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Johann Sebastian Bach errichtete aus schwingender Luft den weltumfassenden unsichtbaren Gottesstaat und ging bei Lebzeiten in ihn ein wie der chinesische Maler der Legende in sein Bild. Betrachten wir die trotz der dreißig Bachjahrbücher, trotz Spitta, Schweitzer, Pirro, Terry spärlichen Nachrichten von seinem irdischen Wandel und verbinden Früheres mit Späterem, so bemerken wir überall den gleichen Zug und Sog.
Es ist, als ob der apokalyptische Richter eine große Waage in der Hand hielte, auf deren eine Schale das Sichtbare, auf deren andere Schale das Unsichtbare gelegt wäre. Anfangs zieht das sichtbare Gewicht seine Schale tief hinab, dann steigt sie auf, obwohl ihre Last nicht vermindert wurde, und die andere, die scheinbar nichts zu tragen hat, sinkt immer schwerer nieder.
Die erste Hälfte des Lebens wirkt farbig, die zweite grau. Die erste ist einigermaßen bewegt, die zweite bescheiden an Gesten, die erste heftig, die zweite leise. Die Grenze zwischen den beiden Hälften liegt ungefähr bei der Übernahme des Leipziger Amtes. Aus dem funkelnden Virtuosen und dem der üppigen Sonne Welschlands günstigen Kapellmeister ist ein einfacher Kantor geworden; ihn deckt das schwarze Gewand des geistlichen Beamten. Auch die äußere Bewegung des Aufenthaltswechsels hört auf. Weit drüben liegt die jugendliche Schlägerei mit dem Fagottisten Geyersbach um Barbaras willen und der zornige Auftritt mit der vorgesetzten Behörde, hüben schleppt sich der lange kleine Streit mit den Schülerpräfekten hin. Drüben liegt das kaiserliche Herrschen auf dem Orgelthrone, etwa in der von einer Feuersbrunst zerstörten Stadt Mühlhausen, 8 wo die Leute unlustig geworden waren, Musik zu hören, die nicht sauertöpfisch war, und wo er erst recht das tollkühne harmonische Feuer eines eigensinnigen Kopfes in den Ruinen angezündet hatte. Hüben wurde die Orgel an den offiziellen Festen von einem anderen bedient, und er spielte sie verborgen zu einsamen Feiern. Auch die Hofkapelle inmitten des zeremoniellen fürstlichen Flitters ist hinter ihm geblieben, und er hat sie, dem Glanz entrückt, in der Heimlichkeit wieder eingerichtet: sie besteht nicht mehr aus Spielern und Hörern, die scheinen wollen, sondern aus eigenem Fleisch und Blut, das nur sein will; Frau Anna Magdalena, die liebe Sängerin, strahlt über allen, und die älteste Tochter, die Söhne helfen mit. »Insgesamt aber sind sie gebohrne Musici und kann versichern, daß schon ein Concert vocaliter und instrumentaliter mit meiner Familie formieren kann.« Es berührt so, als habe Bach seinen Leib vervielfältigt, um sein eigenes Orchester zu sein. Er hat gleichsam auch seine Kapelle mit nach innen genommen. Alles wird nach und nach unscheinbarer, inniger und gründiger. Der Umkreis der Allgemeinbildung sogar verengert sich zum gleichen Ziele. In Ohrdruf lateinische Aufsätze, Briefe Ciceros, Griechisch, Theologie; auf der Michaelisschule in Lüneburg Cicero gegen Catilina und De officiis, Gedichte des Horaz, Virgils Äneis, Rhetorik; später das ewig gleiche, die biblische Lehre samt ihren Auslegungen in Liedern, Predigten, Betrachtungen, polemischen Verteidigungen. Die Geltung im lebendigen Umkreis wächst gleichfalls von außen nach innen. Als Kind in der Schule hatte er geleuchtet, in der Tertia hatte er den ersten Platz inne, in der Sekunda den zweiten. In der Akademie der Meister seiner Zeit blieb er im Hintergrunde der Altmodischen; in der Mitzlerschen musikalischen Sozietät zu Leipzig erscheint er erst spät als Mitglied, und er hat keinen großen Ehrgeiz, aufgenommen zu werden; als er dann ernsthaft entschlossen ist, reicht er freilich eine überaus kunstreiche Aufnahmearbeit ein. Leidlich und einigermaßen gleichbleibend, jedenfalls nicht in wirkliche Not absinkend, scheint nur Bachs wirtschaftliche Lage gewesen zu sein. Oder suchen die Mächte seiner Sendung ihn auch da von dieser Welt loszuringen? War er am wohlhabendsten nicht als Kind? Der Waisenknabe, der bei seinem armen Bruder eine Zuflucht gefunden hatte, verdiente als Leichen- und Hochzeitssänger so viel, daß er schließlich keinen Freitisch mehr brauchte. Nachher wuchs zahlenmäßig der Sold, aber