Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Buchschmuck

Adrien Boiledieu

Buchschmuck

Käme es uns bei, die alten und doch ewig jungen Gestalten der neun Musen einmal nach Rang und Reihe zu gruppiren, so geschähe es zuversichtlich, daß wir Deutschen der heitern Thalia die letzte der Stellen einräumten. In der redenden wie in der tönenden Dichtung ist sie von jeher das Stiefkind unseres Volkes gewesen, und zu dauerndem Gedeihen hat sie es nimmer unter uns gebracht. Wol haben ein Lessing und Mozart unsrer Sprache ein classisches Lustspiel und eine classische komische Oper geschenkt; doch blieben dies vereinzelte Erscheinungen auf einem, wie die Erfahrung lehrt, dem deutschen Wesen fern liegenden, wenig cultivirten Feld. Was Lortzing später, aus der Noth und Kümmerniß einer kleinbürgerlichen Existenz heraus, sich zum Trost und Thalia zu Ehren gesungen, macht ebenso wenig, als des vornehmeren Flotow musikalische Maskenscherze und des fruchtbaren Roderich Benedix harmloses Familienlustspiel, ernsthaften Anspruch darauf, der Reihe echter Kunstgebilde eingefügt zu werden. All' jenem gebricht, was diese eben zum Kunstwerk stempelt: die Poesie und Formenschönheit, der ideale Hintergrund, dessen auch die komische Kunst nicht entrathen darf, soll sie nicht ihrer Weihe verlustig gehen.

Moderne Tage zwar haben uns um eine neue komische Oper höheren Stils bereichert. Hermann Götz, der Frühverstorbene, hat uns noch kurz vor seinem Ende mit einem reizvollen Werk dieses Genres: »Der Widerspenstigen Zähmung«, beschenkt, das sich mit außergewöhnlicher Schnelligkeit und Energie die Pforten der vornehmsten Bühnen unsres Vaterlandes erschlossen. Auch Richard Wagner, der Beherrscher der Gesangsbühne der Gegenwart, von dem auch Hermann Götz, gleich der Ueberzahl der heutigen Operncomponisten, gar Vieles erlernte, hat – ob immer sein Genius vorzugsweise in den erhabeneren Regionen der tragischen Kunst heimisch ist – es nicht verschmäht, einmal das Gebiet der komischen Oper zu betreten. Wenigstens hat er uns seine »Meistersinger« unter diesem Namen vorgeführt. Deutsch, urdeutsch ist, was er uns in ihnen gegeben; aber komisch nicht in dem Sinne, in dem wir's gemeinhin begreifen. Vielmehr einem Musik gewordenen Satyrspiel der Alten dürften wir es vergleichen: denn hinter der scherzhaften Maske birgt sich ein tiefer, oft bittrer Ernst. Wir Deutschen können's nun einmal nicht lassen ernsthaft zu sein. Lachend zerdrücken wir die Thräne im Auge, und aus manchem Tropfen Wermuth ist unser Humor zusammengemischt. Gerade die Tiefe unsres Gemüths hindert die Leichtigkeit unsrer Empfindung: die Tugend ist uns zum Nachtheil, der Vorzug zum Mangel geworden.

Witz, leichte Wortspiele, wie sie andere Völker ergötzen, sind in unserer Kunst flüchtige Gäste. Nur in der Localposse Wiens und Berlins haben sie Aufnahme und Pflege gefunden. Auf die niedere Kunstart dieser aber bliebe, neben dem bisher Erwähnten und dem, was Jungdeutschland Heiteres gedacht und gedichtet, in der Hauptsache die Rolle beschränkt, die Thalia auf unsrer vaterländischen Bühne spielt, gefiele es uns nicht, zu unserer Erheiterung zuweilen von dem Schatze andrer Nationen zu borgen.

Bei unsern Nachbarn drüben im Westen und Süden gedeiht, was uns selber versagt ist. Leichtlebiger und piquanter, phantastischer und sinnlicher als wir, boten sie der heiteren Muse eine natürliche Freistatt dar. Sie haben ihr bunte, lustige Feste gefeiert und in ihrer nationalen Kunst ein lebendiges Denkmal errichtet. Ob man ihr einst auch bei uns noch Kränze flicht? Ob das neu aufgerichtete deutsche Reich der alten Schuld wahrnehmen und die lang Vernachlässigte zu Ehren bringen, ob der deutsche Humor frischeren Muthes seine Flügel heben wird, um sich in das Reich der Dichtung und der Töne tragen zu lassen und mit seinem Zauberstab eine neue Blütenwelt zu wecken? Oder werden wir, gewohnt im Reiche der Musen die Ersten zu sein und Allen voran zu schreiten, immer und immer den Andern hintanstehen, wenn es gilt, dieser Einen unter den neun Schwestern zu huldigen? Werden wir, so uns nach einer Stunde leichten Genusses verlangt, immer nach dem fremden Ueberflusse greifen müssen, um uns nicht neidlos der Früchte zu freuen, die ein wärmerer Strahl als unsre Heimatsonne reifte?

Wie dem auch sei, noch gehen wir, uns des Gemeinbesitzes der Kunst getröstend, an der reichbesetzten Tafel unsrer Nachbarn zu Gaste. Wir öffnen ihren Söhnen bereitwillig die Kunsthallen, die unsre eignen Erzeugnisse nicht zu füllen vermögen, und längst erwarben die Besten unter ihnen bei uns das Heimatrecht. Von all' den Fremdlingen aber, deren heitere Gaben wir dankbar schätzen, steht keiner uns Deutschen näher, als Boieldieu. Das Gemüthvolle seiner Weisen, seine Verwandtschaft mit Mozart haben ihn uns vorzugsweise lieb gemacht, und der Klang seines Namens ist uns kaum minder vertraut als seinen Landsleuten. Ein Bild voll lächelnder Anmuth und Jugendfrische, ist er und das Werk, mit dem er seinem Ruhmeskranze das unverwelklichste Blatt eingefügt, uns Allen lebendig, und dennoch hat sich bereits ein volles Jahrhundert seit seiner Geburt vollendet.

Am 16. December 1775 (laut den Standesregistern, also nicht am 15., wie durch Fétis u. a. irrthümlich verbreitet wurde,) kam François Adrien Boieldieu, der Schöpfer der modernen komischen Oper in Frankreich, in Rouen zur Welt. Sein Vater, ein Mann von Verdienst, Geist und Wissen, war hier als erzbischöflicher Secretär angestellt, während seine Mutter, eine geborene Dumouchel, die gesuchteste Modehandlung der Stadt unterhielt. Mehrere seiner nächsten Verwandten bekleideten angesehene Aemter und haben dem Vaterland mannigfache Dienste geleistet. Der Eine im Parlament, ein Andrer, Abbé Boieldieu, als vortrefflicher Kanzelredner und Seelsorger, ein Dritter, Graf Mollien, endlich – der Bruder der zweiten Mutter, die Boieldieu's Vater, nach erfolgter Trennung von der ersten, seinem Sohne gab – als Staatsmann und Minister im ersten Kaiserreich. Der Letztere namentlich bezeugte Adrien viel Wohlwollen und Zuneigung; vielleicht war auch seine Protection ihm hier und da förderlich. Wenigstens sehen wir Boieldieu's Laufbahn vom Anfang bis zum Ende fast ausnahmslos vom Glück geleitet, das ihm eine treuere Genossin gewesen, als den meisten Künstlern; denn kaum hat ihm das Leben ein weniger heiteres Antlitz zugekehrt, als es uns aus seiner Kunst entgegengrüßt. Von früher Jugend an schon führten seine Wege, eine kurze Zeit der Bitterniß abgerechnet, geebnet dahin. Der Cultus der Gottesgabe, die er in sich spürte, ward ihm zu keiner Stunde verkümmert oder entweiht, und was Anderen erst nach beschwerlichem Kampf zu erreichen vergönnt ist, warf das gefällige Schicksal ihm, seinem Liebling, freigebig in den Schoos.

