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Riesengebirgsreise 1909

Will man genau sein, kann man den seelischen Ursprung einer Reise, weit draußen in der Kindheit, nicht entdecken. Es wäre interessant, den intuitiven Blick zu tun dahin, wo das Leben entsprang, das jetzt als Wander-Sehdrang weiterfließt, wie das Geformte einmal formlos war.

Aber monatelang vorher war der all meine Wesensmoleküle verschiebende Drang etwas Deutliches. Die vorjährige erste Reise in den Harz hat ihn in mir gelöst. Durch die Kenntnis einer neuen Gegend zu der gewohnten wurde ein neuer Sinn aufgeschlossen. Ich habe seitdem ein ganz anderes Interesse für Reisebeschreibungen als bisher. Und das Sehnen, die Erde kennenzulernen, schwillt bisweilen bis zur Leidenschaft.

Das Riesengebirge bohrte sich langsam in die Seele, es wuchs allmählich vom Namen bis zur Wirklichkeit. Vor Jahren war der Name Schall, mitunter widerwillig abgewiesen, dann geduldet, dann mit Fragen und Neugier behangen. Mit Erschluß der materiellen Möglichkeit der Reise wurde der Begriff aus sich strömend, durch mündliche oder schriftliche Schilderungen und geographische Karten gegliedert, vergrößert, durch Wanderpläne eroberungsfähig gemacht, als schüfe man sich selber Wege hinein. Dann endlich kamen die Überraschungen, Stück für Stück, die den bisher errichteten Bau im Innern sprengen und als selbständige Ganzheiten, belebt von ihren Individualitäten, fortwirken, zunächst nicht anders als logisch verbunden, bis dann nach Tagen der seelische Begriff erwacht ist, der wohl bleibt, während Gedächtnis und Stimmung an den einzelnen Teilen immer meißeln und modeln.

In der Nacht vor der Abreise war ich geplagt von Erwartung. Ich stellte mir nichts vor von dem, was ich aufsuchen wollte, aber das nahe, gestaltlose Ereignis drückte. Das rechte Erwarten schließt eigentlich das Eintreffen des Erwarteten aus, und kommt es schließlich wirklich, ist es Wunder und Enttäuschung zugleich.

Bis zum letzten Tage war alles sehr fern, jetzt plötzlich wie mit einem Ruck herangeschnellt. Zwischen Halbschlaf und Wachen lag ich da und lief immer wieder ans Fenster, weil ich es schwirrend regnen hörte und bei eintretender Helle regnen sah. Bei bedecktem Himmel fuhr ich auch zum Bahnhof, und vielleicht zeigte mir die Verstimmung die vielen Menschen, die in den Zug stiegen, als so abstoßend häßlich, besonders die Frauen schienen forciert sportliche und widerlich gelehrte Gesichtszüge zu tragen.

Die ganze Fahrt war unangenehm. In meinem Coupé eine Dame mit zwei Kindern und Kinderfräulein. Es wurden für die ungezogenen Kleinen Betten aufgeschlagen, die undicht waren und mich bei jeder Bewegung der zappeligen Gesellschaft mit Daunen überschütteten. Dazu noch protzenhaftes Schaugespräch. All diese Ungunst nahm mir drei Stunden lang meine Andacht nicht, es blieb weit draußen von mir. Erst das ununterbrochene, schließlich martervolle Betrachten des grauen Himmels stumpfte die Freude ab.

Ich wurde wohl fünfzigmal in der Hoffnung, es werde sich aufhellen, getröstet und enttäuscht. Immer wieder färbte sich ein Wolkenrand weißlich, es entstanden milchige Seen im Grauen, dann schwammen immer wieder wie riesige Pfeifenwolken die dunklen Schwaden hinein. Das war immerhin interessant, weil die Landschaft zunächst das bekannt Märkische bot, und für Nuancen waren die nach Neuem gierigen Augen untauglich. Unter innerem Aufgehen sah ich nur einige Birkenreihen, einmal schienen sie vorn übergeneigt den Weg entlang zu gehen wie ein Wanderzug grüner, schwärmender Gedanken, ein zweites Mal schienen sie fast weiße Glorienscheine vor den beinahe schwarzen Nadelmassen.

Görlitz: schon dumpfe Empfindung: es regnet trostlos. Lauban: es regnet schlimmer.

Hirschberg. Ich mag vor Ärger über den Regen nicht essen und trinken und gehe auf den Hirschberger alten Friedhof. Die Pelerine wird durch die Nässe schwer. Es ist einsam, doch Trotz wird allmählich Stimmung. Rings am Rand des geräumigen Friedhofs die reichen Grabmäler der alten Tuchpatrizier. Sehr schöne schmiedeeiserne Türen, an denen einfache Ornamente, Blätter oder Schnörkel, in übersichtlichen, geradlinigen Ordnungen angebracht sind, wie hartgemusterte, durchbrochene Gewebe. Neben diesem ganz Vollkommenen oft bizarr wirkende Skulpturen in Stuck, vieles schlicht gelungen, anderes auch durch das Wollen interessant. Der Tod, das Gerippe kehrt immer wieder, man könnte ein kleines Gerippregiment aufmarschieren lassen. Sanduhren. Engel. Christus mit dem Kreuz, dem eine Schar in leidenschaftlichen Gebärden entgegenstürzt, offene Särge, aus denen Frauen auffahren. Barocke Zier. Meist das alles an den Rändern der Medaillons, die fast alle höher als ein Mann sind und breite Ovalform haben. Mir machte einen grausigen Eindruck eine Halbfigur des Todes, am grinsenden Schädel Mundfalten wild und doch starr weit nach oben gezerrt, mit einem Gewande, das lang und schwer herabhängt, immer wieder, wie eine Gardine zur Rosette gerafft wird, breit und eng gefaltet und nach jeder Einschürzung kollert ein Schädel herab, bizarr, großlinig, mit der Lust an grausiger Form gebildet. Am entsetzlichsten war mir eine Herme des Todes, der Schädel auf einer quadratischen Säule, die mit der Kante nach vorn gestellt sich verjüngt. Köcher, Pfeile, unten Blumen daran. Das Ganze erweckt den Eindruck einer schmalen dichteingehüllten kleinen Frau. Trotz der Wirrsal und künstlerischen Geringfügigkeit brutal eindringlich wirkend. So sind auch viele mißlungene Karyatiden interessant, an denen bärtige Männer wie Faune wirken. Die Inschriftverslein sind öde, höchstens in einzelnen Ausdrücken lebendig und, nach ihrer schlaff gedrechselten rationalistischen Form zu schließen, irreligiös. Probe:

Herrn Jeremias Katzberg setzten
dies Ehren Mahl und Schlaf Gemach
die Seinen / so IHN theuer schätzten
sie Selber folgen auch hernach.
Doch / wenn sie sämtlich ausgeschlaaffen
so rufft sie Jesus zu den Schaaffen,
die dort zu seiner Rechten stehn,
Du Leser magst nun weitergehn.

Der Markt mit den schönen, breiten, wuchtigen Lauben gewährt mir Schutz gegen den Regen. Ich sehe zwischen der Wölbung durch auf das Rathaus, das, einfach angelegt, doch über alle anderen Häuser durch sein formales Leben ragt, die Fenster sitzen richtig in den Flächen, das Dach ist Dach, der Turm Turm. Bürgerlich reiner Geschmack. Ich gehe manche Runde in den niedrigen Gewölben, und in meinem Inneren quillt es aus allen romantischen Schlupflöchern. Mir löst sich der zweifelnde Reiz, die Reste der vergangenen Jahrhunderte entweder von der Gegenwart aus zu sehen oder diese in die Vergangenheit einzubeziehen, sofort in der Weise, daß ich Jakob oder Hieronymus heiße, 1582 geboren bin und nun dem Handel zusehe. Es werden einfache Waren feilgeboten, Hüte, Holz, Obst, Fische, Tuchwaren und dergleichen. Die Nässe riecht draußen, man sieht in dunkle Flure mit massigen, gewundenen Treppen, wo gelbe Punkte schön leuchten.

Die Wettersäule enthält ein sinkendes Barometer, die Wetterdepesche an der Post sagt Regen an. Dadurch kommt etwas Müdes in meine Glieder, ich lasse aber von meinen Absichten nichts nach und steige auf den Kavalierberg. Hirschberg liegt hoch, und so enttäuschen die Vorberge durch ihre Niedrigkeit. Im Harz waren Berge von der gleichen Meterzahl Riesen. Ich trinke im Felsenkeller eine Flasche Bier und suche hinter den nahen, schon nebligen Bergen Hausberg, Ottilienberg, Helikon, den Kamm des Riesengebirges im Nebel zu finden und sehe seine Linie flirren, bald da, bald dort, weil ich sie im Gedächtnis habe. Wut auf den Gastwirt, der sagt, es sei durchaus unmöglich zu sehen. Das Profil des Gebirgs unten am Kavalierberg in Gesteinsproben, eingehegt in den Pflanzen, die darauf wachsen. Ich suche mir möglichst viel einzuprägen.

Auf der Fahrt nach Krummhübel sende ich ewig die Frage in den Nebel: Ist das der Kamm? Ist das der Kamm? Alle Leute ärgern mich, doch suche ich neugierig zu erhorchen, was sie vom Wetter und der Gegend wissen. Ich sehe gründlich ein, daß ich mich in Hirschberg gewaltsam getäuscht habe, denn immer neue Berge schwellen aus dem Nebel, ganz plötzlich stehen sie da, blasses Schwarz, dann deutlich. Es ist Abend. Ich bin von grund- und ziellosen Gefühlen durchflutet, solchen, die zuweilen mit einem Mal zu den stärksten Erinnerungen geworden sind wie vielfach die unplastische innerliche Plastik, die uns selbst bildet. Die Vorberge nun schön und hoch. Glück des Verwunderns. Das Duften der Üppigkeit, wie ein Rausch; es widerspricht scheinbar der Größe, wenigstens für einen Menschen der Ebene. Und nun sammle ich alles an diesem bestimmten Abend, das Licht im Zuge, wie die Menschen sitzen, Klänge, die ich höre, den zuckenden Rhythmus der Räder, die Dämmerung draußen, das Wandern meiner Augen zu den Rändern da oben, das Suchen in den Fernenebeln, werde zum Zergehen warm innerlich und fühle: all dies Bestimmte in diesem zufälligen Beieinander ist mein, und keines anderen.

Krummhübel. In Halblicht und lauer Luft sehe ich Berglinien, die sofort meine Seele wandeln, holdabenteuerlich, und gebe mich hin, dem Zitherspiel beim Durchgehn durch ein niedriges lichtqualmiges Lokal, am Bahnhofszaun dem Rufen der Hoteldiener, Davonrollen der Wagen auf den ansteilenden Berg, steige mit meinem Rucksack in das fremde Dunkel und finde schließlich ein ganz einfaches Gasthaus. In der Gaststube gebe ich mich mit Genuß lange dem schlesischen Dialekt hin, den ein paar einheimische Alte sprechen. Mir ist, ein Drama von Hauptmann geht an, zumal von der schweren Frostgefahr im Winter die Rede ist. Es klingt herzlich, ohne weichlich zu sein.

Das letzte ist ein forschendes, verehrendes Umschaun aus den Fenstern meiner Stube oben und die Hoffnung, daß morgen alles klar sein möge!

 

4. Juni Krummhübel.

Ein sonniger Streifen Himmel. Plötzlich sind Schneekoppe und Kamm ohne Dunst vor mir. Ich fühle mich durch den Anblick gegen gestern und die früheren Tage leicht, wie wenn ich nur halb wäre. Ausgelassene Eroberungslust. Während ich durch den Ort gehe, der lieblich liegt, wende ich auch wieder die Augen von den Bergen und doch stolpere ich hin und wieder, weil ich sie zuviel dahabe. Viele hunderte erobernde Blicke. – Saturnringe um die Schneekoppe auf halber Höhe, breite Schneeritzen, von hier aus also etwa 1200 m hoch, drunter und drüber alles klar. Ein Wunder, dem ich nach muß, durch Wolfshau nach dem Melzergrund, überall eine beinahe nebelnde Frische und doch das Zurückhaltende, Metallische der Morgenfrühe. Das Gebirge wird in den Durchblicken immer herrlicher. Zauberei wird mir vorgemacht: an der Koppe dampfen weiße Nebel auf und verschwinden wieder, schnell, wohin woher? Durch dieses Atmosphärische lebt die Natur mehr. Ich fühle ihr eigenes Leben und daß sie sich um die Menschen nicht kümmert. Ich bin bereit, alle Blicke, die vermenschlichen und also verkleinern, fallen zu lassen, die Formen nicht als Gleichnisse, sondern als Urgestalten zu sehen, und beim Verfolgen der Wolken, beim Hinaufblicken drehen sich Schauer innen und wollen heimisch werden.

Ich treffe drei junge und hübsche Damen und gehe mit ihnen wohl weiter als ich wollte. Aber wohin wollte ich denn? Ich mache mich gierig, die höchste Höhe zu ersteigen, und es ist dann eine wollüstige Überwindung, die Sehnsucht vorerst zu überwinden, aufzuschieben und noch umzukehren. Es brennt, ich sehe nun den Schmuck der hohen ungemein dunklen Tannen im Grunde und den grünhöckerigen steinigen Waldboden, diesen lieben Tanzsaal für Wanderfüße. Hin und wieder Lärchen, auch Laub. Die sonnige langgewundene weiße lebendige Treppe. Das Rauschen steht überall still, das Wasser geht. Blauer Himmel, weiße Wölkchen, schnell, nun doch wie zur Freude der Sehenden, und man fühlt die rasende Intensität und Eile des Naturlebens um sich herum. Die brünstige Erde glüht rings leuchtend auf, als trüge sie phosphoreszierende Stellen auf ihrer Haut. – Die Rückblicke auf das erhabene Gebirge machen klingend ernst. Verse werden, die schönsten verhüllt und ganz in der Höhe oder tief drinnen hinquellend. Doch muß ich wenigstens etwas geringes Rhythmisches schreiben.

Gleichnis am Morgen ]

Milchweiße Ringe quillen aus dem Grund
Am Berge auf, als sänge sie ein Mund

Aus Tiefem. Das gesprochne Bildwerk steigt,
Tanzt rund und hoch, als würd ihm aufgegeigt.

Es nimmt den schweren Berg in sich hinein,
Kein Ahnen bleibt vom geisternd blauen Stein.

Mir ist, ihn zwang der Nebelwörter Chor
Und reißt ihn durch die Luft als Meteor:

Da wickelt sich der Gipfel wie aus Werg,
Und Qualm wird Dampf, Wort Wort, und Berg bleibt Berg.

Man glaubt durch den Fernedunst hin den Stein zu fühlen. Im Krummhübel im Gespräch mit den dort Ansässigen wird mir deutlich, wie doch jener gerade steile Blauwall dort die Leute trennt, hie Preußen, dort Böhmen. Haben sie keine Geschäfte, bleiben sie. Die Natur nötigt nur in sich hinein, wenn sie fremd ist.

Frühstück im Wald, ganz umgeben von stets weiten und irgendwie geneigten Flächen. Wären sie nicht bewaldet, könnte ich mir hier wohl die Vorstellung des Wogens bis zur Unheimlichkeit beleben. Es rauscht rings. Manchmal kräht ein Hahn. Vögel. Und doch eine Stille, daß man die Wiesen in ihrer Köstlichkeit blühen zu hören vermeint. Die Bäume, meinen Hang hinab, scheinen bläuliches Silber aus sich herauszurieseln. Die Koppe ragt nun in völliges Blau, jahrtausendsichere, jahrtausendnotwendige Linie.