auch der Druck der Abhängigkeiten und Verpflichtungen. Die vielen Kinder, Mädchen und kostspieligere Knaben, aßen sein Brot mit. Die guten trockenen 9 Jahre fressen an ihm, in den feuchten ungesunden sterben mehr Menschen, er sagt es selbst, und sein Geschäft, mit der tragbaren Orgel und den Schuljungen an die Gräber zu ziehen und die Abgeschiedenen in die Ewigkeit hinüberzumusizieren, blüht dann besser. Sogar, was Freunde senden und Gönner spenden, geht verloren; ein Fäßchen Wein läuft unterwegs aus, Taler kommen nicht an. Der mit Teilen der H-moll-Messe erbetene Titel eines königlich polnischen Hofkompositeurs, der ihn wie ein Kulissenlicht sichtbarer machen sollte, läßt peinlich lange auf sich warten. Ach, es war wohl schon über die zweihundert Jahre her, daß die fürstlichen Kantoren selbst als Fürsten in großen reichen Stiftskirchen gesessen hatten, als hohe Prälaten mit Inful und goldenem Stab und Herren über Untertanen. Es war schon lange her, daß ein schwärmerischer Kurfürst in Meißen eine ewige Kantorei gegründet hatte, wo Tag und Nacht die müden Sänger von frischen abgelöst wurden, daß der Dom wie eine ewige tönende Leuchte im Lande stand.
So blieb nur das eine – die Ehre des vom Erzengel gezeichneten großen Mannes: möglichst viel von sich selbst in das Werk hinüberzuschaffen, hinüberzulenken, hinüberzuschauen, -zuhoffen, -zuwälzen, -zuträumen, -zusinnen, -zusehnen, je nachdem es schwer oder flüchtig, lastbar oder leicht, offen oder listig, widerstrebend oder willig, fest oder flüssig war. Sich bewahren, um sich aufgeben zu dürfen, sich hinschenken, um sich zurückzuerhalten, sich lösen, um sich zu sammeln, sich zerteilen, um ganz zu werden – lauter einander aufhebende Notwendigkeiten sind Ereignis des exemplarischen Künstlerlebens und ergeben es.
Dadurch scheidet sich der Künstlermensch von dem anderen Geschworenen der unsichtbaren Welt, dem Mönchsmenschen. Die Mönche aller Religionen verzichteten auf die Zerstreuungen und Ablenkungen des geschäftigen Lebens, um alle Wucht auf das eine dann noch Verbleibende zu werfen, – aller Religionen, denn es gibt den Mönchsmenschen nicht dem Bekenntnis gegenüber, sondern er ist ein Bekenntnis. In der Bettelnuß wird weniger die Speise ins Kloster getragen, als der Gott aus dem Kloster mitgenommen. Dem Leibe werden die Nachtwachen und Entbehrungen angetan, damit durch seine Wahrheit keine Störung im reglos beschlichenen Traumbezirk eintrete. Der Leib muß sich standhaft fühlen gleichsam in einem betäubenden Lärme der Müdigkeit.
Bachs in Tönen jenseitige Welt aber war das volle Diesseits. Als es dort hinübergerettet war, ohne hier zu verlöschen, ermüdeten die kurzsichtigen 10 Augen und erblindeten zuletzt. Aus dem körperlichen Dunkel diktierte er seinem Schwiegersohne Altnikol das Lichte, den letzten Orgelchoral mit dem Doppeltexte »Wenn wir in höchsten Nöten sein« und »Vor deinen Thron tret ich hiermit«. Dann, zu kurzem Abschied, war noch einmal der süße Tag der Erde um ihn.
Dieses Leben, das nach den Annalen von 1685 bis 1750 reichte, währt im Machtraum des Geistes, immer wachsend und sich verjüngend, nun schon zweihundertfünfzig Jahre. Dürfen wir die Ehrfurcht einmal spielerisch sein lassen und es als sinnbildlich nehmen, daß sein Anfang nicht genau feststellbar ist? Die Urkunden beglaubigen nur, daß Sebastian Bachs Taufe am 23. März vollzogen wurde; daraus schließt man nach der damals geübten Sitte und Bachs Angabe in der Genealogie auf den 21. März als den Geburtstag. Dies gilt für den alten Kalender, nach dem neuen wäre es der 31. März. Und auch die Grabstelle des Meisters, über die lange der öffentliche Verkehr hinflutete, war bis 1894 unbekannt, dann erst barg man auf Grund einer Eintragung im Register des Leipziger Johannishospitals und nach Vergleich des Schädels mit dem Antlitz Bachs auf Haußmanns Porträt und anderen zeitgenössischen Bildern unter drei Eichensärgen den mittleren. Das war der Sohn des armen Musikanten Ambrosius in Eisenach und seiner Frau Elisabeth Lämmerhirt. Wir suchen aber den Ungestorbenen, der in sein Werk hineingegangen ist und daraus nicht mehr wiederkehrt. Dessen Ursprung reicht um viele Jahrhunderte hinter die Geburt zurück.