Daß er ein geborener Musiker sei, trat in aller Frühe schon zu Tage, und nicht sobald ward sein Vater dessen inne, als er die ihm gewordene Aufgabe begriff, das seiner Fürsorge anvertraute Talent nach allen Kräften zu stützen und zu fördern. Sich, ohne reich zu sein, doch eines behaglichen Wohlstandes erfreuend, gab er den kleinen Adrien, oder » le petit Boiel«, wie man scherzend seinen Namen abkürzte, dem bestberufenen Musiker Rouen's, Broche mit Namen, nicht allein in die Lehre, sondern zugleich in's Haus. Dieser, ein vielgereister und geschätzter Schüler des berühmten Padre Martini, hatte sich als Orgelspieler und Improvisator einen so weitverbreiteten Ruf erworben, daß man an Festtagen oft von fernher gezogen kam, um ihn zu hören, und selbst Pariser Musikfreunde den Weg nach Rouen nicht scheuten, um seine Improvisationen denen des Virtuosen von Saint-Sulpice, Séjean, zu vergleichen, welcher als der erste Meister seiner Zeit gefeiert ward. Leider nur war Broche mit nicht geringerer Leidenschaft als seiner Kunst auch dem Laster der Trunksucht ergeben und in Folge dessen auch im Verkehr mit seinem Schüler so launisch und heftig, ja brutal, daß dessen feinorganisirte Natur empfindlich darunter litt und er selbst aus seinem Unterricht weniger Vortheil zog, als ihm die künstlerische Bedeutung des Lehrers von vornherein zu versprechen schien. Nichtsdestoweniger unterdrückte der Knabe den Eltern gegenüber jede Klage, wol aus Besorgniß, mit dem Meister zugleich auch der Musik entzogen zu werden. Auf eine harte Probe freilich sah sich damit seine Liebe zur Kunst gestellt. Davon entwirft uns die Feder Jules Janin's in einem Artikel des Journal des Débats (October 1834) ein anschauliches Bild. »Was ist eine Quinte!« so herrschte – erzählt er – der trunkene Broche einst seinen betroffenen Schüler an, und da dieser verlegen schwieg, warf er ihn ohne Weiteres kopfüber die Treppe hinunter und befahl ihm, sie mittelst seiner Hände wieder emporzusteigen. »Das ist c!« rief er, als das Kind zitternd die erste Stufe heraufstieg; »das ist d, e, f, g!« rief er bei der zweiten, dritten, vierten und fünften. »Wie viel Schritte hast du nun gemacht?« fragte er dann. »Fünf!« lautete die Antwort. »Nun merke dir also, daß die Stufen c bis g eine Quinte bilden!« Und um seiner Lehre noch mehr Nachdruck zu geben, bekräftigte er dieselbe noch durch eine derbe Ohrfeige.

Einmal, an einem hohen Festtage aber geschah es, daß man bei Beginn der Messe vergeblich des Organisten harrte. Er hatte im Weinhaus seine gottesdienstlichen Verpflichtungen vergessen. So setzte sich denn statt seiner sein jugendlicher Schüler auf die Orgelbank und überließ sich, ob auch vor Aufregung bebend, den frommen Eingebungen seines andächtigen Herzens mit so schönem Erfolg, daß die versammelte Menge, die nichts von dieser Vertretung ahnte, meinte, Meister Broche habe sich diesmal selbst übertroffen. Erst später erfuhr man, wer der bewunderte Orgelspieler gewesen.

Mächtigere Anziehungskraft indessen als Orgel und Kirche übte von frühauf die bunte Welt der Bühne und die dramatische Musik auf Adrien. Das Theater war sein liebster Aufenthalt, und seine glücklichsten Abende waren es, wenn er einen Freund Broche's, der im Orchester daselbst beschäftigt war, zu den Vorstellungen begleiten durfte. Höhere Freuden kannte er nicht, als eine komische Oper von Monsigny oder Grétry, oder eins der Werke Dalayrac's, Berton's oder Méhul's zu hören, die sich dazumal ihrer jungen Berühmtheit freuten und das Repertoire der Provinzialtheater speisten. Ja, so unbezwinglich war seine Lust, ein neues Werk kennen zu lernen, daß er, nachdem er eines Abends der ersten Aufführung einer Oper beigewohnt hatte, von dem Wunsch verleitet, auch die am nächsten Abend stattfindende Wiederholung zu genießen, den Entschluß faßte, sich bis zum Beginn derselben, also volle vierundzwanzig Stunden, im Theater versteckt zu halten. Wirklich gelang es ihm auch, die Nacht über unter einer Bank verborgen zu bleiben; am andern Morgen aber wurde er entdeckt und seiner flehentlichen Bitten ungeachtet, erbarmungslos zur Thür hinaus getrieben.

Natürlich säumte der gestrenge Meister nicht, dies Vergehen unnachsichtig zu ahnden. Die unverhältnißmäßige Härte jedoch, mit der er jedes, auch das unbedeutendste Versehen, strafte, kränkte den Stolz des von Natur so zärtlichen, liebreichen Kindes auf's Tiefste und verleidete ihm den Aufenthalt in Broche's Hause endlich dergestalt, daß ein heimlicher Fluchtplan in seiner Seele keimte. Genug, als es eines Tages das Mißgeschick wollte, daß Adrien die Claviatur des Instrumentes, dessen er sich bei seinen Studien bediente, mit Tinte befleckte, bangte ihm dermaßen vor den Folgen seiner Unachtsamkeit, daß er den bisher nur still genährten Gedanken urplötzlich zur Ausführung brachte und, nicht allein das gefürchtete Haus, sondern gleichzeitig auch seine Vaterstadt und Familie verlassend, auf und davon lief, so weit ihn seine jungen Füße trugen.

In der schlichten Wanderherberge eines Hirten, der dem Todmüden mitleidig sein eigenes Lager überläßt, findet er Nachtquartier und Zehrung. Die Hoffnung auf seinen guten Stern beflügelt seinen Schritt, Er glaubt an seine Zukunft. Gleich Grétry, dessen »Blaubart« höchste Kunstbegeisterung in ihm erweckte, gelobt er sich, in Paris Neues, Großes zu vollbringen. Achtzehn Francs in der Tasche langt der Fünfzehnjährige in der fremden Riesenstadt, dem Ziel seiner heißesten Wünsche, an und sucht sich in einem schlechten Gasthof der Rue Saint-Denis ein ärmliches Unterkommen. Aber nur zu bald ist seine karge Barschaft erschöpft, und aus der Herberge ausgewiesen, freund- und hülflos, sieht er sich dem Mangel und der Verzweiflung preisgegeben. Ein Ausweg nur scheint ihm noch offen: ein Grab im feuchten Bett der Seine, seines Heimatflusses. Er zögert nicht länger es zu suchen. Da hört er plötzlich, als er sich bereits nach einer geeigneten Stelle umschaut, am Ufer hinter sich seinen Namen rufen und erblickt den Diener seines Vaters, der ihm schleunigst nachgeeilt und seiner Spur gefolgt ist, um ihm eine Geldsumme von seinem besorgten Vater und einen Empfehlungsbrief Mollien's, seines nachmaligen Onkels, an dessen Gemahlin einzuhändigen. Mit mütterlicher Güte nimmt sich diese Letztere des schönen Knaben an und läßt ihn in ihrem Hause eine zweite Heimat finden.

Wie lange Adrien in Paris verweilt und ob er, wie man vermuthet, seine Studien unter Leitung eines Lehrers daselbst fortgesetzt, ist nicht erwiesen. Selbst die eifrigen Nachforschungen Arthur Pougin's, des neuesten und sorgfältigsten Biographen Boieldieu's, der das reichhaltigste Material über ihn beigebracht Boieldieu, sa vie, ses oeuvres, son caractère, sa correspondence. Paris, Charpentier et Cie. 1875. und die Angaben seiner Vorgänger Fétis Biographie universelle des musiciens. und Héquet A. Boieldieu, sa vie et ses euvres. Paris, Heugel 1864. vielfach ergänzt und berichtigt, haben es nicht klarzustellen vermocht. Gewiß ist, daß er im Jahre 1793 in seine Vaterstadt zurückgekehrt war, muthmaßlich durch die Gräuel der Schreckensherrschaft vom Herd der Revolution vertrieben und veranlaßt, sich in der Nähe der Seinen einen friedlicheren Aufenthalt zu suchen. Doch auch hier verfolgte ihn die Gefahr, wenn uns Résuveille, einer seiner Biographen Boieldieu, sa vie, ses oeuvres. Rouen, Dubust. 1851. recht unterrichtet. Auf einer Reise durch die Provinz, erzählt er, berührte Garat, der berühmte Sänger, zu dieser Zeit auch Rouen. Er concertirte auf allseitigen Wunsch – denn auch in jenen Schreckenstagen verleugnete sich die angeborene Vergnügungslust der Franzosen nicht – und Boieldieu hatte ihm eben unter lebhaftem Beifall eine Romanze eigener Composition am Clavier begleitet, als das erregte Publicum plötzlich » La carmagnole«, den Revolutionsgesang zu hören begehrte, mit dem man die verhängnißvolle Thätigkeit des Schaffotes zu begleiten pflegte. Garat erbleichte und intonirte mit bebender Stimme den Refrain der geforderten Melodie – da stieß Boieldieu mit kräftiger Hand sein Instrument zurück und verließ mit einem Blick tiefster Entrüstung gegen die Zuhörerschaft den Saal. Um den Folgen dieser seiner kühnen Demonstration zu entgehen, sah er sich zum zweiten Male zur Flucht nach Paris genöthigt. Indessen war seines Bleibens diesmal nicht lange. Die Sache wurde zu seinem Glück beigelegt und er blieb unbehelligt.

