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V.
Das Hervortreten geistiger Störung am genialen Werk.

 

1. A. Wiertz.

In der genialen Leistung machen sich, wie wir bereits gesehen haben, nicht bloß hier und da Irrtümer und Widersprüche geltend, welche auf ihre Pathologie deuten, sondern manchmal zeigt das gesamte geniale Werk sogar eine solche enorm widersinnige Beschaffenheit, daß diese allein ohne weiteres genügt, um das Krankhafte erkennen zu lassen. Dies ist um so auffallender, als inmitten solcher Absurditäten sich gleichzeitig die Klaue des Löwen bemerkbar macht, der geniale Schwung, den das krankhaft Widersinnige nicht völlig zu verdrängen vermag, den es oft im Gegenteil um so mehr hervortreten läßt.

A. Wiertz. – Einen der besten Belege hierfür liefern die Werke von A. Wiertz.

Biographisch ist nicht gar viel Abnormes zu bemerken. Anton Wiertz Laveley, Wiertz. Brüssel 1882. wurde 1806 als Sohn eines französischen Soldaten der Republik in Dinant geboren, der später Schneider und hierauf holländischer Gendarm wurde und trotz seiner bescheidenen Stellung dem Sohn den Ehrgeiz und die Ruhm- und Neuerungssucht vererbte, die so vielen der Neunundachtziger eigen war. Wiertz behielt diese Züge, und schon als junger Mensch schrieb er in seinen Briefen davon, daß er nie im Leben etwas anderes tun würde als Bilder zu malen, um des Ruhmes willen, und Porträts, um zu leben. Schon als Schulkind modellierte und malte er fortwährend und einmal fabrizierte er einen so täuschend lebenswahren Frosch, daß einige Kunstfreunde ihm den Besuch der Kunstschule ermöglichten, in die er mit 14 Jahren eintrat und wo er glänzende Fortschritte machte. Bereits 1828 bewarb er sich um den Römischen Preis und 1832 fiel ihm dieser zu.

In Rom malte er den toten Patroklus auf eine so gewaltige Leinwand, daß Thorwaldsen ihn für einen »Kunstriesen« erklären konnte.

Nach seiner Heimkehr mietete er in Lüttich eine alte aufgegebene Kirche und spannte dort eine fünfzig Fuß breite und dreißig Fuß hohe Leinwand aus, auf der er den Kampf der Titanen darstellte. 1848 erwarb er in Brüssel eine außer Betrieb gesetzte Maschinenhalle und malte in dieser das fünfundzwanzig Fuß hohe Bild »Der Triumph Christi«, auf welchem dargestellt ist, wie die Engel die Teufel in den Abgrund stürzen, während Christus am Kreuze den Geist aufgibt.

Er war ein wahrer Mäzen: er opferte sein Leben der Kunst und vergaß alles über seinem Künstlerruhm, schädigte seine Gesundheit in der Bemühung, neue technische Fortschritte zu ermöglichen, und porträtierte für 300, 400, 1000 Franken, um, ohne verkaufen zu müssen, Bilder für das Museum herstellen zu können, welches er im Sinne hatte.

Dank der Unterstützung des kunstliebenden Ministers Rogier durfte er die riesige Werkstätte gegen Ausschmückung der Mauern mit seinen mächtigen Bildern behalten. Sein wunderliches Museum sieht aus wie eine halb überwachsene Tempelruine. Als er es in Arbeit nahm, verbesserte er erst den Firnis und seine Technik und verband die Vorteile der Fresko- mit denen der Ölmalerei, dergestalt, daß seine Bilder dem feuchten nordischen Klima Trotz bieten konnten, während er selbst nunmehr ebenso leicht auf Stein wie auf Leinwand zu malen instand gesetzt war.

Jetzt entstand eine Reihe hochmerkwürdiger Gemälde, die gleichzeitig symbolisch und von modernstem Gedankeninhalt sind. Da ist z. B. »Die letzte Kanone«. Auf der einen Seite des Bildes ist ein Haufen verstümmelter Toter zu sehen, von denen einer eine Fahne in der Hand hält, auf der anderen eine Frau mit ihrem sterbenden Gatten auf den Knien, der verscheidende Vater streckt seiner Tochter seine blutenden Glieder entgegen, über diesem Schauspiel zerbricht die Zivilisation die letzte Kanone und in ihrem Gefolge erblickt man den Zug der Völker unter dem Geleit des Friedens, der Musik, der Arbeit zum Tempel der Wissenschaft, während das Feuer Grenzpfähle und Guillotine verzehrt: dies alles ist 1855 gemalt, lange vor der Ära der Friedensgesellschaft und ihrer Anhänger. Fast alle seine Bilder haben diesen neuartigen Vorwurf, so auch die »Szene in der Hölle« (1864): Mütter, Kinder und Weiber, die durch den »Krieg« (Personifikation) verwaist und verwitwet sind, geben diesem Ungeheuer aus Rache Menschenfleisch zu essen und Menschenblut zu trinken, so daß es sich nicht vom Fleck rührt. Auf einem weiteren Bilde aus dem Jahre 1855 unterhalten sich Zukunftsmenschen damit, daß sie mit unseren Kanonen, Fahnen, Siegesemblemen usw. wie mit Spielzeug Kurzweil treiben. Dieses Bild nannte der Künstler »Die Dinge von heute und der Zukunftsmensch«.

Wiertz fertigte auch Statuen von symbolischer Bedeutung an, aber ohne größeren Erfolg. Eine Neuralgie erschwerte ihm das Arbeiten als Bildhauer.

Der Künstler starb an einem Milzbrandkarbunkel am 18. Juni 1865, 59 Jahre alt.