Diesem Ursprunge strebte er, so scheint es uns nachträglich, auf den Fußwanderungen seiner Jugend und später auf seinen Orgelprüfreisen entgegen. Seine Pilgerschaften, wie die des Kindes nach Ohrdruf oder die des fünfzehnjährigen Michaelisschülers nach Lüneburg, die des Jünglings zu dem greisen Orgelkönig Adam Reinken in Hamburg und zu dem nordischen Gewaltigen Dietrich Buxtehude an Sankt Marien zu Lübeck, führten ihn nicht in immer neue Lehre nur, auch nicht seine Bahn von Amt zu Amt, als Violinist in Weimar, als Organist in Arnstadt und zu Sankt Blasii in Mühlhausen, als Hoforganist, Kammermusikus und Hofkonzertmeister wieder in Weimar, als Kammermusikdirektor und Kapellmeister 11 in Köthen, schließlich als Thomaskantor in Leipzig, – vielmehr brachten sie ihn an die äußersten Enden der Welt, seiner inneren Welt. Er ersteigt die Gebirge in sich selber, erwandert seine Meere. Überall versinnbildlichten die wirkenden Musiker große neue Tonvölkerschaften, und zuweilen sah Bach deren Älteste von Auge zu Auge. Der Ohrdrufer Bruder war ein Schüler Pachelbels, des Erfinders des neuen süddeutschen Geschlechts der Orgelchoräle. Ein anderes Tonvolk stellten die Stücke Georg Böhms vor, eines Bekannten seiner Familie. Es war gut, Böhm selbst kennenzulernen, denn die ihm eigentümlichen Verzierungsarten waren kaum schon genug Sprache für die harte Melancholie seiner Versenkung. In der Hamburger Katharinenkirche wurde durch Reinken ein drittes Tonvolk laut, breit, pomphaft, weltmännisch wie sein Regent, dem noch im Greisenalter Wohlleben und Frauen wichtig waren. Als Bach den fast Hundertjährigen noch einmal besuchte, um ihm in seinem, Bachs, Orgelvorspiele »An Wasserflüssen Babylons« die Summe der abgelaufenen Künstlerbahn vorzuspielen und zu zeigen, daß er sie begriffen hatte, da trat Reinken mit der Versicherung, nun könne er in Frieden dahinfahren, die Herrschaft an ihn ab. Ein viertes reckenhaftes Volk regte sich in den Musiken Buxtehudes, unbändig an Stolz und Kühnheit, ritterlich schweifend und dann unvermutet voll nordisch bittersüßer Sonnenstille. An Buxtehude gewann Bach die persönliche Begegnung mit dem anderen Genie, er dehnte seine Urlaubsfahrt zu ihm auf fast so viele Monate aus, wie er Wochen hätte fortbleiben sollen. Sein Wunsch, Händel zu sehen, hat sich nie erfüllt. Von Lüneburg wallfahrtete er nach Celle. Dort hielten die Franzosen Haus mit Musik von Lully und anderen. Wie oft und breit er in seinen künftigen Weltherrschaftsbereich vorstieß und daß er nichts schonte, was ihm frommen konnte, beweisen die zahllosen Notenabschriften, die er sich anfertigte, und mehr noch seine Weiterarbeit an dem Gedankengut fremder Meister. Um einen Augenblick bei den Franzosen zu verweilen: er schrieb um 1703 das Orgelbuch des Reimser Organisten Nicolas de Grigny ab, er huldigte André Raisin, indem er eine zahme Figur von ihm in der Orgel-Passacaglia gewaltig machte, er nahm ein Fugenmotiv Marchands in ein Brandenburgisches Konzert und verarbeitete eine Allemande von Couperin im Wohltemperierten Klavier (Pirro). Indessen, nur ein Benennen der wiederentdeckten Beziehungen würde Seiten und Seiten füllen. – Zur Beute kommen ferner die Tausende von Kompositionen, die in den Bibliotheken der Orte, wo er verweilte, aufgehoben waren. Schon auf der 12 Lüneburger Station fand er alles Erdenkliche, Sammelwerke wie das Florilegium Portense, ein Promptuarium musicum, Cantiones sacrae und Psalmi Poenitentiales, Lassos Selectissimae cantiones, Einzelwerke bedeutender und unbedeutender Verfasser.
