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Reise nach Nordafrika und Italien 1914

 

Ostermontag, den 14. April. ]

Auf der Fahrt von Berlin nach Bremen.

Viel Verkehr, aber alles wickelt sich angenehm ab. Wehmut, als ich die wie in die Sonne gebaute kühle und schattige Wohnung verließ, nicht aber in dem Gewühl auf dem Bahnhof. Jetzt im Coupé kommt betrachtsame Ruhe und, weil der Tag etwas Festliches hat, ein Glück wie eine Quelle in mir auf.

Gegen Abend ist es: einsame junge Birken, Erlen und Weiden stehen in der Ebene so jung versunken feierlich, daß es ist, als strömten sie unendlich Himmel aus. Dazwischen grauschwarze Wälder, auf deren Grund die grünen Bäume, weißgrüne möchte man fast sagen, wie jähe Rauch- oder Wasserstrudel aufschießen, in der Fahrt gerade gefaßt und für den Blick festgehalten. Durch die vorweggenommene Sommerwärme, das unwirklich schöne Schleierlicht, in dessen Geweb überall etwas Geheimnisvolles stecken kann und meine Stimmung, die so wie das Osterlicht ist, habe ich eine Festtagsstimmung wie schon seit Jahren nicht.

Es wird dunkel. Die Lampe in unserem sausenden Fahrkäfig gewinnt mit ihrem Licht und gelbbräunlichem Schimmer unter dem bläulichen ein kleines Gebiet, das uns doch aus dem großen Himmel zurückruft, und schwarz stehen schon die Weidenstrünke, die Bahnmasten mit Signalen und den Lampen, die wie Gehenkte über der weiten Ebene die Augen noch zu haben, aber sie bald in eisern irrsinnig blanken Blick öffnen werden.

Und jetzt ist draußen das schmerzlich sanfte Blau, hoch, als ließe es den grünlichen Erdball mit seinen fahrenden Zügen und sinnierenden Menschen immer tiefer aus sich herabfallen, alles ins Schwarze beschwerend und verdumpfend.

Draußen neben unserem Zug fährt durch die Spiegelung der Fensterscheibe ein anderer Schattenzug. Unsere Doppelgänger sitzen darin. Die vier, die mir gegenübersitzen, sitzen mir schattenhaft wiederum gegenüber, um und über sich die Reflexe im Lack, auf der Landkarte und auf den Koffern. Die Frauen mit grotesken, phantastisch großen Hutbüscheln auf dem Kopf. Manchmal ist nur eine fahlrote Gesichtshälfte vorhanden. Die gefurchten Äcker, die Wiesen rasen durch die Körper hin, der Bahndamm rieselt und schwankt in ihnen hinauf, bei langem Betrachten unheimlich. Die Lampe aber hängt im Himmel. Endlich, bei völliger Dunkelheit, klärt sich das Bild so, daß es das Sonderbare verliert.

Salzwedel. Baumkuchen werden ausgeboten. Ein Original steigt aus. Sonderbar. Es gibt einen für Zehntausende. Man weiß ganz genau, daß dieser Typ den doppelsträhligen Vollbart haben muß, daß er diese kleine Zigarre raucht, genau dieses neue saubere Etui hat, seine Frau vor dem Ziel mit der Weitläufigkeit eines furchtlosen Kriegervereinlers zur Ruhe mahnt und daß er eine Kondensierung seines Wohnortes darstellt: man sieht Sonntagnachmittagsstuben, Gespräche vor den Geschäften im Vorübergehen, die Dekoration der Säle und der Bierstuben, schmeckt fast das Bier selbst und hört den Verkehrston der Bedienung.

Im Gang eine Schar junger Leute in blauer Uniform mit vielen blanken Goldknöpfen an den Seiten der Jacke und je sechs auf den Ärmelaufschlägen, wahrscheinlich im Dienste des Norddeutschen Lloyd. Sie fahren bestimmt zur See, sind ebenso bestimmt keine Seeleute. Ich bin neugierig, welche Obliegenheiten diese vergnügte, mit einem subalternen Stich freie Sorte erfüllen wird.

Müdigkeit, doch ein behagliches Gefühl dabei.

Als ich nahe bei Berlin in die Landschaft sah, schien es mir ungeheuer weit, alles was ich aufsuchen will. Jetzt, ein paar Bahnstunden weiter, habe ich mich losgelöst, bin hier und habe die notwendige Verkleinerung des Zurückbleibenden schon vorgenommen, die so ungemein notwendig ist. Ich bin froh, daß ich auch auf dieser Reise mit dem Gefühl beginne, als müsse ich jeden noch so geringen Gegenstand wie zum ersten Male sehen und fühlen. Die blasierte Furcht, darin kindisch zu sein, fällt mir immer ab, sobald ich unterwegs bin. – Ich bin wunderbar wach, während die fünf anderen Männer, die jetzt im Coupé sind, stumpfsinnig hinstieren, ingrimmig zu schlafen versuchen oder verdrossen lesen. Könnte ich zeichnen!

Wenn man einmal richtig horcht, so ist es ein Höllenspektakel, mit dem man fährt: Rhythmus, wie mit Fäusten getrommelt, ein schneidendes Vorüberbrausen, Hineinklappern und Zischen des Vorbeifliegenden, dunkles Knirschen, gurgelnde Wasserfluten, eisernes Lachen, klatschendes Klopfen wie mit Klopfern auf Betten, Einbrausen eines Atems zu riesigen Atemzügen, stürzende Regengüsse. Schließlich habe ich das Gefühl, als gäbe es keine Musik auf der Welt. Doch eine dunkle Poesie der Preisgegebenheit, die wir nur fast nie spüren. Emsigkeit und Wollust der Seele.

Kurz vor Bremen. Ein wenig im Zuge geschlafen, immer mit völliger Nähe des Wachens. Manchmal flossen mir eben die Bilder hinter den Augen. Dies besonders süß. Ich träumte, dies und das in meinen Koffern vergessen zu haben und wußte dann mit großem Wohlgefühl sofort, daß es in Wirklichkeit doch da wäre. Obschon oft aufgescheucht, hat es mich doch sehr erfrischt. Nur ein wenig Leibschmerzen habe ich, die außen in den Muskeln zu sitzen scheinen. Und alles schläft ein und die Freude, die man am intensivsten spürt, ist die auf das Bett. – Hier ist auch der blaue Lichtvorhang heruntergezogen. – Weiter.

 

Dienstag, den 14. April.

Im Zuge von Bremen nach Bremerhaven ans Schiff.

Gestern ein teures und schlechtes Hotel gefunden. Aber ausgezeichnet geschlafen, und herrlich, ein Singvogel wie eine Nachtigall, weckte mich mit seinem Schlage in grauer Frühe. Und noch einmal. Ich glaubte, ein Garten wäre draußen. Nachher öffnete sich der Vorhang nach einem häßlichen, schmutzigen, engen Hofe.

Die Stadt im Treiben weißer, nur manchmal grauer Wolken. Die Türme des Domes fuhren mit wie immer solche Domtürme. Auf dem Lloyd nicht ganz schnell meine Sachen erledigt: die Fahrkarten, man hört andere Sprachen oder das Ausland aus dem deutschen Akzent. Das Gepäck mit Zetteln des ganzen Erdballs. Besondere, sehr elegante Wartehalle mit nur lederner Sitzgelegenheit. Vor der Abfahrt werden die Passagierlisten verteilt. Ich finde den Namen Dauthendey tatsächlich unter den Passagieren, nachdem ich sein Gespenst schon in den Straßen gefunden hatte, angetan mit einem Gebirge von Mantel. Nun war es doch kein Gespenst. Im Verwaltungsgebäude spürt man vom eigentlichen Seewesen nichts, ahnt es auch schwer. Ich erhielt ein sehr liebenswürdiges Empfehlungsschreiben an die Kapitäne. In der Nähe des Bahnhofs ist ein Büro für Zwischendecker, wie auch am Hintereingang des Hauptgebäudes. In Scharen, jeder mit seinem Kofferchen, kamen sie gezogen, auch ohne Organisation ein Heer. Soweit ich sah, wird mit jedermann außerordentlich höflich, das heißt sachlich umgegangen.

Die Stadt hat wohl viele enge Gassen, doch ist sie weiträumig. An häßlicher Architektur fehlt es nicht, die in unschönen Linien auch den Himmel zerschneidet.

Wunderschön aber sind einige alte Dinge. Ganz über Erwarten das Rathaus. Immer wieder und wieder kam ich auf meiner langen Wanderung dahin zurück und immer neu redete mich etwas an. Die Fassade mit dem Kaiser und den sieben Kurfürsten, den Heiligen. Die Kolonnaden. Das Gitter vor der großen Halle. Drinnen die ernste, schlichte, niedrige Halle mit den Holzsäulen, die doch soviel Würde und Schönheit haben. Das schöne Geschnitz der Treppe zur Seitenkammer, die stolze, große obere Halle. Das Dach. Und herrlich, daß nichts zu groß und zu prächtig ist, daß einem ein Gefühl von Bürgertum übrigbleibt. Der Roland in seiner Steifheit trägt in seiner ausdruckslosen Gestalt und seinem leeren Gesicht für die staunenden Nachgeborenen doch Ausdruck und Fülle von Jahrhunderten seiner Zeit.