Ich führe alles dieses hauptsächlich deswegen an, um zu zeigen, wie bei diesem in Gefühl und Richtung wahrhaft modernen Manne (man denke hierbei nur an »Die letzte Kanone«), der zugleich wirklich genial und neophil und technisch ein Meister seines Fachs war, die geistige Störung durchblickt, nicht nur insofern er eine Sammlung seiner Werke zu veranstalten unternahm, ohne dabei Rücksicht auf seinen Lebensunterhalt und die drohende Not der Zukunft zu nehmen, sondern auch wegen der Megalopsie, die auf zahlreichen seiner Bilder wiederkehrt, weswegen ihm zum Teil selbst drei Stockwerke nicht hoch genug zur Ausführung schienen, so daß das Museum beinahe ein Turm geworden ist. Diese Megalopsie bringt es mit sich, daß der Beschauer die Bilder gar nicht ordentlich auf einmal übersehen kann, so mächtig sind die Gliedmaßen und ihre Gruppierungen. Dies ist z. B. der Fall bei dem Bild »Polyphem, die Gefährten des Odysseus verzehrend«. Die Figur des Polyphem, der sich zur Erde bückt, ist hier so riesig, daß, wenn man ihn aufgerichtet denkt, nicht einmal die doppelte Größe der gewaltigen Leinwand genügen würde: der Fuß mißt zwei Meter, in der einen Hand hält der Riese als Stab einen Baum, in der andern einen von Odysseus' Begleitern, im Munde zerquetscht er einen weiteren von diesen, während Odysseus erschreckt das Schwert schwingt. Rechts davon entsetzen sich seine Leute beim Anblick des Daumens des Zyklopen, der so groß ist als sie selbst. Links steht der Napf des Riesen von der Größe eines Brunnentrogs, davor der Widder, unter dem Odysseus hinterher entflieht.

Die riesigen Verhältnisse des Bildes grenzen an das Undenkliche, Wahnhafte.

Auf einem weiteren Gemälde stellt der Künstler »Hunger, Irrsinn und Verbrechen« als Folge des Elends hin. Man erblickt hier eine Schwangere in einer verfallenen Bodenkammer, die, nachdem sie allen Hausrat, das Bett und sogar die Schuhe ihres Kindes verbrannt hat, dieses unter wildem Gelächter und Zähnefletschen erdrosselt. Hier wird das irre Element durch die monströse Abscheulichkeit der Darstellung förmlich niederdrückend und beängstigend.

Noch schlimmer sieht »Der Selbstmörder« aus: ein bereits in vorgerückten Jahren stehender Mann tötet sich durch einen Schuß in den Mund; sein Kopf verschwindet in einer Rauchwolke, und während auf der einen Seite sein guter Geist, der ihn vergebens von dem traurigen Vorhaben abzuhalten sich bemüht hat, sein Gesicht verhüllt, sieht man auf der anderen Seite den bösen Geist grinsen, der dazu geraten hat. Auf der Erde liegt ein Buch mit der Aufschrift »Der Materialismus« und dem kaum lesbaren Motto »Es gibt keine Seele, keinen Gott«. Dieses Bild atmet wohl eine gewisse Modernität, aber es ist doch mehr mystisch, und ganz besonders ist der Vorwurf wieder abscheulich, er steht zwar über dem Mittelmäßigen, gewährt aber niemandem einen künstlerischen Genuß und zeigt nicht viel mehr als eine zwar stark neophile, aber zugleich trübselige und ins Krankhafte schillernde Veranlagung des Künstlers.

Diese tritt ganz besonders hervor in den »Gedanken des abgehauenen Kopfs«. Dieses Bild besteht aus drei Szenen. Hier hatte der Künstler den merkwürdigen Einfall, sich in Gesellschaft eines Spiritisten unter die Guillotine zu denken, welcher letztere, wie er selbst sagt, ihn mit dem abgeschnittenen Kopfe in Verbindung setzen sollte, dergestalt, daß, sobald der Kopf fiel und die Haare sich sträubten, der Spiritist, der ihn hypnotisiert hatte, den blutigen Kopf fragen sollte: ›Was fühlst du, was siehst du?‹ »Der Kopf schaute, dachte und fühlte nun und ich sah alsdann, was er selbst sah, fühlte, was er fühlte, litt, was er litt. Dies währte nur kurze Zeit, drei Minuten, wie es hieß, nur drei Minuten, aber für den Verurteilten mußten es drei Jahrhunderte sein.« (Eigene Worte.)

»Folgende Antworten gab ich nun in Verbindung mit diesem Kopfe (hierin beruht das Pathologische): Ein furchtbares Dröhnen höre ich, es ist das Fallbeil, welches blitzartig herabstürzt, der Kopf ist nun unter dem Gerüst und doch glaubt er sich noch am Körper zu befinden, er erwartet fortwährend den Schlag, der ihn vom Körper trennen soll, und empfindet eine schreckliche Beklemmung, die von einer riesigen Hand hervorgebracht ist, welche wie ein Berg auf Kopf und Körper lastet. Die furchtbare Hand senkt sich immer mehr, eine feurige Wolke bedeckt die Augen, alles wird feuerrot, die Hand preßt den Hals immer stärker zusammen, das Opfer versucht vergebens sie abzuwehren, seine Hände winden sich vergeblich, und in dieser Weise vergeht die erste Minute. Dies ist das erste Bild des Triptychons.

Zweite Minute. – Der Enthauptete erkennt endlich, daß der Kopf abgetrennt ist und fragt sich: ist mein Kopf wirklich abgeschnitten? Ihm scheint, daß dieser Kopf brenne und sich um sich selbst drehe, daß die Welt einstürze und sich mit ihm drehe, daß ein leuchtendes Fluidum den Kopf umflösse. Ein merkwürdiger Gedanke bemächtigt sich nun des sterbenden Gehirns, dessen gesamtes Blut zu entweichen strebt, jener: den Kopf wieder auf den Rumpf zu setzen, noch ein wenig Blut, ein wenig Leben zu bewahren; dann denkt der Guillotinierte wieder: hier ist mein Sarg, bald werden mich Tausende von Würmern verzehren, der Arzt wird mich sezieren, und dort in einem schönen Zimmer sind die Richter, die von gleichgültigen Dingen sprechen, während ich im Hospitale fühle, wie mein Fleisch vor den Augen Neugieriger zerschnitten wird. Ich sehe die Meinen, mein Weib, das vor Schmerz gestorben ist, und die Kinder, die weinend um sie stehen. Vergebens sage ich ihnen, sie möchten mir helfen, meinen Kopf wieder auf den Hals setzen, die Zeit drängt, das Blut rinnt davon. Was tun sie denn da? Sie knien vor wüsten Gestalten nieder, die lachen und springen, o Gott, um sie um Brot zu bitten! Der jüngste meiner Kleinen, mein Kleinod, sieht mich und lächelt, er will mich küssen, und dreimal drücke ich ihn an mich, um ihn zu küssen, aber umsonst, die Köpfe berühren sich nicht. Der eine ist nicht an seiner Stelle, und das Kind blickt mit Grauen auf seine blutigen kleinen Hände. Und die Augen des Gerichteten rollen in der blutigen Höhle und wenden sich nach dem Himmel, wo ihm ein glühender Herd erscheint, in dem die Sterne zu versinken und in dessen gewaltigem Glaste sie zu erbleichen scheinen. Er erblickt ein ungeheures Etwas, das mit jedem Herzschlag größer wird, und aus dessen Innerem lautes Hohnlachen und Klagelaute ertönen. Finsternis tritt ein, das schwarze Phantom berührt die Füße des Gerichteten, lastet wie Blei auf ihm; der ganze Körper erstarrt. – Dies ist die zweite Minute und der Inhalt des zweiten Bildes.