Bei einer solchen Umschau in die Weite lassen sich außerdem überall Schnitte in die Zeitentiefe senken. Er erweckte gleichsam die Toten, um sie sich friedlich zu unterwerfen. Da erscheinen die Generationen seiner Musikersippe in seinem Blute, da tut sich die Reihe seiner Vorgänger im Thomaskantorat auf: Kuhnau, Schelle, Rosenmüller, Schein, Sethus Calvisius. Da erscheinen auch die Instrumente, besonders das Überinstrument, die Orgel, mit ihrer jahrtausendlangen Geschichte. Sie hatte erst kurz vor Bach ihre volle zweckmäßige Weisheit errungen, und Bach, ihr Arion nach dem Worte des Universitätsrektors Gesner, auch technisch-mechanisch ein Wisser durch und durch und ein Erfinder, suchte ihr auf seinen amtlichen Prüfreisen diese Vollkommenheit zu erhalten.
Im Zeitpunkt seines irdischen Erscheinens hatte das musikalische Werden auf vielen Gebieten eben seine letzten Vorkehrungen und Zurüstungen beendet, als sollte nun der größte Geist seine Hand auf sie alle legen und ein Regieren ihrer aller beginnen. Nicht allzulang vor Bach war der Taktstrich erfunden worden, welcher die vertikale Gliederung der Tonmassen betonte und einschärfte. Erst kurz vor ihm war das Notensystem auf fünf Linien gebracht worden. Einst hatten sich die Noten ja unbeschützt in einer schrecklichen dunklen Raumwüste aufgehalten und sich nur befangen zu rühren gewagt. Die Klänge bewegten sich zwar klamm in der Höhe und Tiefe, aber wo und wohin? Endlich zog man einen harten Strich in der Mitte, der das Oben und Unten normierte. Dann baute man Linientürme von vielen Geschossen übereinander. Frescobaldi hatte ein Siebenliniensystem. Es war möglich geworden, den Tönen, da sie sich im unerkundeten Raume nicht mehr zu verirren brauchten, die Fülle des Wohlklangs anzuvertrauen. Noch Heinrich Schütz, hundert Jahre vor Bach geboren, gibt den Rat, man möge seine Musik langsam singen, damit sich alles wohl unterscheiden lasse und kein Fliegenkrieg der Noten entstehe.
Der Allgenius tritt auf, und alles Lebendige atmet mit seinem Odem.
Und sogar in den Hoheitsbereich der Alten Kirche fährt sein Sturm. 13
Wohl niemand noch war verwegen genug gewesen, an Palestrina zu tasten. Entzieht er sich doch jeglichem Willen zum Werden. In seinen Stücken äußert sich, nach Worten Richard Wagners, die einzige Zeitfolge fast nur in den zartesten Veränderungen einer Grundfarbe, und wir erhalten ein fast raumloses Bild, eine durchaus geistige Offenbarung, von welcher wir daher mit so unsäglicher Rührung ergriffen würden. Kein Wunder, daß Bach sich einer solchen magischen Offenbarung zubeugte, aber er nahm sie in seinen Denkstil auf. Zu einer großen Messe Palestrinas schrieb er eine Begleitung mit Trombonen, Kornetts und Orgel aus und ließ sie auf seinem Generalbaß ruhen.
Ähnlich ist sein Verhältnis zu einem anderen Magier, zu Frescobaldi. Bach hat ihm zwar auch genug Einzelnes, Bestimmtes entlehnt (so ist das Hauptmotiv seiner Orgelkanzona in Frescobaldis »canzon dopo la Pistola« und Fragmente des Themas und Kontrasubjekts im zweiten Christe des »Kyrie delli Apostoli« bei ihm von den Historikern festgestellt worden), er hat sich als sein demütiger Schüler die ganzen »fiori musicali« abgeschrieben, aber ebenso wie die Ausdrucksmethode wird ihn der Duft des trächtigen Chaos erregt haben, das alles umgab und woraus erst er jene Form in endgültiger Festigkeit hervorzurufen verstand. Klingt es uns heute nicht wie eine Sage, daß Frescobaldi, kein äußerlicher Virtuose, eine dreißigtausendköpfige Zuhörerschaft in ekstatischen Bann tat, daß die Menge seiner Anhänger ihm von Stadt zu Stadt nachpilgerte? Nach der Vorrede seines Hauptwerkes und ihren Ermunterungen zu Freiheiten dürfen wir vielleicht schließen, er habe gleichsam absichtlich durch trunkenes Schwanken in tollkühner Phantastik zum Rausch eingeladen, seine neue Chromatik, unbegrenzt vermehrbare Ausweichungen hätten exotische Fernen verheißen. Bach entdeckte in den farbigen Nebelmeeren das Festland. Keine dreißigtausend folgten.