Der Dom ist nicht besonders schön, doch schön. Die Aussicht des Schiffes am schönsten mit der Galerie oben. Die Türme, zwar abwechselnd in den ornamentalen Bogen, zwei mit halber Mittelteilung, zwei mit ganzer Mittelteilung, drei, vier ohne Mittelteilung, und schöner Säulengang niedrig über der Tür, doch nicht besonders, triviale Turmhauben. Im Innern machte mir einen großen Eindruck die gelbe Rose, weil sie für das grauschwarze schwere Innere die einzige wirkliche Lichtquelle war, über der schönen Empore und Orgel die Seitenfenster trotz besonders blauer Farben kalkfahl und tot. Die schlechte Luft drückte. Zwei hohe und ein niedriges Seitenschiff rechts. Die reichgeschnitzte Kanzel auf ganz dünnem Stiel, wie ein braunschwarzes Glas. Ich empfinde immer Verehrung für die Embleme, Wappen, Grabdenkmäler in den Seitenkapellen, die man nie recht sieht und entziffert. Merkwürdig bewegt mich der Taufstein. Vier Männer mit sehr langem Oberleib, riesigem Kopf und dünnen kurzen Beinen reiten auf gelagerten, babylonisch herausmodellierten Löwen. Zwei stemmen die Hände in die Hüften, zwei halten sich an den Ohren der Tiere, wie ängstlich, so sehen sie auch in die Weite, mit Angst, die durch Nachdenklichkeit drollig wird. Ich kam innerlich irgendwo an ein Quellgebiet meiner Seele und blieb horchend sitzen im Angesicht der goldgrünen Rose und ihres Lichtes, das ein Stückchen an der Mauer herabfuhr. Die Kirche war leer und wirklich zu genießen.

Gewerbehaus, zwei sehr schöne Giebel. Im Ratskeller wollte ich essen, fand aber meine Vorstellung aus Hauff dort nicht, ging anderswohin.

Die Weser schönes Bild. Frühlingsgrüne Baum- und Wiesenbänder am Rande, fröhliche Wolkenwildheit am Himmel, und auch der graugrüne Strom, eilig und geschäftig, mit zickzackigem Schaum, wo es strudelt. Speicher mit Lukenkränen. Gebäude von Schiffahrtsgesellschaften. Sonst ruhig, in der Hauptstraße recht lebhaft und gestern abend beim Aussteigen ein so beängstigendes Gequetsche, wie ich es selbst in Berlin fast nie gesehen habe. Darin gewesen bin ich wenigstens bisher noch nie.

Etwas mißtrauisch und doch wie gute Bekannte sieht man sich in der Lloydabfahrtshalle an, spricht zwar im Zuge noch nicht, doch ist sich nicht eigentlich fremd. Erster Klasse noch nie gefahren. Aber da man es nicht selbst bezahlt, so braucht man sich nicht daran zu gewöhnen. Mir geht es so, daß ich denke, jeder sieht mir an, was ich zum ersten Male mache.

Links Schlotterhose & Co. Maschinenwerkstatt. Da fahren wir eben vorbei. Das Land war ganz flach, belebt von vielen Bäumen.

Die Sonne eben herrliche Streifen wie ein riesiger silberner Pfauenschweif. Das Haupt weit in den Wolken oder im Himmel, geht sie am Ende auf das Meer zu.

Geestemünde. Riesige Kräne aus feinem Gespinst. Meist kleine häßliche Stadthäuser. Über die Weser, die hier schnurgerade und ganz nüchtern durch den Frühling fließt. Dann großartige Schiffsbauwerkstätten. Hellinge, Schuppen. Holzbalkone mit viel Wäsche. Dann große schönere Gebäude, wohl Verwaltungsgebäude, und im Hintergrunde Masten. Herrlich. Seegruß. Wolken steigen rechts herauf wie von dem Brande einer ganz großen Stadt, darüber der Himmel rein. Hafen. Herrlich, herrlich. Zwischen Takelwerk dicke schräge Schlote, schwarz im grünen Himmel. Der Sonnenpfau stolziert ihm noch immer voran.

Jetzt schon an Bord. Direkt am Dampfer hält der Zug. Zuletzt kamen wir an einer Reihe der allerherrlichsten Schiffe vorbei, die nicht gesondert und quer wie in Hamburg, sondern mit der ganzen Längsseite am Kai liegen. Mit einem kleinen Dampfer »Vorwärts« übergesetzt. Ich begrüßte auf ihm Dauthendey ]. Sehr freundlich und nett. Mir kommt auch seine Seebefahrenheit sehr zustatten. Die Kabine auf dem Brückendeck ist ziemlich eng, schön, aber sie hat für mich den sehr großen Nachteil, daß noch ein Passagier darin schläft, ein Baron von W., der sehr berlinert. Ich fürchte, man findet keinen Platz, an dem man allein sein kann. Jetzt sitze ich in dem kleinen Gesellschaftszimmer. Das Rauchzimmer, ebenfalls recht eng, bietet keinen Platz mehr. Auch spielt man dort Karten, was ich nicht gern sehe. Hoffentlich bleibt es hier auch auf der Fahrt so leer. Wir haben die erste Mahlzeit eingenommen, die sich von der in einem anderen Restaurant durch nichts unterschied als den auffordernden Trompetenstoß. Jetzt nur noch das Rollen der Karren und Kranketten. Es wird mit Macht gearbeitet, das Gepäck zu verladen. – Draußen beim Blick aufs Wasser geht einem das Herz auf.

 

Mittwoch, den 15. April.

Zu heute in der Nacht sind wir abgefahren. Bei bewegter See, starkem Wind und Regen. Wir waren schon fast alle zu Bett gegangen. Gegen Mitternacht oder später wurde losgemacht. Obschon zuerst über die Miteinquartierung betrübt, schlug mein Herz glücklicher, als die Lichter eines anderen liegenden Dampfers vor meinem Kabinenfenster zu wandern anfingen. Die Vorhänge daran flatterten herein, der Regen prasselte, der Wind donnerte, dazwischen Kommandos und Glockenzeichen. Ich habe das obere Bett inne, von dem aus man das Meer übersehen kann. Erst ganz langsam, dann schneller und zuletzt nicht mehr in der Lage entwirrbar, kamen die Lichter: erst Laternen am Kaiserkai, Lichter anderer Schiffe, Leuchttürme mit weißem und buntem Lichte. Dann das Wasser schwarz und nachher grauschwarz. Wilder, wolkiger Himmel. Seligkeit beim Schwanken des Schiffes. Sobald der Puls der Maschine einsetzt, hier auf diesem Dampfer ganz sanft, hat jede Form darauf ein ganz anderes Leben, erst Bedeutung. Dann darf das Zimmer eng sein, wenn die Kleider vom Haken erst von der Wand herein- und zurückschwanken. Strichweise nur, doch wohl und mit guten Träumen, wie auch schon in der vorigen Nacht (geschlafen).

Viel mit Dauthendey gesprochen, der doch sehr nett ist und Schönes und Interessantes von seiner Weltreise zu erzählen weiß. Ein Beamter der Deutschen Bank aus Berlin schloß sich uns an; für die Reise gilt ein Mensch schon doppelt, der zu Hause mit denselben Eigenschaften wenig ausrichtet.

Sehr große Freude habe ich an den jungen Chinesen, die auf dem Schiffe beschäftigt sind. Jahrtausende Asien im Gesicht, Jahrtausende andere Sonne, das Ungütige der Kultur, deren Quelle doch wohl Güte ist. Große Grazie und Sauberkeit. Einer trägt schwarzseidene Hosen, ebensolche knappe Jacke und gelbseidene Strümpfe, ein anderer blühend weißseidene Strümpfe. Ein Knabe kauert auf dem Vorderdeck und betrachtet in sich geduckt das Meer.

Die Chinesen das Interessanteste der Gesellschaft. Sonst, was ich bei Tisch gesehen. Wenige Damen, am schönsten schon noch zwei Amerikanerinnen, en famille mit Eltern und Bruder. Der Baron von W. hat umgekehrt zu den Chinesen den Schutt der Gewöhnlichkeit in den Zügen, und nur manchmal, im Bett etwa, haben das große dunkle Auge und die gespannten Züge etwas Aristokratisches. Ein bayrisches Ehepaar mit am Tisch, er ein Krebsgeschwür von Nase und von Dialekt, sie pickt sich den Käse mit dem Messer ins Gesicht. Ebenso gekleidet, aber das fällt alles nur aus dem Gegensatz auf, sonst grundgute und vielleicht sehr sympathische Menschen. Ein Herr mit ausgedrücktem Auge, jung, der den Mut hat, bei Tisch die Hände zu falten und leise zu beten. Doch die kleine Gesellschaft ist weltläufig genug, sich nicht aneinander gegenseitig aufzuhalten. Alte Damen, von der Stewardess hinausgeführt und auf Pelze gebettet, schrecklich seekrank, desgleichen lagen vormittags manche solche Leichenlaternen von Gesichtern zusammengebrochen auf ihren Stühlen. Manche fehlten noch zum Mittag.

Das Meer von Anfang an bis jetzt, da wir nur noch ein paar Stunden von Rotterdam entfernt sind, besät mit Fahrzeugen aller Art. Zuerst große Personen- und Frachtdampfer, Fischdampfer, Segelbarken und kleine Boote. Ganze Flotten von jeder Sorte, besonders jetzt der Fischerboote.

Zuerst die großen starken breiten Wogen, sich in weißen Plateaus anschüttend, marmorgrau verfließend. Nie noch vorher so ungeheuer zahlreiche Regenbogen aus den Wellen gesehen. Die sonnenabgewandte Seite rosa, der Horizont violett abgesetzt. Der andere eine Insel aus Sonne mitten im Wasser, dann wieder am Horizont eine riesige Feuerhecke, aus der Zungen ins Blaue griffen.

 

Donnerstag, den 16. April.

Ich schwimme gegen Antwerpen zu. Der vergangene Tag war so reich, daß man meint, es sei eine Woche vergangen. Gegen Abend gestern kamen wir nach Hoek van Holland mit großen Pfahlbollwerken im Meer, unscheinbare Häuseransammlung, dann ebenes Land. Bevor wir in Rotterdam landeten, aßen wir, zum ersten Mal festlich gekleidet. Großartig dann die Einfahrt in den weiten Hafen, im Halbkreis Lichter aufgebaut, schwimmende und feste Häuser, manchmal nicht gut auseinanderzuhalten. Getürme von Schiffen, weiße phantastische Burgen auf den dunklen Rümpfen.