Auf dem Weg zwischen Krummhübel und der Schnurrbartbaude über die Seiffenlehne bei Durchblicken aus dem Wald, nimmt Kamm und Koppe eine unheimliche Gewalt an. Aufgestacheltes Verlangen, immer wieder das Große zu sehen, weil es beinahe ungegliedert, durch die geheimnisvoll gigantische Einfachheit der Linien, Flächen und Farben wirkend, dem Geiste zur Bewältigung keine Handhaben bietet. Goethe sagt, ich las es kürzlich, auf einer seiner Reisen: das Ungeheure läßt keine Mannigfaltigkeit zu. – Jede Wiederholung des Durchblicks ist eine vergrößerte Überraschung. Die Spannung der Seele durch den Anblick läßt nach, sobald er ihr entzogen wird, und man möchte ihr die Pracht erhalten, in der sie sich, geweitet, fliegend, fühlte. – Rechts leuchtet der reichliche Schnee glitzernd und veranlaßt auf den Steilungen, die jetzt von blauweißem Dunst beschwebt sind, die Täuschung, als wäre ihr Abfall senkrecht, ja nach innen eingebogen.

Brückenberg, 900 m hoch, im Angesicht der Berge gelegen. Ich übersehe beinahe die Häuser, obwohl deren manche leider mehrstöckige Hotels sind. Die Straße biegt das Gebirge immer neu heraus, und alle drei Schritt steht man da und wundert sich, daß nicht diese Stelle oder diese daheim immer wieder von Kundigen hochgerühmt sei. Und erstauntes, aber ratloses Messen der Augen. Das helle Bergeblau schreibt sich wie der Glanz eines heiligen Grals in die Iris.

Ruhendes Wiederholen des Gesehenen auf dem Friedhof der Kirche Wang. Die Kapelle interessant, geschnitzte Portale und Fenster, aus Schweden hierher verpflanzt, ganz Holz außer dem Turm, ein Spiel- und Zierwerk. Eine runde Steinmauer läuft um ihren gräbervollen Hof und grenzt auf dem erhabenen Bergrücken einen heiligen Bezirk ab. Wie ein Choral rollen um ihn die Berge herum. Rechts beginnt er mit dem beschneiten Teichrand, von der Koppe sinkt er ab, in immer kleineren Hebungen stürzt er links in den Horizont hinein. Ein kleiner Springbrunnen, eine lebendige dünne Silbergerte, wagt sich empor. Beim Eintreten durch die Mauer komme ich auf ein frisches offenes Grab zu, an dessen Ränder schon die Bretter zum Einsenken gelegt sind. Fragende Mittagsstille, und dann beginnt der Mittag zu reden und hallen: das Glöckchen der Kirche läutet nach den Bergen hinüber in feinem klagenden Ton, der höher nachwimmert. Unregelmäßig schlägt die Glocke an, metallisches Geholper, aber mit weckendem Sinn gleichsam, als spielte sie auf ihrem einen Ton ein Lied, eine ganze Geschichte, eine Ballade. Und dann geht die Melancholie schlafen und verrinnt an den Linien der Berge gegen den Himmel.

Weg zur Brotbaude. Mittagsstille, die Welt eine silberne Dichterin. Starres Gebirge, starre Sonne. Ich bin zwischen Bergwiesen. Ein Vogel. Gehe ich eigentlich? Ich bin hier nur so gleichsam hereingestreut. Wie ein werdender Blumenkranz um die Koppe weiße Wolken.

Bei der Brotbaude ungeheure Granitblöcke. Dieses Gestein scheint sich also vom Kamm soweit herzustrecken. Ich schweife in die Zeit, als es eine einige glatte Masse wie eine Krötenschale der Erde war.

Eine steile Höhe hinunter, durch grauen Wald voll grauer Felsen. Verwunschen.

Webstuhl ]

Den Berg hinab durch grauen Wald,
Durch lendenhohe graue Steine.
Die Fichten ankern, Lein um Leine,
Straff, dunkel, kalt.

Verankern Schwarzgewirr und Licht,
Zerren Himmel und Erde zusammen,
Daß Sonne und Stein sich stoßen und schrammen,
Gedicht und Gewicht.

Mich trägt und stößt und hemmt eine Scheu,
Ich laufe wie eine kleine Spule
Im schwarzen Tannenwebestuhle:
Er webt mich neu.

Eine großartige Vogelscheuche bei den Baberhäusern, ein pomphafter Bettler, protzig aufgestellt und als ziele er nach und schnappe zugleich zurück vor einem Kinderwindmühlchen, das etwa vierzig Schritt entfernt ihm gegenübersteht. Auch eine Art Don Quichote.

Wenn die Baberhäuser verschwunden sind, wird das Baberwasser breit, sein Tal das Bächeltal. Eine schöne Fahrstraße dreht sich nach den Windungen des Bachs, der nicht über Stein, sondern Sand läuft. Nun hat man links zum ersten Mal den östlichen Teil des Riesenkammes mit seinen markiert sich aufschwingenden Spitzen, eindringlich. Rechts großartig getürmtes Gestein, oft in geraden Bänken, oben bisweilen von kleinen Birkenkerzen beleuchtet. Aus diesen Elementen rechts und links entsteht ein wechselvolles Wandern wie durch phantastisches Gezimmer, bald ein nackter Kessel, bald etwas wie ein griechisches Amphitheater, bald ein Höhlenprospekt mit überhangendem Gestein. Selbst ein Zirkus fehlt nicht: ich habe die deutliche Vorstellung einmal, als balanciere ein Fels seine Tannen. Nie eng, immer großzügig. Die Halle der Ufer immer zu Ganzheiten schön zusammengerafft.

Ich biege ab, über die Brücke, beim Wegweiser: Nach Giersdorf 30 Minuten. Das Wasser bleibt unter mir, dichtes Nadelgewölb. Drüben scheint durch: eine große Tannenhöhe, eine Riesin ihrer Art, ernst empor, weit gewipfelt, schwermütig grünend. Dazu gegenüber in stolzem hellen Metallblauglanz das schneegefleckte Gebirge bis zur Koppe, bestimmt und wie voll klarem Willen in Farbe und Modellierung. Wirkung wie eines Menschen mit sehr ritterlichem Wesen, die Wirkung des schwarzgrünen Tannenzuges wie einer großen rätselstillen Frau. Die Tannen tuschen sich ineinander, während auf dem Kamm sogar Steingruppen deutlich und imponierend sich darbieten.

Vier Bergwogen schieben sich voreinander, und dem Kamm gegenüber verschwimmt ein nebelhafter Bergzug. Am Mittelwasser aufwärts, also von Giersdorf aus wieder zurück. Der Bach ist reichlicher als das Bächel, doch die Ufer stürzen nicht in ganz so großen Rhythmen wie dort. Eine mächtige Felsplatte trägt die Aufschrift: Rübezahls Tanzplatz, eine andere bald darauf diese: Dem Maler des Riesengebirges Adolf Dressler. Ich kenne ihn nicht, aber wenn sein Wesen war wie die schöngedrungene harte Gewalt des Steins, wäre es ein gutes, nachdenksames Denkmal. Man könnte damit ein Lied singen. Du warst riesenhaft und warst schlicht. Man verstand dich, man hatte den Klang und das Gesicht und bedurfte keiner Worte.

Ich wandere durch milchige Schleier, gewoben aus dem Fliegender Löwenzahnsamen-Fallschirme. – Kleiner Wasserfall an glattem Felsen. Wo sein Weißes beginnt, scheint er nicht über den Stein her, sondern aus ihm zu schießen. Im Hochwalde singt unser Inneres unablässig, und das Begegnende wird Text und Maß. Eine Hütte und Veranda hoch auf einem Felsen erbaut, wie wenn die Seele immer Sonntag hätte. An diesem Wasser wächst viel Laub: Hollunder, Esche, Brombeer, Birke.

Am Eingang zum Restaurant zum Hainfall ein Schild: Es grüßet viele tausend Mal / der Herr der Berge Rübezahl. Willig schießt mir eine milde koboldige Riesengestalt auf. Ich denke mir schön, mit ihr zu wandern bei halb fliegendem halb stolperndem Schritthalten in rauhem Wind. Der Fall schäumt zwischen riesigen, schwärzlichen Felsgebäuden. Links trägt eine wuchtige Wand etwas wie zwei große Kuppeln, rechts steht Rübezahls Backofen, der schon lohnt, zumal in den vier Löchern gleich die Steinbrote stecken. Schöne Buchen herum. Das Ganze eine knurrige, grobe Schelmenweis'. Der Fall ist stark. Er klingt bei aufmerksamem Lauschen dumpf rhythmisch, tosend etwa im Takt des fahrenden Zuges.

Zur Goldenen Aussicht und Saalberg. Ins Lichte, Freie hinaus. Im Vordergrund lauern drei kecke jägergrüne Berge. Vom Abhang des mittleren herein glänzt wieder das Hochgebirge, am deutlichsten zwischen Großer und Kleiner Sturmhaube. Zum Wundern ist nach dem Werben tagüber auch ein Lieben gekommen. Wie oft habe ich zum Kamme nun schon hinaufgesehen wie zu einem riesigen Altare!

Höllengrund, Aufstieg zum Kynast. Schmal, dunkel, steil. Tannenverhängte Schlucht. Auf einer hohen, unregelmäßigen Felsentreppe gelangt man zur Burg. Verfallenes Gebäu, die Grenzen der Zimmer und Stockwerke erkennbar, aber alles klafft wie blöd zum Himmel, leer, nüchtern. Seitlich beugt sich der Teufelstein über den Höllengrund, für mich war dies der bisher höchste Stand über unabgeschwächter Tiefe. Ich ging bis an den Rand der Platte, die aussieht, als könnte sie nach vorn überstürzen. Ich werde nicht schwindlig, bin also vielleicht überhaupt schwindelfrei.

Der Turm eine ganz schmale Wendeltreppe. Völlige Nacht, ausgetretene Stufen. Man drückt sich mit Rucksack nur noch eben empor. Es riecht muffig. Betritt jemand die Treppe, wird nach oben und unten geläutet, damit ihm niemand entgegengeht. Endlich hängt eine große, erstickend qualmende Laterne im Gemäuer. Dann Plattform. Befreiter und weiter Blick außer über den ganzen Gebirgsrücken. Ich übersehe einen großen Teil meines Weges, die Ortschaften sind zwischen die Berge gekrümelt wie Brocken für Vögel. Der Bober-Katzbachkamm nebelhaft. Die Landschaft wird durch ihre Wiederholung in jeder Stunde des Tages immer gewaltiger, und nun gar im Abend. Am Ausgang der Höllenschlucht liegt ein Saatfeld, das durch das Licht ein unaussprechlich klares Grün gewinnt, eine Hyperbel der Farbe. Und das wird mir der Hauptklang, der seltsame Akkord, der für meine Lebenssymphonie hier zum ersten Male hallt.

Abstieg über den Herdberg. Düsteres Felsicht, schöne Buchen. Nach Agnetendorf, so benannt nach Agnes, der Gemahlin des 1635 enthaupteten Grafen Hans Ulrich Schaffgotsch, die dort wohnte. Ein einfaches Bauerndorf, aber das schönste, durch das ich bisher kam, in langem Spalt zwischen Bergen, den nach links der Kamm in seinem Ostflügel beschließt. Ich halte still am Abhang und lasse es völlig Abend werden. Mir nahe abgeblühter Löwenzahn wie lauter Milchglaslämpchen. Von der Bismarckhöhe drüben springt mattgrünes Licht hierher, unsichtbar übers Tal setzend. Auf dem Kamm scheint ein stürmendes Meer zu branden von grausonnigten Wolken, die dort anzuwurzeln scheinen. Ich sehe darin gigantische Riesenleiber, vielleicht kilometerlange, baden, auch zwei sich anpfauchende Köpfe.

Jetzt wird es rosig um die äußerste Kante des Kammes, als glühte alles Gestein in innerem Feuer, gedämpft. Nur der Schnee bleibt vom farbigen Glanze unberührt. Das Gebirge scheint sich in ein sanfteres dünneres Element zu lösen.

Im Hotel Agnetenhof nehme ich ein Zimmer und kann mich aus den Fenstern her nicht sattsehen. Ums Hohe Rad ist eine Papsttiara aus weißgrauen Wolken gestülpt. Auf der Veranda stelle ich mir ein vorzügliches Abendbrot mit Behagen zusammen. Die Kellnerin ist hübsch, freundlich, eilig und dumm. Sie weiß nicht, daß dicht vor dem Hause die lullende Musik das breite Schneegrubenwasser aufspielt und daß unmittelbar hinter dem Hause der Hummelberg ansteigt. Aber das Geschwätz tut mir wohl. Im Dunkel wollte ich noch Gerhart Hauptmanns Haus suchen gehen, eine Fleischersfrau sagte mir auch Bescheid, ich verlief mich aber wohl um eine Brücke, und der Weg wurde mir infolge des langen Marsches schon zu beschwerlich. Der Abfall des Weges zeigte der traumlustigen Phantasie gespenstische Löcher. Vor den Türen schwatzte man, späte Ladenglocken klirrten. Im Zimmer höre ich das Wasser immer stärker rauschen. Es ist wohl auch die Kraft der elektrischen Lampe in ihm, bei der ich schreibe. Und aus der Flamme laufen meine Gedanken mit dem Draht zu der Maschine ins treibende Wasser, dieses zurück zu seinem Ursprung in den Schneegruben und der Geschichte dieser bis zu den Erdrevolutionen, die sie schuf. So zuckt mir in der Flamme ein Geist aus Urzeiten und heiligt mir den glimmenden Draht. Ich träume frostig-große, rauhe Bilder aus, die ich seltsamer Weise auch von solch elektrischen Spiralen in ihrem Düster aufgestört und grell beschienen sehen muß.

Überm Bett ein Ölbild Kaiser Wilhelms I., das so schlecht ist, daß ich mich vor der trostlosen Talentlosigkeit, die in diese Züge mitaufgegangen ist, fürchte.

Gewitter in der Nacht, rollend in den Bergen. Sturm polternd, klirrend, donnernd, der mich wohl weckte, nicht der Donner. Von lustiger Gesellschaft werden immerfort Türen geschlagen, Gelächter. Schlecht geschlafen. Das Herz war vielleicht auch zum Anfang zu sehr angestrengt.

 

5. Juni.

Bismarckhöhe. Auf dem Turme wechselt die Aussicht im Nu, weil ein ziemliches Wolkenfliegen mit dem Lichte der Welt schaltet. Es lastet schwarz gegen die Berge hin, und diese werden nun wirklich ein ungeheures Wogen. Zuerst lohnt es noch, das Fernrohr auf die Stellen zu richten, welche Sonne trifft. Ich flüchte gleichsam dahin vor dem chaotischen Schieben und Blasen der ländergroßen Schattenschollen und sehe sogar die Menschen auf dem Kamm stehen und gestikulieren. Die Schneegruben zeigen mir, der ich in der Ferne, doch nah vor ihnen schwebe, ungeheure Abstürze. Ich drehe das Rohr hinab und taumle den langen Schneeadern nach zur Tiefe. Aber im selben Augenblick geht alles in Nebel auf. Ich sehe gerade noch ein himmelhohes Gespenst durch dieses Weltmeer rollen. Nebelsonniges Weben wie die Speichen eines ungeheuren Rades dreht sich durch die schwarzblauen Wogen. Die getroffenen Wälder auf manchen dieser Wogen werden olivgrüner Plüsch, die anderen daneben sind wie mit schwarzem Krepp ausgelegt. Eine Wolkenwand, so schwarz wie dieser, schwebt atemversetzend über diesem. Nur ein schmaler Streifen Licht, teils weiß, teils zwischen blau und seegrün, treibt einen fiebernd eindringlichen Glanz aus sich heraus, aber schon fließt die Gegend der Koppe mit den Wolken zusammen. Man kann keine Grenze mehr machen. Nur Minuten; da spielen bläulichgrüne magische Lichter um die Koppe, aller Schnee ist blau, und das Ragen des höchsten Gipfels in die Wolken durch das zitternd zarte, graublaue Licht hat eine vergessene verzauberte Größe: man sieht nach einem Ort des Überirdischen hin.