Dritte Minute und Ewigkeit. – Der Kopf ist noch immer nicht tot, er fühlt das Blut rinnen, Dolchstiche durchbohren ihn, Gift betäubt ihn, man reißt ihm das Fleisch herunter und zerquetscht es, und er fürchtet, alles dies dauere die ganze Ewigkeit. Dann schaut er wieder seinen in einem dunklen Winkel faulenden Leichnam, daneben Beil und Guillotine, aber alles dieses wird allmählich undeutlich, alles wird schwarz, der Tod ist eingetreten. In dem letzten ersehen manche die ewige Strafe, die den Schuldigen treffen wird, andere die dem Gerichteten, der von einem Engel den Friedenskuß empfängt, gewährte Verzeihung.«

Dies alles will der Künstler empfunden haben ( Lettre à un ami, 1853), aber wer das Bild betrachtet, erblickt nichts als eine ungeheure Menge Striche, ein wahres Chaos von Linien. Dies erfuhr ich von einer künstlerisch hochgebildeten Dame, Frau Caccia-Renaud, die mich zuerst auf diese Gemälde aufmerksam machte und mir die Photographien davon besorgte, und ebenso bestätigte es mir der frühere Gesandte in Brüssel, Herr De Renzi, der völlig unvoreingenommen in dieser Frage war, da er seinerzeit meine Theorie von der Geistesstörung des Genies ausdrücklich als unbegründet bezeichnet hatte.

Diese Linienführung genügt mir im Verein mit den Autogrammen des Malers, die dem gewöhnlichen Gekritzel der Paranoiker im Irrenhause auf ein Haar gleichen, S. L'uomo di genio. Teil III. 6. Aufl. 1895. zu der Annahme, daß in manchen Kunstwerken der Irrsinn vollständig und untrennbar mit dem Genie verbunden sein kann, was sich bald in der Auswahl des Sujets, die über jede erträgliche Originalität hinaus ins Bizarre geht, bald durch Wunderlichkeiten wie die Megalopsie, bald durch merkwürdiges Beiwerk, welches nahelegt, daß der Künstler Halluzinationen darstellt, bald endlich durch barocke Stellungen der menschlichen Glieder und deren Gruppierung verrät.

So malt er »Die Verurteilung der politischen Parteien durch Christus«. Dieser Gedanke könnte modern sein, man beachte aber die Ausführung! (Das Bild hat 2 Meter Höhe bei 1,55 Meter Breite.) In einer Ecke sieht man die zusammengekrümmten Glieder (man vergleiche, was eben über die bizarre Haltung der menschlichen Figuren gesagt ist) eines Plebejers, der einem wildblickenden Soldaten mit gezücktem Schwerte soeben einen Kranz vom Kopfe gerissen hat. Hinter dieser Gruppe schwingt ein Priester das heilige Symbol der Erlösung wie zum Schlage, und über dieser ganzen Szene erscheint der göttliche Meister mit einer verurteilenden Gebärde, während er sich das Haupt verhüllt, um diesen Bruderkrieg nicht zu sehen. Der Gedanke ist modern, aber die Ausführung ist wunderlich.

In einem seiner Skizzenbücher findet sich der Entwurf eines anderen Gemäldes: »Das Ende der Welt.« Ein gewaltiger Menschenstrom flutet dahin und schart sich um Kruzifixe und Prozessionsfahnen, die allein in der allgemeinen Zerstörung noch emporragen.

Gelegentlich hat der Künstler Sinnestäuschungen, oder was dasselbe ist, nach Art der Paranoiker S. hierzu Der geniale Mensch (III und IV) und Sante de Sanctis, Die Träume, deutsch von E. Schmidt, mit Vorwort von P. I. Möbius. Halle, 1903. Traumerscheinungen im Bilde wiedergegeben.

In dem Kommentar zum »Kalabresischen Räuber« gibt er an, daß er einst bei einer Reise in der Romagna träumte, ein Brigant springe auf ihn los mit dem Rufe: »Das Geld oder das Leben«, worauf er ihm antwortet: »Geld habe ich nicht, aber du mußt hierbleiben zum Malen, denn du bist eilt schöner Räuber.« Der Räuber wollte nun davon nichts wissen und suchte ihn niederzureißen, es entspann sich im Traume ein wilder Kampf, und dabei wachte der Künstler auf, mit dem Kopfkissen in den zusammengekrümmten Händen (Brief an einen Verwandten, 1853, aus Rom).

