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Grau ist der Morgen; Nebel verhüllen die Landschaft; ein frostiger Wind pfeift uns entgegen auf der Plattform der elektrischen Bahn, die uns in sausender Fahrt an der Kante des herbstlich bunten Stadtforstes Hannovers, der großen, schönen Eilenriede, vorbeiführt, den Berg hinauf, vorüber an den schmucken Villen von Kühlshausen, durch Kirchrode hindurch. Hier hat die Fahrt ein Ende.
Zur Linken, hinter Obstbäumen, von gelbblättrigem Wein überrankt, winkt uns schon das Försterhaus; sein grünes Tor, das braune Fachwerk, der lichtblaue Maueranstrich sehen so einladend gemütlich aus. Und da ist ja auch Herr Hofjäger Delion, der uns schon erwartet. Wir sollen heute seinen Tiergarten gründlich kennen lernen, gründlicher als die Leute, die hier Sonntags auf den weiten Rasenflächen unter den mächtigen Eichen und Kastanien bei Kaffee und Bier sitzen. Die Warnungstafeln, die große Teile des Waldes für die Besucher verbieten, für uns sind sie heute nicht da.
Ein Pfiff, und da kommen Gretchen und Flick angerast, die feingebaute Teckelhündin und der scharfe Rüde. Die müssen mit; wer weiß, ob nicht irgendwo ein Ilk sitzt oder ein Wiesel über den Weg läuft. Aber erst noch ein bißchen gefrühstückt in dem hellen Saal, dessen Wände Damhirschschaufeln und Hirschgeweihe schmücken und in dem schon einige bettflüchtige Radler lustig beim Kaffee sitzen und Ansichtspostkarten in die Welt schicken.
Herrlich ist der Blick von hier aus über die Hauptallee und den grünen, mit gelben Blättern bestreuten Rasen. Wie Schildwachen stehen die beiden Pyramideneichen da; die hohen Kastanien zaust der Wind und pflückt ihnen die letzten bunten Blätter ab; in den knorrigen Eichen rätscht der bunte Markwart; sechs dicke Amseln fahren hastig auf dem Rasen hin und her und stieben davon, wie beim Eichelsuchen der älteste Hirsch, ein weißer Schaufler, an ihnen vorübertrollt. Und hier zwischen den Stühlen und Tischen steht ein schwarzer Schaufler und lauert, daß der Nordostwind ihm Kastanien abschüttelt, und vertraut nimmt er das Stückchen Zucker, das wir ihm zuwerfen. Ein Flug Meisen krimmelt und wimmelt im Geäst, ein Kleiber lockt mit lauten Flötentönen, zwei Eichkätzchen jagen sich in der breitästigen Eiche, gellend lacht der Grünspecht, und gewaltige Krähenflüge erfüllen die Luft mit Lärm.
Wir gehen am Gatter entlang. Um unsere Stiefel rauscht das welke Laub seine alte, schöne, beruhigende Melodie, beruhigend, wie das Rauschen des Wassers am Mühlenwehr. Zur Linken zieht helles und dunkles Damwild langsam hin, die Geäse am Boden, Eicheln suchend. In diesem Jahre geht es ihnen besonders gut, in diesem Mastjahre. Der Hirsch, der da steht, äugt uns mißtrauisch an; seitdem es neulich einmal hier geknallt hat, ist es aus mit seiner Vertrautheit, und durch das hohe gelbe Gras der Blöße zieht er dem Ellernbruche zu.
Ein Trupp Schwanzmeischen überfliegt uns und hängt sich in die Apfelbäume; ein köstliches Bild, diese mausegroßen langschwänzigen, feingefärbten Vögelchen, beweglich wie Quecksilber. Aus dem alten Schuppen schlüpft der Zaunkönig, macht uns einen hübschen Diener und schnurrt fort. Über uns schlüpfen im Gezweige die Goldhähnchen, mit dünnen Stimmchen piepend, und an dem Schuppen rutscht der Baumläufer entlang. Die Kleinsten unserer Vogelwelt haben wir auf einmal im Augenbereich.
Wohin wir blicken, Damwild. Hier sitzt ein Alttier im Bett, dort steht ein anderes mit zwei Kälbern. Die Kleinen trauen dem Frieden nicht; in hellen Fluchten geht es der Dickung zu; hinterher trollt die Mama. Achtung! Herausfordernd schreit in dem Fichtenstangenort ein Hirsch. Ein anderer antwortet. Und da klappert es auch schon; wir hören die Schaufeln aufeinander prasseln. Langsam pirschen wir uns heran. Da, hinter dem Graben, dicht an dem großen Innenzaun, wie der Forstort heißt, sind sie. Nur schwach erkennen wir die schwarzen Kämpen in dem Zwielicht des Fichtenorts, sehen sie wie Schatten gegeneinander fahren, hören das Geprassel der Schaufeln, das Schnauben der Tapferen. Und jetzt geht die wilde Jagd weiter in das Dickicht des Waldes; ein Siegesschrei ertönt; in vollen Fluchten setzt der Abgeschlagene über die Waldwiese, und der Sieger gesellt sich zu seinem Rudel, das langsam sich am Grabenborde weiteräst.