Die schwarzen Wolkenmeere scheinen sich am Horizont im Kreise zu drehen, jedenfalls gehorchen sie nicht dem scharfen Ostwinde. Meer von oben, Meer von unten wüten zusammen. Und wieder zieht es wie Gazeschleier vor dem südwestlichen Ende des Zuges und macht die Koppe, die Königin, zeitweise sichtbar. Berge machen ziehende Wolken erst zu himmlischen Erscheinungen, sie sind nun der schwarzgeballte Sturm auf dem steinernen Meer, selber ein Meer von Sturm und anderm geheimnisvoll schwarzem Leben. Es kann in jedem Augenblick alles, was ich sehe, ineinanderkrachen, jede gewaltsamste Veränderung wäre natürlich, jedes Aufklaffen, jeder giftige Dampf, jedes Erzittern der Welt. Umso heimtückischer scheinen die totstillen Wandlungen: mit unheimlicher Sicherheit, und doch nicht zu begreifen, verkleinert sich schnell der Horizont und rückt auf mich zu, weiße und graue Schwaden ballend und blasend. Der Kamm verrauht, verwildert, wird unwirtlich, und die Trübe scheint, da er sich ihr nachbildet, ebenso notwendig wie die Klarheit, in der man die Felsen durch den blauen Dunst leuchten sieht.

Kann man überhaupt sagen, ein Gebirge hat den oder den Charakter, da es die Himmelsgezeiten in sein Gegenteil verwandeln können? Und alle Bezeichnung kommt nach der kleinen Menschenstimmung. In den ungewohnten Stunden und Formen des atmosphärischen Lebens sehen wir erst den wahren Geist der Erde fliegen, staunen an sein Brauen und Denken, lassen geschehen seinen Sinn, vergessen uns und begreifen nichts. Warum schwelt er nun in den Vorbergen in lastbaren Wolken auf und umgibt sich mit dürerisch gekräuselten Silberrändern? Das Gewölk löst sich, wie stöhnend und schlaff vor Mühe überbrodelnd vom Kamm, hängt vielleicht zweihundert Meter diesseits unterm Rand, und man sieht noch gerade unten durch einen schrägen Ritz Sonnenvolles so überraschend klar, daß sich die Steine rötlich, der Schnee gelblich und das Knieholz schwärzlich absetzen. Da kriecht es schon über den Mittelgrund wie eine ungeheure Schildkröte, zerfließend, während alle Ränder weißlich werden. Beneidenswertes Kreisen eines Raubvogels. Ich stehe mit den Füßen und bin dadurch eigentlich doch immer gefangen, er lebt den Gedanken des Sturzes in den Schwall durch den Sturz aus.

Weg nach Kiesewald. Wenn man den Stock auf den Boden stößt, klingts hohl. Warum? Es lichten sich die Wolken. Die Wege sind vom Gewitterregen duftig naß, bedeutende Blockklippen ragen überall auf den Höhen. Junge Tannen hegen sie manchmal ein, so dicht, daß sie mit den Ästen ganz ineinanderhängen und höchstens zwanzig Schritt weit sehen lassen. Ihre Rinde ist schwarz und das Moos weißgewaschen. Die Kuckucke riefen heute wie gestern überall, aber alle billigen sie mir nur eine kurze Lebensdauer zu. Hier im sonnenarmen Revier ähneln die Tannenbäume sehr den Lebensbäumen. Das Ende des Kammes, vom Mädelkamm bis Reifträger, zeigt sich, und für mich zum ersten Male ragt das Isergebirge mit seinen Gipfeln gewaltig auf.

Stimmung, als könne man eine Gestalt wie die Rübezahls annehmen. Die innere Gestalt hat man wohl, wo ein Gedanke der Zug eines scharfen Geruchs, ein Frohsein wie ein bizarr-großer Block, ein Sinnen wie ein Waldinneres wird, und daher hat die Phantasie diese Verfassung, weil sie das Feste von Bein, Blut und Fleisch nicht entsprechend ändern und weiten konnte, wohl aus sich geworfen und sah den Riesen. Aber darüber hinaus versinke ich tiefer in das Naturleben, begebe mich allen Willens, raffe nichts zusammen als Gestalt, also Staunen oder Furcht, sondern sehe in Scheu mit einem Sehen, das eigentlich mehr Horchen ist. Da fließt Ich und Du beinahe zusammen.

Kamen Nebel durch die Luke
Grauer Felsen, viele Fuder.
Und ich sagte zu dem Spuke:
Lieber Bruder! ]

Kiesewald liegt ähnlich hingestreut wie die übrigen Gebirgsdörfer, nur nach Riesen- und Iserkamm zugleich ausschauend. Es ist nun etwas Himmlisches, wenige Wegstunden gewandert zu sein und den Frühling einzuholen, der doch schon anderthalb Monate weit geflogen war. Ich gehe unter blühendem Flieder und unter blühenden Apfelbäumen hin. Die Kuckucke rufen, und ihr musizierender Laut färbt gleichsam das Leben draußen violett, daß man die hellen zwitschernden Vogelrufe vergißt. Und es läßt sich gut sinnen, wie den Frühling so auch den vergangenen Winter, das letzte Jahr und die anderen einzuholen. Mein Alter dabei zu behalten, wäre mir gerade recht, aber welcher Rausch, durch die Erdgeschichte zu schreiten, während man auf der Erde schritte, ein Petrus Forschegrund ] nach rückwärts! Und auch, was man Weltgeschichte nennt, träfe man an diesem und jenem Ort. Das wäre ein Göttlichwerden des Gedächtnisses. Flieder und rosa Obstblüte, ein Schwimmen und Rudern durch Duft.

Eine ganz gelbe Spinne, wie ich sie noch nie gesehen habe. Hinab den großen Zackenfluß. Wald. Die Rinnen, die der Regen heute nacht gerissen hat, sind schon zugescharrt. Ich komme überall über frischen Erdwurf, überhaupt sind die Wege in sorgfältiger Ordnung gehalten. Viele sehr hohe und schlanke Lärchen, die graumoosige Rinde sehr tief gefurcht, im lassesten Winde nachgiebig wie Rohr.

Die Zacken. Dichter Wald, steile Höhen, der bisher wasserreichste Fluß, meist unsichtbar, eingesenkt. Blaues Rauschmetall scheint das Wasser. Schmale Blickbahnen sehr hoch hinauf in Bergdüsternis. Und immer wieder da oben im Steilnächtigen ragen phantastische Felsenfestungen mit mannigfach gebuckelten und ausgesparten Türmen, Ausladungen, krummen Erkern, tollkühn angekeilten Söllern. Schwarze Stämme scheinen sie manchmal zurückzudrängen, schwach vorm Fall zu bewahren, manchmal steigen sie in dem halsbrecherischen Gewirr herum wie die Herren. Bisweilen reichen die Felsenhöhlen bis an den Weg, oder hausgroße Platten hängen dachartig über seine Breite, zyklopische Mauern wie in Wut ausgestemmt, heben sich glatt, dick und nässeschwarz. Und dann wieder Halbvergrabenes. Das krause Tannenschwarz, hoch steil wie das gestaltgewordene Gruseln. Schauerndes Verhüllen, und Höhe und Steile werden nicht hoch und steil genug. Da geben denn Felstürme die Richtung der Absicht an, in dichter Wiederholung aufgebaut wie aus Quadern, und hellgrüne Springbrunnen, Birken spielen an rätselhaften Stellen um sie. Oder man sieht schiefrig Gebrochenes, wirre Lagen wie den Ziegelbau eines wahnsinnigen Titanen, der bald schräg vorn, bald hintenüber gepatzt, vergessen im Bau, fortgehastet hat, unwirsch eine Wand hingeschmissen, eine andere schwer gegen eine ächzende, viel zu kleine Stütze gequetscht hat und schließlich ein Bild seiner wüstgewordenen Kraft hinterließ in graubrauner Farbe, wie mit Galle überzogen, die ganze Ungeheuerlichkeit. Dann wieder ein dicker Felshaken in der Luft, wie aus aufgestapelten eckigen Säulentrommeln. Die nach oben allseitig abschließenden schwarzen Gebirgswände gewaltsam groß, gerade Linien, wütende Striche. Man folgt kaum den Dimensionen.

Das Zackenwasser rinnt inzwischen oft über ausgewaschene Platten, tief, so daß das Rauschen durch seine eigene Fülle ein wenig verdeckt wird, wobei der Lauf nur irgend eben ist. Durch die Fülle wird ein kleiner Fall etwas Gletschriges, das lebende Modell eines erstarrten Gletschers: unter der beweglichen Oberfläche sieht man scheinbar schwarzes Eis mit grünlichen Flanken.

Bei der Einmündung des Kochel wird das Angesicht des Tals milder und lieblicher. Eine kleine graue Schlange liegt mir im Weg, keine Ringelnatter und Blindschleiche, sie sieht wie eine Viper aus, aber die gibts hier wohl nicht. Die Kochel hat grandiose Ufer vielfach um ihren Lauf gewunden. Die Sonne schielt mir, mit dem Kinn gerad auf einen Felsenturm eines wer weiß wem gehörigen Steinschlosses, auf den Kopf. Überhängendes Gefels, gekrönt von Bäumchen und blaubeerartigem Laubteppich, den Fuß im Wasser haltend, stark tropfend. Es ist, als müßte das Harte, Felsenverfluchte, Sterile nun doppelt gesegnet und fruchtbar werden und sich in eine ganz süßmilde Gartenwelt verwandeln, als ruhten im Felsen schon alle Bilder der Fruchtbarkeit, schlafend gepreßt wie die Seiten eines Buches, und als müßte bei ihrer Erlösung eine Musik vor sich gehen.

Der Kochelfall. Vielleicht nur zehn Meter hoch, oben vier breit, unten in eine Felsenklemme rasend. Vielleicht hat ihn nur das Gewitter so geschwellt. Seine wahnwitzige Wucht stürzt kopfüber und zerstößt sich in der trichterartigen Enge, wütenden Lautes, zwischen Donnern, Kreischen und Bellen. Er wird immer schneller, wilder, geifernder fliegend, rasend, hetzend, wirbelnd die Kraft überkugelnd, tollwütig reißend. Man schwindelt, wenn man den strudelnden Strahl lange verfolgt. Und das Zerstoßene, Zerklemmte, Zerschellte unten staubt dampfend auf. Und die breite Garbe, wie dichte Messerschneiden, saust ihren Lauf, hört im Sturz nicht auf. Drei Menschen, im Kreis die Arme spannend, könnten sie umfassen. Toller Gedanke, sie könnten daran so in die Tiefe blitzschnell herunterglitschen. Zuletzt schießen nur noch weiße Linien durcheinander – aufwärts. Unter den Strähnen öffnen sich mitunter schwarze Höhlen. Das Dünnere seitlich wird zum krausen Netzgewirr, auch Schleiergeweb. In manchem Augenblick stürzen, dem Auge deutlich, Bündel weißer Blüten, großer stengelloser Lilien. Und wieder nur Wut und Gischt, hündisch rasender Sturz.

Und wenn sich nun ein paar Schritte weiter aufwärts nach solchen Eindrücken in einer Lücke das Schneegebirge auftut, so ist das über die Begriffe schön. Klare blaue Majestät, mit weißem Schneehermelin. Ich gehe ihr entgegen bis zur Dovewiese, und sie gebietet, alles ist sicher daran und so einfach, daß es nur den Begriff seiner selbst ohne zerkleinernde Gliederung zuläßt. Am Wege ist viel gerodet, überall hocken nackte Felspartien. Ich halte auf der Brücke an und sehe wieder in die blaue Klarheit des Riesenwalles. Gegend der Schneegrubenbaude. Die Kochel spärlich.

Viele gefällte Bäume sind übers Wasser gelegt und werden von Pferden ans Ufer geschleppt. Arbeiter sitzen am Wasser im Wald beim Mahl und haben an ein Reisigfeuer Kannen gestellt.

Umkehr: nun schaue ich den hohen Iserkamm an. Ich komme wieder an den Fall. Die Felsen umgeben ihn in ungefährem, natürlich vielfach unterbrochenem Oval. Laubbäume decken es zu, meist Buchen. Herrliche Tannen und Lärchen ragen mittendrein. Der Fall scheint sein Wehr oben mitzudrehn wie eine Welle. Am Fall eine wunderschön gelegene Restauration. Unten bei ihr geht zwischen großen Steinen hindurch ein Nebenfällchen und treibt ein Spielzeug, ein Pochwerk, dessen Rhythmus recht hübsch zum Wassergesange paßt. Darüber ein Gabenbüchschen mit unwiderstehlich schlechtem Spruch Rübezahls.

Weiter am Zacken auf. Wie vorhin Felsen: Löwensteingruppe, Bastei. Bei Schwarze Wog, dem Strudelloch, haben dann seitlich die Berge aufgehört. Viel Bärlapp grünt am Wege. Am Zacken führt eine schöne Chaussee hin. Dichte, weißgekalkte Steine trennen sie vom Bord des Flusses, der teilweise mit Steinen gleichmäßig ausgemauert ist. Regulierung gegen Hochwassergefahr. Zu beiden Seiten gleichförmiger schöner Wald, breitausladend. Tannen, Tannen.

Vor Mariental Steinbruch, im frischgrauen Bruch sieht man verschiedene Adern verlaufen. Tartarenstein, Charakter von vorhin.

Marienthal – Schreiberhau. Der Beginn des Kamms. Er schwillt ganz in der Nähe zu der herrlichen Höhe. Glück in der Erwartung des Aufstiegs. Das lebhafteste Gebirgsdorf treiben. Viele Verkaufsstellen jeder Art, Karten, Rucksäcke, Stöcke, Mäntel, Mützen, weit bis auf die Straßen gestapelt, Wagen, Omnibus, Reitpferde, elegant gekleidete Menschen, Gewimmel. Und der blaue Riese dicht daneben wird immer verlockender.

Vorerst aber auf den Hochstein. In einer halben Stunde erreiche ich die Höhe von 1058 m und kann mich nach einer Erfrischung in die kahlen Klippen werfen und träumen. Es war ein verdammt steiler Weg. Ich dachte, ich sei schon ermattet, daß es mir schwer wurde, aber von Zeit zu Zeit höre ich es pusten, stöhnen und fluchen, und dann langt immer wieder einer an. Von den Tannen ist jede ein schwarzer dicker Turm, der Boden ebenfalls großartiger gefaltet mit seiner Moosplüschdecke, die mit wahren Granitedelsteinen, was Kraft und Größe betrifft, besetzt ist. Dieser rauhe Gruß des Isergebirges tut mir wohl. Zur Sonnenwende soll man hier oben nachts zwischen teuflischen Tönen und Fratzen unter der Gefahr, daß einem der Hals umgedreht wird, nach dem vergrabenen Schatze des Riesen suchen können, wenn man das hüpfende Flämmchen mit der Hand bedeckt, das ihn zudeckt. Heuer aber herrscht im klapprigen Wirtshaus, das auf die Klippen gestellt ist, ein drolliges Idyll. Ein zutraulicher Teckel wedelt zwischen den Gästen hin und her, ein Esel trottet frei immerzu ums Haus, und er geht auch aus und ein. Der Napfkuchen scheint mit Hasenfett gebacken. Ich würge den ersten Happen mit Widerwillen herunter, weil ich ihn nicht ausspein mag. Der Esel hört nicht auf, seinen Bannkreis gewichtig abzuschreiten.

Als nächstes der Natur fällt auf: der andere spitze Hochstein, der unzugänglich ist. Aber die verehrte Frau Königin des Landes bleibt die nun ferne, blasse, schlanke Koppe. Der Iser- und der Riesenkamm wirken von hier aus gleich imposant. Unten liegt das weite Schreiberhau in flacher Mulde mit gesundem Wiesengrün, aus dem sich launisch verzweigte Wege grell abheben wie Schnürbänder. Zum Abstieg läuten rings die Kuckucke wie aufgehängte melodische Glocken.

Im Hotel Hochstein Quartier. Ich aß draußen Abendbrot und trank philosophisch viel Bier und ließ es Abend werden zwischen Einzeltannen, kleinen Birken und Grasmatten diesseits und dem Gebirge jenseits. Seine Allgegenwart und geheimnislose Erkennbarkeit geben ihm immer mehr des Unbegreiflichen. Der Weißbach rauscht hinter mir, zwei riesige Linden stehen vor der Tür. Ihnen hängt vom Zimmer aus das ganze Gebirge in den dunklen Zweigen. Ich träume wachend lang davon, denn mein Bett ist Berg und Tal und ziemlich jämmerlich.