Stadt. Wir (Dauthendey, L. und ich) gingen noch hinunter und durch das Zolltor. Die Geschäfte waren alle auf. An jedem Hause, bei jedem Schritte doch zu spüren, daß man in fremdem Lande war. Die breiten Laternen zum Beispiel, eine ganze Kleinigkeit, diese ein wenig anderen Glashäuser. Dann die Häuser selbst, oft rot, gelb oder schwarzbraun, häufig ganz kleine Ziegel, aufgesetzte Giebel. Schön die großen Fenster in den Wänden, das Glas mit den Ziegeln in einer Fläche, alles in einer Fläche, etwa dreistöckig der Durchschnitt. Schöne Frauen und Mädchen unterwegs. Merkwürdig stille Hafengegend, keine Seeleute, nur Einheimische. Viele horchten vor einem Tanzlokal. Plötzlich zwischen Barbier, Fleischer und Bäcker ein Bordell. Ebensolches großes Schaufenster, hinter dem vier Mädchen saßen. Als wir vorbeikamen, klopfte die eine mit dem Ring ans Fenster, eine andere stürzte heraus und rief uns deutsch nach: Kommt doch herein, Kinder. In einer Seitengasse trat ein Mann heraus, der mit bösem und verbrecherischem Blicke uns ansah und sich dann rasch fassend weiterging. Uns allen dreien fiel das auf, ohne daß wir es zuerst uns sagten, und wir hatten alle selten so etwas Böses gesehen.

Als wir zurückkamen, wurde gerade das Zolltor geschlossen. Wir hätten über das Gitter klettern müssen, hörten dann aber, man könne eine Riesenglocke läuten. Auf dem Dampfer waren noch Hausierer aus Rotterdam, die Zigarren und Zigaretten verkaufen wollten, Taschen und anderes. Nicht aufdringlich und sogar höflich, nur ausführlich.

Nachts begann dann das Einladen. Inseln von Kränen waren um das Schiff gebaut mit langen Vogelhälsen und Vogelschnäbeln, die Kohlen herunterschütteten, eiserne Schläuche für den Grus, Paternosterkränze und Kasten für die Stücke. Auf der Landseite fuhren Eisenbahnzüge, an und von beiden Seiten her schluckte der doch garnicht große Dampfer. Es verschwand wie nicht vorhanden. Die Sonnensegel wurden vor den Promenadendecks heruntergelassen, um gegen den Staub zu schützen. Es nutzte aber nicht durchaus. Fast überall lag eine schwarze Schicht. Dazu war das eiserne Röhrensystem an dem eisernen Mast in Tätigkeit: Dampfrollen, Taue mit Haken, um jeden Gegenstand greifgerecht zu schlingen. Mit fast elegantem Schwung schafften die Vorrichtungen die Waren vor den Schacht und mit wenig Bedienung war es am Orte gelöst und verladen. Rasselndes und polterndes Getöse die ganze Nacht, betäubend. Dennoch vortrefflich geschlafen, bis die Dampfpfeifen der Schiffe, hoch und niedrig, lang und kurz, mit ihren Riesenkehlen mich doch weckten. Dann bot sich das Hafenbild, das gestern geahnt war, wirklich und sichtbar. Dampfer aller Nationen, herrliche Segler mit zwirnigem Gespinst, kleine Dampferchen zu Dutzenden, ja, Hunderten, ähnlich wie in Hamburg.

Kommt man auf der Fähre dann nach Rotterdam selbst, ist man erstaunt. Eigentlich eine große kleine Stadt. Viele ruhige Straßen, das holländische Haus ist an sich fast unstädtisch ruhig, wohnlich. Man findet die alten Maler erschütternd getreu in der heutigen Wirklichkeit leben, Rembrandts Luft und Licht, Vermeer und so weiter. Häfen für kleinere Schiffe weit in die Stadt hinein, mit Gewimmel an dem Ufer, das über das Trottoir hinausquillt. Kanäle. Herrliche Frühlingsblumen an Bord. Die behaglich anheimelnden Aufschriften. Der Reiz zu enträtseln. Man versteht das meiste. Kleinste Gassen, sehr lang und belebt, nicht beängstigend durch die Höhe, wie es in Hamburg ist. Köstliche Fische auf dem Fischmarkt, besonders Rotzungen und Heilbutten, Fleischerläden mit Riesenochsen in dem Schaufenster. Alles von appetitlichster Sauberkeit. Viele Leute können deutsch. Herr L., durch ziemliche Unbildung noch mit dem selbstverständlichen Mut, Fremde deutsch anzureden, als wäre es selbstverständlich, daß sie verstünden, doch ohne Frechheit, half uns gut durch. Die meisten Holländer verstanden es genügend, und gaben häufig mit ausgezeichnetem deutschen Akzent, nur mit holländischen Vokal- und Konsonantänderungen Antwort. Dabei lernte man treffliche Menschen kennen. Der Schutzmann auf dem Bahnhof, der Herr im Zuge nach Haag, der über das Land gut Bescheid wußte, auf der Rückfahrt der Hausierer mit seinem 1000-Mark Korbe voll Delft- und Chinaporzellan, und der Harmonikaspieler, der ein Instrument von über 300 Mark hatte und auf ein Generalabonnement für 240 Gulden immer auf der Rotterdam-Haager Strecke hin und herfährt und nach dem Spiele absammelt.

In Rotterdam auf den Turm der Groote Kerk. 325 Stufen, eng, zum Drehkrankwerden, aber eine gut orientierende Übersicht. Hunderte, ja tausende von Giebeln wie Kartenhäuschen, gerade Straßen, unendlich viele Windmühlen, die zum Regulieren der Kanäle dienen, die oft weit über dem Niveau der Wiesen liegen. Das Innere der Kirche nicht zu sehen, weil an beiden Seiten das Gestühl amphitheatralisch hinaufgebaut ist und die Hinterwand daher recht hoch ist. Schlechte verdorbene Luft wie nach Mäusedreck und alten Kleidern. Nüchtern, nicht recht befriedigend. Glockenspiele überall, sogar auf der Börse. Eine ziemlich große Anzahl guter Straßenhäuser, kein hervorragender Bau aber.

Schöne Eisenbahnfahrt nach Haag. Schiedam mit den vielen (angeblich zweihundert) Schnapsfabriken, jeder spricht vom Genever, schön gelegen ebenso Delft mit herrlichen alten Häusern, alter Kirche. Holländische Königsgräber. Wiesen mit viel viel Rindern, auch Schafen. Weiden am Rand vielfach. Weiches, klares Licht. Unglaublich anheimelnde Bauerngehöfte, tiefdunkelrot, oft beinahe schwarz. Haag wenig Bäume, noch schönere, zierliche, um ein Stockwerk niedrigere Häuser als Rotterdam, als wäre für jedes volle Hunderttausend in einer Stadt ein neues Stockwerk reserviert.

Ungemeiner Eindruck von der Galerie im Mauritshus. Rembrandt, Vermeer, Wouwerman, Potter-Reproduktionen gekauft, weil sich darüber nicht reden läßt.

Die Stadt angesehen, die noch schöne Gegend nach Rotterdam gesehen. In leiser Angst, das Schiff könne schon gegangen sein.

Wir waren ziemlich hungrig, aßen aber nicht mehr, und bekamen auf der »Goeben« nur Kaffee und Kuchen. Bald Abfahrt.

Ein kleiner Dampfer (»Titan« hieß er) schleppte hinten was er konnte, die Schraube schlug wild aus, aber unser Schiff rückte und rührte sich nicht. Vorn zwei andere Dampfer. Endlich ganz ganz langsam.

Himmlische Ausfahrt. Mit der Wehmut scheiden zu müssen. Vorbei zwei Dampfboote, in deren jedem wohl hundert Arbeiter standen. Viel Schiffe aller Völker. Abendliche Ufer mit Weiden, Goldlichtern, triefend, Sanftes überall, schönste Form. Gehöfte, kleine Städte. Die Maas wird breiter.

Jetzt schreckliche Musik auf. Ich fliehe.

 

Freitag, den 17. April.

Gestern noch lange abends an Bord gestanden. Wenige Menschen draußen. Das Schiff wächst einem auf der Fahrt. An vielen Leuchttürmen und Feuerschiffen vorbei bei langsamer Fahrt und ruhiger See. Das Schiff schief beladen. Ein Matrose kletterte im Takelwerk herum und nach Beendigung seiner Arbeit blieb er doch eine Weile mitten auf der Strickleiter stehen und sah hinaus. Wir fuhren gerade in den Orion hinein. Am Horizont schwarze Dunstbänke. Der Rauch von unserem Schlot ließ sich in zwei schwarzen Ballen wie Dämone von den Sternen herunter.

Die Nacht war ruhig. Ausgeschlafen, als der tiefe Baß unserer Pfeife, die so tief ist, daß der Ton auseinanderfällt, mich weckt. Wir liefen in den Antwerpener Hafen ein. Weil er nicht verschachtelt ist, wirkt er nicht besonders groß, obschon er einer der größten Europas sein soll. Fast keine Segler. Aber viel Dampfer in der Größe des unseren. Rasch angezogen und das Anlegen beobachtet.

Zweimal gefrühstückt, dann auf in die Stadt, die großartige Kathedrale betrachtet. Das Schönste vielleicht der Turm, hoch und schlank, lange Linien hinauf, Pfeiler, die frei stehen und den Mittelbau begleiten, nur mit Schwibbogen in mehreren Stockwerken mit diesem verbunden. Das Innere gibt zu den frischen Eindrücken der gesehenen Kirchen einen mehr, der sie wie Strophen eines erhabenen Chorals fortklingen läßt. Ebenso die schönen Giebelzunfthäuser an der Grande Place. Weg bis zum Bahnhof belebt, aber unschön. Drei Banken konnten nicht italienisches Geld einwechseln. Auf der Place Verte Blumenmarkt: wunderschöne Farbzusammenstellungen der Hortensien.

Fahrt nach Mecheln. Schattende Himmel, wie ein Silberstaubfall zur Erde geworfen. Alle Obstbäume blühen dick voll, fast alle anderen ganz grün, das Getreide hoch und viele Wiesen. Schöne Dörfer und Gehöfte nach belgischer Weise fest und schwer. Überall Bäume eingestreut, die Pappeln mit hundert Rispen auf wie riesige Wedel.