Eine andere Bizarrerie, die wieder das Gegenteil von dem darstellt, was wir im Gefolge seiner mystisch-irren Manier gefunden haben, ist jene, unbedeutende Gegenstände so genau und naturgetreu in absichtlich übertriebener Art darzustellen, daß merkwürdige Täuschungen dadurch hervorgerufen werden, Leistungen, die wohl mehr zur Künstelei gehören und mit der echten Kunst, der er doch dienen wollte, nichts zu tun haben. Als man ihm eines Tages vorwarf, seine Ausführung lasse zu wünschen übrig, malte er Ameisen, Fliegen, Spinnengewebe mit einer Treue, daß alles zu leben schien. Das läßt man sich noch gefallen, denn es war die Antwort auf die Kritik. Was soll man aber dazu sagen, daß er in einer Ecke seines Museums einen Kettenhund gemalt hat, der den Besucher durch seine Natürlichkeit erschreckt, was den Künstler immer sehr erheiterte, und ferner zu dem Bilde einer halbangekleideten Dame in einer Nische des Museums, die von manchen Fremden für eine achtlos sich mit ihrer Toilette beschäftigende Besucherin gehalten wurde, so daß diese oft verlegen den Hut zogen, oder von dem über seiner Zeitung eingeschlafenen Portier, über dem gemalt steht: »Man bittet sich an den Portier zu wenden«? Das sind Scherze, die bei einem gewöhnlichen Pinseler nichts ausmachen würden, die aber bei einem Megaloptiker, Symboliker moderner Richtung und mystischen Maler abgehauener Köpfe zu denken geben, mit so mehr als dieser Zug gerade das Gegenteil von dem darstellt, was sonst für die Anomalie dieses Meisters charakteristisch ist, nämlich die alles Maß überschreitende Originalität und die Vorliebe für die riesigen Proportionen.

 

2. Weitere Fälle von Geistesstörung bei Malern, aus ihren Werken nachweisbar.

Es gibt nach Angelucci A. Angelucci, Una pagina di scienza della pittura (Archivio di oftalmologia, Mai 1895). Maler, die an Paranoiá, an epileptischem Irrsinn, an Größen- und Verfolgungswahn leiden, und aus deren Werken häufig die psychologische Analyse ihres Wahns erschlossen werden kann.

Fast alle sind Kunstrevolutionäre: Leopold Robert, den die Kunst des verflossenen Jahrhunderts anwidert, widmet sich eifrig dem Verismus und malt seine realistischen Lagunenfischer. Als er auf dem Gipfelpunkt seiner Kunst angelangt ist, rötet sein Blut seine großartigen Zeichnungen.

Die Kühnheit des » Désequilibré« in der Kunst, sein Bruch mit dem Konventionalismus erregt Sympathie: das beweisen auch die letzten Werke Turners. Auf einer Ausstellung in Palermo, auf der viele geistesgesunde Künstler Unglück hatten, wurde das Bild eines Gestörten angekauft, vielleicht weil der Vorwurf einen starken Eindruck machte: eine ruhige Meeresfläche, die ein furchtbar polychromes Abendlicht zurückwirft und gegen den Himmel einen mächtigen Licht- und Farbenspiegel bildet.

Zusammenbruch in der Kunst selbst, in Entwurf, Technik, Ausgestaltung des Bildes bemerkbar, tritt nur dann ein, wenn der kranke Geist dem Schwachsinn verfällt, erst dann zeigt auch das Werk den psychischen Defekt deutlich und legt Zeugnis ab von dem krankhaft-beschränkten oder infantilen Gedankeninhalt eines armen Irren, der jetzt in ähnlicher Weise konform mit der psychischen Persönlichkeit des Urhebers ausfällt, wie es die geniale Schöpfung ist, die dem glänzenden, glücklichen Wurf eines günstigen Moments ihre Entstehung verdankt.

Alles das, scheint mir, genügt zum Beweise, daß die Neurose des Künstlers manchmal auch ausschließlich im Kunstwerk zutage treten kann, wie ich schon in der letzten Bearbeitung meines » Uomo di Genio« (Teil III und IV) erwiesen zu haben glaube.

 

3. Die geistige Störung in Tassos Literaturwerken.

Wenden wir uns jetzt zu den Schriftstellern.

Tasso. – Tassos Irrsinn ersieht man auch aus der Analyse seiner Schriften, oft geben diese den Schlüssel zu seinen Wunderlichkeiten und geistigen Abnormitäten.

In erster Linie steht die Graphomanie, die Riesenmenge seiner Schriften, besonders der Prosaschriften, in denen er sich mit sich selbst beschäftigt. S. Roncoroni, Genio e Pazzia di Torquato Tasso, 1896.

Es ist schwer, sich durch seine Schrift »Über verschiedene Vorfälle meines Lebens« hindurchzulesen. Sie ist eines jener Bücher, wie sie die Monomanen verfassen, die fortwährend mit ihrer eigenen Person beschäftigt sind und die anderen dabei beständig anklagen. Das gleiche gilt von seinen Dialogen, die unter dem Durchschnitt stehen, wie im » Messaggiero«, in der » Apologia«. Es scheint, als wenn es bei ihm in der Prosa ohne Hilfe des morbosen Schwunges, die so oft an der Entstehung der Dichtung beteiligt ist, hergegangen sei, so daß hier nur der maßlose Hang zum Schreiben übriggeblieben wäre. (S. Roncoroni, l. c.)

Aber auch in seinen Dichtungen, besonders in den letzten, mangelt es nicht an durchaus krankhaften Merkmalen.

Schon Renda hat auf die häufige Echolalie hingewiesen. Im »Befreiten Jerusalem« und den »Madrigalen« wird die Verbindung » corone e palma e vita« auf wenigen Seiten zehnmal wiederholt.

Auch die übermäßige Symbolisierung im zweiten Teil des Gedichts scheint meines Erachtens weniger von dem Geschmack der Epoche, über welchen die Genies sich hinwegzusetzen pflegen, als von einer gewissen Neigung zur Häufung mystischer Bilder herzurühren, welche so oft, wie ich im »Genialen Menschen« gezeigt habe, in den Skulptur- und Bildwerken und in den Briefen der Irren in einer schrankenlosen Weise zutage tritt, so wie es bei geistesgesunden Symbolisten nie vorkommt und worin ein Zeichen der Disgregation der Psyche zu erblicken ist.

 

4. Kolumbus.

Wer würde glauben, daß Kolumbus ein Paranoiker war? Und dennoch zeigen die Arbeiten von Ruge (Christoph Kolumbus, Dresden, 1892), Cesareo Fernandez Dur ( La nebulosa de Colon, Madrid, 1890) und besonders von De Lollis ( La mente e l'opera di C. Colombo, 1892 und C. Colombo nelle leggenda e nella storia, 1889, Mailand), daß Kolumbus nichts Eigenes zu der Entdeckung gab, daß er nur die Resultate des Toscanelli sich zu eigen gemacht hat, nachdem er sich diese dadurch verschafft hatte, daß er sich als Portugiesen ausgab, ohne indes später die Urheberschaft jenes zu erwähnen. Auch nach der zweiten und dritten Reise nach Amerika hat er die Irrtümer, die der »Fahrt nach Osten über den Westen« zugrunde lagen, nicht eingesehen und glaubte beständig in Asien gewesen zu sein, statt in Amerika. Sein einziges Verdienst, seine Überzeugung und seine zähe Ausdauer, verdankte er dagegen seinem paranoischen Größenwahn.