Der Weltenbaum ]

In einer Riesenlinde schwarzen Zweigen,
Die mir ins offne Fenster kühl gespenstert,
Hängt blau das meilengroße Steilgebirge.

Mit seinen Lasten, seiner Felsen Absturz,
Den vielen Bächen, wilden Schneegeschründen
Liegts wie in weicher kleiner Wiegen Flaum.
Der Stamm trägts leicht und schaukelts wie die Vögel.

Und wie er zischt und lullt und zuckt und bebt,
Verwandelt er das Bild des Berggewirrs:
Erstarrend klaffen seine blauen Schrecken,
Lawinen donnern bleich in schwarze Wasser,
Die tausend Kuckucke im Knieholz sterben,
Verwitternd fleckt sich der granitne Leichnam …

Der Baum singt milder, zupft die Blätter anders:
Und blaue Glorie gießt ein junges Leben
Um Höhn und Gründe, Alpenanemonen
Erblühn mit Millionen weißer Rädchen. –

Gemach umnachten sich die Blättergruben,
Verfangen und verirren sich drein Sterne:
Ein schwarzer Kraken aus dem Nebelmeer
Des Ungebornen wird der Baum und furchtbar:
Wie eines Menschen knöchern kleines Haupt.
Der schwarze Weltenraum strömt von ihm aus,
Mit gelben Malen wie mit Flügeldecken

Von Schmetterlingen, und der Baum versinkt
Mit seinem Duft, mein kleines Leben schlingend.
Den Duft zu nähren, rinnt die schleimig-helle,
Die siedende Geburt der Nebelflecke.
Löscht, Welten, aus! löscht aus!
Denn ich will leben!

Ich träume dies noch weiter: Stürzt man lebende Menschenköpfe durcheinander, so wirbelt man Welten, denn sie stecken ja in ihnen. Brechen erstorbene Sternensysteme zusammen, so hat dieses Schauspiel nur die äußere Dimension voraus.

 

6. Juni.

Am Bahndamm durch Schreiberhau. Mehr als ich wandern die Berge. Es ist wie ein guter großer heller Klang. Sonnige Behaglichkeit vorn, sonnige Großheit dahinter. Von Josephinenhütte gegen den Zackelfall zu gehen vor mir etwa zwanzig Leute, die aussehen, als genießen sie en gros billiger. Je mehr Allgemeingefühl sich ausbreitet, umso schmaler muß der Raum zu eigenem Keimen werden. Bei zwanzig, die so aussehen wie diese, steht die Gegend gewiß nur als bunte Kulisse da. Damit soll nicht gesagt sein, die Reise könnte nicht in andrer Weise als der meinen wunderschön werden. Ich bleibe also zurück. Zu beiden Seiten des ebenen Weges rieseln kleine Gräben entlang.

Das Zackerle zur Linken, es schäumt unter hohen hängenden Tannen durch eine moosige Steinschlucht steil herunter. Die Klamm zum Fall wird aus tropfenden flachbuckligen Granitwänden gebildet, die durch die Nässe beinahe schwarz sind. Gegen den Sturz zu ragen auch schwarze Tannen auf. Ein Düster, das nicht wehe tut. Auch dem Wasser, das dunkelbraun, hie und da einen grünlichen Schimmer werfend, unter dem seitwärts eingeschlagenen, bretternen Gehsteig durch den Grund der Klamm fließt, ist es natürlich. Ebenso ist das obere breite Becken des Hauptfalls braun, das untere, nach einem kleinen Fall an der engsten Stelle, beinahe schwarz. Beim Ziehen der Schleuse erhebt sich ein gewaltiges Brausen und Stäuben, drei fliegende Wasserbogen stehn vor mir. Ein hastiger Frostwind weht mich an, und trotz meiner Entfernung von fünf bis sechs Metern werde ich von einem kalten Wasserstaubsprudel so durchnäßt, daß mir bei dieser Plötzlichkeit der Abkühlung ein Weilchen das Herz aussetzt. In zwei Strähnen fließt das Wasser stufig, kochend und brodelnd weiter ab.

Von oben sieht sich die Klamm gleich schön an. Das Bewaldete bietet sich nun mehr dar und ein stiller Ausblick nach Schreiberhau.

Durch gleichmäßigen Wald auf. Mich beherrscht das Gefühl, eine Wallfahrt zu tun nach den bisher höchsten Standorten meines Lebens. Es gibt ja übrigens nichts rein Körperliches wie es nichts rein Seelisches gibt, und der ganze Mensch wird empfinden: Höhe. Nach einer halben Stunde werden die Stämme dick und plump bis in ihre Spitzen. Die Äste und Nadeln halten sich zurück, sie krümmen sich vor etwas nach ihrer sicheren Mitte zu. Es sieht mutig aus, als frören sie, hätten sich aber gewöhnt und wollten nun nichts merken lassen. Viele Quellen werfen sich dem nun schon ganz kleinen Zackerle entgegen. Die Bäume werden noch kürzer und stämmiger und sind in sich vielfach gespalten. Verrauhung der Landschaft, zumal die Luft kühl und der Himmel bedeckt ist. Es rinnt und rieselt überall.

Neue Schlesische Baude in einer weiten Waldrode gelegen. 1195 m. In andächtiger Heiterkeit, wirklich und wahrhaftig meine Füße bis zu diesem hohen Punkt getragen zu haben, setze ich mich auf die Veranda. Schlecht gerechnet, einen halben Vogel fühle ich mich nun. Es ist, als breite ich mir aus goldener Willkür die Welt so weit aus. Und ich hätte vorher nicht geglaubt, daß die zarte Streichmusik mit ihrer Barcarole aus Hoffmanns Erzählungen und anderem Schaukelnden mich so gelöst in Freude, so ganz eins mit allem in mir machen könnte. Eine Hingebung an den Fliederdunst der Weiten, ein Hinfliegen und Größer- und Größerwerden aus Musik, ein Klarer- und Klarerwerden aus abgründiger Lust. Isergebirge mit Hochstein und Heufuder, das sind ja nur Namen. Ich freue mich, so viele Menschen um mich zu haben, und werde schwärmerisch über ihr Schwatzen.

Weiter. Das erste Schneeloch in der Nähe. Wie natürlich solch ein Wunder ist und dadurch erst recht wunderbar! Granitblöcke umher, Schutzhütte, Kuhgeläute. Aus einem schneebedeckten Loch Quelle. Ganz dicht über mir fließen Wolken. Ich komme ins Knieholz. Es hat ein samtigbraunes Grün. Es wächst in der Weise, daß aus einem Mittelpunkt nach allen Richtungen Zweige sich erheben, am Boden kriechend und dann im Bogen aufstehend. Oben schließen alle Sprosse in gerader Fläche ab in lampenputzerartigen Büscheln. Herum steht langes Gras, wenig frisches mit viel dürrem gemengt. Felsen sind in Gras und Moos gemummelt wie in Pelze.

Pferdekopfsteine, 1290 m. Ungeheure, scharf charakteristische Felsgruppe. Aus einiger Entfernung wird die Pferdekopfform sehr deutlich. Hier oben wird man aufmerksam auf Luft, Wetter und Wolken, deren Dasein wir unten oft stumpf vergessen, noch drunten im sonnigen Schreiberhau wars so. Hier aber weht kühle Luft, aber sie ist Balsam, sie hat vom Geist der Quelle etwas in sich, sie ist beschwert von Leichtem, um mich eines Paradoxons zu bedienen. Es ist düster. Um die Schneegruben rechts vor mir qualmen die Wolken, daß nur die Schneeflocken grandios aufglimmen, während der Grat verborgen ist. Nun sind diese undurchsichtigen, rätselhaften himmlischen Wesen wirklich nur noch ein paar hundert Schritt vor mir.

Näher. Ich sehe Wolken werden. Aus Nichts scheinbar erschaffen sie sich. Es bläst ein rauchiges seltsames Organchen über den Wäldern dicht an den Felsen auf und ist da, schwebt, wächst mit seinesgleichen zusammen und in die Höhe. Und sie alle sind nun etwas so Dichtes, schimmernd Weißes, daß ich nicht mehr den Berg sehe, über den sie streichen. Sie rühren an eine tiefgraue Schicht und scheinen sich mit Energie durch diese hindurch und hinan zu bohren. Da steigt schließlich der ganze wuchtige Klumpen weiter, mehr ein Kriechen auf Nebelfüßen als ein Fliegen und läßt mehr und mehr den schwarz-grün-weißgescheckten Berg sehen.

Der Reifträger liegt vor mir, ein gewaltiger Kegel aus rundlichen, nicht großen Felsblöcken, wohl Millionen solcher Steine liegen so aufgeschüttet. Der Berg ist Zusammenbruch, aber die monotone Melancholie der Wiederholung, ewig Stein an und über Stein, bis der Kegel, ein Riese aus Stückwerk, dasteht, erweckt den Eindruck, als sei er Frucht von Arbeit; stumpfe Lastträgerseelen haben sich ein erschütterndes breites graues Denkmal errichtet. Selbst die ungeheure Dimension ist stumpf. Und auf diesem steinernen Riesengrau steht dann schließlich auch halbversunken der Reif-, d. h. Krassenträger, ein müdes steifes Schaubild, verwitternd. Die Sphinx des ödesten Alltags. Und Melancholie sind auch die wenigen schüchternen Farblichter an den Trümmern. Hellgrüne Flechten fließen herunter und saugen sich in die Steine, auch schwärzliche Moosknöpfe.

An der anderen Seite wird der Reifträger von Knieholz bis oben beklettert, und seine Kandelaber halten unzählige gallegrün glühende Kerzen herauf: er wird aber von dem nächtigen Licht nur trauriger und düsterer. Herum um den Berg gegen den Himmel ein grandioses Berggewoge, in Düsternis gehüllt. Wolkenplatten schieben sich darauf. Im Hintergrunde wimmelts in einem Schlitz wie ausgehender Feuerqualm. Schwärzliche Wolken, breit und dick, hasten über den Kamm, sie hasten sehr, zwar steigen sie, aber es ist mehr wie ein Nieder- und Untersinken im Meer ihrer selbst, denn immer Neues drängt dem Höheren nach, scheint sich angstvoll und grausam dranzuhängen und herunterzudrehen, es quirlt von Weiß nach Grau, immer wandelbar.

Sausteine. Quargsteine, 1332 m. Das sind freilich gewaltige Käse. Nach rückwärts steht nun der Reifträger gegen weiß-goldenen Himmel, genau mit seiner Spitze schneidet eine gestreckte Wolke ab. Das Tiefere ist alles hell und sonnig. Jetzt bin ich von einer Wolke wie von einem Zirkusplan bedeckt, doch erreicht sie mich nicht. Vor dem Reifträger dampft gerade eine andere.

Jetzt gehe ich durch eine Wolke, zum ersten Mal. Anfangs ist mir, als hätte ich mich irgendwohin auf einen anderen Stern verirrt und käme in wer weiß welche Abenteuer. Hastig fliegender, sehr körperhafter Dunst, scheinbar lauter Einzelwesen, etwa riesige weiße Insekten, ist um mich. Links schabt sich das Tal rot wie durch einen Schleier. Die Wolke wird sehr dichter Nebel, nach oben zu nur in silbrigem Perlmutter fließend. Das Knieholz hat hier vielfach keine Nadeln und steht wie nackte grauweiße Wurzeln nach oben. Es sieht im Wolkigen aus wie ein Bein- und Knochenfeld, Schädelstätte.

Rechts scheinen die böhmischen Berge durch.

Durch eine schwere Wolke. Es ist fast Nacht, in der das nackte Knieholz bläulich wird. Um mich ein kleiner Kreis, sonst nichts zu sehn. Und die Zeit zeigt ein Uhr mittags. Hin und wieder tun sich Wolkenlöcher auf, durch die Berge starren, so der böhmische Krkonosch mit Schneefeldern, aber sehr schnell tut sich alles wieder zu. Die wieder benadelten Knieholzinseln bleiben zu beiden Seiten wie Gräber. Gespenstisches Fließen um mich. Über mir klafft ein helleres Loch auf, und es ist, als bliese ein großer Mund mich daraus heftig an.

Rechts zerrissene Schneefelder, einen Augenblick links ein haushoher Steintrümmerberg. Die Wolke regnet. Kein Knieholz, dagegen weiße Sterne zu Tausenden, Alpenanemonen. Einen Augenblick wirds Tag: alles schwimmt in übernatürlicher Helle.

Dunkel. Wogende Nebelwände. Packender Wind. Im Zwielicht weiße Anemonen wiesenweise.

Schneegrubenbaude. Ich sah sie nicht, schon als ich mit der Nase draufstieß. Alle Lampen brennen. Ich esse tüchtig zu Mittag. Und wundere mich zuerst einmal, wo die vielen Gäste herkommen. Die Baude ist ein großes, festes, gemütliches Haus. Die Welt hört mit den Fensterscheiben auf. Ich erinnere mich meiner Lieben und Bekannten der Windrose nach und schreibe Grüße.

Um nicht den Tag zu versitzen, breche ich nach dem Beispiel anderer, mehr Wetterkundiger, durch den schwarztriefigen Nebel auf, um die Sonne zu suchen. Ich finde sie in Böhmen: kurz über der Elbfallbaude guckt sie nur noch durch den Flor in ein wildes Tal voll schwärzlicher Felsabstürze. Es ist der Elbgrund. Weiter unten beginnen die Tannen. Bei der Elbfallbaude begegne ich dem ersten, bis auf die Ledertasche herab eleganten, österreichischen Briefträger.

Ich gehe zum Pantschefall und zur Kesselkoppe. Der Krkonosch ist klar, während es auf dem etwa gleich hohen Riesenkamm dick qualmt. Trotz des Windes reißen sich die Wolken nicht los. Wie kommt es, daß ein solcher Unterschied, Gegensatz, sich bei einer viertel bis halben Stunde Entfernung halten kann! Der Ziegenrücken, auch ein Hauptziel meiner Sehnsucht, erscheint vor mir als ein sehr hoher regelmäßiger Kegel, der am Ausgang des Elbgrunds aufragt.

Ich stehe auf einer Kanzel, über mehrere hundert Meter hoher, gequaderter, gebrochener Wand. Schroff, senkrecht hütet sie überall doch noch etwas Schnee. Dazu oben das grimmige Qualmen. Dieses Verließ ist finster, verlassen, groß-starr. Der Elbstreifen unten sieht bei dieser Trübe nicht anders als ein Regenwurm aus.

Immer wieder dreht der Kessel sich großartiger noch heraus. Ich stehe auf einer rechteckig vorspringenden Plattform über tiefem Pfeiler. Mit grauschwarzen Brüchen ist die Wand senkrecht hingeschmettert. Herrliche Tiefen. Neben mir gießt der Pantschefall in das Unterreich seinen dünnen Streifen in großartigem Felsenbett, über zweihundert Meter, der höchste Fall des Gebirges. Kein Zorn ist in ihm, trotz der Steile, er schwebt phantastisch.

Weiter. Rucksack und Feldflasche habe ich in der Schneegrubenbaude gelassen, so fange ich mir mit der hohlen Hand Wasser.

Drauf hin und her den Krkonosch entlang. Der Weg geht ein ganzes Stück durch Schnee.

Über den Harrachstein.