Mecheln eine sehr stille Stadt. Wind und Staub das Lebhafteste. Alte Patrizierhäuser, schmal, viele mit rotbraunen Dachpyramiden, deren Linien meist verbogen sind. Der Anstrich ist bleich, hinter den Staubschleiern wie eine Vision, gewunden in leichtem Bogen viele Straßen, bei dem unendlichen Staub so als zerfielen sie und flögen mit davon. Heißes weißes Licht. Alles beherrscht aber die Kathedrale St. Rombaut – schwerer dunkler Turm ohne Haube, fast hundert Meter hoch, breit. Aufschichtende Linien zwischen hohen, edlen, dunklen Fenstern. Vögel schwirren gerade zahlreich herum. Innen zwei niedrige Schiffe und dazu ein sehr hohes. Glasfenster in edlen Farben, die ganz milde aufglühen in der Sonne. Im Chor wie ein Regenbogen zerlegt nebeneinander. Ergreifend schöne Durchblicke hinauf. An der Dyle, schmutziges Wasser trotz des Einflusses von Ebbe und Flut, malerisches Gerumpel von Dächern und Höfen. Botanischer Garten schließt dicht daran, dabei eine Mädchenschule, edler Palast. Aus der Jesuitenzeit eine gute Fassade, innen stimmungslos, schwarze Rippen und Türen in Weiß. Barockportale und Altäre in der ganzen Kathedrale. Uraltes Tuchhaus auf dem Markt. Zu mehreren Ansätzen der Linien schöne Giebelbauten herum. Manche Straße ohne Trottoir, was sie noch verwunschener und vornehmer macht. Am Quai au Sel Fischerhaus und andere, zwei uralte Holzhäuser in derselben Weise. Alles sehr sauber gehalten.

Gegessen in einem Restaurant am Markt ganz nach französischer Art. Lange Tafel, französisches Brot, ein ausgezeichneter Landwein, vollkommen zubereitete Speisen. Viele belgische Offiziere essen dort, aber in einem separierten Raum. Viele kleine Schaufenster mit sehr billigen Waren. Erfreulich, wie zweckmäßig alles aussah und auch wohl eingerichtet war.

Jetzt, ein paar Stunden später, klingen mir alle gehörten Glockenspiele dieses Landes und Hollands in den Ohren, und der Riesenturm von Mecheln erhebt sich schwarz ins Klare.

Auf der Straße Rekruten. Unbändige Lustigkeit, mit negerhafter Grazie tanzten sie, aber wirklich graziös, eine Freude für Auge und Herz, Harmonika spielend. Die vielen Pfarrer mit den engen Mänteln und den glatten Hütchen aus Velours.

Graue zerbröckelnde Häuser, nicht gehalten und restauriert. Sie sehen aus, als wollten sie der Luft ähnlich werden, die sie umfliegt. Heute ist sie südlich und sommerlich.

Kleine bescheidene Balkons, niemand in den Fenstern, viele verhängt. Uberall aus den Gärten sproßt es von Bäumen. Um die Kathedrale Stechpalmenbäume.

In einem Café am Bahnhof Kaffee getrunken und weiter nach Löwen (Louvain). Dort Sehnsucht heim. Kleine Städte sind oft wie in sich verloren und weisen ab. Sehr allein. Aber beim längeren Wandern nahm mich das viele Schöne auf, und so gehörte ich doch dazu. Schöner Bahnhofsplatz, dann eine gleichmäßig vornehme Straße herunter, vielfach die Jalousien heruntergelassen.

Eindruck einer Barockstadt, nicht unähnlich Bamberg. Köstliche alte Palais. Um die Grande Place das Schönste. Freilich alles gotisch. Das Rathaus, unendlich zierlich und reich im Einzelnen, gilt als der schönste gotische Profanbau in Belgien. Für mich ist er das nicht. Dagegen ist St. Pierre gegenüber so beglückend wie weniges durch seine Verhältnisse.

Von viel Volk wie durchblutete Stadt. Kinder überall.

Schmale Gäßchen, oft Engpaß genannt, wo dann, wie auch hier in Mecheln, steht: verbod ze wanderen. Hinauf und hinunter Durchblicke, schmal, verwinkelt. Sehr viele schöne junge Mädchen quellen da überall heraus. Dann ein verbreiteter Typus mit sehr schöner Gestalt und dickem, wohlgeformtem Gesicht, selbst bei ganz jungen. Aber üppige Oberkörper. Immer wieder und wieder.

Jedes dritte Haus Estaminet. Weit hinaus verlaufen in Vororte und nicht gleich zurückgefunden. Armeleutegegend. Phantastisches Gerümpel von Häuschen, Reihen nach demselben Muster mit engen Stiegen. Überall blanke Messinggriffe an den Türen.

Jetzt in dem fürchterlich wackelnden Schnellzug zurück. Das Schiff ist schon wie ein Stück Heimat.

 

Sonnabend, den 18. April.

Gestern an Bord niemand getroffen. Das Schiff wie ausgestorben. Darauf noch einmal ausgegangen in die Hafengegend. Amüsierlokale aller Art, Puffstraßen vom Hafen gegen die Kirchen zu. Faule Weiber vor den Türen, meist ein Tuch um die Schultern. Man wird überall angesprochen, flämisch, französisch, deutsch, englisch. Mittelmäßige Sorte. Trunkene, aber wenig Matrosen. Ab und zu ein Schutzmann, kein Geström in den Straßen. Bei den größeren Cabarets und anderen Tingeltangeln stehen Portiers vor den Türen, die einem rote Programme in die Hände drücken über Spezialitäten, Gesänge, dezentes Programm steht drauf. Aber die Worte, mit denen er es überreicht: Damme gefällig? Die Schaufenster und Laternen voll verlockendster und wunderbarster Aufschriften, meist deutsch, die Hälfte bis dreiviertel.

 

Sonntag, den 19. April.

Unverändert strahlendes Wetter. Jetzt wünschte ich doch, wieder aus dem Hafen herauszukommen. Unermüdliches Gepolter der Krane und Dampfmaschinen, die Eisen einladen – unbegreiflich, wieviel solch ein Schiff tragen kann.

Gestern nach Brüssel gefahren statt der beabsichtigten Eisenbahnfahrt nach Brügge, weil das zu lange dauert. Sonst ist das Eisenbahnwesen hier herrlich. Kleine stille Städte haben riesenhafte Bahnhöfe. Der Brüsseler Nordbahnhof übrigens sehr schäbig, sonderbar mit seinem Saal mit Barriere wie ein Theater aufsteigend, wo das Publikum auf die aussteigenden Passagiere warten kann. All die Herrlichkeiten wieder begrüßt, Museum, größter Eindruck die Weinende Frau von Roger van der Weyden und von van Eyck Adam und Eva vom Genter Altar. Vielleicht sind das doch die schönsten Tafeln daran. Im Botanischen Garten gesessen, wo reizende anmutige Kinder spielten Bonjour Madame. Ausgezeichnet gegessen, wie das in Brüssel ist. In einem Café auf dem Boulevard Anspach flutendes Leben. Ein kleiner chinesischer Junge blieb im Gewühl stehen und machte Kunststücke im Messerwerfen. Ein noch kleinerer mit hübschem grimassierendem Gesichtchen hielt sich abseits und fürchtete sich. Schöne Damen. Ich war erstaunt über den großen Verkehr. Als ich aus Paris kam, schien mir das Städtchen viel kleiner. Der Zug, der in dreiunddreißig Minuten hierher nach Amsterdam zurückgeht, lief so ohne Widerstand, daß man das Gefühl des Fliegens hatte. Ja, das Gefühl der geringen Reibung, des allzu glatten Gleitens auf den Schienen war sogar ein wenig unbefriedigend. Unglaublich viel geschmacklose Reklame längs der Bahn. Mehr als in Deutschland. Große Tassen, haushoch, Liköre, Magazine. Zwei Betten, plastisch aus Brettern zusammengeschlagen und bemalt. Riesig. Wenn da ein Strolch schlafen geht oder einmal einer tot aufgefunden wird!

Abends mit Dauthendey nach dem Essen im Rauchsalon gesessen und in schönem Gespräch bis Mitternacht getrunken. Altes Thema, über die Kunst, über Menschen und Menschlichkeiten. Wir kamen uns nahe. Dauthendey hat viel Gescheites, Erfahrenes und Gefühltes geäußert.

Zwei Nächte allein geschlafen. Es sind viele neue Passagiere hier an Bord gekommen.

Heute durch eine andere Stadtgegend nach den Museen gegangen. Ausgezeichnete Sammlung alter Meister: van Eyck, Memling, Roger van der Weyden, Rubens, ausgezeichnete, Frans Hals, ein mäßigerer Rembrandt. Vieles vieles andere. Prachtvollste Stunde. Habe viele Abbildungen gekauft. Haus mit der messingschen Vrewdfraw Accoucheuse. – Auf dem Rückwege durch gleichmäßig stille Straßen, doch nicht häßliche Häuser. Der Binnenhafen aber abschreckend an Geschmacklosigkeit der Bauten, groß und klein, Zahnlücken, alle Farben, in sich und zusammen unerträglich. Davor Kräne, architektonische Monstra von Unterbau, Masten, Gestänge, Maschinen, schwere Wagengestelle wie unter Eisenbahnen. Herumliegendes.

In der Gegend des Rubenshauses in der sonst sonntäglich unlebendigen, nur in den Hauptstraßen verkehrsreichen Stadt ein Straßenmarkt. Kreise um die Ausrufer, Pfefferkuchen, Kämme, Haaröl, ganz kleine farbige Kaninchen, Tauben, Hämmer, Zangen, Nägel, Gefäße, Bäckerwaren, allerlei. Ein Mädchen aß die eigenen Sachen auf. Viele schöne Schlanke, enge Röcke, Tücher um die Schultern, sauber gekämmtes glattes Haar, trifft man immer. Andächtig stand das Publikum in Gruppen um die Ausrufer.