Hier, auf der Bank vor der Waldwiese, wollen wir rasten. Vor uns dehnt sich die weite Wiese mit ihren gelben Mehlhalmen und braunen Disteln und ihren wunderbar getönten Baumgruppen. Hier ist ein herrliches Plätzchen. Über uns fächeln die Fichten mit grünen Ästen, in denen die Goldhähnchen piepen; vor uns zieht ein kapitaler Schaufler außer Schußweite an dem düsteren Fichtenmantel hin, der im weiten Bogen, dem Gatter folgend, die Wildwiese einrahmt. Gegenüber in den Fichten ertönt der Schrei des schwarzen Schauflers, der dort verschwand, und bald klappert und prasselt es auch dort wieder; und auch hinter uns, zur Rechten in dem jüngeren Eichenort, ist ein Duell.
Da unten fliegt ein Sperber, dort, hinter dem Zaun, über der Breiten Wiese. Wer kann quäken? Schnell die Faust geballt, den Mund darauf; jammervoll ertönt Lampes Schwanengesang. »Geh weg, geh weg!« Über uns schnurrt es. Stillgesessen! Ach, nichts; ein Dutzend Häher haben Lust auf Hasenbraten. Wie sie neugierig die Hollen sträuben, die bunten Gesellen! Sie trauen so recht dem Frieden nicht; die drei regungslosen Gestalten auf der grauen Lattenbank kommen ihnen verdächtig vor. Pulver seid ihr nicht wert, ihr Spitzbuben! Fort mit euch! Ein Wink mit der Hand, – rätsch, ätsch! – mit Schreckensgeschrei stiebt die Rotte von dannen. Der Sperber aber hat das Quäken nicht vernommen; er war zu weit und über dem Winde.
Hier muß man im Vorfrühling sitzen, abends um die Uhlenflucht, wenn in den Dickungen die Rotkehlchen ticken, im Sool vor uns die Frösche plärren, auf der Breiten Wiese die Bekassinen meckern, von allen Wipfeln die Drosseln flöten, in den Birken die Finken schlagen. Wenn dann über Hannover die Sonne rotglühend untertaucht, der Schnepfen-Stern über die kahlen Bäume blinzelt und der Kauz im raumen Stangenholze heult, dann geht es hier »wiwiwi« und »moark, moark«; dann kommt er gestrichen, der Vogel mit dem langen Gesicht, die Waldschnepfe, und dann knallt es dort unten im Witzenholze, im Misburger Wald, bei Ahlten und Müllingen, im Gaim, im Erben- und Bokmerholz und an der Seelhorst. Und dann – aber Flinte an die Backe! Domms! Wir sitzen hier und schwelgen in seligen Murkeerinnerungen, und Flick macht unterdes die Feistschnepfe hoch. Na, die ist doch noch besser als der Strauchdieb von Sperber.
Wo eine ist, sind auch mehrere. Darum fort, am Gatter entlang, dort liegt die Schnepfe gern. Wieder rauscht das braune Laub unter den Pirschschuhen. Ein Spießer und einige Alttiere schrecken aus ihren Betten auf und trollen der Dickung zu, uns lange nachäugend aus sicherer Entfernung. Dichte Schwärme einer frostharten Mückenart tanzen am Zaune über dem Grenzgraben, ab und zu zickzackt eine Wintermotte vor uns her. Klack! sagt es alle Augenblicke, wenn eine Eichel fällt. Klatschend stiebt ein Flug Ringeltauben aus der Blitzeiche, und breitklafternd schwebt ein Bussard über die Wiese. Hier, in dem Stammloch der dicken Eiche mit den trockenen Ästen, von denen die Kugel schon manche Krähe, manchen Raubvogel herabwarf, nistet alljährlich die Hohltaube.
Ein lärmender Schwarm Saatkrähen und Dohlen wimmelt über uns. Noch schauen wir ihnen nach, da geht es »klack! klack!« vor uns. Mit reißendem Zickzackflug stiebt wieder eine Feiste dahin. Schade, daß sie der ersten nicht Gesellschaft leistet! Ein alter Spruch sagt: »Wenn der Hund die Mäuse steht und der Jäger beert – ist die Jagd keinen Dreier wert.« Aber viel Wert hat es auch nicht, den Krähen nachzuäugen, wenn man die Feistschnepfe sucht. Wieder stößt Gretchen etwas hoch. Mit lautem Gegocker steigt ein Fasan hoch, wunderschön schußgerecht. Aber da kennen Sie den Hofjäger schlecht! Die Fasanen schießen, die vom Andertschen Interessentenholze hierhin verstrichen sind, weil die Fabrikanlagen dort den Waldfrieden störten! Im Leben nicht! Die werden gehegt und gepflegt, damit sie im Tiergarten Standwild werden. Erst Heger, dann Jäger!