Ein muldenartiger Grund, die Kesselgrube. Gegen den Sturm muß ich hinter einem Felsen Schutz suchen, liege in Alpenanemonen und sehe über die schaurige Nähe tief nach Böhmen hinein. Schiefe Sonnenbrücken kreuzen darüber. Sowie ich nur etwas in den Sturm komme, donnert er mich an. Schnee am Gestein. Ein grauer Geröllwall schwillt mitten im Grunde und steigt bis zu halber Höhe. Die ganze ist 1434 m. Durch violette Habmichliebblüten und Anemonen schreitend, umkreise ich den Gipfel der Kesselkoppe, langsam in feiernder Einsamkeit. Orkanmassiges Orgeln schwankt unsichtbar um mich. Und das paßt wunderbar zu dem schroffen Grund rings unter mir, aber hinter ihm wechselt weites Bergland, zuerst ein Tal mit den Hofbauden und dann zum Horizont sich weiterstreckend Ortschaften, nach einem Viertelkreise der mit der Kesselkoppe gleich hohe Kahle Berg, nach wieder einem Viertelkreise zwischen Kahlem Berg und dem in Wolken gleichsam schnarchend schlafenden Riesenkamm der tiefe Mummelgrund. In diesem laufen an der tiefsten Stelle von allen Seiten Wälder zusammen, in der Weise, daß oben überall Knieholz wuchert, tiefer Einzelbäume stehen, klein und tückisch und als hätten sie auf weite Zwischenräume für ihre Freiheit acht, darauf schwarze Waldbestände.

Über das Sonnenreich oben laufen ganz tiefschwarze Gazeschleier, die Sonne schwebt verloren überm Kahlen, der weit dürren Elbwiese. Und sie verhüllt sich schnell. Es berührt mich sehr, daß die Kesselkoppe, nachdem ich sie kaum eine halbe Stunde verlassen habe, sich auch anschickt, in Wolken unterzugehn. Ich muß lange hinsehen und sehe mich selbst im Nebel herumtappen. Mein Umgang da oben kommt mir nun erst recht wie eine Feier, eine zelebrierende Handlung vor.

Und ich dringe zurück, den schwarzdampfenden Schwaden entgegen. Es scheint ein unwahrscheinliches Abenteuer und ein lebensgefährliches Wagnis, in diese mehrere Kilometer lange wüste Wolkenwut eindringen zu wollen. Muß ich nicht zerdrückt, zermahlen werden zwischen den wogenden Ballen? Wühlt da nicht Gift und Stank Himmel und Erde in eins?

Die Schneekoppe ist ganz begraben, ebenso der Silberkamm. Aber beim Näherkommen öffnen sich schon graue Schlünde, wo man einschlüpfen kann. Und so über viel moorige Wiese mit kleinen Wasserlachen wieder zum Elbgrund. Elbquelle. Ich gehe dann seitwärts der Elbfallbaude den Fall sehen. Der Blick in den Felsenkessel ist hier noch machtvoller. Nachdem er sich unter Schnee hervorgearbeitet hat, schnell heraus – die Schleuse ist gerade gezogen, stürmt ein zackiger Gischt blindwütend durch Tannen und Felsen in langem Bogen fünfzig Meter tiefenwärts.

 

7. Juni.

Schneegrubenbaude. Die Rückkehr hierher war gestern schon wie das Finden meiner Wolkenheimat. Ich trank den Abend zwei halbe Flaschen österreichischen Wein, der mir ganz vorzüglich schmeckte, und schwatzte mit zwei jungen Damen, was aber nicht sehr reiz- und eindrucksvoll war, zumal ich meine Lustigkeit nicht ganz auf sie übertragen konnte. Sitzt man aber für sich, wird man schwermütig. Gegen Abend kommt das Redebedürfnis doch gewaltig.

Aus meinem Zimmer sah ich beim plötzlichen, geschwinden Zerreißen der Wolken mit augenblicksweisem Schrecken, daß ich ganz dicht überm Schneegrubenabgrund gehaust habe in der Wolke, ohne das zu ahnen. Sonst noch kein Eindruck, weil die Sonne sofort versinkt. Grau alles.

Es ist sieben Uhr morgens. Ich trinke Kaffee, noch immer in tiefem Nebel. Bisweilen nur will er wenig reißen, aber das Dunkle ist zu zäh. Die Gäste neben mir sind sehr lustig und machen ein stundenlanges Gespräch aus den erschütternden Tatsachen, wie sie aufgestanden sind. Ich bin im Unklaren, ob ich den Plan meines Weiterwanderns umstoßen muß oder ob es sich hinreichend lichten wird.

Da, gegen neun Uhr, wie mit einem Schlage, ist die Welt blau und klar. Fegender Sturm. Ich sitze auf dem Grat, der die beiden Schneegruben trennt und verbindet. Rechts und links sind Hunderte von Metern tief senkrecht schaurige Abgründe eingebohrt. Düstere, fast schreiende Felswunden, riesen-, riesenhaft. Schnee in Schluchten und Schrunden, an den Ausgängen Gletschermoränen. Nichts ist freundlich, selbst das Tal drüben heute noch von Wolken beschwert. Nur unten in der Grube schüchtert eine wankende Wehmut mit dünngoldnen Sonnenschleiern, aber daneben in unheimlichen Wasserklecksen spiegeln sich mit schwarzen Schatten die Wolken. Mit lauernder Gewalt treten überall schmale schiefe Türme und Grate in die Gruben und scheinen bedrückt stehen geblieben zu sein vor der unheimlichen Ruhe und Kraft der Öde. Und umgekehrt, aus der Tiefe scheinen enge, zerrissene Schluchten nach dem Rande hinaufzustürmen. Daneben eine ganze Schar von viele Häuser hohen Blöcken, die allerlei menschenähnliche Gestalt nachäffen, mit spitzigen Höckern statt der Köpfe oder unverhältnismäßig kleinem Kopf bücken sich hinaus oder können jeden Augenblick vornüberstürzen. Dazu schaut unterm Schnee heraus verlornes Wasserrieseln. Ängstlich rutscht auch wieder neue fahle Sonne über den Schnee.

Ich lasse den Blick weit hinauf nach der Koppe und gar nach dem Hohen Rad und weit hinab die ungeheuren Bergflanken ins Tal fliegen. Dann von dem Schaurigen verlockt, klettre ich weiter hinab die steile Wand, daß ich nichts sehe von allem, was herum ist, nur die Große Schneegrube. Die Wildnis wächst zum Grausen. Bin ich in einer Mondlandschaft und fliege auf erloschenem Planeten, fern allem Leben, durch den Raum? Und die Sonne scheint auch im Erlöschen nach der Düsternis und Kälte. Nicht grausamer kann es auf dem ödesten ärmsten Stern sein. Ich kann mir die übergewaltige Schlucht beliebig hinter meinem Rücken verlängert denken, unaufhörlich, und überall, wo man versuchen würde, aus dem Zwinger in die Höhe zu klettern, grinsen nur diese endlos hohen spitzen Nischen, aber kein Bild oder Schutz ist in ihnen, sondern überall lehnt der Tod als Schnee, und das lallende Rieseln in seinen Tiefen wird zum kalten, leisen Hohnlachen. Da wieder freistehende Türme, zweimal, dreimal, so hoch wie Menschen sie bauen, und sie werden Gespenster durch den kleinen Kopf, den auch sie tragen und wie sehend gegen die Tiefe kippen. Eine Seitenschlucht bildet eine ganze Klamm, die über alle Worte grandios wird durch leise Sonne, die ihre Rippen herauszeichnet, während das übrige noch mehr zudunkelt. Beim Herumgehn wird, was anfangs Kessel war, ein rundes, gigantisches Gewirr von Schluchten, ausbündig wild gefügt.

Oben. Das Tal dunkelblau und ein kraftreicher Gegensatz zum Flechtengrün und Schwarz der Gruben. Auf der andern Seite klafft der Elbgrund auf. Wie gestern furchtbarer Sturm. Groteske Gruppen wie Rübezahls Zahnstocher. Ein beinahe senkrechtes Habmichlieb-Wieschen.

Bei klarer Sonne weiter, der Koppe näher.

Das Hohe Rad ist wie der Reifträger ein Trümmerhaufen, nur, bei seiner Höhe von 1509 m, von rückwärts gesehen, ein dreifach so gewaltiger Gigant. Das Knieholz reicht da nicht hinauf, kein Busch, nur ist der Berg ganz grün von der Steinflechte. Und das blaue Leben selber hängt flügelschlagend herum, so herrlich ist die Luft. O ich Seliger! Ich Seliger! – Die Herrlichkeit der Ausschau ins hellblaue Steinmeer läßt sich mit keinem Worte antasten, geschweige denn beschreiben. Der Stift zählt nur: Koppe, Brunnenberg, Ziegenrücken, weiter das Böhmische.

Der dämliche Unfug des Kaiserdenkmals auch hierher verschlagen. Ihr Wahnsinnigen! Ihr Vieh!

Hinabsteigen in die Region des Knieholzes. Tiefblauer Himmel, schneeweiße Wolke, Sonne auf der Großen Sturmhaube und dem Hohen Rad, ich im Schatten.

Für den Rückblick erscheinen wieder unsagbar großartig beide Schneegruben, der Trümmergigant neben ihnen und neben diesem die Abstürze des Krkonosch. Höhe! Höhe! Dieser Luft läßt sich nichts vergleichen! Tanz der Augen, Taumeln, Sichwerfen, weltweit, Tanz der Sinne, der Seele, Tanz allen Blutes! Ah – Wollust des Atems! Es läßt sich nicht einmal in einem Spiegel und dunklen Wort davon reden.

Mannsteine erstiegen. Man wird vom Winde gründlich ausgepfiffen, die Aussicht kann natürlich nicht noch wachsen gegen die am Fuß der Gruppe.

Mädelsteine. Der Krkonosch nimmt zu an Gewalt, auch meine Kesselkoppe, auf die ich aus dem Nebel stieg. Am erhabensten herrscht aber das Hohe Rad mit einem Zipfel der Schneegrube an der Seite. Hier ist es fast windstill. Kann der Himmel noch blauer geworden sein? Nein, dieser Luft läßt sich nichts vergleichen. Wüßte ich nur ein Gleichnis, um, was ich sehe, zu begreifen! Ich gebe mich auf, schmeiße mich hinein mit meinem Wesen wie sich der Sturm ausschüttet. In einer Wut der Wonne. Ich wiederhole umgekehrt den Ernst des Lebensmüden, der etwas Weites und Anderes im Todessturz sucht. Ich stürze von Minute zu Minute mehr in Leben, aus Leben, das hiergegen noch beinahe Tod war. Ich muß als Mensch die Weite werden, da ich sie anders nicht fassen kann, denn über meine einfältigste Einfachheit ist hier alles einfach und göttlich einfältig. Gewalt schwebt über den Bergen. Geist Gottes – wenns den gäbe und Geist der Berge nicht größer und schöner wäre. Es ist alles dies da! und darüber fort gibt es keine Bestimmung. Alles erwuchs als Gestalt seiner selbst. In zehn Jahren lernte ichs nicht beschreiben, weil es keinen anthropomorphen Hintergrund in mir gibt, der ein Gleichnis dessen draußen enthielte, das ich vielleicht einmal entdecken könnte. Vielleicht gäbe es eine Musik, eine dunkle, die selten bei geschlossenen Augen wie aus einem Punkt die Berge gleich Raubvögeln ausfliegen, ausschwärmen ließe. Das wäre Ältestes Testament. Beinahe Entdeckung des Lebensgeheimnisses selbst.

Um das Hohe Rad flimmert die Luft. Die Koppe erscheint noch fern und klein, aber wie kommt es, sie herrscht über allem und macht tief sehnsüchtig. Die Sieben Gründe sind von hier aus verborgen.

Vom Mädelkamm herunter nach der Peterbaude. Am gewaltigsten ist der Ziegenrücken von hier, Spindelbaude liegt ganz unten, der Planur schiebt sich vor. Die Kleine Sturmhaube liegt unmittelbar vor mir. Ihre Linien und die anderen – diese gekreuzten blauen Schneiden, weit, majestätisch, wollüstig. Und in der Baude wieder Musik.

Durch schönen Wald, Wassermelodie zur Linken, tief hinab bis auf elfhundert Meter, bei weichster Klarheit der Luft.

Die Kleine Sturmhaube, schlanker als das Hohe Rad, doch ein womöglich noch größerer Kegel. Vaste Dimension. Denke ich mir einen Kopf darunter, das müßte der Erdgeist selber sein. Nicht Rübezahl, o weh! – Und eine Allegorie gibt es, die diesen Helm tragen könnte: die Zeit! Die letzten Menschen, ein paar tausend Millionen, denke ich mir diesen Koloß bauend, zehn Meilen hoch, asiatisch starr blöd, hockend wie ein ägyptischer Gott, und die Menschen kriechen, ihn vollendend, wie die Ameisen in ihm und bauen ihre letzten Häuser in den Falten um seine Augen, und die Gewitterwolken verstecken sich in den Zwischenräumen seiner Finger, zehn im Hohl der Hand, und ihr Unrat, geballt, fällt von Zeit zu Zeit als reine Träne herab. Doch wozu regt sich mir solch Wahnsinn auf! Marsch! Sturm in die Höhe.

Es ist mißglückt. Ich bin trotz tüchtigen Kampfes mit Faust, Stock und der ganzen Körperwucht in den Wällen des Knieholzes stecken geblieben. Es soll irgendwo eine Lichtung geben, wo der Zugang zur letzten Spitze, wenn auch beschwerlich, doch möglich ist. Nun, königlich ist der Trümmerkönig auch so. Das Hohe Rad ist sein ebenbürtiger Bruder, die Große Sturmhaube beinah, das Kleine Rad nicht ganz. Die Wiederholung dieser grandiosen Zusammenbruchberge, größer als die Pyramiden der Pharaonen, erhaben gerichtet auf dem rauhen Kamm des Gebirges, auf diesem langen Ur-Postament von viel mehr als tausend Metern Höhe, wirkt wie die Strophen eines kalt-melancholischen Hymnus. Ja Gott, der wir Menschen, wir Tiere und alles andere Leben sind, Du singst Dir Großes über alle Vernunft.

Man ermißt nun erst die ganze Höhe bis ins Tal. Der hochstämmige Wald schlägt seinen dunklen Schwall aus der Tiefe sehr weit herauf, bis sein Gewebe sich kräuselt und Wipfel unterscheiden läßt. Die schwarzen Schatten der weißen Wolken sieht man darauf fahren und segeln bis Hirschberg und darunter Häuser als winzige Punkte. Solche Höhen hinauf und hinab hat mein Auge noch nie gemessen. In leerer Luft sieht man nicht Höhen.

Der Ziegenrücken läßt unheimlich rauhe Buckel sehen. Ein ganz klein wenig fürchte ich mich, aber ich muß dieses Böckchen doch reiten!

Weiter zum Silberkamm. Der Lahnberg ist in seinem Knieholz struppig anzusehn. Hier liegen noch sehr große Schneeflächen. Vielleicht darum Silberkamm genannt, weil sich hier dies Schaumsilber lange hält? Ein Raubvogel noch hoch über dieser Höhe, deren Krone ganze Wälle von zusammengebrochenen Granitfelsen sind. Ich begreife, was Steinschlag ist, und werde wie ein Käfer klein und unbehilflich, stelle ich mir vor, hier könnte eine Mur sich losbröckeln und ihren Stampftakt aufspielen!

Über Anemonenwiesen weiter. Eine sanfte Andacht kommt auf vor dem Entspringen der Quellen. Große Ströme sind hier noch Tropfen. Einer und noch einer. Sie rinnen zusammen, von anderer Stelle wieder so. Man kann die Ströme hier sich an die Spitze eines Fingers hängen, kann sie fortlecken, so sind sie nicht. Das Moos saugt die Feuchte der Luft und entläßt sie, wann sie schwer genug in ihm wurde.

Mittagssteine. Die größte, schönste und interessanteste Gruppe von allen auf dem Kamm. Die Sonne und die Arbeiter im Lomnitztal, die sich nach ihrem Stand auf den Steinen richten, machten den Namen. Der andere Name, Mannsteine, ist für den Beschauer in der Nähe mehr treffend. Der vordere ist ganz deutlich ein Menschkoloß. Er hat einen plumpen Kopf und einen Leib mit Auswüchsen, besonders von der schönen Steinbank ein paar Schritte weiter betrachtet. Die Stirn ist zurücktretend gewölbt, die Nase stumpf, klumpig. Die Oberlippe tritt lang, klotzig vor, der Mund ist bös verschlossen. So sieht er über den Abgrund am Gebirge weithin in den letzten Nebel des Horizontes. Auch die Formen der Steine hinter ihm sind geheimnisvoll und als bedeuteten sie etwas, was zu enträtseln ungekannten Lohn bringen könnte. Der zweite Koloß ist wie eine im Boden steckende Riesenhand schwörend ausgestreckt, der dritte ein Sack, in welchen der vordere Mann wohl eine Burg gesteckt hat, denn ihre Zinnen ragen noch heraus.