Am interessantesten die Sänger. In der Mitte des Kreises ein Harmonium, drauf spielte eine Frau Walzer, Märsche, Volkslieder auf neue Texte in flämischer Sprache, die gegen 10 Ct. verteilt werden. Zwei Männer gingen abwechselnd singend im Kreise herum und übten die Weisen ein, die nachher allgemein gesungen werden. Ein anderer verkaufte für 1 Fr. sehr wohlklingende Klarinettchen, die er sehr ausdrucksvoll zu spielen verstand. Ich kaufte mir auch eine, aber sie ging nicht. In den beigegebenen Erklärungen, Elementarunterricht, befand sich unter anderem auch die: Das Instrument schräg von sich halten in der Pose des wahren Klarinettisten. Aber es ging doch nicht. Ich habe das Instrumentlein gleich in die Scheide geworfen. Wolkenloses Silberlicht, das andere Ufer verklärend. Die deutlichen Silhouetten der Häuser erhalten dadurch einen feierlichen Ausdruck.

Weil nicht Kohlen geladen werden, auf dem Schiff die höchste Sauberkeit.

 

Montag, den 20. April.

Wir schwimmen auf der Scheide. Heute um acht hat das Schiff den Antwerpener Hafen verlassen. Viele neue Passagiere sind an Bord gekommen. Mehr fremde Sprachen. Eine Mulattin läuft übers Deck und macht weitausholende Gesten. Sie selbst ist drei Käse hoch, wie dick, ist unter dem schlotternden Mantel verborgen.

Bei der Ausfahrt war die lange Brücke über den Hallen ganz voll besetzt von Menschen, von denen viele winkten. Es waren aber die wenigsten Angehörige von Abfahrenden. Stolzgefühl, auf dem großen Schiff langsam hinauszuziehen. Die Musik spielte Tänze. Erst jetzt übersah ich, wie mächtig doch der Hafen ist, was sich noch alles zur Seite fortbuchtet. Ganz gut ein halbes Hundert großer Dampfer mag dort liegen, und im Hinausfahren aus der Scheide begegnet man Schiff auf Schiff. Der weitaus größte Teil ist deutsch.

Wehmut beim Zurückbleiben der Stadt. Das Wasser der Scheide ist schmutzig, es quillt vom Kiel oft fort wie graue Rauchwirbel. Klar die Ufer. In den Tagen, die wir hier liegen, sind Massen von gelben Blumen aufgeblüht. Längs der Ufer immerfort zarte Baumalleen wie aufmarschierte Soldaten. Ganz leichter Dunst, leichte Brise.

Noch immer kennen sich sehr wenige. Die alten kleinen Gruppen, die es von Anfang an gab, sprechen noch immer untereinander.

Der Maler H., mit dem ich am gleichen Tisch sitze, zeigte einige kleine Bilder vor, italienische Landschaften, Pastelle und Ölskizzen. Am schönsten der Ätna von Taormina aus. Doch nichts wirklich Bedeutendes. Manches mit einem Beigeschmack von Kleinlichkeit. Man durfte nicht nebenbei auf das offene Meer hinaussehen.

Es ist jetzt zwischen drei und vier nachmittags, etwas neblig. Die Schiffe, die auch hier zahlreich vorbeiziehen, haben darin alle etwas Phantomhaftes: Ein zweimastiger Segler mit schneeweißem Zeug schien das Wasser nicht zu berühren. Er hatte darin etwas dem Menschlichen leicht Entrücktes. Sogar ein Frachtdampfer schwebte in einem milchigen Geschieht, darunter und davor spritzten die Schaumkämme porös ins frische Blau. Um den Horizont liegt ein Farbenstrang wie ein verblaßter Regenbogen. Das Schiff ist schon so groß, daß seine Bewegung nur langsam scheint. Erst an den anderen, besonders denen in entgegengesetzter Richtung läßt sich das rasche Gleiten bemerken.

 

Dienstag, den 21. April.

Gestern abend war ich recht müde. Zu früh aufgestanden. Aber bei dem angenehmen Leben hier ist jeder Zustand angenehm.

Gegen Abend kamen wir an die englische Küste. Immer wilder meldete sich ein Gefühl: Also jetzt sehe ich das. Jetzt erlebe ich dies. Stundenlang Lichter am Lande, viele Leuchtfeuer. Die Schatten und Lichter des Schiffes strichen über das sanfte, fast unbewegte Wasser. Schnurgerade Lichtstriche, wohl kilometerlang, in gleichen Abständen zwischen den Leuchtmarken, längs der Küste. Hin und wieder auch Licht darüber.

 

Mittwoch, den 22. April.

Ein neuer Mann in der Kabine von Southampton aus. Ein Engländer, der nicht deutsch spricht, so wie ich nicht englisch. Wir versuchten es jeder in unserer Sprache, was etwas sehr Komisches hatte, und einigten uns dann auf französisch. Wir kommen sehr gut miteinander aus.

Des Morgens gestern einen Ausflug nach Southampton gemacht, auf einem Tender, »Her Majestic«. Southampton ist der schönste Hafen, den wir bis jetzt angelaufen haben. Viele gleichartige Schiffe vorn vor der Einfahrt verankert, sehr große zunächst, dann zierliche, ganz weiße. Dazu die schönen Ufer, zuerst ein Rasenstück flach, darüber sanfte Hänge voll schöner runder Bäume, so auf beiden Seiten. Villen, Schlösser, ein Monumentalbau, der ein Krankenhaus sein soll. In der Ecke die Stadt. Wiederum gewaltige Schiffe. Irgendwo draußen soll der »Imperator« liegen. Die Stadt freundlich, kaum ein hervorragendes Gebäude, aber auch wenig ganz schlechte. Appetitliche Geschäfte, Fleisch, halbe Rinder und ganze Hammel, Marmeladen, Obst. Kräftige, meist gut angezogene und ausgezeichnet gewachsene Menschen, schöne Mädchen. Der englische Typus, der uns immer auffällt, verschwindet wieder hinter den vielen persönlichen Spielarten. Graue Festungswerke, an denen gelb blühende Blumen, groß, kleine wie Mauerpfeffer und Efeu ranken. Forts. Das schönste an der Stadt sind die alten, gepflegten, vierreihigen Alleen und Squares mit wunderbar üppigem Rasen. Nach außen Cottages, Villen, meist mit runden Vorbauten und Schiebefenstern. Diese außerordentlich behaglich und wohnlich. Weil ich wohl zehn- oder zwölfmal sah, wie ein Mädchen einem Herrn oder einer Dame öffnete und sie empfing, machte ich diese Besuche im stillen mit. Hinter der Stadt auf leicht hügeligem Boden zwischen Rasen wieder verstreut große runde Bäume, an den Säumen der prachtvoll gehaltenen, meist asphaltierten Wege hohe Ulmen. Malerisches, niedriges Gemäuer an den Seiten, überwuchert, überblüht. In der Stadt Holzpflaster. Keine hohen Häuser, häufige Zwischenräume zwischen ihnen. Die stattlichen Eisenbahnen klein vor den Riesendampfern. An Geringfügigkeiten habe ich den Geschmack des Landes, so hier an der Form der Lokomotiven; die ich sah, trugen alle in großer Aufschrift ihre Namen, an der Form der Laternen, hier breit und platt (wie mir das schon in Holland eine Handhabe des Gefühls war), an jenen runden Vorbauten vor den Häusern. Droschkenfahrt in dieser Stadt.

Die Rückfahrt im Tender brachte Bewegung. Wir fanden ihn vollgestapelt mit Bergen von Gepäck und die doppelte Zahl von Menschen fuhr mit, meist Engländer, eine Inderin, eine Malayin mit Kindern. Fast dunstige Hitze, wie wir sie selten im Hochsommer haben. Wir wurden auf unserem Dampfer mit Marschmusik empfangen; sie ist übrigens verhältnismäßig viel besser als die Streichmusik bei der Mahlzeit.

Dann plötzlich ein Gedränge und Gewimmel. Man glaubt, man wird überhaupt nicht mehr, ohne sich durchzudrängeln, an Deck sein können, aber schon nach wenigen Stunden hat sich alles verkrochen und verlaufen. Ich weiß nicht, wo alle geblieben sind. Der Speisesaal reicht nicht mehr aus, es wird auch im Salon gedeckt. Ausgeladen wird frischer Proviant. Unsere fleißigen Chinesen tragen Hunderte von in weiße Tücher prall eingenähten Hammelschinken, Kisten voll Seefischen, von denen eine platzt, Gemüse. Die Ausladung geht in wenigen Minuten vor sich, und sofort fahren wir ab. Noch einmal zwischen den grünen Bäumen der Bucht entlang, dann hinaus auf den hellgrün gefärbten Kanal.

An der Insel Wight entlang. Kanonen und Forts wie in Southampton. Dort sehen die zugestopften Strandkanonen aber mehr wie Schmuckgegenstände aus. Ackerstreifen. Üppige Bäume wiederum. Es überträgt sich irgendwie der Duft einer großen Fruchtbarkeit. Dann die Kreidefelsen steilauf grauweiß ins Meer. Hunderte von breitschwingigen Möwen flattern herum, umschwirren das Schiff, brausen weiß und in einem grausamen Tanz hinter einem hohen mächtigen Schiffe her. An der Spitze der Insel The Needles. Drei scharfe nackte Felsen im Wasser, der mittlere wie ein ruhendes Kamel mit abgeschlagenem Hals, umgekehrt, gegen das Land gerichtet, wie ein kauerndes Kaninchen. Obwohl nicht sehr groß, haben diese Felsen durch ihre Bestimmtheit, durch ihre entschiedene Richtung gerade von der Ecke ins Meer, etwas Großartiges. Die in flachem, scharfrandigem Bogen überwölbte, gehöhlte Küste der Felsinsel selbst ist viel höher. Dann öffnet sich der Kanal, der hier so breit ist, daß man längst keine Ufer mehr sieht, entschieden gegen ihre Steile.

Das Herz vergißt nicht, strömend wieder ein Stück seiner Heimat auf diesem Stern zu begrüßen, wenn man auch scherzend zu dem und jenem ein Wort sagt und wie sonst in dem gierigen Haufen zu dem Kaffeetisch an Bord läuft. Über den Ozean ist zu bemerken: Eine starke Dünung verläuft gegen das Schiff. Es beginnt recht stark in seiner Längsachse zu schaukeln. Die Wasserfläche ist fast unbewegt, nur bei sehr genauem Ausschauen bemerkt man zwischen breiten flachen Flächen Erhebungen. Langsam, voll Majestät kommen sie heran.