Vervollkommnung der Form entsteht nicht durch bloße Zutat aus der neueren und reicheren Persönlichkeit, sondern durch Einbau in ihre gesamte Gegenwart. Wie sucht sich eine solche Gegenwart dem Schicksal des Verfalls zu entziehen? Wir verstehen lange vor der geschriebenen Überlieferung in den Stein der Gebirge geritzte Tierbilder. Die vor Jahrzehntausenden mit dem Einritzen vorgenommene Rettung des ruhelos sich verwandelnden Anschaulichen tritt auch für uns noch ein. Eine Stunde 14 des Geistes schrieb sich in den Fels und wurde dadurch vor dem Versteinern bewahrt. Das Fließende des seherischen Gefühls gerann in Härte und darf daher heute wieder flüssig sein. Die Gegenwart von damals ist uns herübergereicht. Die zerstörenden Kräfte, die physiologisch und biologisch im Leben das Unpersönliche und im Tode das Persönliche aufheben, ohne Pause, immerdar, sind aufgehoben in einem dritten: der Kunst. In der Kunst sind Tod und Leben nur noch Wahrheiten der Erscheinung, Pole des ordnenden Sinns. Denn ihre Gegenwart ist zu einer Zeit über der Zeit geworden und diktiert neue Bedingungen der Zeitlichkeit, mögen diese nun das Körperliche, Sittliche oder Begriffliche angehen. Der diesseits der Kunst jede Gegenwart ausschlackende Brand ist in ihr ohnmächtig geworden. Es fällt aus ihm nicht mehr die Schlacke Vergangenheit. Vergangenheit, in das Werk der Kunst hineingebildet, bedeutet nicht mehr etwas Auflösendes, sie ist gestaltender Bestandteil an seinem Kosmos. Der Möglichkeit nach verharrt sein geistiges Gepräge, hätte es auch nie einen Zuschauer oder Zuhörer. Geringere Werke schließen neben der Kunst, die sie durchwaltet, noch viel anderes in sich. Sie dulden dieses nicht nur, sie fordern es, um überhaupt entstehen zu können. Gerade dadurch, daß sie den Gesetzen ihrer Zeit möglichst vollständig folgen, verlieren die zeitunbedingten Gesetze in ihnen an Geltung. Wenn sie altern, tritt in dem Gewicht ihrer Bestandteile eine merkwürdige Umkehrung ein: sie enthalten dann nicht mehr zuviel Stoff aus der Erfahrung und Erinnerung, sondern sie sind nicht mehr genügend mit Stoff erfüllt. Für den hohen Künstler ist die Form ja nicht entstanden, um benutzt zu werden, sondern sie wird benutzt, um zu entstehen im jeweiligen Beispiel. Der Typ ist ihm nicht da, während er erwächst, und ist ihm gestorben, sobald er geboren ist. Der Vollendungstrieb gehört zum Begriffe des Typs, die Vollendung nicht. Der Schaffende muß mit ihm verfahren, als wäre er noch nicht da. Es ist eine Grausamkeit der Kunst, daß, wer zuerst eine mächtige Form ersann, sie immer wieder, über Jahrhunderte hinweg, wie zum ersten Male ersinnt, daß aber, wer sie ihm nachgießt – und geriete sie ebenso makellos –, uralt schon in seiner Jugend ist. Musik insonderheit bleibt im letzten unzugänglich, wenn sie nicht an jedem Tage ihrer Wiederholung ihren Geburtstag hat. Bei jedem Spielen und Hören entsteht auch der Gehalt mit dem Gefäß.
So denn: nach älterer Musik kann man Bach hören, dagegen nicht leicht nach Bach ältere Musik. Im ersten Falle glaubt man: hier in den Älteren 15 sind doch die Ideen Bachs vorhanden, schlicht, klar, – er hat sie nur aufgenommen, noch einmal geboren. Im zweiten Falle rinnt Blei in die Gedanken der Älteren: eine Fuge ist dann inhaltlos, eine Tokkata ein bloßes Gerüst. Selbst eine Leidenschaft ist dann ein Rezept geworden, sie ist unpersönlich angefüllt, nicht mehr mit dem Herzen ihres Meisters, sondern mit dem seiner Epoche. Sie ist ein kunstgeschichtlicher, ein kulturgeschichtlicher Beleg geworden. Zum Erklingen gebracht, trägt sie die zwei- oder vierhundert Jahre ihres Alters auf dem Rücken. Solche Musik lagert sich in der Luft des archäologischen Staunens. Der unmittelbare Ernst bleibt draußen: diesem Ernst bleibt das Werk lediglich Objekt. Und trotzdem: ist das wirklich so? Wir zögern. Im großen Vorhof um Bach schallt es uns plötzlich von unzähligen gespielten und gesungenen Symphonien, und keine Staubschicht legt sich mehr verdunkelnd zwischen sie und uns. Und nochmals trotzdem: wer löst uns die Frage, ob ohne Bach jene Werke uns nicht gestorben wären? Uns, die wir vor der Kunst nicht gelehrt sein wollen? Wer weiß, ob Bach uns die Alten nicht um Generationen in dieses sein heutiges Dasein vorgerückt hat?