Noch im selben Jahre auch feierte er seinen ersten belangreichen Erfolg, als am 2. November 1793 sein dramatisches Erstlingswerk: die zweiactige komische Oper: » La fille coupable« – ein Gegenstand gespanntester Neugier für ganz Rouen – auf dem Théâtre des arts daselbst in Scene ging. Sein eigener Vater hatte als Verfasser des Textbuches die Genugthuung, ihm die ersten Lorbeeren gewinnen zu helfen, und unter den Zuhörern war wol in der That Keiner in Zweifel, daß den jugendlichen Componisten sein Instinkt von Anbeginn richtig geführt und er in der komischen Oper seine eigentliche Domäne gefunden habe. Auch der Berichterstatter des Journal de Rouen steht nicht an, ihm eine Stelle unter den Berühmtheiten der Zukunft zu versprechen. »Der erste Schritt des Bürger Boieldieu auf der lyrisch-dramatischen Laufbahn,« schreibt er, »erweckt die schmeichelhaftesten Hoffnungen. Man darf mit Recht viel von ihm erwarten, wenn er, durch hohe Grundsätze erleuchtet und durch Erfahrung geleitet, seine Arbeiten am Studium der großen Meister, die er sich zum Vorbild gesetzt hat, reifen lassen wird.«

Zwei Jahre später folgte dem ersten ein zweites umfangreicheres Werk: die dreiactige Oper » Rosalie et Mirza«, die ebenfalls unter Mitarbeiterschaft seines Vaters entstand und am 28. October 1795 an gleicher Stelle die erste Aufführung erlebte. Die Ouvertüre, der einzige noch vollständig erhaltene Theil der ungedruckten Partitur, enthält, laut dem Urtheile Pougin's, der Einsicht in das Manuscript genommen, den Keim all der Eigenschaften, die später das feine, distinguirte und wesentlich französische Talent Boieldieu's charakterisirten. Die Grazie, Klarheit, Eleganz und Gewähltheit des Ausdruckes, die seine Schöpfungen auszeichneten, treten schon hier hervor. Von neuen Combinationen, Kühnheiten irgend welcher Art dagegen ist in ihr ebensowenig als in einem seiner späteren Erzeugnisse die Rede.

Während der Zwischenzeit, welche die beiden Opern von einander trennt, nahm Boieldieu auch einmal die Feder des Schriftstellers zur Hand, um für eine ihn begeisternde Idee: die Errichtung einer Musikschule in Rouen, nach Muster der unlängst zuvor in Paris begründeten, zu wirken. Sein schöner Plan, auf den man neuerdings zurückgekommen, jedoch verwirklichte sich nicht, und dieser erste literarische Versuch, von dem leider nur ein im Journal de Rouen enthaltener Auszug auf die Gegenwart kam, blieb der einzige seines Lebens.

Das glückliche Resultat seiner dramatischen Erstlingsthaten und die relative Ruhe, die in Paris mittlerweile wieder eingetreten war, bestimmten den jungen Künstler, seine Carrière nun in der Landeshauptstadt fortzusetzen, und so machte er sich denn noch im Jahre 1795 zum dritten Male, ob auch diesmal nicht mit der Heimlichkeit eines Flüchtlings, dahin auf den Weg. Eine Empfehlung Garat's öffnete ihm das musikalische Haus des Componisten Jadin, der ihn mit seltener Gastfreundschaft aufnahm und ihm zehn volle Monate hindurch Tisch und Wohnung bot. (Die Erzählung Fétis' und Anderer von der bitteren Noth, die Boieldieu nach seiner Ankunft in Paris erlitten, und dem daraus resultirenden Zwang, als Klavierstimmer sein Brod zu verdienen, ist demnach, gleich manchem andern von Fétis Verbreiteten, in's Reich der Fabel zu verweisen). Jadin auch dankte er die Bekanntschaft mit Rode, Lamare und allen angesehenen Künstlern jener Zeit. Er führte ihn in die Gesellschaft ein und gewann ihm die einflußreiche Protection der Familie Erard, in deren Salon sich alle Pariser Celebritäten vereinigten. Méhul, Cherubini und Anderen begegnete er hier. Welches Glück für einen jungen Musiker wie Boieldieu, ihnen nahen und mit ihnen in Verkehr treten, ihre Belehrung empfangen zu dürfen!

Durch Compositionen von Romanzen – ein Genre, der zu jener Zeit seine höchste Blüte erlebte und seitens der besten französischen Musiker mit Vorliebe gepflegt ward – wurde Boieldieu's Name zuerst in Paris bekannt. Von Garat in unvergleichlicher Weise vorgetragen, erregten sie allgemeines Wohlgefallen. Einige wenige von der großen Anzahl, die er schrieb: » S'il est vrai que d'être deux«, » O toi que j'aime«, » Le ménestrel«, sind noch jetzt in Frankreich unvergessen. Leicht, natürlich und elegant, wie sie waren, sah und hörte man sie auf allen Piano's, oft auch in Begleitung der Harfe, die zu Ende des vergangenen und Beginn des gegenwärtigen Jahrhunderts das Instrument der Mode war, wie es deren zu allen Zeiten gegeben hat. Boieldieu selbst schrieb Manches für dieselbe. Unter seinen Instrumentalcompositionen fanden vier Duo's für Clavier und Harfe neben einem Trio für Piano, Violine und Cello und einer Reihe von Claviersonaten besonderen Beifall.

Das Honorar, das Boieldieu für diese früheren Arbeiten empfing, war übrigens sehr bescheiden. Fétis erfuhr es aus des Verlegers eigenem Munde, daß er für keine der Romanzen mehr als zwölf Francs bezahlt habe. Für die ersten gab er vermuthlich gar nichts, und dennoch brachte ihm eine einzige derselben einen Reingewinn von mehr als zweitausend Franken. Der Ruf des jungen Tondichters in Paris aber ward durch sie begründet, und er, der vor Kurzem als Fremdling hier eingezogen, sah sich mit einem Male nun gekannt und geliebt allenthalben, wo man nur Salonmusik pflegte. Auch seine persönliche Erscheinung mit der Eleganz ihrer Manieren, der Grazie ihrer Unterhaltung, machte kaum weniger Glück als seine Melodien.

Indeß begannen seine Leistungen die Aufmerksamkeit und das Vertrauen der Theaterverwaltungen und der Librettodichter auf sich zu ziehen. Auszeichnung genug für den jungen Meister, wenn wir bedenken, daß Frankreich damals weniger denn je an dramatischen Productionen leichteren Genres Mangel litt. Das musikalische Lustspiel gedieh und freute sich ja seines Lebens, während sich ringsum die jammervollsten Tragödien abspielten und das Blut der gemordeten Unschuld in Strömen floß. Das Repertoire der Pariser Opera comique hat im Jahre 1792 nicht weniger als zehn, 1793 zwölf und 1794 funfzehn neue komische Opern aufzuweisen. Durch Vermittlung Jadin's, der ihm bereits den ersten Verleger verschafft, empfing Boieldieu nun auch das Textbuch einer einactigen komischen Oper: » La famille suisse«, das Saint-Just zum Verfasser hatte. Die Vollendung der Partitur ließ nicht lange auf sich warten, und am 12. Februar 1797 debütirte der kaum 21jährige Boieldieu zum ersten Male in Feydeau, einer der angesehensten Pariser Opernbühnen.