Gegen Abend ging ich mit meinem Empfehlungsschreiben des Lloyd zum Kapitän und plauderte mit ihm lange auf dem Bootsdeck. Er ist ein sehr einfacher Mann, der eine hohe Bildung auf seinen Gebieten zu haben scheint, in anderen aber ganz unbewandert ist, so natürlich die Künste. Er gesteht freimütig, von der Welt nicht viel zu kennen, wenn er auch die ganze Welt kennt. In den Häfen muß er auf dem Schiffe bleiben. Nur in Yokohama, wo es vier Tage liegt, kann er sich für drei freimachen und reist jedesmal in einem anderen Stückchen Japan, um es allmählich kennenzulernen. Mit einer herzlichen Wehmut, die auf Kämpfe oder Zerwürfnisse zu deuten scheint, erzählt er von seiner Mutter; dann, die Chinesen seien fleißige Arbeiter, sie seien schon Jahre lang an Bord, teils in der Küche, teils im Aufwaschraum. Auch Stiefelputzer. In der Heimat stiegen sie aus und schicken ihre Verwandten und Bekannten. Die fahren bis Yokohama, der Endstation, und zurück. Dort steigen wieder die alten nach ihrem Besuch in der Heimat an Bord. Eingeladen wird überall, auch Kohlen überall nachgefüllt. In Rotterdam waren wir aufgelaufen, ohne es zu merken, daher lag nach Auspumpen des Wassers das Schiff bis Antwerpen so schief. Mir soll das Innere des Schiffes gezeigt werden. Wir sind jetzt etwa fünfhundertfünfzig an Bord, darunter hundertsiebenundneunzig Passagiere zweiter Klasse, dritter Klasse fahren nur wenige. – Sehr weiter Turnsaal oben, wo Gespenster von Pferden und Kamelen maschinenhaft deren Bewegungen nachmachen. Unser Dampfer hat 8800 Tonnen und ist ein mittleres Schiff der Gesellschaft. Über die doppelt belegten Zimmer klagen alle, die ich gehört habe.

Nach dem Abendessen waren wir: Dauthendey, L., Maler H., Frau Dr. M. und ich im Kinderzimmer, weil der Rauchsalon jetzt zu klein und gar zu sehr besetzt ist. Wir haben uns ein paar Stunden gut unterhalten.

Noch einmal herunter nach dem vorderen flachen Teil des Schiffes, das dort in völliger Dunkelheit liegt, damit man von der Brücke sehen kann. Auch der Ozean eine hängende, lastende Nacht. Das einzig Vorhandene neben uns waren die weißen Fahrwellen des Dampfers, großartig gezogen, wenigstens einen Meter hoch, viele breit, in schäumenden Wülsten auseinanderpreschend. In jeder wenigstens hundert leuchtende Punkte. Feuerchen, die von unten heraufzucken. Dieses Meerleuchten weckt mir wieder den ungeheuren Begriff von unserer schaurigen Lebenseinsamkeit und der Milliarden Lebenseinsamkeiten der Wesen, die überall um uns sind, hier der Feuerträger der schwarzen Tiefe. Man überrascht in ihnen die Welt, die man vergaß. Kein unendliches Licht irgend herum, nicht viele Sterne auch, da es dunstig wird. Ab und zu ein Dampfer kommt immer vorbei. Ich sehe mir jeden an. Das triviale Wunder, übers Wasser zu fahren, verliert dann seine Trivialität.

In der Nacht gab es Nebel. Um ein Uhr fingen die Dampfpfeifen an, lange, das ganze Schiff erschütternde Signale zu schreien. Die Kabinenfenster nach dem Brückendeck standen weit offen und die Pfeifen sind bloß zehn Meter davon entfernt. Ich fuhr erschreckt auf und schlief sofort wieder ein, nach zehn bis zwanzig Sekunden aber kam wieder ein Schrei. Ich schlief sofort wieder, und so eine ganze Weile. Dann gewöhnte ich mich daran wie wunderbarer Weise an allen Lärm hier an Bord und erwachte nicht mehr. Des Morgens ein schönes Bad in warmem Seewasser genommen, an Deck promeniert und gesehen. Der Horizont erhebt sich langsam über die Reling, bleibt ein Weilchen und sinkt dann wieder zurück. Heute früh Wolken am Himmel, zum ersten Mal auf der Reise. In grauen Streifen, so daß auch der Ozean grau und ernst war. Aber während ich auf dem Bootsdeck auf einem Kabeltau zwischen zwei Rettungsbooten sitze, sinkt es von oben herunter. Gütige Hände streuen Indigo ins Meer. Nur noch unten am Horizont lasten grauweiße Streifen, oben flattert ein wenig weißes Ziegenhaar. Die Luft war auch in der Nacht ziemlich weich, jetzt durchwärmt sie noch die Sonne. Ich glaube schon den Süden zu spüren. Wir sind mitten im Golf von Biskaja. – Die Begegnungen an Deck zwischen den meisten wie unter Fremden auf der Straße. Wir sagten gestern im Scherz: Wir gehen noch auf die großen Boulevards.

 

Donnerstag, den 23. April.

Es wurde gestern bis an den Abend klarer. Nur kurz nachmittags breitete sich ein jäher Nebel aus. Weiß, gestaltlos zog es sich hinter dem Schiffe zusammen. Manchmal schwarz wie ein schwarzer Kern ein anderes Schiff darin, wie etwas, was zugehörig sich darin bewegte. Das Wasser war perlgrau bis schwarz. Die Temperatur sank so, daß man ganz gut einen Mantel gebrauchen konnte. Der offene Ozean wurde bis zum Abend immer spürbarer. Die breiten Dünungsflächen bei scheinbar unbewegter See rückten in atmenden Abständen immer wieder heran und hoben das Vorderteil und Heck wohl ganz gut einen Meter hoch. Heute, da wir aus dem Golfe heraus sind, ist es weit ruhiger, eine Bewegung knapp spürbar, allerdings ist die Faltung der Oberfläche weit größer.

Nach dem Abendessen war das Heraustreten an Bord überwältigend. Die Kuppe des Himmels hatte sich völlig geklärt, in einer zinnoberroten Lache stand groß der Abendstern, und über dem Meere waltete ein schwarzer, undurchdringbarer Dunstgürtel. In überstürzender Eile kamen die Sterne, voll und sehr hell. Der Orion watete mit dem einen Beine tief in jenem Dunste. Hinter ihm her ging der Sirius auf und warf einen breiten, intensiven Widerschein über das Wasser. Ich stand mit dem Kapitän an der Reling, wir sprachen. Es sei schlechtes Wetter nicht ausgeschlossen. Die Sterne stünden so tief herab. Dagegen spräche aber der breite Schaum ums Schiff, der bliebe. Bei Aussicht auf Witterungsumschlag verliefe er sehr schnell. Etwas später begann das Meer zu leuchten. Sah man dicht neben dem Buge hinab, so schwammen da wilder die eingestreuten Funken, die etwas ferner aufkommenden Wellen waren wie Quecksilber. Wir gingen auf das Hinterteil des Schiffes. Die große Rudermaschine lag in ihrem Haus mit vergitterten Türen im gelben Schein von ein paar Glühbirnen, röchelte und polterte und warf ihre großen, mathematischen Stiele hin und her, nach Öl duftend, manchmal quoll ein leichtes Rauchwölkchen heraus. Draußen aber hing die Sternentraube tief über das Gestänge und das Heck hob sich sehr hoch und senkte sich tief. Eine breite, quirlende, silberne Straße verlief dahinter gegen die Milchstraße zu, phosphoreszierend und mit jenen Goldflittern untermischt. Ab und zu die Lichter eines Schiffes. Oben die Straße des schwarzen Rauches in der Milchstraße, aber die Sterne, die hellsten wenigstens, blieben dennoch.

Der Kapitän erzählte, es sei noch ein Schriftsteller, Deutscher, an Bord, ein Fräulein G. in der zweiten Klasse, außer Dauthendey und mir. Morgen solle das Schiff gezeigt werden.

Bei Tisch die sentimentale Musik: Du mein schönes Sorrent, usw. Sieht man auch durch die Fenster auf das Meer, man vergißt es doch.

In der Nacht war es ganz lau. Nach dem warmen Seewasserbade herab. Im Sonnenschein ganz nahe standen die spanischen Berge. Wir waren vor Kap Finisterre. In herrlichen Linien verlaufen die Berge, mäßig hoch, die Ausläufer der Pyrenäen, Galicien. Selig hellgrüne bis hellblaue Flut davor, Möwen darüber, Sonnenduft, Wärme. Die Möwen, ohne mit den Flügeln einmal zuzuschlagen, streifen die Höhe des Bergzugs herunter, bedecken mit gebreiteten Flügeln zwei, drei Kuppen. Hier ist das Meer ein Tanzsaal für selige Geister. Seine Tiefe an dem Morgen 1200 Meter, am Mittag 2600 Meter, und gegen Abend werden wir 3600 Meter Wasser unter uns haben. Man möchte schwindlig werden, wenn man es sich deutlich vorstellte.

Der Himmel war wolkenlos, durchsichtig grün, erst beim Einbrechen des vollen Tages hob sich über dem Gebirge eine Wolke auf und wurde dann eine flaschengelbliche Reihe. Die tanzenden Wellen, die sich gegen die Sonne neigen und beugen, sind in ihrem Aussehen eine Sonne selbst.

Von zehn bis Mittag Führung durch das Schiff vom Ersten Offizier. Interessant aufs Äußerste. Alle Schiffe wachsen nach unten. In den verschiedenen Lichtern wächst und schrumpft es natürlich, von äußerem Gesicht zu seiner inneren Vision.