Jetzt sind wir auf dem Horne, wie dieser Forstort heißt. Hierdurch führt von der Haltestelle die Hauptallee über die Breite Wiese, hier strömt es im Sommer bunt heran von fröhlichen Menschen. Aber heute ist es still. Die Sonne brennt durch die Wolken und läßt die bunten Blätter rechts und links vom Wege leuchten und erwärmt Tausende von Blattwespen, die verfroren im Laube saßen. Überall blitzen die blanken Flügel der Spätlinge in der Luft; unsere Hüte, unsere Joppen, unsere Gesichter, alles wimmelt von ihnen, und erbost schnappen Flick und Gretchen nach dem lästigen Geschmeiß.
Dort liegt der Fang. Dorthin, in dieses System grauer Lattenzäune, wird das Wild getrieben, wenn ein Stück lebend abgegeben werden soll, erst in den großen Vorraum in dem Fichtenstangenort, dann in die Blendung dahinter, von dort in die beiden durch Fall- und Schiebetüren geschiedenen Kammern, und aus dem letzten Gelaß, dem Ausfang, führt eine Zaungasse, der Lauf, in den Kasten. Hier liegt auch die Wildscheune, hier stehen die Raufen für die Fütterung und eine Salzlecke; und dort steht ein Denkstein an der Stelle, wo der Herzog von Cumberland seinen ersten Schaufler streckte, und die vielästige runde Eiche da mit den vier Pfählen bezeichnet den Platz, wo König Ernst August bei einer Lappjagd zwölf Schaufler erlegte.
Manch frohes waidmännisches Bild hat seit 1679, wo Herzog Johann Friedrich den Tiergarten anlegte, der schöne Wald gesehen. Glänzende Jagdfeste werden heute hier nicht mehr abgehalten, und niemand bedauert das weniger als der Hüter dieses Waldes, dem sein Wild an das Herz gewachsen ist, wie den Hannoveranern ihr schöner Tiergarten, der ihnen an schönen Sommersonntagen Erquickung bietet nach der Last arbeitsvoller Wochen.
Wenn dann an hellen, klaren Tagen die Sonne auf der Breiten Wiese brütet, dann lebt und webt es im Tiergarten von fröhlichem Volk. Von zwei Richtungen flutet es heran: von der Haltestelle her in breiten Massen, ein Gewimmel duftiger Waschkleider, bunter Hüte und strahlender Sonnenschirme, und vom Torwege, wo das Rad und der Weg vom Kirchröder Turm her für Zuzug sorgt. Aber dann bin ich nicht gern dort. Lieber sind mir die taufrischen Morgen im Frühling, wenn aus dem braunen nassen Laube die weißen Windröschen, die blauen Leberblümchen und die bunten Lungenblumen hervorbrechen, die Finken wie toll schlagen und der Specht an den spitzen Zacken der wipfeldürren Samenbuche trommelt, und die warmen Maimorgen, wenn die Pfauenaugen über die Wege flattern, wenn unter dem lichten Buchengrün, in dem der Wildtäuber so zärtlich ruckt, die gelbe Waldnessel goldne Flecke bildet und die weiße Waldmiere den Boden mit hellen Beeten schmückt, dann bin ich liebend gern im schönen Tiergarten.
Und dann kommen die Tage, wo der Wald mit dunkelgrünem Schatten die Frühlingsblumen unter sich tot macht und es auf den Wiesen und auf den Rainen an zu blühen und zu prangen fängt, wenn auf dem breiten Wiesengelände purpurne Knabenkräuter mit dunklen Blumentrauben im hellgrünen Grase prunken und goldgelb der Trollblume gelbe Kugel leuchtet; dann fliehe ich zu gern in aller Herrgottsfrühe auf dem Rade hinaus, verbummle in des Tiergartens Waldheimlichkeit ein paar köstlichreiche Stunden.
Und ist der Winter im Lande, bedeckt er mit weißem Leilicht das Moos und das Fallaub und das Dürrholz, dann patsche ich gern durch den Schnee. Der weiße Leithund weist mir dann die Fährten und Spuren von Damwild und Hase, Fuchs und Marder, Wiesel und Eichkater; Häher und Krähe, Meise und Zaunkönig erzählen mir alte Geschichten und plaudern von deutscher Waldschönheit.
Ob der Frühling mait, ob der Sommer lacht, ob der Spätherbst nebelt oder der Winter starrt, immer ist er mir lieb, immer hab' ich ihn gern, den schönen alten Tiergarten oben am Berg.