Hier ist die Koppe plötzlich sehr nah, augenblicklich wie ein Krater von Wolken umdampft. Zum ersten Mal ist sie sehr groß und alles an Pracht übertreffend.

Prinz-Heinrich-Baude. Mittag. Großstadtlokal und Großstadtkellner, daher mir ungemütlich, auch teuer. Hübsch aber ist dann ein lebhaftes Schneeballen vor dem Hause. Schließlich ist sogar eine große Abteilung Soldaten davon angesteckt, die, mit Rucksäcken ausgerüstet, vorüberwandert. Die Baude bietet einen weiten, weiten Blick ins Tal. Sie liegt am Beginn der Böschung zum Großen Teich. Der tritt unten an die schräge lange gerundete Wand, schwarzes ernstes Höhenwasser, gleichsam in verhaltener Kümmernis still. Dunkelgrünes Knieholz und melancholisches Gestein tragen diesen Eindruck langsam, ungelöst zum Rand empor. Dessen unteren Rand vermögen die höchsten Tannenwipfel nicht zu sehen. Ihr Leben ist noch zu laut und grün für den harten, hohen dunklen Spiegel.

Der Kleine Teich gehört mit zum Erhabensten, was ich sah. Nur dieses alte Urgestein hat diese Sicherheit des Ausladens zum abgründigen Kessel von so klarer Form. Den kleinen Boden des Ungeheuers von Loch bildet der schwarze Teich. Er scheint geputztes Eisen, und die grauen Rillen, das grün und dunkelgrau gefleckte Gewände um ihn nach oben sehen ebenfalls wie Metallguß aus. Das Feste, Sichere im Wachstum und der Modellierung läßt sich nicht wiedergeben. Durch die Höhe erscheinen die Knieholzinseln allenfalls wie Tuchlappen. Gegen die Große Schneegrube ist hier alles mehr gebändigt, klassisch. Es ist eine mit langsamer Leidenschaft ins Titanische hinaufwirkende Tragödie. Das Auge erschrickt, wenn es seinen Weg richtig erkennt, denn das Nackte ohne Vegetation, Granit- oder Schneemauer faßt die Höhe zusammen. Selbst die Baude unten schafft nicht die gehörige Schätzung. Erst Menschen. Da graut mir vor diesem zimperlichen Pygmäentum: jede Anemone hier oben ist gegen sie eine Riesin. Ganze Schneefelder bleiben an den Felsrippen, meterdick. Ich versuche, um nicht herum zu müssen, quer herunter zu klimmen, doch zuerst schöpfe ich die Stiefel voll, sinke dann bis ans Knie, der prüfende Stock sinkt mit der Hand unter: so muß ich umkehren und herum. Vielleicht wars gut, denn als ich drüben halb herunter bin, geht ungefähr an der Stelle, wohl wegen der Schneeschmelze, eine kleine Lawine herunter, mit Poltern und Tosen, daß ich über den Lärm verwundert bin. Über das Glück, so etwas überhaupt zu sehen, freue ich mich natürlich sehr. Nun ist die Wand von vorhin gegenüber von kalthinschwingender Linie, ungefähr regenbogenförmig umgrenzt. Ruhe gewissester Kraft. Zwischen Knieholz, das manchmal von hier aus Tintenklecksen ähnelt, wölben sich Buckel, Köpfe, Böcke. Nach rechts öffnet sich das Tal. Bedeutend erheben sich gegen das Tal ziemlich hinter der Wand die Dreisteine. Es rauscht überall in der Wand unter den weißen Krusten.

Unten in der kleinen Baude, die eine Glocke am Giebeltürmchen hängen hat, trinke ich Kaffee. Zwei Kühe grasen am Ufer. Am oberen hellgleißenden Rand der Wand bewegen sich langsam, langsam dunkle Punkte – Menschen. Unheimlich, daß ihr Rufen so laut herunterdringt. Ein schmaler Fall fällt unter hallendem Rauschen an einer Ecke in den Teich, gegenüber fließt aus ihm die große Lomnitz ab. Eine helle duftende Wiese breitet sich bis hier heran. Alles liegt im Schatten, nur ein Schneeauge spiegelt sich bläulich im metallischen Schwarz. Die ganze Wand. Sie wird im Abbild noch düsterer, unter den großen Schneeaugen fröstelnd von Wellchen, geisterhaft. Mit dem Dunkeln wird das immer schroffer, mit dem Hinsehn immer höher, das Rauschen stöhnt unregelmäßig wie Windbrausen. Der Schnee im Wasser gespiegelt täuscht manchmal dem Eingang zu bleiche Gänge rückwärts durch den Felsen vor. Die Sonne blendet als unbändiger Feuerschein ganz aus dem Randgebiet des Wassers. Ich verstehe, wie die Menschen lange glauben konnten, in dieser Flut sei kein einziger Lebenskeim. Freilich könnte mir die Vorstellung, hier wohne und hause der Tod, keine größere Scheu geben.

Zuletzt erliege ich der Wehmut, daß ich weg muß von hier, und da muß ich eben.

Ich möchte wissen, wo in mir solcherlei Eindrücke zunächst untergehn und was allmählich aus ihnen entsteht. Die Erinnerung ist das geringste. Vielleicht kommt irgend etwas Menschliches zu Tage, das nichts anderes ist als dieser Berge Eindruck gewandelt. Wahrscheinlich aber wandeln sie den ganzen Menschen, weil alle Natur nur gemäß dem menschlichen Wesen wirken kann. Da käme ich also aus meinen engen Zirkeln nicht heraus – oder nicht lieber aus den weiten? Warum sollte ein Unterschied zwischen meiner Natur und der Natur des Gebirges sein? Hätten wir nicht Gleiches, wären wir uns stumm? Jawohl, gegenseitig. Doch für dies Feine, wenn auch gewiß nicht Geringfügige, müssen erst Organe wachsen.

In Bergen ]

Oben in den fernen Farben
Horstet Sehnen, irren Mühns
Schießt in violette Garben
Wahnverwunschenen Erblühns.

Doch die Farben strömen nieder,
Klimme ich zur Höhe auf:
Rund aus Riesenkesseln Flieder
Dampft es dick zum Felsenknauf.

So kann ich mich nicht erreichen,
Bin geteilt in Leicht und Schwer,
Und das Leben winkt sich Zeichen
Übers klare, tote Meer.

Zur Wiesenbaude bei guter Weile. Es bleibt noch lange hell. Ich gehe über den Koppenplan und die weiße Wiese. Beide sind eben und mit derbem, dürrem Gras bedeckt, die letztere sumpfig. Wo der Boden versehrt ist, sieht der Torf heraus. Die Koppe steht klar und schwarz im Abend, ihre Spalten und Kanten sind erkennbar. Ich muß ihr, beinahe wider meinen Willen, noch ein Stück entgegen und bin halb verlockt, den gewiß überaus reinen Sonnenuntergang mir zu ersteigen, aber ich fürchte Müde des Hirns und der Glieder und fühle heute keine Möglichkeit mehr in mir zu Eindrücken, die überwältigen.

So werde ich denn in der Wiesenbaude zuerst beschaulich, dann ausgelassen. Mein Geschwätz bleibt nicht bloß auf die Damen beschränkt, die ich mir ausgesucht habe, sondern es setzt eine allgemeine Urfidelitas ein. Ich bezeche mich beinahe an meinem Steinwein, wobei die gewichtige solide Steinkruke, die ihn enthält, noch mit ein Labsal ist, sowie das unternehmende Räuchern der Petroleumhängelampen im weiten Saal. Gute Zithermusik und allgemeine Gesänge. Gassenhauertexte zu Melodieschmarren, mit örtlichen Anspielungen. Also: Es ist der Ziegenricken – nichts für den Dicken: – da fällt er auf die Beene – das war nich scheene. Und alles kann berlinern, ob man aus Fürth oder Lappland komme. Das heitere Geschwätz vermehrt noch eine Primanerklasse mit ihrem Oberlehrer. Man zeigt sich einen jungen Mann, der trotz völliger Stimmlosigkeit mörderisch singend ekstatisch in eine finstere Ecke starrt. Schließlich kommt der Schlaf, obwohl durch die Bretterverschläge, die die Räume trennen, alle Laute fröhlich zum Nachbarn steigen.

 

Dienstag, 8. Juni.

Morgens sechs Uhr besteige ich die Schneekoppe. Ich gehe in völliger Klarheit zwischen Sonne und Mond. Der Berg hebt immer mehr sein Gestein und Geröll auf zu seiner frohen Höhe. Ein etwas steiler, doch wenig beschwerlicher Zickzackweg führt schnell nach oben. Mir begegnen nur Kraxenträger, die große Fässer schleppen. So müssen sie wohl täglich Wasser und Bier herauftragen, wer weiß, woher.

Oben. Meine Stimmung, weite, gleichsam durchsichtige Wogen schlagend, hat etwas von dem Balsam dieser Luft. Die höchste Stelle, die ich je betrat. Ich kann nur sagen, daß ich glücklich bin. Große Liebe zur Welt. Nun bin ich einmal Mittelpunkt einer ganz ganz großen überall blauen Welt. Das Wogen der Berge hat hier aufgehört. Sie sind still, gebannt in ihre große Ordnung, markig heiter. Die Risse der Linien, die Senken der Täler, dieses ganze tiefe Blau in seiner steinernen Macht hat etwas Mythisches. Es ist, als setze jeder Blick ein Königreich hin, und der Wurf sei für ewig gebannt und dürfe nicht zucken. Kein Gedränge drückt sich unten, jeder Gipfel trägt für sich unbekümmert seine Erhabenheit, seinen Trotz, seine Klüftung, und mit einmal ist man durch bläuliches Nebeln fern in den Himmel gewatet. Ehrfurcht, doch keine Beängstung überkommt mich. Größe ist dem Menschen etwas so Natürliches, und sie einmal völlig und restlos, gar noch sinnlich zu haben, beruhigt. Und so bin ich es beinah (für einen Moment), der die Wolken nicht weit unterm Fuß segeln läßt. Dann aber wächst das Mythische in mich, während ich langsam drei-, viermal um den engen Rand der Koppe kreise, selbstvergessen, beim Stolpern über einen Stein gestört, und Namen hinlege wie die Berge selbst, wohl hundert, die Berge mit ihren Namen wie in Hand und Mund nehme.

Alles muß sein, wie es ist, scharfgegliedert durch große Schluchten und breitköpfige Berge der Nähe, Riesengrund, Melzergrund vor allem, entgegengesetzt von schmalem Sattel herabrollend und beinahe lotrecht vor dem Blick die ungeheuerliche Tiefe von achthundert Metern öffnend, begrenzt von Rosenberg, Brunnberg und den dem schrägen Kammassiv vorgelagerten Massen, und schließlich der wundervolle Gegensatz der Ferne: Böhmen mit der blauen Schar Berge, Hirschberger und Schmiedeberger Tal mit silberflimmernder Tiefe. Fast raffiniert ist der Reiz der Verteilung und des Übergangs der Farben ineinander: dunkelgrau, dunkelgrün und jedes Blau. Das hält alles in der Schwebe, macht ein Mannigfaltiges einfach, symphonisch.

Im Riesengrunde erscheinen die Tannen wie Moos, aber man kann jedes einzelne Türmchen erkennen, wie sie sich den Abhang hinanreihen. Überhaupt ist die Klarheit so groß, daß man selbst bei fernen Bergen durch lichtes Blau das Grün und Gestein schimmern sieht. Zum Riesengrund hin ist die Schneekoppe mit Felszähnen gepanzert, jeder wohl dreißig Meter lang. Schluchten rollen zwischen wildem Gemäuer zu Tal.

Auf dem kleinen Koppenkegel liegen die Häuser wie eine Bauernwirtschaft zusammen, die Deutsche und Böhmische Baude, die winzige hölzerne Rundkapelle des Laurentius und die meteorologische Station. Dennoch sollen die Winterstürme bisweilen so hausen, daß der Meteorologe und der Koppenwächter wochenlang in die Einsamkeit ihres Hauses gesperrt sind und, wenn sie es so nicht mehr aushalten, endlich auf allen Vieren zu einander zu kriechen wagen.

Ich lese beim Frühstück in der Deutschen Baude ein drolliges Zettelchen wieder, das ich bei mir führe und auf dem ich Auszüge aus dem ersten Koppenbuch, das von 1696 bis 1736 reicht, stehen habe. Da schreibt 1706 ein Besucher:

Die curiosité hat mich hierher gebracht,
Ich hab auf dir diss alles wohl betracht,
Was merkens würdig ist, doch das muß ich gestehn,
Daß ich so balde nicht auf deine Höh werd gehn.

1718 ein anderer:

Dich liebe Riesen-Kop bin ich einmal gestiegen
Du wirst mich kaum nochmals wie es geschehn, betrügen.

Endlich ein Musiker:

Capellmeister Tob. Seemann ist genandt,
der dieses schreibt mit eigner Hand,
Ich wolt lieber zu Haus pfeiffen und geigen
Als mehr auf die Schneekopp steigen.

Ich sehe den ganzen jahrhundertelangen Menschen-Pilgerschwarm hier herauf und empfinde die lächerliche Belanglosigkeit alles dessen, was wir gedacht und gefühlt haben. Ich schäme mich sogar etwas vor dem lebenden Wesen, das der Berg mir nun scheint.

Den Abstieg machen wieder atmosphärische Ereignisse so grandios. Ich gehe den sacht sinkenden Jubiläumsweg. Schwarze Riegel im Himmel regulieren das Licht so: Zwischen der Schwarzen Koppe und dem Rosenberg steigen die Kämme in ein ernstes schwarzblaues Gewand, und manchen lange Meilen in Böhmen gelb und golden. Durch weißatlasne breite Sonnenbinden spielen Schwalben, und, höher als die Spitze der Koppe reicht, ein Raubvogel. Kuckucke singen im Moll der kleinen Terzen von irgendetwas Versunkenem.

Dichtgefügte Wolken bieten sich nun meinen Füßen zum Beschreiten dar und scheinen geheim die Kraft zu bewahren, wie man wirklich auf ihnen gehen könne, ohne zu versinken. Die Sonne kocht ihr Licht auf ihnen zu quirlenden Kreiseln. Aber ich Ungefüger, schwere Knochen schleppend und noch Zentner an sie gehängt, versinke in den Wolken und komme augenblicksweise unter ihre Region. Der obere Kegel ist wie ein Phantom zergangen, und auch unten scheinen nur für ein Kleines in Wolkenkraterlöchern goldleuchtende Dörfer zu schweben. Sie schimmern wie eine sehr plastische Spiegelung. Husch, wo sind sie?

Aber erlöschendes Grauwerden schleicht in lautlosen Strömen übers Land, und dieses Land ist dämonisch, wenn alle Farben nur andere Schatten des Graus sind. Da ist gleich der Wind Dämon, der mit lautlosen Fäusten die Wolken tief ins Tal drückt. Und die Schneekoppe. Ganz unten und ganz oben graues Nichts, das heißt endlos hinauf, endlos hinab sehe ich die einförmige steile Geröllwand. Kopfgroße Steine, auch doppelt und vierfach so in Wolken hinein. Und die Steine rauchen leicht. Ich gehe auf einem ungeheuren Aschenhaufen. Ein himmelragendes Totenmal, darin wieder Jahrtausende begraben sind. Wo oben eine kleine Lücke frei wird, Geröll, Geröll, ich muß es mir ewig in den Weltenraum hinauf fortgesetzt denken. Ich stehe still in dem gespensterhaften Rauchen. Die Wolke, die eben an mich schlägt, hat Gruft- und Leichengeruch. Es ist wie der Kuß eines süßlich weichlichen Mundes. Unten klafft ein schwarzer Schlund – Geröll, Geröll in der ununterbrochenen schrägen Steile. Ich steige und steige hinab, und es bleibt die kalte Asche der rauchenden Schädel. Selten begegnet ein matt leuchtendes Felsfragment, vielleicht ein Halbedelstein. – Der traurige Weg zum Hades kann nicht phantastischer in seinem Schauer gemalt werden als diese grandios klanglose Einfachheit.