Etwa die Luftzieher, die in den unteren Räumen münden, scheinen des abends und nachts aufgeschossen wie die Spargel und schrumpfen in der Helle. – Das oberste Deck, das nichts enthält, über der Brücke, es weist rund über das Meer. Davor liegt das Brückendeck. Die Brücke selbst mit dem Kompaß, wo ohne eine Sekunde Ruhe ein Matrose das Ruder dreht. Die Deklination durch Eisenkugel aufgehoben, groß, rechts und links unten. Die Nadeln der Rose ein schwebendes Spinnengewebe. Alle Teile drei Meter im Umkreis aus Messing. Kartenschrank und Kartenzimmer, eine von unserer spanischen und portugiesischen Küste, sehr genau, mit Glashalbkreis und Quadrat beschwert, mit dem Zirkel daneben, auf einem Tisch ausgebreitet. – Hinter der eigentlichen Brücke, die mit Teppichen wohnlich ausgelegt ist als ein rechter Thron über dem Meere, nach Zimmer für den Kapitän und den Ersten Offizier, rechte Villen. Der Erste Offizier fürchtete in halbem Scherz, daß der Wind sie einmal fortführt. Also von hier die Herrschaft über das Schiff und die 204 Mann Besatzung. Darunter dann das Bootsdeck. In der Mitte Wohnungen des Kapitäns und der Offiziere sowie eine Reihe Kabinen zweiter Klasse, so auch die meinige, Bäder, Toiletten. Darunter das Promenadendeck. Herum um die Reling breite Wege, etwa vier Meter im Durchschnitt im Mittelbau. Darin vorn die Gesellschafts – und Schreibzimmer, in der Mitte das schöne Kinderzimmer mit Kinderfries oben, Ledersofas an den Wänden, am anderen Ende das Rauchzimmer. Dazwischen Wohnungen und Bäder. Dann ein Zwischenraum vorn und hinten, dessen Deck das Hauptdeck ist und mit Schnabel und Heck des Schiffes wieder aufbaut bis zur Höhe des Promenadendecks vorn dritter Klasse. Unter dem Promenadendeck vom Hauptdeck. In der Mitte wieder Wohnungen erster Klasse, darunter zweite Klasse ebenso fast eingerichtet. Auch die Matrosenwohnungen, für viele eingerichtet, sauber, die Betten viel breiter als auf meinem Fischdampfer. ] Logis für die Chinesen, das dunkelste und unbequemste von allem, was ich sah. Nichts aber traurig und trostlos. Das Schönste sodann ist die Maschine, die große Halle. Mit eisernen Treppen und Galerien, durch vier Etagen riesenhafte, aufrechte Zylinder hinter ihren Gittern, ganz hoch hinauf die Ausläufer. Kolben steigen dort sicher auf und ab. Die Tourenzahl Telegraphen. Eismaschine, Lichtmaschine. Die massige ungeheure Wucht der Kolben und ihrer weißen Glieder. Die Welle so dick wie mein Körper. Alles blitzt. Herrlich. Man bewundert und bewundert. Darunter Kessel und Heizräume. Temperatur nur 22 Grad Celsius. Kohlenbunker. Laderäume. Die Ladeschächte gehen zwischen dicken Eisentüren in der III. Klasse durch, jetzt ganz zugedeckt. Zu denken, wie die Reihen von Schinken und Wurst hier weit unter dem Wasserspiegel durch diesen herrlichen Ozean getragen werden.

Selig blaues, fast violettes Meer, wo die Sonne nicht gerade hinunterscheint. Unter der Mitte bohrt die Sonne ein großes goldenes Trichterloch hinunter. Jetzt ist die spanische Sonne sehr fühlbar; steht man an der Reling, ihr ausgesetzt, so kann man es nicht mehr sehr lange ertragen. Und selbst noch bei den zurückgerückten Deckstühlen wird man wunderbar gebraten. Ich fühle mich unendlich froh und glücklich. Wir sind jetzt mitten vor Portugal. Schon viele weiße Beinkleider an Deck, ausgezogene Jacken, leichte Blusen. Es werden jetzt viele Deckspiele gespielt.

Der Himmel wieder ganz wolkenlos, die Sonnenhälfte weiß mit durchscheinendem Blau, die andere völlig blau. Gegen Abend das Meer tiefviolett-blau. Der Himmel sinkt immer tiefer in sich hinauf. Auch in der Dunkelheit bleibt die Wärme da. Ohne Kopfbedeckung oder gar Überzieher kann ich auf Deck spazieren gehen. Auf dem Bootsdeck sieht es phantastisch aus. Die großen Luftzieher stehen wie schwarze aufgeblühte südliche Blumen vor dem heute blasseren Sternenhimmel. Neue Bilder oben. Dauthendey sagt, das eine sei das kleine südliche Kreuz. Von der portugiesischen Küste leuchten jetzt zwischen elf und halb zwölf mehrere Blinkfeuer. Die fahrenden Feuer vor ihnen. Es gibt keine Zeit, in der man nicht wenigstens ein Schiff irgendwo sähe. Gegen neun wurden Sägespäne gestreut und bis elf war Tanzkränzchen an Deck. Es ist immerhin achtzehn bis zwanzig Meter breit, also etwa sechs bleiben für den Tanz frei. Die graziöse junge Amerikanerin war beim Tanzen nicht so anmutig wie sonst. Die älteren dicken, großen tanzten am meisten.

Ich war im Rauchzimmer mit Dauthendey, L., den beiden Moskauer Advokaten, von denen der eine ausgezeichnet deutsch, französisch, englisch spricht wie Muttersprachen, und zwei Holländern aus Java, der eine groß, grob, und der Jüngere intelligent, das trockene, gewissermaßen grausam pfiffige holländische Gesicht, Arzt. Der andere Kleinere auch sehr holländisch, nun wohl an zwanzig Jahre Leben drüben, auch malaiisch in den Augen, Pflanzer. Sie sprechen auch gut deutsch und erzählen viel von Java. Der Arzt etwas zu bewußt und zu verarbeitet, mit großer Wachheit der Beobachtung und allem Eingeheimsten, das der Verstand geben kann, der andere künstlerischer, mit der Freude des Gefühls an den fremden Dingen, die das fremdeste auch zu Eigenem macht, ohne es in seiner pflanzenhaften Vorhandenheit zu verletzen.

 

Freitag, den 24. April.

Heute die Sonne wohl warm und man möchte sagen, der Himmel grünt, aber es weht und weht, daß man auf dem Vorderteil des Schiffes kaum atmen kann. Trotzdem werden die Wellen nicht sehr hoch, allmählich höhlen sie sich und kommen in breiten zerklüfteten Zügen. Hellgrün, durchsichtig das Meer in der Ferne, schwarzgrün nah, in besonnten Gegenden selig blau. Das Schiff bewegt sich lange nicht so stark wie bei der Dünung im Golf von Biskaya, weil es doch einen Tiefgang von achteinhalb Meter hat, dagegen die vielen kleinen Fahrzeuge, die an uns vorüberkommen, manche wie Schaukeln. Ein Küstensegelschiffchen, rot angestrichen mit schmutziggrauen Segeln, taumelt nach allen Richtungen, der Kopf tunkt sehr tief, umspült weiß, atembeklemmend zu sehen, doch nur minutenlang, dann ist die Gesetzlosigkeit Gesetz geworden. Unser Dampfer drückt hohe weiße Brandungswellen beiseite, es sprüht manchmal, wenn sie sich mit ankommenden Seitenwellen begegnen, sechs bis zehn Meter hoch. Ich habe verschiedene Ausläufer über den Schädel bekommen. Hügel von Wasser ballen sich und drücken sich seitlich davon. Oft fliegt hinter dem Schiff eine Möwe über ihnen, als gebären die nassen Krater sie. Tausende Schaumkämme. Und doch ein so seliger Himmel, daß man an ihm die Wildheit unten vergessen kann. Vor dem Buge, an der Windseite, springen unablässig große goldbraune Fische aus dem Gischt und verschwinden in langen eleganten Sätzen mit dem Kopf voran. Auf der anderen entstehen Hunderte und Tausende der reichsten Regenbogen in feinem Schaum, manchmal auch weiter im Meere draußen, immer neu, immer dahin. Die Zerklüftung der Wellen wie auf alten holländischen Bildern.

Ich habe heute die köstlichsten Landschaften gesehen, die portugiesischen Küsten bei Cap Vincent. Felsküste steil ins Meer, goldbraun zum hellgrünen Himmel und glasgrünen Meer davor, etwa zwei Häuser hoch. Unten Zerklüftung, ausgewaschene tiefe Höhlen führen schattenhaft hinein, alles ganz nackt, nur in Abständen ringt das Brandungsgespenst dahin hoch empor, mechanisch fast, immer wieder. Oben ein Leuchtturm und blendend weißes spanisches Haus, weiterhin weiße Festungsanlagen, kilometerweit gleichmäßig oben abgeschnitten und senkrecht. Kein Mensch, kein Tier zu sehen, überall unten silberige Brandungsstreifen, ab und zu sehr hoch spritzend. Wechselnde, ganz herrliche Farben auf dem Meere, schwarz, blau, grün. Der Himmel grün, rötlich dazwischen, nur in ganz fernen Höhen blau. Und dann wieder hinaus in das Ferne, wo nichts ist als das Wasser. Es rauscht heute sehr, von der Schraube spürt man nichts. Nur ein regelmäßig zählendes Knacken läuft mitunter durch das Holz.

 

Sonnabend, den 25. April.

Vor dem Abendbrot mit meinem Spanier gesprochen. Es ist doch ein Menschenerlebnis, wenn man auch nichts von Belang redet. Er ist heute ausgestiegen in Gibraltar, aber nach der Rückkehr ist schon wieder einer in der Kabine. Das ist ganz furchtbar. Jeder sollte dafür sorgen, das abschaffen zu helfen. Als ich nach dem Ankleiden an Bord kam und über die Reling sah, kam ganz dicht ein Walfisch vorübergeschwommen. Das ist hier nicht häufig. Mit einem stampfend explodierenden Schnauben stieg die Wassersäule in die Höhe, nach einer Weile wieder und nochmals. Er bewegte sich sehr schnell. Manchmal verbargen ihn die aufgeregten Wellen. Der Wind zauste in der Nacht am Takelwerk, die Wellen brüllten manchmal auf. Hoch vor den Fenstern des Speisesaals hatte man beim Essen den Schaum spritzen sehen. Gespräch im Kinderzimmer, nachts Orion und Sirius. Lange betrachtet. Leuchtfeuer ganz fern.