Das Werk gefiel dergestalt, daß es nach der Mittheilung eines Zeitgenossen ( Charles Maurice, Histoire anecdotique du théâtre) »während dreißig Vorstellungen sogar mit der »Medea« Cherubini's wetteiferte, die im März auf derselben Bühne erschien und einen sehr bedeutenden Erfolg erzielte.« Auf jeden Fall hatte sich der Tondichter mit dieser Arbeit die Unternehmer des Theaters so günstig gestimmt, daß man ihn noch im selben Jahr mit einer Gelegenheitscomposition: » L'heureuse nouvelle« betraute, die den Vertrag von Campo Formio feierte und der einen Monat später noch ein anderes Werk ähnlichen Genres: » Le Pari, ou Mombreuil et Merville«, im Théâtre Favart nachfolgte.

Wichtiger jedoch als die günstige Aufnahme dieser kleineren Schöpfungen war ihrem Autor der Erfolg eines dreiactigen musikalischen Dramas: » Zoraïme et Zulnare«, vor dessen Schicksal ihm selber bangte. Es war dies die erste Oper, die er in Paris vollendet hatte, ob ihr auch drei andere in der Aufführung bereits vorangegangen waren. »Ich componirte sie,« äußerte der Meister später selbst in einem Brief an Maurice, »mit zwanzig Jahren, ohne ein Wort von Composition zu verstehen, nur von den Rathschlägen lebend, die ich zur Rechten und Linken aufgriff, keiner Schule, keiner musikalischen Coterie angehörend. Aber ich kannte Gluck, Mozart, Cherubini, Méhul auswendig; ich las ihre Werke und hörte die Grétry's. Auch Paisiello's und Cimarosa's Opern lagen fortwährend auf meinem Clavier. Im Umgang mit ihnen bildete sich mein Talent.« Geraume Zeit inzwischen hatte die Partitur bei der Administration des Théâtre Favart gelegen, ohne daß man sich zu einer Aufführung entschließen konnte. Ein glücklicher Zufall nur beschleunigte diese endlich, allen Bedenken zum Trotz. Man hatte geringes Zutrauen auf ihre Wirkung gesetzt und staunte nun um so mehr über den Enthusiasmus, den sie (am 11. Mai 1798) unter den Zuhörern erweckte. Fétis – der den Componisten und sein »angenehmes Talent« fünf Jahre nach seiner Ankunft in Paris kennen lernte und als Schüler in nahe Beziehung zu ihm trat – bemerkt, daß er den eigenthümlichen Charakter von Boieldieu's Genie schon hierin vorgezeichnet fand. »Leichte, graziöse und geistreiche Melodien,« schreibt er, »eine Instrumentirung voll reizender Details, ein richtiges Gefühl für die Scene sind die Eigenschaften, durch welche sich diese Oper auszeichnet, die man als den Beginn zu Boieldieu's späterem Ruhm ansehen darf.«

Dieser ersten bedeutenderen seiner Partituren stellte der Autor bei ihrer Veröffentlichung eine Widmung an Méhul und Cherubini folgenden Wortlautes voran: » Souffrez que vos noms aimés des arts se lisent à la tête de cet ouvrage. C'est en vous prenant pour modèles que j'ai obtenu le succès, dont le public a daigné le couronner. J'admirai longtemps vos chefs-d'oeuvres avant d'en connaître, d'en chérir les auteurs, et si le sentiment profond du vrai beau peut donner l'espoir d'y atteindre, je devrai peut-être mon talent à l'enthousiasme que m'inspirent les vôtres

In einem Zeitraum von funfzehn Monaten hatte Boieldieu vier neue Opern an die Oeffentlichkeit gebracht und daneben Muße gefunden noch eine Anzahl kleinerer Vocal- und Instrumentalcompositionen zu vollenden. Dieselbe, an die Fruchtbarkeit der Italiener erinnernde Productionskraft bewährte sich bei ihm auch weiterhin; wurden doch in abermals funfzehn Monaten wiederum drei Werke: » La dot de Suzette« (Sept. 1798) – das, auf Text von Dejaure nach einem beliebten Roman Fievée's bearbeitet, mehr als funfzig Wiederholungen erfuhr –, » Les méprises espagnoles« (April 1799) und » Emma, ou la prisonnière« (Sept. 1799) – Letzteres in Gemeinschaft mit Cherubini geschrieben – von ihm gehört.

Im Jahre 1800 ward Boieldieu als Professor des Pianofortespiels an das fünf Jahre zuvor begründete Conservatoire de musique berufen. So guten Klang hatte der Name des 25jährigen jungen Mannes, daß man ihn einer Stellung neben den Besten seiner Zeit würdig erachtete. Sie, die unter seinen mitlebenden Kunstgenossen die vornehmsten Plätze einnahmen, wurden nun seine Kollegen und Mitarbeiter an der musikalischen Erziehung der Zukunft. Sonderliches Lehrgenie zwar war ihm, laut dem Zeugniß mehr als eines seiner Schüler, nicht gegeben. Fétis, der noch im Jahre 1800 in seine Classe eintrat, nennt ihn sogar, seiner Verehrung für ihn unbeschadet, »einen ziemlich schlechten Lehrer.« Allerdings fügt er hinzu, daß die belehrende Unterhaltung des vielseitig Gebildeten (er las gern und viel und zeichnete und malte auch vortrefflich), seine feinen glänzenden Bemerkungen über die Kunst den Schülern für das, was ihm abging, reichliche Entschädigung boten. Vor allem war sein moralischer Einfluß auf die seiner Führung Anvertrauten tief und bedeutend. Mochte er immer kein vollkommener Musikpädagog sein – denn geläufiger als alle Theorie war und blieb ihm die Praxis – sein Beispiel machte Vieles wieder gut, was seine Lehre versäumte. Er war mild und gütig, voll neidloser Beurtheilung und wärmster Anerkennung fremden Verdienstes, eine edle und gemüthvolle, wahrhaft liebenswürdige Künstlernatur im Leben wie im Schaffen. Von seinen Schülern verehrt, von den Frauen bevorzugt, von seinen Kunstgefährten geschätzt, von Allen geliebt und geachtet, hatte er keinen Feind – ein seltener Fall gewiß, zumal bei einem so auserwählt glücklichen Menschen. Neid und Bosheit, Verleumdung und Spott haben sich nicht an ihn herangewagt, der selber Keinem ein Leids zufügte im Leben. So fand auch eine seiner Schwächen: eine seltsame Furcht vor den Auslassungen der Kritik, zu seinem Glücke keine Nahrung. Still und unangefochten ging er seinen Weg dahin, ein rechtes Sonntagskind, im freundlich gedeihlichen Sonnenschein, der ihm die Flügel nicht versengte, ihn nur erwärmte und befruchtete. Seine Werke haben, wie die jedes Anderen, verschiedenen Erfolg gehabt, bald mehr, bald minder gezündet, je nachdem sie zu mehr oder minder glücklicher Stunde geschaffen wurden, oder auch je nachdem ihre dichterische Grundlage seine tonkünstlerische Begeisterung weckte. Einen wirklichen Mißerfolg, eine chute, wie die Franzosen es nennen, hat er niemals erlebt. Da, wo der Erfolg, wenn nicht fehl schlug, so doch beeinträchtigt wurde, muß in der That das Libretto zumeist die Verantwortung übernehmen.