Freilich, die Schlösser Palestrinas und auch Frescobaldis scheinen aus sich selbst hell, und sie prunken. Das Dauernde aber des Leuchtens in diesem Lichte ist der Katholizismus, aus dem sie stammen. Eine den Künstlern mitgegebene allgemeine Form durchdrang die besondere, die sie ihrem Gebilde mitgaben. Unverwitterliches läßt sie nicht verwittern. Und unser ungeheurer Heinrich Schütz zog ultra montes. Er, der Protestant, war in Venedig Schüler Giovanni Gabrielis bis zu dessen Tode, er studierte auf seiner zweiten italienischen Reise die Art des großen Monteverdi, er sandte weiterhin Botschaften nach Italien und empfing Botschaften daher.
Bach durchschreitet also, ohne die nahe Heimat mit seinen Füßen zu verlassen, wachenden Ohres alle Hallen im archaischen Gebäude des Katholizismus und verweilt lange sogar vor dem Altar Sankt Peters, an dem, von Gregor dem Großen gesammelt und angeschlossen, die zur Unveränderlichkeit bestimmten Kirchenmelodien, ganz wörtlich zu verstehen, ein Jahrtausend lang an der Kette gelegen haben. Die Klänge zaubern ihn nicht fest, sondern er holt auch sie. Dem frommen Manne Bach wohl, doch nicht dem Musikanten bedeutet die Reformation eine Schlucht, die undurchschreitbar wäre. Er muß an die Marken seines Reiches, und sein Reich ist kein zeitlich, sondern ein räumlich umfassendes 16 Reich. Er überschaut es innerlich, und siehe da: in ihm befindet sich auch die gregorianische Provinz. Dorther vernimmt man das »credo, credo!« somnambuler Gottergebenheit, wie es lutherdeutsch die thüringischen Kindheitstäler durchscholl, das »confiteor unum baptisma« (H-moll-Messe), das den Tafeln des Neuen Bundes seit seiner Aufrichtung eingegraben ist, dort vernimmt man das jahrtausendchörige Amen, wenn Gott »die Seele seiner Turteltauben« nicht den Feinden geben soll. Es ist aufgelesenes eigenes Eigentum, daher ergeht sich das Confiteor erst in einer neuerfundenen Melodie, bevor es in der alten mündet. So entzieht auch das deutsche Magnificat dem vielleicht ebenfalls gregorianischen Choral die Alleinherrschaft, indem es ihn im ersten Satze zuerst nur vom Sopran, dann vom Alt singen läßt und ihn im Duett »Er gedenket der Barmherzigkeit« der begleitenden Tromba überweist; auch zu einem Orgelstücke hat Bach dieses Duett umgearbeitet. Begibt sich jedoch Bach bewußt in die ultramontane Fremde, so rüstet er sich danach und wahrt die Sitte: das Credo wird von fünf Singstimmen statt der außerhalb dieser Messenchöre überwiegend üblichen vier gesungen, und die beiden solistisch mitwandernden Violinen stoßen mit zwei weiteren Stimmen zu dem Haufen; der Baß geht an ihnen vorüber wie die gleichmäßig geraden Bäume eines endlosen Waldes, und da jenseits der Berge altertümliche Künste aus Niederland gepflegt wurden, so üben sich die sieben Bekenner unterwegs darin. Nur das eine gestehen sie nicht zu, daß der Priester intoniert und sie antworten, sondern sie sind allesamt Laienpriester und heben sofort aus eigener Würde an.