Heute beim Morgenrot liefen wir in die Bucht von Algeciras ein, der blaßblaue und der graue Felsen von Gibraltar war mit sanften Lichtern hoch hinaus besteckt, aus der Stadt und den Kasematten. Alles ganz still und in Frieden, nur das Meer brauste noch aufgeregt, bis wir wirklich in der Bucht lagen. Rasch angekleidet und an Deck, auf der anderen Seite, schon in Sonne, vielfach gegipfelte Hügel, dunstig, blaßblau, darüber Wolkenreihen, die intensiver und materieller waren als diese Hügel, und unten spanische Städte; das weiße Häuserhäufchen, das Algeciras heißt. Näher eine kleinere Stadt noch. Der Fels, obschon der Himmel wie nach nordischer Weise mit vereinzelten Wolken bezogen ist, eine edle und fremde Form. Es teilt sich mit, daß hier Süden ist. Sehr früh kommt der Tender »Grille« und holt uns für zwei Mark hin und zurück, was reichlich ist, gar drei für das verdammte Cooksche Reisebüro, kann einen ärgern. Ein Stückchen gefahren in einem eklig überdachten Wagen, dann das übrige doch zu Fuß. – Gibraltar mit seinen Pflanzungen an den Hängen des Felsens hinauf für mich ein Paradies. Entzücktes Staunen überall. Von fern sieht es herrlich aus, wie in einer verknautschten Zickzackmauer den Berg hinan, unterbrochen von einem alten Kastell, die Stadt geklebt ist, ein Viertel bis ein Drittel etwa den Felsen auf. Ich sehe schon von weitem am Laub, andere Bäume als die nordischen bewalden ihn. Graue Höckerchen, Häufchen, dazwischen hellgrauer Fels. Die Stadt hat viele gelbe Häuser, blendet nicht in der Sonne. Wir kommen noch in der Morgenkühle an. Etwas wie Unsicherheit, etwas wie Schweben und noch nicht Vorhandensein in meinem Staunen. Durch weißgraue Festungstore begleitet von Leuten, die ihre Fuhrwerke anbieten und Blumen verkaufen wollen, von Leuten mit scheußlichen Ansichtskarten, für Marokko gleich mit. Gleich hinter den schönen grauweißen Festungstoren, viele Soldaten wimmeln da (Garnison beträgt fünftausend), gelbbraun, und rote Jacken, strammer als Preußen vor ihrem Schilderhaus marschierend, schöne Leute, gleich hinter den Toren Stände der arabischen Kaufleute für Geflügel und Eier, auf der anderen Seite für Fleisch. Tiefbraun gebrannte Spanier. Dann durch die enge Hauptstraße mit vielen Nebenstraßen. Ich habe einen Zettel aufgehoben, orientalische Waren: Vasen, Teppiche, spanische Stickereien, japanische Elfenbeindolche, oder Imitationen. Enge, saubere Höfe, wie überhaupt alles von sehr großer Sauberkeit war. Die Blumen scheinen nicht aus Gärten, sondern irgendwo im Freien, in den Anlagen gepflückt. Manchmal Frauen, die einen vollen Blumenkorb auf dem Kopfe tragen, der breit auslädt, sie gehen sicher und stolz und stützen den Korb nicht mit den Händen. Die Deckenstickerei- und Blumenhändler treten an einen heran, begleiten oft weit und preisen an, alle zuerst englisch, dann manchmal in einem Kauderwelsch, das am Ende ein ganz verstümmeltes Deutsch ist, hin und wieder auch französisch. Die Waren kosten drin in der Stadt 20 Schilling oder Mark, weiter nach der Festung 15, bei den Wällen nur noch 5, am Hafen schließlich eine. Das Boot ist umschwärmt von kleinen Kähnen, in denen die Decken und Mamillen ausgebreitet werden und unter Reden, aber nicht unangenehm aufdringlich, angepriesen werden. Nahe Menschlichkeit, die mir äußerst wohltut. Ruppige Pferdchen, klein, mit vielen Decken. Was aber unendlich schön ist, das sind die Hunderte von Maultieren und Eseln, die klug und hilfsbereit die breiten Lasten tragen, niedrig genug, daß man sie sieht und die so gescheit und aufmerksam bei ihrer äußeren Ruhe durch die Straßen gehen. Die Treiber meist daneben, manchmal darauf. Die Araber hohe, schöne Gestalten, weiße oder braune Gewänder, Turbane, nackte Beine und Sandalen. Auch hier die meisten sauber. Es war für mich eine Märchenwelt. Ich erstaune nicht über das Fremde, sondern über die netten adretten englischen Mädchen dazwischen, die alle das Haar in zwei Zöpfen trugen.

Völlig märchenhaft wurde es in den Anlagen hinter der Stadt den Berghang hinauf. Er ist viereinhalb Kilometer lang und etwas über vierhundert Meter hoch, hat eine schöne Gestalt überall, steigt steil auf. Gitter und Befestigungen, nochmal ein Haus zu militärischem Zweck gewiß oben, im untersten Drittel aber das Paradies. Ich sah zum ersten Mal in der Morgenkühle und mit den duftenden Schlagschatten die fremden Bäume. Viele helle Pinien, Zedern, Feigen, Ölbäume, Cyntien, zwei Mann hoch, Gummibäume, Kaktusbäume, fast zwei Stockwerke, Johannisbrotbäume, Palmen, dazwischen Akazien, üppig, blühend, jetzt im April, die bei uns im Juli kaum halb so blühen. Darunter ein Gewirr von reichfarbigen Blumen, Scharen von Geranien, brennend, sehr hoch und breit, Heliotrophecken, zwischenein Kamillen, riesige Kallas. Schwärmerische, aber nicht aufdringliche Düfte mit dem sofortigen Gefühl aufgenommen. Das ist nicht gewollt und von Mühe der Dank, sondern so treibt es, so ist es. Unsere sommerlichen Vogelstimmen. Das alles steil geneigt nach oben, große Flächen faßbar. Alles ist durchsichtig, in reinen entschiedenen Linien steht es im Klaren, der Berg darüber, das selige Meer mit Schiffen, mit Bläue und dunstigen Hügelzügen der schönen Bucht. Die Gegend bei dem Haufen versteinerter weißer Vögel, die Algeciras ist, das gegenüberliegende Ufer seiner Bai ist verloren in gelbblauen Wolken, die auf den Höhen wie riesenhafte Weidenkätzchen liegen und weit vorgeneigt das Land in sich nehmen wie einen Kern in glasiger Frucht. Ein unendlicher Friede der Üppigkeit. Am Aufgang ein wunderschöner Friedhof. Zwischenein auf den breiten schönen Terrassenwegen begegnet man wieder den Eselchen. Die Menschen waren mir durchweg angenehm. Wo sie mich ansprachen, belustigten sie mich doch nicht. Von den ersten. Schritten an war die Wehmut da, Abschied nehmen zu müssen, hier nur gemildert durch die Unwahrscheinlichkeit, durch jenes Nochnichtdasein in der neuen Welt. Noch einmal durch die nun wärmere, hübsche Stadt. Rückblick von den ernsten Wällen hinauf, hinauf. Genuß des Auges und der Seele. Zurück zum Schiff. In einem Restaurant am Hafen saßen spanische Spieler, von denen der eine ein hohes Türmchen Silber neben sich hatte, an der kleinen Wand zwischen den beiden Türen saß ein vermickerter malariakranker Stiefelputzer. Hier kommen ab und zu Ansichtskarten- und Blumenhändler. Ein großer Korb voll Blumen, breit, der bei uns wohl 15 Mark kosten mag, ist jetzt für 4 oder 3 Mark zu haben.

Wir fahren mit dem Tender ans Schiff, Musik empfängt uns und die neuen Passagiere auf der »Goeben«. Die Bouillon und das Brötchen darauf tun sehr wohl. Gleich wird losgemacht. Um halb elf gehen wieder die Schrauben. Wir fahren jetzt um das Vorgebirge. Nach Ost und Süd fällt es fort, senkrecht und ganz nackt ins Meer. In der Mitte, wo Sandhänge sind, ist dagegen eine riesige schiefe Betonebene angelegt. Von der höchsten Spitze wird gerade scharf geschossen aus den Geschützen größeren Kalibers, deren es welche in der Stadt und den Anlagen überall gibt. Sogar ein Prellbock ist ein eingegrabenes Kanonenrohr. Der Berg blitzt Feuer in den blaßblauen Himmel, nach einem Weilchen quillt Rauch, nach vielen Sekunden schlägt das Geschoß ins Meer, wobei ein dicker Strahl Wasser aufschießt, und noch später kommt der kurze, dicke, tückische Knall. Alle Geschosse fielen ziemlich weit von dem verankerten Zielboot nieder. Der Himmel hat Reihen von weißlich gelben Wolken, oben Streifen. Erst allmählich klären sie sich. Das Wasser ist schwarzgrau, weiterhin so als wäre eine graublaue Seide darunter. In der Nähe des Schiffes quirlt es wie immer mineralisch.

Jenseits wird Afrika sichtbar, in Dünen begraben, weißlichblau. Die Meerenge ist an der schmälsten Stelle doch noch 15 Kilometer breit. Nicht weit, schrägüber von Gibraltar, ragt ein Vorgebirge, das ganz ähnlich dem von Gibraltar geformt ist. Nach einer Stunde ist es in Ferne und milchigem Luftgetriebe verschwunden.

Auf der europäischen Seite wird die spanische Sierra Nevada sichtbar, häufige Gipfel, eine Versammlung von Bergen im Himmelssaal, oben in den Schluchten ziehen sich Schneerinnen und -streifen herunter.

Der Himmel wird sehr licht, weichblau. Das Meer auch, kleine Wellchen, die Farbe ist hineingestreut und hat sich leicht gelöst, das Wasser ist leichter, beides nicht so schwer materiell wie im Atlantischen Ozean. Auch hat die Kühle nun um den Mittag aufgehört. Es ist gut hier weilen.


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