Oskar Loerke
Das unsichtbare Reich
Oskar Loerke

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Von der Verfassung des unsichtbaren Staates

Wenn wir Grundzüge der Verfassung in Bachs tönendem Staate festzulegen versuchen wollen, werden uns freilich seine Librettisten nicht helfen. Der Privatmann Bach ankert in der strengen Orthodoxie des siebzehnten Jahrhunderts, das ist einfach. Er ist ihr leidenschaftlicher Verteidiger und wird als ein sehr frommer Mann geschildert. Aber in welche Ordnung ragt der ungefesselte Genius in ihm? Der Privatmann hatte zwei Sammelausgaben der Werke Luthers in seiner Bücherei, das fünfbändige Gesangbuch seiner Zeit, ein Werk über die heiligen Reisen; er nahm es genau und horchte auf die Quellen im Mittelalter. Der Genius bedurfte alles dessen auch. Er kontrolliert seine schwachen Textdichter – bezeichnenderweise bevorzugt er die innigeren Pietisten – mit den schriftlichen Wegplänen in der Hand. Er bringt hundert Beziehungen an, die sie übersahen, deren sie nicht gedachten. Er ist ein Eiferer, ein Inquisitor zugunsten seiner Kunst. Hört er Luthers gesprochene Sprache oder nur ihren musizierenden Hintergrund? Es graust ihn nicht, zwischen Luthers Sätze späteres Reimgewäsch zu fügen. Blitzesschrift und Schablonentünche löschen ihre Stile ineinander aus. Ehrenfestes Alter und wenig würdige Jugend werden zusammengepfercht, sie lösen einander ab bei der gleichen Zwangsarbeit, und im Gesicht ihres Zwingherrn fehlt jede Ironie der Grausamkeit – fernes Wetterleuchten widerscheint auf ihm. Luther steht nur hinter ihm und weist ihn mit breithinpeitschenden Schwüren in ein mittelalterliches Gottesreich ein. Luther war ein Bauer, eine Art Spielmann wie Bach selbst, ein Verehrer der Pariser Musik des Josquin des Près. Würde aus seinen Worten der gelehrte Universitätsprofessor hervorschmecken, vielleicht hätte Bach gestutzt. So aber – reibt er sich die Schwere aus den Augenlidern und blickt um sich: noch sind wie um Luther Studenten um ihn, mit denen er zu exerzieren hat, schwerfällige und 29 nicht übermäßig begabte im Durchschnitt, und Professoren lesen ihnen vor, Professoren, zu deren Ehre er Festmusiken verfaßt: »Vivat August Müller, August Müller vivat!«

Das verunreinigt nicht die Ozonquelle des Äthers, der ihm alles durchdringt. Seine Orgeln stehen mitten in diesem Äther Gott, die Luftsäulen, die von ihren Pfeifen erschüttert werden, die Luftsäulen, die es aus seinen Fingern und Füßen her durchrieselt, sind aus dem Äther Gott gebildet. Wollten sie anders tönen, sie könnten es nicht. Jedes noch so weltlich gemeinte Stück bedient sich seiner Anwesenheit. Die eine Atmosphäre hat sein Gehirn befallen, ernährt und ermüdet es. Denkt es, so denkt es unter ihrem Drucke, schläft es, so ruht es in ihrer Wachsamkeit.

Was er außerhalb dieses bindenden Elements angeschaut zu haben glaubt, es bittet und umschmeichelt ihn, es beunruhigt und zerrt ihn, bis er es in ihren Frieden hereingelassen hat. Herakles in den Felsen ruft das Echo an (Die Wahl des Herakles). Herakles muß die Seele werden, und das Echo wird Jesus (Weihnachtsoratorium). Herakles, der ursprünglich Starke, ist nun Bach selbst, der Schwache, und das Echo, das ursprünglich Schwache, ist nun der Gott, der unheimlich und unsichtbar zwischen den Felsen Wartende. Der Gott gebiert sich aus dem Vertrauen, das sich in den Steinabgrund stürzt, weil es weiß, daß es unversehrt, wenn auch leiser, wiederkehren muß.

So reiht sich eine lange Tabelle der Verwandlung weltlicher Musik in geistliche. Bachs Selbstentlehnungen aus früheren Werken zu erhöhtem Zweck scheinen zufällig, aber da die Gesamtschöpfung nach dem irrationalen Plane der Natur zunahm, gehen sie in Wirklichkeit keinem praktischen Bedarf nach, sondern erwidern einem Nachfragen, welches der Arbeitsmann und Beamte Bach nicht vernimmt. Eines Tages brechen sie auf und begeben sich an ihre letzte Stelle. Wenn zuletzt die Bürde der unvollendeten Hohen Messe die Geduld überwältigt zu haben scheint und der Schluß das »Dona nobis pacem«, das »Gratias agimus« wenig verändert nochmals bringt, so liegt darin noch eine menschlich herbe Fragestellung: Wir haben dir Dank gebracht, gibst du uns nun den Frieden? Und wahrscheinlich hat dieses größte Werk seinen irdisch listigen Zweck nicht erfüllt und verharrte in der Ehre der lautlosen Einsamkeit: der Dresdner Hof, dem es geschenkt war, hat es weder ganz noch in Teilen aufgeführt. Gekränkt wird es Bach nicht haben, denn er hatte die Sätze zu gebirgig angelegt, als daß sie in den Sälen der Königsburg Raum gehabt 30 hätten. Er brachte wenigstens des Himmelskönigs und sein eigenes Gloria einmal vor sein sterbliches Ohr; zur Weihnacht des Jahres 1740 führte er es auf, abgekürzt und für die praktische Absicht durchgearbeitet.