Es ist eine alte Gewohnheit des französischen Publicums, mehr als dies in Italien von jeher und in Deutschland bis vor Kurzem geschehen ist, den Operntexten Gewicht beizulegen. Die gleich vom Beginn des Gedeihens der Oper in Frankreich an stattgehabte Verbindung von Lully mit Molière und Quinault, wie ein ihnen angeborenes lebhaft dramatisches Gefühl, hatte die Franzosen frühzeitig dahin geführt, wenn nicht die Vollkommenheit der Tragödie oder des Lustspiels, so doch zum mindesten einen relativen Werth vom Libretto zu beanspruchen. Dies Letztere, nicht der musikalische Gehalt einer Oper, bedingte das Maß des Erfolges derselben, die günstige oder ungünstige Aufnahme, die sie fand. Als gleichberechtigte Kräfte rangen Componist und Dichter um den Preis und theilten sich zu gleichen Hälften in das Resultat, mochte es nun Triumph oder Niederlage bedeuten. Die alte Lebensfrage der Oper, in wie weit die ihrem Wesen nach gern verweilende, in der Empfindung sich ausbreitende und vertiefende Tonkunst sich vereinen lasse mit dem unaufhaltsamen Fortschritt der Handlung: dem dramatischen Grundprincip; jene Frage, die durch Gluck angeregt, uns Deutsche ein volles Jahrhundert beschäftigt, bis sie neuerdings durch Richard Wagner eine, wenn auch vielfach angefochtene Lösung erfuhr, ist in Frankreich längst praktisch beantwortet worden, freilich nicht in einem uns genügenden Sinne. Unsern Nachbarn steht das dramatische dem musikalischen Bedürfniß voran; darum übernimmt auch, gegenüber der Oper, nicht ihr musikalisches, sondern ihr dramatisches Gefühl den Richterspruch. So kam es, daß oft eine tüchtige musikalische Arbeit das dichterische Ungeschick entgelten mußte. Denn nimmer ließ der kräftig reale Geschmack der Franzosen sich ungestraft eine jener Banalitäten auftischen, wie sie der musikschwelgerische Italiener und der idealistischere, dem Sinnlichen abgewendetere Deutsche nur zu geduldig hinnahmen und zum Theil noch nehmen.

Aus eben diesem Grunde widerfuhr der Oper » Beniowski«, die Boieldieu am 8. Juni 1800 veröffentlichte, ein kühlerer Empfang, als ihr sonst ohne Zweifel gewiß gewesen wäre. Spricht doch Héquet, der erwähnte Biograph des Meisters, in seiner Analyse der wenig bekannt gewordenen Partitur es unumwunden aus, daß »man kaum eine traurigere, in einem einfältiger emphatischen Stil geschriebene Arbeit finden könne«, als dies Machwerk Duval's. In breiterem Rahmen gehalten als die Mehrzahl von Boieldieu's Werken – sie umfaßt drei Acte – ist sie außer » Zoraïme et Zulnare« wol die einzige Oper, darin der Componist eine wirklich dramatische Tendenz verfolgt. Dem komischen Genre gehört sie keineswegs an, ungeachtet des Wechsels zwischen Musik und Dialog, der sie, einem streng festgehaltenen Gesetz zu Folge, von der königlichen Musikacademie verbannte und ans die Bretter der Opéra comique, das eigentliche Terrain Boieldieu's, verwies, das sein Witz, seine Laune beherrschten. Sie gehört vielmehr jener gemischten Operngattung an, die zu damaliger Zeit in Frankreich mit Vorliebe gepflegt ward und die, wie Liszt sagt, »sich in einer schwebenden Scala zwischen dem Ergreifenden, Anmuthigen, Piquanten und Komischen hielt, nach Thränen bald ein Lächeln folgen ließ, und ohne den tragischen Kothurn anzulegen, doch auch die Maske Thalia's nur halb vornahm.« Grétry mit seinem » Richard coeur de lion«, Méhul mit seinem » Joseph«, Cherubini mit seinen » Deux journées« – obwol er dieselben als komische Oper bezeichnet – haben uns berühmte Repräsentanten dieser Gattung gegeben.

An Méhul schloß sich Boieldieu in seinem » Beniowski« an. Ihn nahm er zum Vorbild, dem zu Liebe er, nach Art der älteren französischen Schule, hier und da die Melodie der Declamation, dem Rhetorischen zum Opfer bringt. Er bezwingt seine innerste Neigung, um einen ihm von Natur fernab liegenden Weg einzuschlagen; freilich ohne daß ihm diese unfruchtbare Selbstverleugnung besonders zum Heile gereichte. Fleiß, Reflexion und Wille müssen vielfach ersetzen, was ihm an Temperament und Wissen fehlt. Gleichwol gelingt es ihm bisweilen in der That, sein großes Vorbild zu erreichen; wie denn Grétry beispielsweise den Chor der Verschworenen geradezu als eine »göttliche Eingebung« bezeichnet haben soll. Bei einer fünfundzwanzig Jahre später statthabenden Wiederaufnahme trug die Oper, nachdem der Autor die schwächeren Theile einer wesentlichen Umarbeitung unterworfen, sogar einen glänzenden Erfolg davon.

Glücklicher von Anbeginn, obwol, musikalisch gewogen, von ungleich leichterem Werth war »Der Kalif von Bagdad«, das Werk, das dem ebengenannten am 16. September 1801 folgte. Es erlebte einen Succeß, wie ihn das Theater selten sieht. Die Ouverture vor allem, deren vierhändiges Arrangement noch heute das Studium aller angehenden Clavierspieler bildet, und die Arie der Késie » De tous les pays«, die den musikalischen Stil der verschiedenen Nationen imitirt, versetzten das Publicum in Entzücken. Der melodische Fluß des Ganzen, seine harmonische Einfachheit sicherten ihm Popularität in Frankreich. Der Musikverstand unserer Nachbarn umfaßte eben dazumal nicht viel mehr als die kindlichen Reize einer Melodik, die noch völlig im Banne der altnationalen Chanson lag. Ungewohnte Modulationen und harmonische Fortschreitungen, complicirtere contrapunktische Combinationen waren ihnen mehr unbequem und störend. Sie schätzten die musikalische Gelehrsamkeit und ihre Vertreter, sie neigten sich ehrerbietig vor dem Namen Cherubini; aber sie hielten sich vor ihm in respectvoller Entfernung, und ihre vollen warmen Sympathien haben sie ihm, trotz der beifälligen Aufnahme seines »Wasserträgers«, niemals entgegengebracht. »Der Kalif« erreichte nahe an achthundert Vorstellungen in der Opéra comique, indem er sich volle vierzig Jahre lang auf dem Repertoire erhielt und erst in jüngeren Tagen (1867) im Théâtre des Fantaisies-Parisiennes eine erfolgreiche Wiederbelebung erfuhr.

Den bevorzugten jungen Meister, der leicht, fast spielend gewonnen, was Andere ein ganzes Leben hindurch vergeblich erstreben, machten seine Triumphe jedoch nicht blind gegen die Schwächen und Lücken seines Könnens. Er hatte sich weder mit allzu mühsamen technischen noch theoretischen Uebungen überlastet und es demgemäß auch weder in der Behandlung des Pianoforte noch in der des Contrapunktes zu sonderlicher Virtuosität gebracht. Während er am »Kalif von Bagdad« arbeitete, war es – nach Fétis' Berichten – des Oefteren geschehen, daß er in liebenswürdiger Bescheidenheit sich bei seinen Schülern Raths erholte und die vollendeten Theile mit ihnen durchnahm. Die Schüler gefielen sich in der Rolle der Kritiker, sie spielten die Puristen und machten ihn auf manches kleine harmonische Versehen aufmerksam, das ihm bei der Schnelligkeit der Arbeit entgangen sein mochte. Oft knüpften sich lange Debatten daran, die gewöhnlich damit endigten, daß sie alle gemeinsam zu Méhul, Boieldieu's Orakel, wanderten und die streitigen Fragen seinem Urtheil unterbreiteten. Zuweilen entschied er zu Gunsten der Schüler. Dann ergab sich Boieldieu ohne Widerrede und ohne den Letzteren auch nur die leiseste Spur von Verstimmung zu zeigen.