Auch sonst mischt sich die selbstverantwortlich profane Heiligkeit in die sakrale von den Ahnen her. Um die Stille der »katholischen« Orgelfugen Bachs, deren es eine ganze Reihe gibt, donnern die Orkane seiner heidnischen Präludien und Tokkaten. Daß er zuweilen ein früheres faustisches Präludium vor eine spätere kirchliche Fuge setzt, beweist am deutlichsten sein Gleichgewichtsbedürfnis. In den mehr weltlichen Klavierwerken hat das »Katholische« einen ähnlich freimütig gewährten und bestrittenen Platz. Aber die zweite D-dur-Fuge und die zweite E-dur-Fuge des Wohltemperierten Klaviers, die man zum Beispiel in diese Gattung gerechnet hat, besitzen durch ihre Vorspiele eine noch weiter gespannte Sicht über die frohgefühlte Lebensfläche hin als die entsprechenden Orgelstücke. Das D-dur-Präludium entfernt sich vom weihevollen Ort auf den Tanzboden: es überschlägt sich aus einem hinaufschnurrenden 17 Lauf in den radschlagend gebrochenen Dreiklang und macht aus diesem Stoff eine Gigue. Zudem darf nicht übersehen werden, daß die beiden Fugen außer ihrer Stelle im Wohltemperierten Klavier noch eine Stelle des evangelischen Bekennens im Gesamtorganismus des Bachschen Werkes haben: die D-dur-Fuge beginnt mit dem Tenor und wird von ihm weitergelenkt; der Tenor gehört dem Evangelisten überall; dem Evangelisten gehört das episch Überschauende, das Rezitativ in seiner reinsten Gestalt. Und die D-dur-Fuge beginnt mit dem Baß; diese Stimmregion gehört Jesu, der durchs ganze Leben führenden menschlichen Hauptfigur bei Bach, und die Fuge bleibt bis zum Schluß in der hoheitsvollen Jesussphäre.
Bach hatte es in der Seele nicht vergessen: Jesus und seine Evangelisten waren unter dem gleichen Himmel über die Erde und durch das Volk gewandert, unter dem es noch etwa die Spielleute taten. Nicht immer schon hatten sie Weihrauchopfer in den festen Mauern der Dome genossen. Darum gewährte er in seinem tönenden Imperium der Volksmusik, der keuschen und sogar der kecken, überallhin Zutritt zu gleichen Rechten. Wenn er nicht ahnen konnte, daß selbst der starr feierliche gregorianische Gesang einst Gesang des lateinischen und früher vielleicht des griechischen Volkes war, so wußte er mit seinem Genie die Brudergleichheit mit den aus Liebesabschiedsliedern entstandenen deutschen Chorälen und die Brudergleichheit dieser mit den noch fast zeitgenössischen Singweisen. Allenthalben sah sein Genie das gleiche: Wo Burgen der Kirche oder der zünftigen Kunst die Musik umhegten und sicherten, waren Mauergewölbe ihr Himmel und Horizont; wo sie uneitel und vogelfrei das Brot, das auf den Äckern wuchs, und das Wasser, das in den Flüssen des Landes rann, zu sich nahm, um ihrer und des Gottes Nahrung willen, da waren wirklich Horizont und Himmel. Der Volksgesang glüht in keiner platonischen, pythagoräischen noch ambrosianischen Verklärung, aber in einem Rausche der Wahrheit, der die Verklärungen verhüllt mitenthält. Eine Maria des fünfzehnten Jahrhunderts singt: »Weinen war mir unbekannt, da ich Mutter ward genannt. Mir ist weinen nun geschehen, seit ich seinen Tod gesehen.« Daß der Sohn Gottes Sohn sei und daß sie ihn so sehr geliebt habe, steht zwar im Texte, mitzusprechen; allein der Gesang für sich erhebt seine Klage so aufwandslos und überzeugt, daß es außerhalb des Dogmas doppelt klar würde, worum es sich handelt. Das war ein brünstigeres Musizieren als das konzessionierte. Die Finger des Erdgeistes suchten 18 sich lebendige Instrumente. In diesem Verstande hat beispielsweise der Schuster Grünwald, Mitglied der böhmischen Brüdergemeinde zu Kopfstein am Inn und als Blutzeuge verbrannt, getönt. Er hat das »Kommt her zu mir, spricht Gottes Sohn« im dorischen Lindenschmidtton neu gesungen, welchen Choral Bach mehrfach verwendet.
Bach war jeder auf ihn zukommenden Leistung gegenüber unerschrocken. Jede kam aus einer Ferne in ihm selbst auf ihn zu in den Schein des tätigen Verstandes. Wäre es anders gewesen, er hätte sie nicht bemerkt. Außer, daß sie selbständig waren, hatte das Schicksal die Vivaldi, Lotti, Allessandro Scarlatti, Legrenzi, Corelli, Albinoni, um nur noch einige Italiener zu nennen, als seine Statthalter ihm vorausgesandt. Sie hatten hie und da seine Arbeit zu beginnen, manchmal nur mit der Erfindung eines Motivs, und er vollendete sie. Da ihr Geist sich noch in den Grenzen des seinen regte, wie hätte er sich scheuen sollen, ihre Gedanken betreuend weiterzuführen? Umgekehrt findet sich (nach Schering) das Thema des Konzertes, das er das italienische nennt, im Florilegium primum des Deutschen Muffat. Was aushäusig war in einem anderen Lande oder in einem anderen Kopfe, wurde, sobald er es mit seiner Energie berührte, bachisch. Und es wurde deutsch für die Nachgeborenen, denen er es schenkte. Wo er war, blieb er einheimisch und kannte daher die Furcht nicht.
