seeleute für diese Arbeit wünschte.
Das war Steve Roberts, der zum erstenmal in seinem Leben auf See war, allerdings nicht. Er erzählte nicht, wie er von einer Rinderfarm im Westen nach New York gekommen war, und ebensowenig berichtete er, wie er sich für die Elsinore hatte heuern lassen. Doch nun ist er einmal da – kein Seemann zu Pferde, aber ein Cowboy zur See. Er ist klein von Gestalt, aber sehr kräftig. Er hat breite Schultern, und seine Muskeln schwellen unter dem Hemd, aber dabei hat er schmale Hüften, schlanke Glieder und hohle Wangen. Obgleich ein Neuling auf See, erweist sich Steve Roberts als tüchtig und intelligent, und zuverlässig ist er auch. Er blickt einem freimütig ins Gesicht, wenn man mit ihm spricht, und doch habe ich gerade in solchen Augenblicken einen Eindruck von Unaufrichtigkeit. Wenn es zu Unruhen kommen sollte, ist mit ihm zu rechnen. Es scheint eine Art Verwandtschaft zwischen ihm und den drei Männern zu bestehen, gegen die Pike plötzlich ein solches Vorurteil faßte. Ich habe auch bemerkt, daß Steve Roberts in seinen Freiwachen hauptsächlich mit diesen dreien – Bub Twist, Nasen-Murphy und Bert Rhine – zusammen ist.
Der zweite, den Fräulein West ebenfalls wegschickte, nachdem sie ihn nur fünf Minuten beobachtet hatte, war Mulligan Jacobs. Vorher geschah jedoch etwas Seltsames: Ich befand mich in der Kabine, als Mulligan Jacobs kam, und unwillkürlich bemerkte ich den schnellen, gierigen Blick, den er auf meine gefüllten Bücherregale warf. Er näherte sich ihnen, wie ein Räuber einem geheimen Goldschatz.
Und seine Augen! Alle Bitterkeit des Lebens lag in ihnen. Sie waren klein, diese Augen, von einem fahlen Blau, brennend und stechend. Die Lider waren entzündet und verstärkten dadurch noch die kaltflammende Bitterkeit des Blicks. Der Mann war offenbar der geborene Hasser, und bald wurde mir klar, daß er tatsächlich alles in dieser Welt haßte – alles, mit Ausnahme von Büchern.
»Möchten Sie gern etwas davon lesen?« fragte ich freundlich. Der zärtliche Ausdruck seiner Augen, der nur den Büchern gegolten, erlosch sofort, als er den Kopf drehte, um mich anzusehen, und ehe er ein Wort gesprochen hatte, wußte ich, daß er auch mich haßte.
»Sie haben einen kräftigen Körper und lassen doch Diener ihre Bücherhaufen schleppen, während ich mit meinem Buckel schuften muß.«
Wie soll ich die giftige Bosheit schildern, mit der er das sagte. Aber der Umstand, daß ich in diesem Augenblick durch die offene Kabinentür den schleppenden Gang Pikes hörte, schenkte mir ein dankbares Gefühl der Sicherheit, denn mit diesem Manne in einem Raum allein zu sein, erschien mir ungefähr so, wie in einem Käfig mit einem Tiger eingesperrt zu werden.
»Haben Sie denn Schmerzen?« fragte ich.
»Es brennt in meinem Gehirn«, lautete seine Antwort. »Aber mit welchem Recht besitzen Sie all diese Bücher? Weshalb können Sie des Nachts in ihnen schwelgen, während mein Gehirn in Flammen steht, ich immer wieder Wache schieben muß und mein Buckel mir nicht erlaubt, einen halben Zentner Bücher zu schleppen.«
»Noch ein Verrückter«, dachte ich. Und doch mußte ich diese Ansicht sehr schnell ändern, denn aus der Vorstellung heraus, es mit einem Verrückten zu tun zu haben, fragte ich ihn, was für Bücher er denn zentnerweise schleppen müßte, und welche Schriftsteller er am liebsten läse. Seine Büchersammlung, erzählte er mir, enthielte eine vollständige Ausgabe von Byron, ferner eine Shakespeare-Ausgabe und den ganzen Browning. Im Vorderkastell hätte er auch sechs Bücher von Renan und acht oder zehn von Zola. Zola wäre sein Abgott, wenn sein Lieblingsschriftsteller auch Anatole France sei.
Vielleicht war er verrückt, aber dann auf ganz andere Weise als irgendein Verrückter, den ich je getroffen habe. Ich sprach weiter mit ihm über Bücher und Schriftsteller. Er kannte alles mögliche, hatte aber einen ausgeprägten Geschmack.