Charakteristisch für die edle Bescheidenheit seines Wesens ist, was er selbst einst einem Musikfreund, Mellinet, laut dessen Mittheilungen Boieldieu à Nantes en 1819. Revue du Breton 1836. erzählte: »Nach der Aufführung des Kalifen begegnete mir Cherubini in einem der Seitengänge des Theaters, ergriff mich beim Kragen und sagte mit der ihm eigenen herben Offenherzigkeit: »Unglücklicher, schämst du dich nicht, einen so schönen Erfolg zu haben und so wenig zu thun, ihn zu verdienen?« Ich stand bestürzt und fand keine Erwiderung. Nachdem mich aber Cherubini verlassen hatte, fühlte ich wohl, daß seine Vorwürfe begründet waren und beeilte mich, zu ihm zu gehen und ihn um seinen Rath zu ersuchen. Wir kamen überein, daß ich ihn auf den Landsitz meines literarischen Bundesgenossen Saint-Just begleiten sollte, um daselbst bei ihm in die Lehre zu gehen, was in der That zwei Saisons hindurch geschah. Dann verstand ich meine Sache: aber ich verlor meine Unbefangenheit: denn Sie glauben nicht mit welcher Leichtigkeit ich eine Oper componirte, bevor ich die Schwierigkeiten dessen kannte! ... Ohne Cherubini hätte ich wol kaum gelernt, daß das Wissen das Ausdrucksvermögen nirgend beeinträchtigt; aber meine Fruchtbarkeit verminderte sich. Im Augenblick, als mir die Erkenntniß dessen kam, daß an meinen früheren Opern das Wissen wenig Antheil hat, schien es mir, als ob mir meine ganze Vergangenheit nur zum Vorwurf gereichen müsse. Ich hielt darum ein mit Schaffen und studirte nur mehrere Jahre lang, um erst mit » Ma tante Aurore« wieder hervorzutreten – dem ersten Werk, das ich als Wissender schrieb, ob es auch um dieses mein Wissen noch nicht glänzend bestellt war.«

Zwei und ein halbes Jahr hielt Boieldieu sich gänzlich von der Bühne fern, um im Stillen seine musikalische Ausbildung zu vollenden. Erst am 13. Januar 1803 empfingen die Pariser mit » Ma tante Aurore« seine erste Gabe nach langer Zurückgezogenheit. Er war nicht müde geworden, dieselbe wiederholter Durchsicht und Verbesserung zu unterwerfen; das lehrt der reinere Stil, die sorgfältigere Factur, die geschicktere Anlage des Ganzen. Aber auch seine Phantasie ist reicher, ungezwungener denn zuvor. Man sieht, er müht sich nicht mehr, abseits seiner natürlichen Sphäre den Spuren Méhul's, seines früheren Vorbildes, zu folgen; er sucht nun auf dem seiner Begabung angemesseneren Weg: im Cultus der Melodie, seinen Beruf und sein Ziel.

Eine italienische Operngesellschaft, die 1802 nach Paris kam und sich in der Rue de la victoire etablirte, scheint diese Umstimmung in ihm bewirkt zu haben; wenigstens wird jetzt sein Schaffen mehr von italienischen Vorbildern geleitet. Das Beispiel Cimarosa's und Paisiello's belehrt ihn über die effectvolle Behandlung der Stimme, und den Geist ihrer Opera buffa nimmt er begierig in sich auf. Freilich schafft er ihn um in französisches Wesen, er läßt nicht von seiner Art und prägt Allem, was er schreibt, seine eigene Physiognomie, seinen eigenen Charakter auf. Nichtsdestoweniger wird in einem Pariser Bericht der »Allgemeinen musikalischen Zeitung« vom Jahre 1807 der Vorwurf laut, daß er mit Isouard und Andern gemeinsam die französische Oper »entnationalisire«.

Er war der Erste, der Frankreich eine der Opera buffa ähnliche und ebenbürtige Schöpfung gab. Zwar hatten Grétry, Berton, Dalayrac bereits die komische Oper angebaut, welche aus der Vereinigung der Komödie mit der nationalen Chanson hervorging; ein lebensfrischer, jugendkräftiger Trieb aber entkeimte ihr erst unter Boieldieu's Pflege. Nicht wie ihre größere Schwester, die ernste idealere Tondichtung, die seit jeher des Dienstes ausländischer Meister bedurfte, um auf französischem Boden zu gedeihen, dankt sie ihr Wachsthum fremder Hülfe. Nicht als ein künstlich aufgepfropftes Reiß, sondern als wurzelechte Pflanze ist sie der vaterländischen Erde entsprossen. Hat doch der künstlerische Genius unseres Nachbarvolkes im Reich der heitern, nicht in dem der ernsten Muse seine Heimat. In diesem blieb er ein armer Fremdling, der sich mit geborgten Gewändern schmückt und seine Empfindungsarmuth mit dem Mantel der Phrase zu überdecken sucht: – in jenem schaltet und waltet er frei und von Gottes Gnaden, ein reiches dichterisches Vermögen und vollste reinste Eigenthümlichkeit entfaltend. Wie so ganz anders doch bei unserm Volk! Uns Deutsche verläßt leicht die Poesie, wenn wir die heitere Maske anlegen; – bei Jenen flieht sie vor dem thränenvollen Blick Melpomene's. Liegt nicht schon hierin unsre ganze nationale Verschiedenheit angedeutet?

Mit dem Erfolg seiner Tante Aurore – deren dritter Act einfach amputirt wird, da er den Parisern nicht behagte – rückte Boieldieu in die Reihe der ersten zeitgenössischen Tonkünstler ein. Mochte er Méhul und Cherubini auch an Gelehrsamkeit weit nachstehen: in der Kunst, die Menge zu gewinnen, sich ihr lieb und verständlich zu machen, war er ihnen eben so weit überlegen. Die Andern, die mit ihm um die Palme des Lustspiels rangen, Berton und Dalayrac an der Spitze, brauchte er nicht mehr zu fürchten; auch Grétry's Mund war verstummt. Wohin er blickte, es fand sich Keiner, der ihm den Herrscherstab im Reiche der Opéra comique streitig gemacht hätte. Eine glänzende Zukunft winkte ihm und breitete ihre verlockenden Bilder vor ihm aus; das sonst so flüchtige Glück schien an seine Fersen gefesselt, er durfte nur die Hand ausstrecken, es fest zu halten: – da wandte er sich plötzlich ab und kehrte der verheißungsvollen Aussicht den Rücken.

Er verließ Paris, das ihm so gefällig die Bahn des Ruhmes bereitet, die Andere steil und mühsam emporklimmen müssen. Häusliches Elend trieb ihn von dannen. Er hatte, indem er sich am 19. März 1802 mit einer schönen und gefeierten Tänzerin der Opéra, Clotilde Mafleurai, vermählte, in künstlerischem Unbedacht ein Ehebündniß geschlossen, das ihm, nachdem er es ein Jahr lang ertragen, zur drückenden, unerträglichen Fessel geworden war. Zu spät ward er des begangenen Irrthums einer ungleichartigen Verbindung gewahr und daß es ihm unmöglich sein werde, mit Ehren an ihrer Seite zu leben, die seinen Namen trug. Das vergällte ihm selbst seine künstlerischen Triumphe und ließ ihn sein geliebtes sonniges Heimatland fliehen, um in der Fremde seinen Wirkungskreis zu suchen. In Rußland, dem »damaligen Mexiko oder Peru der Künstler«, woselbst schon eine Anzahl namhafter Pariser Musiker nicht umsonst ihr Glück gesucht hatte, hoffte er zu finden, was er begehrte, und im Juni 1803 reiste er in Begleitung zweier Freunde, der Virtuosen Lamare und R. Kreutzer, nach St. Petersburg ab. Er ließ eine Oper: » Le baiser et la quittance, ou l'impromtu de garnison«, daheim zurück, die er gemeinsam mit Méhul, Nicolo und Kreutzer geschaffen hatte und die unmittelbar nach seiner Abreise, am 18. Juni in Paris aufgeführt ward. Gänzlich spurlos aber ging sie vorüber, obwol – oder vielmehr weil – nicht weniger als vier Componisten und drei Dichter sich zu ihrer Entstehung vereinigt hatten.