Besonders stützte er sich dabei (wie Cola di Rienzi auf den Namen Augustus) auf seinen Namen Christophorus (» Christum Fereus«), mit dem er beständig in seinen Briefen Wortspiele treibt. »Zum Abgesandten des neuen Himmels und der neuen Erde, die zuerst Jesaias und nach ihm der heilige Johannes in der Offenbarung geweissagt haben, hat mich unser Herr gemacht, indem er mir ihren Ort wies.« Und daß es sich hier nicht einfach um bloße Redensarten gehandelt hat, sondern um eine tiefe, unmittelbare Überzeugung, geht nach De Lollis klar aus dem » Libro de las Profecias« hervor, das er während seines Aufenthalts in Granada verfaßte. Es handelt sich hier um eine Auslese von Stellen aus der Bibel, die er zusammen mit einem Mönche vornahm, um nachzuweisen, daß von seiner Person und seinem Werke bereits in der Heiligen Schrift geweissagt worden wäre. Außer auf Jesaias und Jeremias bezieht er sich noch auf den heiligen Augustin, auf Nicolo da Lira und auf Peter D'Ailly; alles dieses wird zusammengehalten, um den Beweis zu erbringen, daß der Ruf Christi über den ganzen Ozean schallen und von den äußersten Inseln des Meeres widerhallen würde, bevor das Ende der Welt kommt. Dieses ist nach Kolumbus nicht fern. In höchstens einhundertfünfundfünfzig Jahren wird der Antichrist das Licht der Sonne verfinstern und die Erdkugel wird auf einen Wink Gottes sich in den Abgründen des Raums verlieren. Er war also zur rechten Zeit gekommen, um dem Christentum den Eintritt in die bisher unerschlossene Heidenwelt des Ozeans zu eröffnen. Er war zur rechten Zeit gekommen, um die geheimnisvollen Schätze von Ophir und Tarsi, den Inseln des Orients, von wo die großen Goldmassen dem Reiche Salomos zugeströmt waren, den, Dunkel zu entreißen. Mit diesen Schätzen könnte der König nun die Wiedereroberung des Heiligen Grabes beginnen.

Die mystischen Ideen bekamen also bei Kolumbus allmählich das Übergewicht über die kosmographischen, und während ihm einst mit Aristoteles und Strabo Spanien durch seine geographische Lage als natürlichster Ausgangspunkt für seine transatlantischen Reisen erschienen war, so sah er dieses Land jetzt als dasjenige an, das der Wille Gottes besonders dazu bestimmt hatte, den Triumph des Christentums zu besiegeln, und das, nachdem es Juden und Mauren verjagt habe, nun ebenso das Heilige Grab zurückerobern würde. Auch der Prophetengeist des Abbate Gioacchino hätte sich dahin ausgesprochen, daß von Spanien derjenige seinen Ausgang nehmen werde, der den Tempel auf dem Berge Sion wieder aufbauen würde.

Im ersten Teile des » Libro de las Profecias« finden sich alle Stellen aus der Heiligen Schrift zusammengestellt, in denen der große Triumph des Gottes Israel vorausgesagt ist, im zweiten jene, welche das tragische Schicksal Jerusalems beschreiben, im dritten die Weissagungen des Weltendes und der Ankunft des Antichrists, im vierten die verheißungsvollen Anspielungen auf die Schätze des Orients, auf die Goldklumpen und Silberblöcke von Tarsi und Ophir.