An dem Übergang aus der Geburt in Niedrigkeit in den höheren Bezirk nehmen wie die Kompositionen, so auch deren Träger, die Instrumente, teil. Manche von ihnen besitzen nur einen kleinen Klangdurchmesser. Aber der perspektivische Blick vergrößert ihn unbegrenzt. Die Oboe darf zur Rivalin der Orgel werden. Cembalo und Clavichord tragen so weit, wie der Geist weht. Bittere bewaffnete Mitternacht des Geistes fällt über die dürftigen Rabenkiele her, und sie halten dem Überfall stand, als wäre undenkbar, daß ein gigantischer Hohn sie allesamt zerknicken könnte. Daß sie ohne Zaudern und Besinnen ernst genommen wurden, weiht sie und macht sie stark. Bach hat gern das sangbare Clavichord gespielt: es vergaß sicherlich seine Zimperlichkeit, und die Sinnlichkeit des Tons sprang auf den Tatzen der Gedanken. Fast das gesamte Wohltemperierte Klavier ist sein Widergeist, aber der Charakter des Tons zählte für seine Größe. Die untrennbaren Charaktereigenschaften blieben konstant in Vergrößerung und Verkleinerung, alle Maße verharrten im gegebenen Verhältnis, wie auch ein Fugenthema in der Vergrößerung und Verkleinerung es selbst blieb.

So assimilierte Bach sich Luther, den Ausleger der Verfassung, er aß ihn, er tötete ihn durch Musik, er ließ Luthers Geist auferstehen durch Musik. Die Person war wieder zur Sache geworden. Was auf dem halben Hunderttausend Seiten flammte, angefacht manchmal durch maßlosen Haß, maßlose Streitsucht, was in den Brand geschüttet war an Karren voll Traktaten, Predigten, Auslegungen, Vorlesungen, war nun Ruhe und Härte einer Staatsverfassung geworden. Der Staat war das geistätherdurchdrungene All. In der obersten, wolkendurchflossenen Schicht hatten Heere und Heere von Soldaten ihre Städte, unabmeßbar an Zahl, unbezwingbar an Macht. Dort hatte der König seinen Thron. Er wußte sich durch seinen eigenen Blick zu spalten und ging als Gesetzgeber, Feldherr, Heilbringer, Dämon von sich aus. Immer ganz und gar in jeder Person von sich abziehbar, blieb er als Person unvermindert zurück. So auch schaltete der Fürst mit seiner Macht. Fiel sein Auge auf einen Ort, wo ein Bote, ein Diener hätte stehen sollen, – alsbald stand er da. Und je nach der Kraft des Augenwunsches, ohne daß Zeit vergangen wäre, war eine Schar, eine Legion aus dem Boden gewachsen. Sie warten, sie schweben 31 hinab, wie das Auge befiehlt. Über dem Schweben verrinnt keine Zeit – sie sind bereits auf der unteren irdischen Ebene. Oder ist diese heraufgeschwebt? Kein Wink geschah und kein Flug, der ihm folgte. Die obere Ebene und die untere waren nur eine. Auf der unteren liegen die Länder Europas, die Provinzen, die Städte, Flecken und Dörfer. Keins soll sich vergessen glauben, wenn seiner gedacht werden kann. Selbst Klein-Zschocher bei Leipzig liegt und blüht in dem großmächtigen Gottesstaate. »Klein-Zschocher müsse so zart und süße wie lauter Mandelkern sein.« Prüft die Erde des Dörfchens und die von Zion: die gleiche Scholle zerbröckelt.

Mit dem bloßen Blick gewinnt Bach sogar eine physikalisch-geographische Regierung seiner Welt. Das ist dort der Fall, wo in den Regionen der verschiedenen Tonhöhen die Gefühle ausscheiden. Für die Aufnahme des inneren Raumes wird dann gleichsam ein äußerer eingerichtet, gefühlleer, architektonisch, als reine Disposition. Durch das lebenslange Nachbilden der Bewegung weiß er alle ihre Ausgänge in der Tiefe, ihre Enden in der Höhe, ihr Beharren im Mittleren. Er kann also die seelische Bewegung unterlassen und gleich das Ziel geben, nur die Feststellung Stern, Sonne, Grab, nur den geographischen Ort, sonst nichts. Dadurch ruft der Gehörseindruck statt der psychischen eine mehr visuelle Assoziation hervor, die nicht immer entbehrlich ist. Bach befiehlt sie systematisch heran oder schaltet sie aus, je nachdem er ihrer bedarf. Er ruft sie besonders herbei, wenn Worte in der Nähe sind, und zerstört dadurch das nur Wörtliche, denn Worte führen immer außermusikalische Vorstellungen mit sich. Der Sänger spricht etwa von Himmel, Erde und Meer. Rasch tupft er einen Ton in die Höhe und macht damit für das Auge eine Geste, er legt einen Ton in die Mitte und hat dadurch auf die Erde gedeutet, er legt einen dritten Ton in die Tiefe und hat auf das Meer aufmerksam gemacht. Mit der Flüchtigkeit der Erinnerung vermeidet er die Abschilderung, mit der Nachlässigkeit des Winks erweist er aber gerade das Gewohnte, Alte, Ewige. Handelt es sich ihm doch nur um ein Behältnis und Gehäuse wichtigerer Dinge. So sind denn besonders die Rezitative mit trockenen Akkorden des Cembalo und bis zur deklamierten Mitteilung abmagernder Melodie der Hauptort, an dem die geographische Struktur der Welt aufgezeigt wird. Damit diese nicht wieder ausgewischt werde, behalten dort auch die inneren Vorgänge nur einen schmalen Platz und dürfen sich höchstens an den Schlüssen versingen. 32

 


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