Ohne irgend welche Sicherheit für seine Zukunft hatte sich Boieldieu auf die Reise nach Rußland begeben. Auf dem Wege dahin, in Memel aber schon sagte ihm Hummel, der bekannte Claviervirtuos, mit dem er zusammentraf, den glänzendsten Empfang von Seiten des Kaisers und seines Hofes voraus. Wirklich erhielt er noch am selben Tag und Ort einen Brief aus dem Cabinet Kaiser Alexanders, darin ihm dieser, kaum nachdem er von der bevorstehenden Ankunft des Künstlers gehört, die Ernennung zu seinem Capellmeister übersandte. Unter eben diesem Titel übernahm Boieldieu alsbald die Verpflichtung, für das kaiserliche Theater alljährlich drei Opern zu schreiben, deren in französischer Sprache verfaßte Textbücher vom Czaren selbst gewählt und ihm überliefert werden sollten. Statt eines Dichters aber stand diesem augenscheinlich nur ein Arrangeur zu Gebote. Wenigstens findet sich unter allen Libretti, deren musikalische Bearbeitung man dem Komponisten zur Aufgabe stellte, nur eine einzige Originaldichtung: Abderkhan; – zufällig das einzige Werk von allen, das kein Glück machte. Die übrigen: » Un tour de Soubrette«, » La jeune femme colère«, » Amour et mystère«, » Les voitures versées«, » La dame invisible«, » Rien de trop, ou les deux paravents«, bestanden aus französischen Komödien und Vaudeville's; zwei andere: » Télémaque« und » Aline, reine de Golconde«, sogar aus bereits anderweitig benutzten Operntexten. In Rücksicht dessen und um das Recht der früheren Componisten, Lesueur und Berton, nicht zu schädigen, blieben die letztgenannten auch nach Boieldieu's Rückkehr nach Frankreich von den dortigen Bühnen verbannt, obgleich er selbst den » Télémaque« als eins seiner gelungensten Werke schätzte. Gerade zur Aufführung dieser Arbeit war ihm nichtsdestoweniger die beschränkteste Frist vergönnt. Gelegentlich der Geburt eines kaiserlichen Prinzen, so erfahren wir durch Halévy, empfing er den Auftrag zu derselben, die binnen sechs Wochen nicht allein geschaffen, sondern auch noch einstudirt sein sollte. Während Boieldieu componirte, copirten die Schreiber, die Sänger und Instrumentalisten lernten ihre Stimmen, die Decorationsmaler malten, die Schneider fertigten die Costüme – kurz, als der Meister nach beendetem Werke sein Haus verließ, wohnte er im Theater einer vortrefflichen Aufführung seiner Oper bei, die man ohne seine Hülfe vorbereitet hatte. Eine Arie aus derselben hat später im »Johann von Paris« ihren Platz gefunden und ist mit diesem unter dem Namen der »Reisearie« auch in Deutschland weit und breit bekannt geworden.

Nur fünf der für Petersburg geschriebenen Partituren ( Aline, La jeune femme, Télémaque, Voitures versées und Rien de trop) wurden durch den Stich vervielfältigt; die übrigen blieben gleich den daselbst entstandenen Chören aus Racine's » Athalie« ungedruckt, trotz des Aufsehens, das die letzteren bei ihrer Vorführung erregten. In Folge der Eifersucht der berühmten Darstellerin der Titelrolle, Mademoiselle Georges, die in der enthusiastischen Aufnahme der Musik eine Schmälerung ihres eigenen Erfolges erblickte, verschwand das Werk nur zu bald vom Repertoire. So blieb die Arbeit Boieldieu's fast ganz unbekannt und erlebte auch in Paris nur eine einzige Aufführung im Théâtre français nach des Meisters Tode (1838). Fétis, obwol er nur einen Theil derselben am Piano durch Boieldieu ausführen hörte, rühmte sie als »eine der schönsten Compositionen, welche wir seinem Talent danken.«

Sieben Jahre blieb Boieldieu in Rußland. Er erfreute sich auch dort der Beliebtheit, die seiner Kunst, wie seiner gewinnenden Erscheinung nirgends fehlen konnte. Die kaiserliche Familie insbesondere zeichnete ihn durch ihre Gunst aus, und die Gemahlin Alexander's unterhielt sich vorzugsweise gern mit ihm, der so geistreich und liebenswürdig zu plaudern verstand. Dessen ungeachtet blieb er von den mißlichen Verhältnissen des Landes nicht unberührt. Als er einst ein Manuscript nach Frankreich schickte und die Sendung dem Gesetz zufolge an der Grenze untersucht wurde, glaubte der übertriebene Diensteifer des damit beauftragten Beamten, in den Noten si, mi, sol (h, e, g) , mit denen der Absender die Kisten, um ihre Reihenfolge anzudeuten, bezeichnet hatte, eine Geheimschrift zu entdecken und entzifferte dieselbe als six mille soldats. Das verdächtige Manuscript ward sogleich mit Beschlag belegt und ein Bericht an den Minister abgefaßt, darin die Sache auf das Ernsteste beleuchtet und der harmlose Künstler der Spionage angeklagt wurde. Das Märchen kam bis an das Ohr Kaiser Alexander's und soll ihm und Boieldieu sehr zur Belustigung gereicht haben.

Diplomatische Differenzen, die sich zwischen Frankreich und Rußland erhoben und einen bevorstehenden Krieg voraussehen ließen, mehr aber wol noch die nachtheiligen Einflüsse des russischen Klimas auf seine Gesundheit verleideten endlich dem französischen Künstler den Aufenthalt in St. Petersburg und bestimmten ihn, seine Entlassung zu nehmen. Als er sich vor seiner Abreise von dem ihm wohlwollenden französischen Gesandten, de Caulaincourt, verabschiedete, empfing er von diesem ein werthvolles Andenken: eine Uhr, deren Napoleon sich während der Schlacht bei Austerlitz bedient hatte. Er ließ dieselbe seitdem nie wieder aus seinen Händen, und noch heute bewahrt sie sein Sohn als kostbares Eigenthum. Doch steht sie längst schon still. Unbeweglich bezeichnet ihr Zeiger die Stunde und Minute, da Adrien Boieldieu vor fast fünfzig Jahren seinen letzten Seufzer ausgehaucht.

Zu Anfang des Jahres 1811 kehrte Boieldieu nach Paris zurück. Er fand Vieles verändert, auch im Bühnenwesen. An Stelle der ehemaligen Freiheit herrschten Napoleonische Gesetze, und Privilegien beschränkten gewisse Vorrechte auf einzelne Bevorzugte. Die Zahl der Theater war ansehnlich vermindert worden; nur zweien derselben – der Opéra und Opéra comique war überhaupt die Aufführung neuer musikalischer Werke gestattet. Das hatte eine natürliche Rückwirkung auf die Production geübt, um die es in der That ziemlich kärglich bestellt war. Der Catalog des Repertoires der komischen Oper nennt von 1806 bis 1811 nur drei Namen neuer Componisten, von denen keiner ein zweites Mal erschien. Nur einen einzigen Rivalen hatte Boieldieu in Nicolo Isouard zu überwinden, der, indeß er selber fern war, die Staffel des Ruhmes emporgestiegen und das Scepter der Opéra comique an sich genommen hatte. Zur guten Stunde trat er nun wieder auf dem lang verlassenen Schauplatz auf, wo man nur auf ihn gewartet zu haben schien. Ein neues Textbuch: » Jean de Paris«, ward ihm alsbald von Saint-Just, seinem alten Mitarbeiter, entgegen gebracht; auch säumte er nicht, sich sofort an's Werk zu machen. Bevor dasselbe aber noch erschien, wollte er sich bei den Parisern mit einer seiner Petersburger Arbeiten in Erinnerung bringen. Seine Wahl fiel auf » Rien de trop«, dem später (Oct. 1812) » La jeune femme colère« folgte.

Briefe, die er an eine Petersburger Freundin, Madame Jeanne Philis Desoyres-Bertin, geschrieben, welche er nach dem im December 1826 erfolgten Tode Clotilde Mafleurai's, am 22. Januar 1827 zu seiner Gattin machte, bestätigen die durchschlagende Wirkung der erstgenannten Oper. Sie eröffnen zugleich einen Blick in die Tiefe und Wärme seines Gemüths, in die eigenthümliche Verbindung von Einfalt des Herzens und Feinheit des Geistes, die seinem Charakter ein besonderes Gepräge verleiht. »O meine gute Jenny,« lautet es darin unter anderm, »welch ein Erfolg! Man schwelgt in Entzücken – selbst das Textbuch nahmen sie ohne Murren hin, obwol es schwach befunden wurde. Ich wäre in Verlegenheit, Dir zu sagen, welches Stück am wenigsten Beifall fand ... das Publicum wurde mit Sturm genommen. Ich komme mir vor wie ein eitler Narr, indem ich Dir das sage; doch ist's die Wahrheit ... Man hat mich so umarmt, daß ich ganz bleich geworden bin. Wie gern aber gäbe ich alle diese Umarmungen für ein einziges Glückeslächeln meiner armen Jenny! ... Als ich zum Theater ging, blickte ich nach der Wetterfahne von Feydeau hinauf, von welcher Seite der Wind käme. Er kam aus Norden; das gab mir Hoffnung, ich sagte mir: Dieser Wind bringt mir die Gedanken meiner besten Freundin, die ich so gern an diesem Abend glücklich gesehen hätte, – und Du wärst es gewesen, ich weiß es! ... Du kannst Dir denken, daß ich, von Chenard, Gavaudan, Martin (den Sängern der Hauptrollen) geführt, erscheinen mußte. Man war begierig zu hören, ob ich im Eise des Nordens kälter geworden; aber sie sagen Alle, daß es mich geläutert habe ... Cherubini, den mein Bruder die ganze Zeit über im Balcon beobachtet und der nicht aufgehört hat zu applaudiren, kam, um mir angesichts der ganzen Welt zu sagen, daß diese Musik ihn bezaubere. Genug, liebe Freundin, man hat mir viel Weihrauch gestreut ... Man erwartet mich. Ich muß von Dir scheiden, gute Jenny, wenn auch mit schwerem Herzen. So Vieles macht mich unglücklich, was mir Freude machen sollte! Wärst Du hier, ich würde vor Glück sterben! Lebwohl, liebe, liebe Freundin!«