Während er mit mir sprach, fühlte ich, daß er mich haßte. Er schien mir übrigens von irischer Abkunft zu sein, und es war klar, daß er sich sein Wissen nicht von selbst angeeignet hatte. Er ging zuletzt ein wenig aus sich heraus und erzählte mir, daß er in seiner Jugend Leichtathlet, ja sogar professioneller Läufer in Ost-Kanada gewesen war. Dann hatte die Krankheit ihn befallen, und ein Vierteljahrhundert lang war er Tramp und Vagabund gewesen. Er rühmte sich, mehr Gefängnisse und Zuchthäuser als jeder andere kennengelernt zu haben. In diesem Stadium unserer Unterhaltung zeigte sich Pike in der Türöffnung. Er würdigte mich nur eines entrüsteten und tadelnden Blickes. Offenbar mißfiel ihm, daß ich mich mit Mulligan Jacobs unterhielt. Zu Mulligan selbst sagte er mit seinem gewöhnlichen Fauchen:
»Mach, daß du an deine Arbeit kommst. Quatschen kannst du, wenn du Freiwache hast.«
Und dann sah ich, wie dieser Mulligan Jacobs eigentlich war. Der giftige Haß, den ich bereits in seinem Gesicht gesehen hatte, war das reine Nichts im Vergleich mit dem, der sich jetzt darin enthüllte.
»Geh zum Henker, alter Schuft!« knurrte er.
Wenn ich je Mord in den Augen eines Mannes gelesen habe, dann jetzt in den Augen des Steuermanns. Mit erhobener Faust taumelte er in die Kabine. Ein einziger Schlag dieser Bärenpranke, und Mulligan Jacobs wäre in die ewige Finsternis geschleudert worden. Aber er fürchtete sieh nicht. Er stand da wie eine in die Ecke gedrängte Ratte. Ohne zu blinzeln, fauchend und knurrend, sah er dem tobenden Riesen ins Gesicht. Noch mehr: er streckte seinen Kopf auf dem verkrüppelten Hals vor, um dem drohenden Hieb zu begegnen. Das war zuviel für Pike – es war unmöglich, dies widerliche, verkrüppelte Geschöpf zu schlagen.
»Nein, ich habe keine Angst, dich ›alter Schuft‹ zu schimpfen«, sagte Mulligan Jacobs. »Nur los! Warum haust du denn nicht?«
Aber Pike konnte nicht. Er, dessen ganzes Leben darin bestanden hatte, Männer an die Arbeit zu treiben, wie der Viehtreiber die Rinder in das Schlachthaus, er war nicht imstande, diesen menschlichen Jammerlappen zu schlagen.
»Mach, daß du an deine Arbeit kommst, Mulligan. Ehe du an Land gehst, werde ich dich schon so weit haben, daß du mir aus der Hand frißt.«
Und Mulligan Jacobs' Kopf auf dem verkrüppelten Hals näherte sich dem Steuermann noch um einen Zoll, während seine verbissene Wut schon fast zur lodernden Flamme wurde. So gewaltig war die Raserei, die ihn schüttelte, daß er keine Worte fand, ihr Ausdruck zu verleihen. Alles, was er hervorzubringen vermochte, waren einige tiefe, tierische Kehllaute. Und ich hätte mich nicht gewundert, wenn er dem Steuermann Gift ins Gesicht gespien hätte.
Pike drehte sich um und verließ den Raum. Er hatte eine Niederlage erlitten.
Und jetzt arbeitet ein anderer mit Terpentin und Bleiweiß in meiner Kabine. Er heißt Arthur Deacon, ein blasser Mann mit verborgenem Blick. Ich fragte Pike, was er von dem Mann hielte.
»Weißer Sklavenhändler«, lautete seine Antwort. »Hat sich aus New York drücken müssen, um seine Haut zu retten. Er wird hier schon etwas anzetteln mit den drei Lausigeln, denen ich neulich eins ausgewischt habe.«
»Und was denken Sie von denen?«
»Ich setze ein Monatsgehalt gegen ein Pfund Tabak, daß irgendein Staatsanwalt eben in diesem Augenblick auf der Suche nach ihnen ist. Ich möchte so viel Kröten haben, wie der Mann gekriegt hat, der die Jungens aus New York weggeschafft hat . . .«
»Mitglieder einer Diebesbande?« fragte ich.
»Ja – eben. Aber ich werde ihnen das Fell gerben. Ich werde schon mit ihnen fertig werden, glauben Sie mir! Ich hab schon bessere Leute begraben müssen, und ich werde noch manchen begraben, der mich für einen alten Schuft hält.«
Er schwieg einen Augenblick und sah mich feierlich an.
»Herr Pathurst, ich habe gehört, daß Sie ein Bücherschreiber sind. Und als man mir in der Agentur erzählte, daß Sie unser Passagier sein sollten, machte ich mir den Spaß, hinzugehen und mir Ihr Stück anzusehen. Ich will nichts über das Stück sagen. Aber das möchte ich Ihnen doch sagen, Herr Pathurst, daß Sie als Bücherschreiber hier an Bord Stoff genug kriegen werden. Es wird hier einen Mordskrach geben, glauben Sie mir, und hier vor Ihnen steht ein alter Schuft, der seinen Anteil daran haben wird.«