Mit derselben Genauigkeit, die er während seiner Reisen darauf verwendete, jede Kleinigkeit aufzuzeichnen, auch das Geringste, das für die Fahrt von Nutzen sein konnte, mit derselben Sorgfalt forscht Kolumbus in der Bibel nach vagen Anspielungen auf ferne Inseln, die die Stimme des Herrn erwarten. » In omnem terram exivit sonus eorum.« Diese Stelle aus dem 18. Psalm, in welchem die Himmel sich den Widerhall der Ehre des Herrn zusenden, kehrt immer und immer bei Kolumbus wieder. Man kann gar nicht abschätzen, wie stark der Eindruck gewisser einschlägiger großartiger Stellen der Bibel, in denen das Erhabene niemals ins Abgeschmackte verfällt, auf Kolumbus gewesen ist, so z. B. jener, in der von dem Worte Gottes die Rede ist, das über den Ozean schallt und den äußersten Osten und Westen verknüpft: » Deus deorum Dominus locutus est et vocavit terram a solis ortu usque ad occasum laudabile nomen Dei.« Und Kolumbus, der den Osten über den Westen gesucht hatte, versuchte nun mit ungeheurer Genugtuung nachzuweisen, daß die durch seine Reisen erschlossenen Gebiete eben jene seien, die von Gottes Wort als äußerste Grenze der Welt bezeichnet wären. Und so setzte er alles daran, sich selbst und der Welt das Zustandekommen und den Zweck seiner Reise als göttlichen Ursprungs hinzustellen. Er sah nun nichts Menschliches mehr in allem diesem, und dies bringt er auch mehrfach und eingehend in dem Briefe an den König zur Sprache, der dem » Libro de las Profecias« vorausgeschickt ist. Er sagt darin, daß er von Natur die Gabe, ein großer Seefahrer zu werden, mitgebracht, und daß er diese durch lange fortgesetzte Übung und durch die Fülle der Erfahrung gemehrt habe, aber alles das habe nichts für ihn zu sagen rücksichtlich der großen Unternehmung, die er ins Werk gesetzt hätte: die wissenschaftlichen Gründe, die er angeführt hätte, um die andern von der großen Wahrheit zu überzeugen, wären von keiner Bedeutung, der Glaube sei für ihn wie für den König die Hauptsache gewesen. »Alle, die von meinem Vorhaben erfuhren,« fährt er fort, »lachten und spotteten darüber, alle Wissenschaft und alle Klugheit anderer halfen mir, wie ich oben gesagt habe, zu nichts, nur auf Eure Hoheit hatte ich mein Vertrauen gesetzt; wer möchte bezweifeln, daß dies für Eure Hoheit ebenso wie für mich nicht ein Lichtstrahl des Heiligen Geistes gewesen ist? Gott hat mein Werk vorbereitet und behütet und er wird es weiter schützen und zu Ende führen bis zur Wiedereroberung des Heiligen Grabes. Sieben Jahre verbrachte ich am Hofe in Auseinandersetzungen mit bedeutenden Männern, die in allen Künsten erfahren waren, aber alle entschieden, daß alle meine Voraussetzungen töricht seien, und blieben bei dieser Überzeugung. Kurz darauf vollführte ich mein Werk, wie Jesus Christus, unser Erlöser, es gesagt hatte und wie schon früher seine Propheten geweissagt hatten. Auch daraus ersieht man, daß die Weissagung sich erfüllen wird.« Und dieses Ende sollte die Befreiung des Heiligen Grabes, die in der Heiligen Schrift geweissagt sei, bilden. Kolumbus sieht zwar sogleich, daß ihm seine Unkenntnis, die er zugibt, zum Vorwurf gemacht werden kann, aber daran liegt ihm wenig, denn bei ihm handelt es sich nicht um menschliche Wissenschaft, sondern um eine Offenbarung, und er antwortet mit den Worten des heiligen Matthäus: »O Herr, du wolltest so vieles den Wissenden geheimhalten und es den Unwissenden enthüllen.« Und noch deutlicher drückt er sich an folgender Stelle über die Art seines Werks aus: »Ich habe schon gesagt, daß für die Ausführung der indischen Fahrt weder Verstand noch Mathematik noch Karten mir etwas halfen, und nur das ging in Erfüllung, was Jesaias gesagt hatte. Und was Jesaias gesagt hat, das möchte ich hier Euren Hoheiten wieder in Erinnerung zurückrufen, auch damit sie gutes Mutes seien rücksichtlich der Wiedereroberung Jerusalems, für welche der Sieg sicher ist, wenn nur der Glaube nicht wankt – Der heilige Petrus wandelte auf den Wellen, denn sein Glaube war fest – Wer den Glauben hat, kann alles wünschen und er wird es erhalten: klopfet an und es wird euch aufgetan werden.« Für Kolumbus ist es also eine Sache des Glaubens, nur des Glaubens: wenn wir »Genie« sagen, so geben wir vielleicht nur einen Teil dessen wieder, was Kolumbus mit seinem »Glauben« meinte, denn, indem er die Ursache seiner großen Bedeutung außerhalb seiner Person und der Welt suchte, kam er selbst indirekt zur Erkenntnis, daß er ein außergewöhnlich bevorzugter Geists sei. (De Lollis, l. c.)

Die Abfassung des » Libro de las Profecias« fällt in die Zeit zwischen der dritten und vierten Reise. Der Zweck dieser letzten war eben jener, die seit der fernen Zeit des Salomo auf den Inseln des Orients liegenden Schätze zu holen und sie in dem heiligen Zuge nach Jerusalem anzulegen. In dem Bericht, den Kolumbus unter dein 7. Juli 1503 von Jamaika aus an den König datiert, zeigt er sich noch von der gleichen Überzeugung und Hoffnung beseelt. Er hatte die Meerenge, die ihn an die westliche Küste des Isthmus von Panama führen sollte, wo, wie er glaubte, die Schätze der biblischen Legende aufgehäuft wären, nicht gefunden. Das machte ihn aber in dein Glauben nicht wankend, daß David aus dem Innern Veraguas, das von ihm nur zum Teil durchforscht worden war, die drei Millionen Zentner Gold, die er Salomo für die Erbauung des Tempels hinterließ, geholt habe, und daß von hier auch die übrigen sechshundert Zentner stammten, die Salomo sich durch eigene Abgesandte verschaffte. Er fühlt sich andauernd im Besitze einer übermenschlichen Macht, und bei der Beschreibung des Unwetters, das ihn an der Südküste Haitis überraschte und seinen Todfeind Bobadilla verschlang, vergleicht er sich und seine Leiden zu eigenem Vorteil jenen, die Hiobs Geduld auf die Probe stellten: »Welcher vom Weibe Geborene,« ruft er aus, »Hiob nicht ausgeschlossen, wäre (in meiner Lage) nicht aus Verzweiflung gestorben?« Weiterhin erzählt er, was ihm, als er im Betlenflusse an der Küste Veraguas ankerte, zugestoßen sei, und teilt offenbar mit großer Aufrichtigkeit mit, wie ihn eine Vision mit Gott in Verbindung gesetzt und ihn zur Höhe des Moses und des David, den bevorzugten Dienern des Gottes Israel, erhoben habe. Eine Stimme vom Himmel rief ihm zu: »Du Tor und kleinmütiger Diener deines Gottes, tat Gott wohl mehr für Moses oder David, seinen Knecht? Seit deiner Geburt hatte er immer große Sorge um dich. Als er dich hatte heranwachsen lassen, wie es ihm gut erschien, ließ er deinen Namen in der ganzen Welt widerhallen – fürchte dich nicht und habe Vertrauen, alle deine Leiden bleiben in Marmor eingegraben und nicht ohne Ursache.« Diese Stimme konnte nur Gottes sein (obgleich Kolumbus nicht wagt, es auszusprechen, und sich nur geheimnisvoll ausdrückt: »Dann hörte der, der es gesagt hatte, auf zu reden«). Als er diesen Brief schrieb, ankerte er in Jamaika mit zwei derart havarierten Schiffen, daß die Hoffnung, Spanien wiederzusehen, recht unsicher war. Das Gold der biblischen Legende, das er mit solcher Zuversicht und Ausdauer gesucht hatte, war nicht gefunden worden, und er hatte nur Enttäuschungen erlebt. Dennoch verliert er den Mut nicht, und unablässig wiederholt er dem König, daß er trotz seines beginnenden Alters die Wiedereroberung des Heiligen Grabes beginnen werde und daß nur er dies tun könne: »Jerusalem und der Berg Sion sollen durch die Hand der Christen wieder aufgebaut werden: von wem es ausgehen soll, sagt Gott durch den Mund des Propheten im vierzehnten Psalm. Und der Abbate Gioacchino hat gesagt, daß dieser Mann aus Spanien sein wird.«

Welcher Irrenarzt könnte zweifeln, daß es sich hier um einen Paranoiker mit religiösem und Größenwahn und Sinnestäuschungen handelt?