Das ist die Schneekoppe in einem ihrer Gewänder: ich weiß nun ohne Phrase, was geisterhaft ist. Wie das Wort Höhenluft mir seit einigen Tagen zum Begriff eines Hymnus geworden ist.

Ich bin auf dem Sattel, der schmälsten Stelle des Kamms, zwischen Riesen- und Melzergrund. Der Melzergrund existiert nicht. Da ist graues Nichts, dagegen ist der Riesengrund, ebenso der Hohe Brunnberg und der Rosenberg, die ihn bewanden, sonnig.

Schon bei der Rennerbaude komme ich in Klarheit. Hinter mir ist auch wieder die Koppe. Auf allen höchsten Bergen haben sich große weiße Wolken niedergelassen, andere Berge aus hellem Schaumgold. Als sei die mildeste Form des Feuers dünn ausgewalzt und zu Bauschen gebogen. Die großen Wesen haben etwas von zartester Nachdenksamkeit an sich.

Ziegenrücken! O ist das köstlich, konnte ich darauf nur schreiben, rufen und immer wieder fühlen. Das Übrige notiere ich unten in Spindelmühle. Lebenshöhe der körperlichen Arbeit! Ich glaube nicht, daß mir dies noch einmal je wiederkommen wird, nein, das glaube ich nicht. Keine schwelgerische Phantasie könnte sich eine solche Herrlichkeit ausdenken. Diese Fülle von prachtvollster Gestaltung, überlebensgroß nahgestellt, bietet das ganze Gebirge nicht wieder. Man kommt einen oft nur zentimeterbreiten Grat entlang, der steil nach beiden Seiten sechshundert Meter abfällt, in die Tiefe rast. Seinen beinahe geraden Verlauf verfolgen da unten zwei große Wasserbetten und dicht jenseits ihrer wieder zwei hohe Gebirge, zur Linken überm Langen Grund das Planur, zur Rechten überm Weißwassergrund der Riesenkamm. Alles markvoll blau und ungestüm dunkelgrün. Auf dem Riesenkamm dazu Schnee und jene großen nachdenklichen Wolkenwesen, die gerade noch ein wenig von den Spitzen abschneiden. Man sieht dauernd in die beiden Kessel, die sich jedoch aus immer anderen Wänden und Vorsprüngen bilden. Ich kann mir über die Wonnen und Wunder dieses Talblicks hinaus schlechthin nichts Schöneres denken.

Die Wassermusik von beiden Seiten her darf nicht vergessen sein, die manchmal da oder dort leidenschaftlich aufrauscht und mich ganz einhüllt in ihr Träumerisches. Zielende Sonne, dichte Hitze. Und den Ziegenrücken entlang zu kommen von Anfang bis zum Ende ist für den Ungeübten eine rechte Arbeit. Bald läuft er ein Stück eben, dann duckt er sich jäh ein paar Häuser tief, rückt ebenso jäh doppelt so hoch auf und wiederholt dieses Spiel wie in lustiger Tücke und Widerborstigkeit. Dabei erlaubt er einmal zwanzig Schritte weit einen Fuß vor den andern zu setzen auf seiner schmalen Höhe, obwohl er vielleicht einmal zucken und den Wanderer nach rechts oder links ins Wasser zur Abkühlung werfen könnte. Dann wirft er eine Felsenburg hin, und es bleibt, weil unter ihr alles glatt und ohne Halt ist, nichts anderes übrig, als flugs den Stock in die Steinlücken zu bohren, derb mit den Händen zuzugreifen, die Burg zu stürmen und zu übersteigen. Der Schweiß läuft, aber da – rechts, links das schwelgerischste Bild, man hechelt wie ein Hund vor Lust und freut sich, daß die Mühe den Körper mit in starkes Schwingen und Pochen versetzt.

Bald hinter der Burg lauert dann etwa ein Gärtchen Knieholz, dicht, wie knirschend hingekauert. Was tun? Durchschlagen unmöglich, also ein Stück herab und wo die Felsen nicht allzu steil und, wenn man einen Beinbruch allenfalls riskiert, gangbar sind, hindurchgeschlichen und gehüpft! Doch, wenn kein Durchweg zu finden ist und ein Knieholz-Zickzack wer weiß wie weit und wohin nach unten ergossen ist? Einfach mit dem Kopf durch die Wand oben halb kriechend, halb schmachvoll wie unterm Joch durch drückt man die Äste weg. Sie haben sich aber weidlich an mir gerächt und meinen Anzug mit ihrem Harz geschmiert und eingeseift, daß er ungefähr geopfert ist. Dann gehts wieder glatt. Es ist beinahe ein Gehweg vorhanden wie am Anfang, und man legt die Vierbeinigkeit ab. Schwupp, steckt der Stiefel im Schnee, und man untersucht den nassen Fuß, weil so ein verstauchtes Gefühl in ihm ist. Er schmerzt auch ein Viertelstündchen, doch dann ist alles wieder heil.

Das gebrochene Gestein ist wieder spitz und spitzig. Ich kann mich rittlings daraufsetzen, ein klägliches, aber munteres Reiterlein auf dem abschüssigen Rücken dieses Steinsauriers. Gleich darauf kleines Geröll, das erst durchstochert werden muß, bevor man sich ihm anvertraut. Ich weiß, daß hier häufig Steinschlag stattfinden soll, doch in der Nähe betrachtet, sieht das Ding nicht schlimm aus, man selber würde auch schon irgendwo in dem Tannicht hängen bleiben. Und noch immer reiht sich, wie giftig ins grüne Knieholz geschwollen, Höcker an Höcker, spitzig und schwierig, einmal wie eine Sense, ein anderes Mal wie ein Katzenbuckel. Immerwährend laufen mir schwarze halbfingerlange Spinnen über den Weg. Es glüht von oben mit feurigen Nadeln. Wozu trägt man einen Kragen hier? Damit er verschwacht und als Lappen umfällt. Gewitterwolke. Eine kleine Furcht habe ich doch, hineinzukommen in sie, aber zurück oder hin ists gleich weit, mehrere Stunden, und in schwarzer Wolke? Also bliebe übrig, sich rittlings aufs hohe Zicklein zu setzen, den Regen die Felsen an den Beinen entlangschälen zu lassen und denken, man sei der Donnergott. Kommt die Wolke nicht, sondern geht tiefer oder höher, so wäre man wohl als der bewußte höchste Punkt den Blitzen willkommen. Aber es wird nur noch etwas schwüler und heißer, das ist alles.

Gegen Spindelmühle wird der Ziegenrücken stellenweise breiter, dürre Wiesen erstrecken sich manchmal wohl fünfzig Schritt im Durchmesser. Und dann ade, blau-schwarze Wildnis! Blieb der lange Abstieg durch Hochwald, wie jeder steile Abstieg, der länger als eine Stunde dauert, für die Füße ein Stück.

Spindelmühle ist unsäglich schön in ein Rund und Eck charakteristischer Berge gebettet. Mittag und Ruhen und Dehnen. Zurück durch den Weißwassergrund. Auf jedem Ast der hohen Tannen liegt Sonne und leuchtet mir zu jedem Schritt als besonderes Kandelaberlein. Die Tannen sehen wieder aus wie gigantische Lebensbäume und sind auch wirklich welche, das Wort in seinem einfachsten Sinn gebraucht, zumal im ewigen Glanz des allgegenwärtigen Schneekamms. Und während das breite Wasser über große Tafeln hinrauscht, ist es zum Verrücktwerden schön, und ich marschiere gar schon nach Walzermelodie. Rotes Fließ, Löchelgraben und Sturmgraben münden ein, der letzte sehr steinig gebettet und hoch her, ahnungsweise sieht man durch schwarze Palisaden die Höhe der Kleinen Sturmhaube.

Loses Leben

Was da lebt in mir, das schießt
Wie ein Marder durch die Tannen
Über steilen Schnee und Schroffen,
Schwarze Felsburg steht ihm offen,
Wasserseile kann es greifen,
Und den Wandertakt zu bannen,
Der sich aus dem Herzen gießt,
Muß der Mund schon Walzer pfeifen. ]

Ein alter Handwerker begegnet mir mit gutem Gruß, und wir schwärmen vom Ziegenrücken. Er macht mir drastisch und behende einen Ritt darauf vor. Von unten zeigt sich diese Wand infolge der Tannen aber nie so schön wie von oben, immerhin stattlich genug bleibt sie auch so. Vorstellung, als könnte eine Riesenfaust sie umstoßen, dünn wie sie ist. Weißsamtige Lichter überall im Wald.

Viele Fälle, einer schöner als der andere. Man hört menschliche Stimmen heraus und bleibt ein Weilchen auf den schönen Bänken am guten Wege. In praller Sonne gischtet das Wasser, bildet einmal ein tiefes samtgrünes Becken über sonst braunem Grund, rutscht einmal lang eine Steinbahn herab und tut sich nie genug. Der köstliche Schnee am Weberwege, bisweilen mit stattlichen Eiszapfen verziert, birgt köstliche Kühlung, und alles in allem verliert man das Gefühl nicht, in einer Höhe von neun- bis elfhundert Metern zu sein. Noch bei guter Zeit erreiche ich wieder Wiesenbaude, Weiße Wiese und die Höhe der Schneekoppe.

Da bereitet sich aber schon das Mysterium, der Sonnenuntergang. Der Horizont wird still und weit. Ich lege mich in die Steine und warte ab, wie etwas sintflutartig Allgemeines den Bergen geschieht. Ich kann unter Welt meist nur das verstehen, was ich bis zur äußersten Grenze rings sehe. Hier ist es schon beinahe unbegrenzt, und was geschieht, ist Weltgeschichte. Alles draußen Daranstoßende ist nur antipodisch. Steinern, klüftig reicht das Angesicht der Erde sich dar der feurigen Mitte über ihm und läßt sich von dort regieren, läßt Farben und Lichter aus dem trotz des Feuers düstren Sonnenball über sich hinwanken. Sie kommen in geraden Strahlenmeilen geschossen. Ich sinke in einem Gefühl von Urzeit unter. Die leere bucklige Weite ist gerade aus dem Chaos geworden, und sie ist noch rauh und ungebahnt.

Dort kann noch nichts leben und bauen. Unwohnlich, streng alles, glimmernd, schwelend, lichtrauchend. Eines kalten Sternes Haut, der dunkel und einsam im Weltraum fliegt, bietet sich dem größeren Vatersterne dar, unbewußt, aber aus dem Zwange eines eisernen Müssens. Das Geschehen des Abends ist kosmisch, es geht nur den Ball aus Stein und Wasser an, und er atmet wie eine Beklemmung seinen geheimnisvollen Rauch aus dem Blaudunkel dem Gelben zu. Wer dahinein träumend Ohr und Stirn zu stecken wagte, der könnte weissagen, den ergriffe der heilige Wahn, welcher alten Seherinnen aus Erdspalten quoll.

Über den großen blauen Bergflächen des Ostens steht der Himmel strahlend violett, glüht nach der Mitte zu grünblau und hört um die Sonne in seidenweißer Ferne auf. Da steht unkörperlich leuchtend, wie nach oben horchend und ohne Innen das Hohe Rad. Der Iserkamm verschwimmt. Gelbe und rote Streifen, jeder ein weites seliges Königreich, strecken ihre unsägliche farbige Kraft über und unter der Sonne. Sie sinkt, zielt einen langsamen Farbenschacht über eine Kuppe, winkt dort einen Schattenriesen herauf, löscht lautlos zehn Berge aus, sinkt langsam, gießt lautlos ein Meer von Glut auf einen engen Fleck, immer weiter, reiner wie ein einfacher lang lang anhaltender Akkord wird das Rund. Auch dieser Stern singt mit den andren Sphären. Wanklos bleibt ein jedes, und doch ändert sich das Spiel der Farben, dieses unglaublich reiche Wunder. Nie im Leben sah ich so viele Farben, stimmig nach einem Zentrum, über einem Raume, wie er uns nicht größer gegeben werden kann, weben und ihr durchsichtiges Leben ausleben. Manchmal scheint im Ganzen ein Wehn, als würde eine Kerze, das es schüfe, angeblasen. Schmerzhaft glänzend wird die Welt zuletzt, und dann laufen schnell die Schatten und legen sich schwebend über sie.

Dieses Untergehn ist vielleicht etwas, wovon keines Menschen stärkste Worte eine Ahnung vermitteln können. Mysterium der Urzeit oder ein keiner Zeit Unterworfenes. Kommend nach den ewigen Gezeiten.

Diesen Tag, der tief und weit war wie ein Jahr, schloß ein leichtes Satyrspiel. Tanz in der Böhmischen Baude, nachdem man ein tüchtiges Abendbrot genommen hatte. Ja, diese Walzer oben waren noch etwas ganz Besonderes. Ich hatte mich an vier schöne junge Mädchen vor allen andern angeschlossen und tanzte fast nur mit ihnen, ununterbrochen. Außer mir waren nur noch zwei Herren da, auch nur noch vier andere Damen. Trotzdem versenkten wir uns in unser lustiges Drehen so, daß wir gewaltsam hinausgebracht werden mußten, spät. – Sterne oben und unten, und wo sie aufhörten, Lichter der Menschen. – Von dem allen ist das Kleinste auch unvergeßlich.

 

10. Juni. Spindelmühle.

Gestern mochte ich nicht schreiben, weil ich von dem reichen langen Tage und dem schönen, aber des Herrenmangels halber anstrengenden Tänzchen doch ermüdet war. Zudem wurde um drei Uhr morgens geweckt zum Sonnenaufgang. Die rhythmischen gewaltigen Gongschläge, die man, schlaftrunken gegen die weite Landschaft gewendet, hörte, waren etwas wirklich Feierliches. Und dann das heidnische Festspiel des Abends rückwärts, freilich bei weitem nicht so erhaben. Nur der Sturm, der einen beinahe wieder zu Boden warf, war eine treffliche Begleitung. – Ganz in der Frühe weiter. Über den Rosenberg, durchs Schrommgrundtal, Groß-Aupa, Riesengrund hin an den Fuß der Koppe. Alle diese Herrlichkeiten will ich nicht mit nachträglichen Worten mühsam machen.

Im Mittagslichte durch den steilen unberührten Blaugrund zu den Richterbauden auf der Geiergucke. Die Geiergucke war mir ein wirklicher Ärger. Lechzend: und nichts zu trinken. Müde: und eine betrügerisch kurz sich darstellende Strecke wird unendlich, zudem steil und langweilig. Pralle Sonne. Ein Mühsal. Trotz der Angestrengtheit genieße ich den Langen Grund, diesen allerschönsten des Gebirges. Er wird mir der Symbolische, nicht so, als wäre mir die gewisse Ähnlichkeit aller Gründe nicht eher bewußt geworden; ich bemühte mich vielmehr, das Besondere zu sehen, und finde nun ein erweitertes Gefühl des Allgemeinen, das die Besonderheiten mit einbezieht. Im lieben Spindelmühle ruhe ich dann bis Abend aus, mit zwei Damen lange schwatzend.