Geringere mußten zagen. Von dem zwanzig Jahre älteren Husumer Organisten Nikolaus Bruhns, einem Schüler Buxtehudes, wird eine rührende Geschichte erzählt. Aus Italien war die Violine gekommen. Diese Sängerin von Natur hatte auch Schleswig, auch Dänemark erobert. Bruhns wie die anderen widerstand ihrer bestechenden Sieghaftigkeit nicht. Allein der Gesang war ja ungelehrt, er hatte nicht Nebel geatmet, er spottete der Solidität von tausend Doktoren und Kantoren und beging das Laster, sie nicht anzuerkennen. Aber da Bruhns die Violine gern spielte und als ihr Meister bestaunt wurde, griff er die Grundmelodie auf dem Orgelpedal und führte zwei oder drei gegensätzliche Stimmen auf dem neuen, kleinen, leichtfertigen Instrumente aus. Damit glaubte er die ungezügelte Verführerin erst zu anständiger Dienstbarkeit gezwungen zu haben. Sein Spielen ist verhallt, seine Kantaten und Konzerte sind fast alle bis auf den heutigen Tag Handschrift geblieben.
Bach dagegen bewahrt dem italienischen Gesange den Charakter, selbst wenn er einmal aus der urpolyphonen Orgel hervorbrechen will. Pirro 19 macht darauf aufmerksam, wie er im langsamen Satze der Orgeltokkata aus C-dur zwischen einem solchen Gesang und dem zusammenhaltenden Fundamentalbaß eine homophone Schicht einläßt; einfache Akkorde, unauffällige, unscheinbare Humuserde, damit nur ja jener Gesang voll erblühe.
Auch andere Instrumente läßt er als selbstgenügsame Lebewesen oft genug für sich sein und reißt zuweilen unter ihnen gar die Fundamente ganz weg. Manche enthalten doch den Vogel der Lüfte, das Schweben des Kindertraums, die losgelöste Hirtenseligkeit oder auch wie die Trompete den Krieg und den Sieg, und dieser findet kaum auf der gegründeten Erde, sondern in der Hölle und im Himmel statt. So hatte der griechische Virtuose Sakadas den Kampf Apollons mit dem Drachen Python auf dem Aulos dargestellt, mit einer einzigen Klarinette den mythischen Krieg gemalt und seine Zuhörer und Preisrichter in seine Gefahr gestürzt. So hat Bach seine einstimmigen Soloinstrumente manchmal mit furchtbarer Gewalt des Grauens oder des Glücks ausgestattet, er, der wie keiner dem Orchester der Singstimmen und dem massenhaften Bläserensemble der Orgel gebietet. Seine Flöten und Oboen vermessen sich gelegentlich, Leib der Heroen und Dämonen zu sein (die Klarinette war noch unüblich). Bestürzend gelingt ihm der Eindruck der panischen Unheimlichkeit, wenn er das, was man als eine vollständige Begleitung ohne weiteres bei ihm voraussetzt, plötzlich nicht eintreten läßt. Unter einem Chore schweigen mit einmal die Instrumente, der Chor schwebt über einem leeren Abgrunde – warum ist er nicht sofort hineingestürzt? Der kontinuierliche Baß fehlt während eines ganzen Stückes – keiner Motette –, und er stellt sich zu unserer Bängnis nicht ein: hat es sich ins Luftleere verirrt und muß dort ersticken? Beiseite harrt das Volk aus Fleisch und Bein und neigt sich mit ängstlichen Schreien der Warnung und des Schauderns herüber. Was geschieht? – »So ist mein Jesus denn gefangen!« Die Holzbläser schnüren ihn mit ihrem Motiv in Stricke, die Streicher sind aus der Polyphonie in Einlinigkeit, in Eintönigkeit zusammengequollen. Kein Baß schafft Recht, stiernackige Mietlinge tun gegen Sold ihre Arbeit.
Wohin man greift, überall Sammlung des irgendwo und irgendwie Begonnenen in einem Binnenraum! Nirgends Aufhebung und Auflösung des Errungenen, sondern Erfüllung. Bach ordnete ein Planeten- und Trabantensystem, fern dem hitzigen Ehrgeiz, Sonne sein zu wollen. Soli deo gloria, schrieb er an den Schluß seiner Kompositionen und an den Beginn der Kantaten und Passionen J. J., das ist: Jova juva! Ihm zeigte 20 sich nur das, was sich in seinem Haupte bewegte, und es war dasselbe, was außerhalb des Hauptes vorging. Aber nun war es beisammen. Von drinnen benannt, hieß es Mensch, von draußen – All. Die Aufgabe war nicht zu suchen, er war mitten drinnen.