 

5. E. Poe.

Die auf erblicher Basis erwachsene Psychose Poes haben wir nachgewiesen (S. 127 ff.). Wir wollen jetzt sehen, ob diese nicht auch durch seine Werke allein, ohne die biographische Beihilfe, aufgezeigt werden kann.

Wir haben gesehen, daß in seinen Schriften der Gedanke immer ins Traumhafte spielt, die Wirklichkeit zeigt sich bei ihm beständig ins Symbolische verzogen. Allenthalben proklamiert er das Recht auf den Traum, den Sprung aus dem Bereich des »materialistischen Morastes«, und beständig besingt er Schmerz und Tod.

In einer seiner besten Dichtungen läßt er einen Toten, froh des endlichen Friedens und der erreichten, so sehnlich erstrebten Ruhe, also sprechen: »Dank dem Himmel, die Krise, die Gefahr ist vorüber, die schleichende Krankheit ist entschwunden, ist zu Ende und das Fieber – Leben geheißen – ist besiegt.

Ich fühle mich erschöpft und bedrückt, rühre kein Glied und liege ausgestreckt, aber es ist mir gleichgültig, ich fühle, daß es mir endlich besser geht.

Ich ruhe jetzt so still auf meinem Lager, daß jemand, der mich sähe, glauben könnte, ich sei nicht tot, sei lebend.

Seufzen und Stöhnen, Jammern und Schluchzen haben jetzt geendet mit jenem schrecklichen Beben des Herzens jenem schreckensvollen Beben.

Leid, Widerwille, Erbarmungslosigkeit sind vorüber mit diesem Fieber, das mein Gehirn rasen ließ, mit dem Fieber, das Leben heißt und mein Gehirn betäubte.

Aller Qualen schlimmste ist vorbei – der entsetzliche Durst nach dem betäubenden Strom der fluchwürdigen Leidenschaft: jetzt habe ich ein Wasser getrunken, das jeden Durst löscht.

Ein Wasser, das mit eintönigem Gemurmel einer Quelle entströmt, wenige Fuß unter der Erde, einer Höhle, nicht sehr tief, doch unterirdisch –

Man sage nicht in Torheit, daß meine Kammer dunkel und mein Bett eng sei, niemals schlummerte einer in einem anderen Bett, und um zu schlummern, braucht man ein Bett gleich diesem.

Mein gequälter Geist ruht hier friedlich aus und hat seine Rosen vergessen, oder er vermißt sie wenigstens nicht seine alte Liebe zu Myrten und Rosen.

Deshalb träumt er hier so ruhig hingelagert von einem erhabenen Dufte, einem Dufte von Stiefmütterchen und Rosmarin, von Raute und schönen reinen Stiefmütterchen.«

Gespräch zwischen Monos und Uno.

Monos – »Nach den Tagen des Leids, denen Tage der Erregung, der Träume und Entrückung folgten, die dir schmerzlich erschienen, wurde ich, während ich nur daran krankte, daß ich dich nicht ferner zu beglücken vermochte, von einer hauch- und bewegungslosen Lethargie erfaßt – mein Atem stockte. Mein Puls war unbeweglich, das Herz hatte zu schlagen aufgehört. Der Wille war nicht entschwunden, war aber nicht mehr wirksam. Meine Sinne waren von ungewohnter Schärfe, Geruch und Geschmack vereinigten sich in einer einzigen neuen, wunderbaren und kräftigen Wahrnehmung. Das Rosenwasser, mit dem deine Zärtlichkeit meine Lippen im letzten Moment gefeuchtet hatte, hinterließ mir das Bild süßer Früchte, phantastischer Blüten, die unermeßlich schöner waren als jene der alten Erde, von denen wir jetzt nur die Abbilder um uns sehen. Die durchsichtigen, erbleichten Augensterne hinderten das Sehen nicht. Als dann der Wille entschwunden war, konnten sich die Augen nicht in ihren Höhlen bewegen, dagegen machten Gegenstände, die sich im Gesichtsfelde befanden, sich mehr oder weniger selbst bemerklich, indem sie Strahlen aussandten, die auf die äußere Netzhaut stärker einwirkten als auf die innere – Auch das Gehör, wiewohl übermäßig erregt, behielt seine gewöhnliche Tätigkeit. Der Tastsinn war tiefer beeinflußt. Nur langsam nahm er seine Eindrücke auf, aber er hielt sie sehr fest und es folgte stets ein unaussprechlicher physischer Genuß. So wurden deine süßen Finger zuerst nur vom Sehorgan wahrgenommen, aber nachher, lange nachdem du sie zurückgezogen hattest, erfüllten sie mein Sein mit einer unaussprechlichen fühlbaren Wonne, ich sage fühlbar, denn alle meine Empfindungen waren ganz sinnlich. Nur die Gefühle, welche die Sinne dem ruhenden Gehirn vermittelten, gaben für die erstarrte Denkkraft keinen Reiz ab. Bon allem diesem blieb etwas Schmerz und viel Wonne, aber moralisch von Lust und Schmerz kein Schatten. So drang dein Schluchzen an mein Ohr mit all den klagenden Lauten als süß melodisch und sonst nichts, der entschwundenen Vernunft gab es keine Nachricht von dem Schmerze, der es verursachte, während der reichliche, unablässige Tränenstrom, der aus mein Gesicht niederfloß und allen, die zugegen waren, ein Zeugnis von deinem Herzenskummer ablegte, jede Faser meines Wesens mit schwacher Erregung erfüllte. Und gewiß, es war wohl der Tod, von dem alle leise und ehrfurchtsvoll sprachen und du, meine süße Una, mit erstickter, schluchzender Stimme.

Man kleidete mich an für die Beerdigung.