Am nächsten Tag, heute, Fronleichnam. Böllerschüsse feiern den Tag, um sechs Uhr etwa und um acht und jetzt um zehn. Die Echos rollen immerzu. Beim Barbier ist die ganze Stube vom Kriegerverein voll, der nachher in seiner Wohlrasiertheit, seiner stolzen Mützenpracht und mit seiner Musik loszieht, einer Musik, die das Tempo der Märsche in einer geradezu genialen Weise zu verlangsamen imstande ist. Sowas von Schlappheit habe ich noch nicht gehört. Aber der Zug, auf den Bergwegen farbig übereinandergebaut, sieht gut aus. Kinder, weißgekleidet, mit weißblauen Fahnen. Mein Sonnenwirt erklärt mir alles und spricht von seinem Geschäft und ist außerordentlich höflich, hat natürlich die Ährê (die Ehre) – wie der Barbiergehilfe mir seine Taxe auf meine Frage so präsentiert: Drreißig Hellerrr, mein Kavalier! Mein Wirt besitzt auch ein hübsches Gedenkbuch, in das ich zu vielen schlechten Versen wie einigen ganz guten Zeichnungen das Folgende setze:

Was ich mitnehme: ]

Von der Aura, die hier geht,
Eine Wehmut nur.
Die sich durch die Gründe dreht,
Süße Wasseruhr,
Ohne Messen enger Zeit,
Summt mir nach im Ohr.
Dieser Berge Ewigkeit
Und ihr blauer Flor,
Leben selbst in fernster Welt
Auf: rauh-großes Bild,
Wo ein Heide Andacht hält
Und sein Leben stillt.

Der Elbegrund zunächst Mischwald, trotz seiner Breite anfangs etwas kleinlich. Nachher gewaltig, zu Bewunderung der klaren, kräftigen Felsenanstiege und all ihrer Linien auffordernd. Radelfall, zweihundert Meter sein dünnes Band herabschlagend, Pantsche-Elbfall. Am Pantschefall wird wieder klar, was dreihundert Meter Höhe sind: beim Öffnen der Schleusen speisen ihn die Wassermassen keineswegs, wenn auch nur für ein Weilchen, bis unten auf einmal, sondern er schwillt nacheinander in drei Absätzen an, oben, in der Mitte, unten, und erst jetzt, minutenlang nach Abfluß der Schleusen, ist das stärkere Rauschen bis hierher gelangt. Rückwärts. Ein spitzer Kegel schiebt sich vor den andern, zuvörderst der Ziegenrücken. Mehrere kleine braune Eidechsen laufen über den Weg.

Martinsgrund mündet ein mit ganz kleinen Wässerchen. Bärengrund ebenso, wo 1726 der letzte Bär erlegt wurde. Während ich ihn mit meinen Blicken absuche, dringe ich in die Zeit rückwärts, sehe Wanderer von den wilden Bestien überfallen werden, Kaufleute, Boten, sehe auch eine vornehme Jagd auf sie. Bei ebenso stillem, rätselhaft weißen Sonnenschein wie jetzt eben. Mir hat überhaupt immer solch Mittagslicht etwas auf seltsame Dinge Wartendes und Verwunschenes. Dabei wird mir mitunter, als wären Wald und Höhen in mir, nicht ich in ihnen. Dann lebe ich das grüne Gestiege, das Verfilzte, es ist aber keine Verlorenheit, sondern wieder wie das Aufgehn des ganzen Menschen in einen Sinn des Horchens. Beinahe mehr körperlicher Zustand.

Beklemmung ]

Der dunkelblauen Berge Steigen
Zu Wolken auf, hinab, im Kreis
Starrt wie ein todeskühler Reigen,
Den sie getanzt jahrtausendweis.
Und mancher Gipfel Sprung und Neigen
Dünkt Nachhall jauchzerhaften Schreis.
Nun fröstelt durch sie leisres Geigen
Der Bachessaiten, weiß wie Eis …
Zu Stein beklommen hockt die Schar
Und länger wird ihr Tannenhaar.

Die kleine Elbe hat hier sehr viel seichte Stellen, die ohne jedes Rauschen völlig glatt laufen.

Zum zweiten Mal durch den Weißwassergrund mit zwei jungen Damen. Auf einer breiten Steinplatte im Fluß, drunter und drüber Wasserfall, halten wir ein kleines Mahl und Rast. Bei aufziehendem Gewitter erreichen wir den Kamm und flüchten dann in die Hampelbaude, ein sehr gemütliches neues Lokal, das nach alter Schlesierweise, aber anmutend vornehm eingerichtet ist. Teller und Geräte an der Wand, ausgestopfte Vögel, ein Fuchs, geschnitzte Stühle, ein Spinnrad usw.

 

11. Juni. Aufbruch nach Krummhübel.

Nun wird alles vertrauter. Die Bilder stehn wie die Geräte eines Hauses da. Es ist fast befremdend, wie leicht man sich einwohnt. Auch das Atmosphärische verliert schon das Überraschende der ersten Betrachtungen. Und doch ist heute wieder das interessanteste Wolkenkämpfen, derweil ich an der zuerst unter vielen Schneetunneln sich durchbohrenden Kleinen Lomnitz den Melzergrund herabsteige. Das Klären und Brauen am Himmel ist vorläufig noch völlig geheimnisvoll. Dabei scheinen aus dem Innern der Tannenbäume schwarze Lichter zu dringen. Buchen und Eschen. Im Kleinen hat das Auge immerwährend Gelegenheit, das Liebgewordene zu wiederholen und, so wörtlich wie möglich genommen: es lebt sich ein.

Pfaffen und derartigem Gelichter sollte eine solche Schönheit, wie sie hier lebt, doch den deutlichen Beweis erbringen, daß kein irgendwie persönliches Gottwesen dahinterstecke. Das sogenannte »Sinnvolle« ist nur für den oberflächlichen anthropomorphisierenden Blick da, dem tieferdringenden wird alles immer sinnloser und – schöner. Unter allen Scheinbeweisen des Göttlichen ist der aus der Natur einer der flachsten. Ihr religiösen Kälber – und er ist sehr unreligiös! Man stelle sich nur den Popanz vor, der sich diese Formen erdacht hätte. Vom ungeheuer Mannigfaltigen, unausdenkbar Komplizierten eines jeden Lebensatoms keine Spur von Ahnung!

Während ich durch Krummhübel wandre und zurück nach Wolfshau, regnet es. Das Gebirge verschwindet im Nu.

Ich bin ein Herz und eine Seele:
Mit den Spinnen und den Schlangen
– Ist es ihnen anders wohl –
Mit Kuckucken, die kuckucken,
Nebellichtern, die fahl spuken,
Flüglern, die verworren sangen
Und in Fichten, schwarz und hohl,
Lautlos krochen und verschwanden,
– Und was irgend zwischen Berg und Berg vorhanden. ]

Gegen Abend bei bedecktem Himmel und schwüler Luft in den Eulengrund, bis gegen die Grenzbauden. Der Waldboden ist hellgrün dicht bewachsen, umso ernster stehn die Tannen da. Sie reichen bis ins Wasser. Weil alles angenäßt ist, liegt ein Duftwirrsal in der Luft, schwüle Fruchtbarkeit des Holzigen und Grasigen. Die Luft macht heute harte Abstufungen, zittrig die Linien der Vorberge, selbst die blaugrauen Wolken so dicht und schwer anzusehen und vom Raum hinter sich abgehoben, als müßten sie herabfallen. Dazu hebt die Stille auch die Rufe der Vögel mehr ab vom übrigen Leben der Natur. Der Forstkamm bildet eine spitze Ecke, in die der Weg läuft, so daß er in der senkrechten Winkelung scheinbar enden muß.

Gewitterstimmung. Alles hat die Stimmung moll nach den kleinen Terzen der Kuckucke. Es ist doch wohl nur Zufall, daß ich sie bei klarem Wetter immer die große Terz, bei trübem die kleine habe rufen hören. Merkwürdig ist, daß jetzt häufig ein Vorschlag zum eigentlichen Ruf ertönt, wie Kuckuckuck, Kuckuckuckuck. In nahezu schwarzer Gegend treffe ich eine der langen schwarzen Schnecken, denen ich im Harz immer begegnete.

Über welch rätselvollen Boden schreite ich doch! Wieviele Lebensschicksale wuchsen hier doch ineinander, schwere Bergesschicksale. Alles ist verknorrt und in der Feindschaft verschwistert. Heldengegend der Tannen usw. Ob das, was in der Menschengeschichte als Kulturwerden im allgemeinen zeitlich verteilt ist, in der Geschichte der Farren, der Moose nicht räumlich, nach Gegenden verteilt sein sollte? Im Hauptzug nur – letztlich sind ja alle Entwicklungen, wie es schon eigentlich im Begriff dieses Wortes liegt, gleich.

Neue seltsame Einblicke in den Boden. Die Gedanken schlüpfen wie augenblicksschnelle, erhellende und vergehende Lichter zwischen Wurzeln und Steinen: Wenn alles, was ich in einer Viertelstunde durchschlendere, in mir verständlicher Sprache sein Schicksal erzählen wollte! Was in der Breite durcheinander geschieht, würde, hintereinander gestellt, unabsehliche Jahrhunderte füllen. Was wir, wir Isolierten, wir Menschen durch den von der Quelle abgelösten Willen, durch vorschnell fertiges Denken als hohe Werte aufgestellt haben, für besonders erstrebenswert halten, würden wir vielleicht alles als nichtig fallen lassen, und gleich unseren Brüdern, den Moosen, Farren und Tannen zu mehr instinktgeführtem Denken kommen. Also auch von hier aus: Fortschritt? – Blech! – Verweilen bei solcherlei Meditieren. Wie ist doch die Sage von Petrus Forschegrund schön!

Regen. Eile. Näheres Gewitter. Last, wie vor dem Losbrechen. Maler mit Staffelei. Es müßte auch für ihre Kunst auffangbar sein, was mir so nahe rückte.

Unter einem schönen Ahorn vor meinem Hotel. Vereinzelte Bäume spazieren gleichsam über die Wiesen bis zu Wald und Berg. Regenbogenränder zeichnen die Wälder auf den Bergen nach. Und gleich dieser Erscheinung märchenhaft ist das Ziehen aller Düfte von weither aus blühendem Flieder, Rhabarber, Holunder, so daß sich fernsten Duftquellen Entsprungenes von rings hier unterm Ahorn findet, miteinander kreist und wiegt und sinkt und steigt.

Abends auf der Veranda einsam. Nur ein Paar noch, das aber nicht zusammenkommen konnte, weil der Mann nicht wollte. Nachher die Kellnerin und ihr Bräutigam. Ich rauche viel und zeche zeche zeche. Gewitter.

Dann wirds aus der Nacht Abend. Auf dem Kamm runde Flecke, Kesselbuckel, Strahlenschluchten. Verklärter Bezirk. Ein Zeichen, daß seine Sendung erfüllt und auslischt.

 

12. Juni.

Von Wolfshau durch den Melzergrund auf. Des Mondes Lichtsichel geht lieblich mit mir.

Verwirrung ]

An den Lärchen hängen offne Nadelkränze,
Spielen selig durcheinander, hüpfend, wischend.
Tiefenklarheit immer trennend, immer mischend,
Schlüpfen von den Felsen weiße Wasserschwänze.

Und ein nekromantisch Mosaik aus Düften
Hat in düster sanfte Strudel mich genommen.
Und es ist ein schweres Brausen in mich kommen,
Bebt als Wanderns langer Takt in Herz und Hüften.

Von Morgen an wandere ich in der Stimmung des Losreißens, denn nun will ich weiter nach Böhmen hinein und verlasse die Gegend meiner lieben Schneekoppe, die mir so viele und große Erlebnisse gab. Ich will auch nicht noch einen Tag oder zwei hier zulegen, um nichts abzuschwächen und innen keinen Tau vertrocknen zu lassen. Aber ich sitze lange und an vielen Stellen im An- und Zugesicht der Koppe, auf beiden Seiten, im grandiosesten am Fuße des höchsten Berges im Melzer- und länger noch im Riesengrund, immer gieriger die unsäglich schönen lebendigen und weiten Maße zu fassen und halten. Die beiden Kessel und der Berg über sie hinaus ist geniale Arbeit der Natur, und das Empfinden ihrer großen Arbeit überhaupt, das wohl der Hauptgewinn der ganzen Tage war, wird von ihrem Hauch angeweht. Was ist das doch, wenn man vom Riesengrund her die Koppenwand betrachtet! In Prosa: 800 m und gute Form! Aber. – Es ist zu schwer, weiterzugehn. Ich komme nicht fort und werde wohl ab und zu in folgenden Jahren hier kleben, im Geiste auf solchem Wiesenvordergrund liegen, zwischen einer Tollwut von Blühen: Löwenzahn, eine Art Feuernelke, Gras, – aber einem schönen Wahnsinn. Und – – – Die Scheidemelancholie zeigt mir deutlicher die manchen Unglücksstätten um die Koppe. Im Melzerkessel die Grundmauern der von einer Lawine umgerissenen Lomnitzbaude, an der Koppenwand zum Riesengrund das Kreuz mit der Inschrift: Bergführer Stephan Dix am 1. April 1900 durch Lawinensturz verunglückt. Er wollte seiner schon vier Tage toten Frau einen Weg zum Tal hinab schaufeln. – Weiter unten die Ruinen der Häuser, die das Hochwasser der Aupa zerstört hat – weit hinunter riß sie auch Häusern, die noch stehen, Ecken aus, die nachträglich wieder eingeflickt wurden. Und solch ein Friede liegt über dem kleinen Gewässer nicht minder wie auf der hohen Wand.

Und so gehe ich denn endlich weiter durchs Aupatal, bis Johannisbad, an vielen sehr schönen Bauernhäusern vorbei, die bunt auf berauschend grünen Hochwiesen zu beiden Seiten des Flusses liegen. Alle fünf Minuten komme ich an einem meist blumengeschmückten Bildstock vorüber. Christus, Maria, die Heilige Barbara, die Dreifaltigkeit in grobem Stuck als gemütlichste Familienszene, aber dennoch mit der drollig frechen Behauptung: das ist ein Gott. (Er erbarme sich immer und überall seines Rindviehs.) Bei Dunkeltal treten hohe bewaldete Berge eng heran. Ich bin an vielen Holzschleifen vorbeigekommen, deren meiste Ignaz Dix gehören. Welcher Name in Aupa sehr verbreitet ist, beinahe wie der Name Mitlöhner, den ich wohl ein Dutzend Male las. Und wie die Knüppelbrücken im ganzen Gebirge.

Zuletzt grüßt noch einmal die Koppe mit ihren muntersten Stunden: Ich treffe vor Johannisbad die vier schönen Haupttänzerinnen, und wir verweilen miteinander.

Nun seien noch die Hauptunterströmungen dieser Reise im Riesengebirge in ein paar heut entstandenen Versen zusammengefaßt:

Chor der Gebirgsbäche

Über der bunten Zeit
Liegt die Einsamkeit,
Über der Einsamkeit
Liegt das All,
Der Werdeschwall.

Was mit Laub oder Haar,
Vom andern abgegrenzt war,
Wird mehr als eins, hängt wunderbar
Und grenzlos ins All,
Den Werdeschwall.

Jede Form wird zunicht
Und spielt nur wie quirlendes Licht
Vor der unendlichen Schicht,
Dem raumlosen Schwall,
Dunklen Lebensall. ]

Der Lebensmantel ]

Ich gehe hin im Tannenzottenpelz
Der Berge, Stein und Moos ruhn eng verfilzt
Die Felsenzähne stehn in grauem Schmelz – – –
Da ist's, wie wenn aus Erde Sonne schmilzt.

Und dann, als blickte ich durch Nebelsud.
Ich höre, wie das Leben formenbunt
Sich träumt; hart, weich, in Geist und Holz und Blut,
So tief der Mantel hängt um felsnen Grund –

Und stünde nun ein Geist der Berge auf,
Und schüttelte den Pelz zum Tale ab,
Und krachten zahllos Schicksale zu Hauf
Lawinen, Muren, tanzte Grab mit Grab –:

Dasselbe Leben schriee, mancher Sprach',
Aus Vogelkehlen, weißem Tannenfleisch,
Forellenkiemen, gellem Menschenach,
Aus Graugranites donnerndem Gekreisch,

Doch stiege Einer aus dem Sterbesturm,
Das wäre Gott – geringer als der Kot
Viel weniger als jeder Tannenturm
Und alle Form, selbst weniger als Tod.


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