Es war Mitternacht und du saßest noch an meiner Seite. Alle anderen hatten das Sterbezimmer verlassen. Sie hatten mich aufgebahrt. Die Lampen brannten flackernd, eintönigen Sang hörte ich, aber Plötzlich verlor er an Deutlichkeit, dann hörte er auf. Der Kerzengeruch schwand. Kein Gegenstand war mehr sichtbar. Meine Brust wurde befreit vom Alp der Schatten. Eine dumpfe Empfindung wie von Elektrizität durchdrang meinen Körper, und alles, was der Mensch Wahrnehmung nennt, ging unter in dem bloßen Gefühl des Seins und der alleinigen unveränderlichen Dauer. Der Körper war endlich von der unerbittlichen Zerstörung befallen worden. Und dennoch war die Empfindung noch durchaus nicht geschwunden. Das Bewußtsein und das Gefühl bestanden weiter und erfüllten lethargisch einige ihrer Funktionen, ich gewahrte die schreckliche Veränderung, die im Fleische vor sich ging, und wie einer, der träumt, manchmal glaubt, es beuge sich jemand über ihn, so fühlte auch ich immer, daß du bei mir wärest, meine süße Una. Und dies währte bis zur zwölften Stunde des zweiten Tages. Ich war durchaus nicht ohne Bewußtsein der Bewegungen, die um mich her geschahen. Du gingst von mir, ich wurde in den Sarg gelegt und auf den Leichenwagen gesetzt, dann wurde ich auf den Kirchhof gebracht, man ließ mich ins Grab hinab, die Erde rollte dumpf auf mich herunter, und man ließ mich in Dunkel und Fäulnis, in düsterm, ernstem Schlafe, in Gemeinschaft mit den Würmern.

Und dort, in diesem Gefängnisse, das wenig Geheimnisse zu enthüllen hat, verstrichen Tage, Wochen, Monde, und meine Seele zählte sorgfältig und gemächlich jede Sekunde, die entflog.

Ein Jahr verging. Das Gefühl des Seins ward allmählich undeutlicher und das des Ortes hatte mehr und mehr seine Stelle eingenommen. Der Gedanke der Existenz war im Ortsgedanken aufgegangen. Nach langer Zeit kam in heißer Schattenumarmung das Licht der unvergänglichen Liebe zu mir. Arbeiter öffneten das Grab, das mich in seine Nacht aufgenommen hatte. Sie hoben die feuchte Erde heraus, auf meine morschen Gebeine ließ man Unas Sarg herab. Und dann war wiederum nichts. Der schwache Lichtschimmer war erloschen, der kaum hörbare Laut war verstummt.«

Diese Seiten erinnern in ihrer abscheulich-krankhaften Originalität an das, was uns die Bilder der Enthaupteten auf Wiertz' schrecklichem Triptychon zu sagen haben.

Wie Victor Hugo es in seiner späteren Zeit tat, so versuchte auch Poe die tiefsten Probleme der Theologie und Philosophie zu lösen, jedenfalls nicht zufrieden damit, ein großer Dichter zu sein, und in dem Wunsche, zu den großen Denkern gezählt zu werden.

Von der Beschäftigung mit dieser Geistesrichtung legt ein Gedicht Zeugnis ab, betitelt »Die Kosmogonie des Universums, gewidmet allen denen, die träumen und die an Träume glauben wie an die Wahrheit auf der Erde«, ferner sein Gedicht »Gott«, in dem er das Unwißbare erschlossen zu haben glaubt. Die Stimme einer Erscheinung mit einem Schweißtuch spricht zu ihm: »Willst du endlich das Unsichtbare, das Namenlose, Ideale, Reale, nie Gehörte erkennen, begreifen, verstehen, willst du erleuchtet werden? Willst du im großen Licht die Augen öffnen, die in schrecklichem Dunkel befangen sind? Willst du das? Antworte! – Ja, rief ich. Da fühlte ich die Schöpfung erbeben. Der Geist aber erhob seinen Arm, und indem er mit seinem Schleier alles Irdische bedeckte, berührte er meine Stirn mit dem Finger. Und ich starb.« Die Lösung ist, wie man sieht, nicht gegeben, denn erst nach dem Tode kann der Mensch die Erklärung des Rätsels haben, wenn er sie je erlangt.

Der Schluß der Poeschen Dichtung aber ist trostvoll, der Dichter glaubt die Lösung des Rätsels gefunden zu haben. Mit Schiller schmeichelt er sich, einen Blick in die jenseitige Welt geworfen zu haben. Kurzer Trost! In seinem »Raben« hält der Zweifel wieder Einkehr. Der Sonnenstrahl, der ihn einen Augenblick zu erleuchten schien, ist entschwunden: die ewige Nacht ist hereingebrochen und umgibt ihn. Leonore ist tot, sie erscheint nicht wie Petrarcas Weib dem gläubigen Liebhaber, sie ist für immer dahingegangen, der trostlose Geliebte wird sie nie mehr Wiedersehen.

» Prophet,« said I, »thick of evil prophet still, if bird or devil,
By that heaven that bends above us, by that God we both adore,
Tell this soul with sorrow laden if, within the distant Aidenn,
It shall clasp a sainted maiden whom the angels Name Lenore:
Clasp a rare and radiant maiden whom the angels Name Lenore.«
Quoth the raven »Nevermore.
«

In Poes Werken finden sich nach Laurier zwei Inspirationsquellen, die ekstatische in seiner Jugend und die melancholische in seiner späteren Zeit.

Die erstere koinzidiert mit dem Opium, die letztere mit dem Alkohol, die erste liefert einen mystischen Kult märchenhafter Schönheit, die zweite einen Geschmack für Todesphantasien. Poes abnorme Sensibilität ergebt sich in seinen Geschichten in überirdischen, erotischen Opium- oder in ängstlichen Alkoholvisionen, die bis zur Mystifikation realistisch sein oder auch in mystisch-idealistische Nebel sich verlieren können.

Seine Schriften sind charakterisiert durch seine nervöse Überreizung, die auch das Gehirn schädigte, seine krankhafte Originalität erhellt aus dem Maßlosen, Delirösen seiner Vorwürfe, sein Genie ist ausschließlich pathologisch.


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