Ein Jahr später, am 4. April 1812, ging » Jean de Paris« zum ersten Male über die Bühne. Unter Mitwirkung der hervorragendsten Kräfte ausgeführt, gewann er sich sofort allseitige Sympathien. Fétis bemerkt, daß Boieldieu's Schreibweise während seines russischen Aufenthaltes an Festigkeit und Wirkungsfähigkeit zugenommen und eigene Beobachtung nun ersetzt habe, was seinen harmonischen Studien, aus Mangel geeigneten Unterrichts, früher fehlte. Er sagt, daß Boieldieu sich im Johann von Paris »nicht mehr nur als angenehmer und geistvoller Componist, sondern als würdiger Nacheiferer von Méhul und Catel offenbare, die er lange Zeit als seine Meister betrachtete.« Dabei verschweigt er freilich und sieht nicht, oder will es nicht sehen, was sich dem deutschen Blick alsbald ergiebt: daß diese sich steigernde Reife im Schaffen des Künstlers im Studium der deutschen Classiker ihre wesentlichste Begründung findet. Aus jedem Tact fast hören wir den Einfluß Mozart's heraus, der unsern Eltern und Voreltern diese Opern des »französischen Mozart« so vorzugsweise lieb machte. Von ihm, dem deutschen Meister, hat er erlernt, was ihm die vaterländischen Erzeugnisse nicht zu gewähren vermochten, und seiner Schreibweise assimilirt er die eigene. Bei alledem bewahrt er sich seine nationale Eigenthümlichkeit. Sie spricht aus der rhythmischen Bewegung seiner Melodien, der leichten chevaleresken Grazie und feinen Coquetterie, die dem deutschen Kunstwerk fremd ist.

Französischem System gemäß, liegt es ihm näher, durch seine Kunst zu amüsiren als das Herz zu rühren; denn gegenüber dem dem Deutschen eigenen tiefen Gefühl und der dem Italiener angeborenen Leidenschaft, bleibt der Franzose immer der Repräsentant des Verstandes und Witzes. Darum sind das Lustspiel und seine musikalische Schwester die bevorzugten Pfleglinge seiner Kunst, und der specifisch ihm angehörige Genre der Conversationsoper, der anderwärts nur sporadisch gedeiht, fand bei ihm seinen natürlichen Boden. Die liebenswürdigsten Eigenschaften seiner Nationalität: heitere Laune, funkelnder Esprit, piquante Anmuth nach außen und nach innen, durch hübsche Situationen herbeigeführt und belebt, sind die Hauptträger einer Musikgattung, in deren Cultur unsere Nachbarn um so gewisser unsere Meister bleiben werden, als wir – gleich andern Völkern – eben der Grundbedingungen derselben ermangeln. Nicht minder dankbar aber haben wir darum den ihnen verliehenen Vorzug immerdar zu schätzen gewußt und aus ihm Vortheil für den eigenen Genuß gezogen. So waren Boieldieu's Gaben von Anbeginn willkommene Erscheinungen auch in Deutschland. Der Beifall, den schon der »Kalif von Bagdad« und » Ma tante Aurore« sich erworben, steigerte sich lebhaft angesichts des heiteren »Johann von Paris«. Als Carl Maria von Weber diesen im Mai 1817 dem Dresdner Theater-Repertoire einverleibte, wies er das Publicum auf den »fließenden, schön geführten Gesang, die planmäßige Haltung der einzelnen Stücke wie des Ganzen, die treffliche sorgsame Instrumentirung und Correctheit hin, durch welche der Componist seinen Mitbewerbern in Frankreich weit voranstelle.« Auch Robert Schumann erkennt in seinem Dresdner Theaterbüchlein der Oper hohes Lob zu. Er räumt ihr sogar die Stelle einer Dritten im Bunde mit dem italienischen »Barbier« und unserm »Figaro« ein, eine Ehre, welche unseres Bedünkens dem Meisterwerk Boieldieu's, der »weißen Dame«, in unvergleichlich höherem Maße zusteht. Noch heutzutage sehen wir das Werk, dessen einzelne Arien des Oefteren in unsern Concertprogrammen auftauchen, auch hier und dort noch vollständig auf der Bühne zum Vorschein kommen. Allerdings gemahnt uns, trotz allen melodischen Reizes und aller galanten Grazie der musikalischen Conversation, gar Vieles im Laufe der Zeit verblaßt und veraltet, und nur eine vollendete Darstellung ist im Stande, uns das allzu Dünne, Durchsichtige von Stoff und Musik minder empfindlich zu machen.

Arbeiten von geringerem Werth und weniger verbreitetem Ruf füllen die nächsten Jahre im Leben des Meisters. Wer kennt heute, mindestens bei uns in Deutschland, » Le nouveau seigneur de village« oder » La fête du village voisin«, die (im Juni 1813 und im März 1816) dem Publicum der Opéra comique dargeboten wurden, nur noch dem Namen nach? Oder wer beschwert sein Gedächtniß mit der Erinnerung an die Eintagsgebilde: » Bayard à Mézièrs«, » Les Bearnais, ou Henri IV. en voyage«, » Angéla, ou l'atelier de Jean Cousin«, (sämmtlich 1814) und Charles de Frances, ou amour et gloire (1816), die er unter fremder Beihülfe, zum Theil auf Befehl der Regierung für politische Gelegenheiten schrieb? Selbst die Existenz der dreiactigen Zauberoper » La petit chaperon rouge« (30. Juni 1818), welcher unser altes Märchen vom Rothkäppchen zu Grunde liegt, blieb unserer gegenwärtigen Musikwelt fast ganz unbekannt, und dennoch gehört sie zu den hervorragendsten Kundgebungen des Boieldieu'schen Genius. Das Libretto von Théaulon war der vielseitigen Entfaltung seiner Kräfte günstiger als je ein anderes zuvor. Es gestattete der Phantasie weiteren Spielraum, größere Mannigfaltigkeit der Farbe, der Situations- und Charakterzeichnung. Köstlichen Humor athmet die Ouverture, eine naive Programmmusik, die uns, die einzelnen musikalischen Phrasen bei ihrem jedesmaligen Eintritt durch Worte erläuternd, den Wolf, das Rothkäppchen und die Großmutter vorführt. Reizvoll und anmuthig ist zumal das Rondo der Rosa: »Lange nicht mehr«, während sich die Empfindung stellenweise – wie z. B. in dem wirkungsvollen zweiten Duett zwischen Rosa und Rodolphe – zu einem leidenschaftlichen Aufschwung steigert, der uns Boieldieu von ganz neuer Seite kennen lehrt.

Nachdem den Künstler, inmitten der Beschäftigung mit diesem Werke, seine Ernennung zum Mitglied des Institut de France an des verstorbenen Méhul Stelle getroffen (29. Nov. 1817), hatte er sich, wie um die Wahl und Bevorzugung vor seinem Rivalen Nicolo zu rechtfertigen, mit doppelter Sorgfalt der Vollendung der Partitur hingegeben, die man scherzend seine Antrittsrede nannte. Leider nur hatte er den Erfolg der Oper mit Aufopferung seiner Gesundheit erkauft. Er fühlte sich schwach und angegriffen, und, wie schon mehrere Jahre zuvor, so kündigte sich nun jetzt wiederholt bei ihm jenes Leiden an, dessen Keim wol das verhängnißvolle Klima Rußlands in ihm gelegt hatte und das seinem Leben ein vorzeitiges Ziel stecken sollte. Gebieterisch legte ihm sein Zustand die Verpflichtung auf, der Beschäftigung mit seiner Kunst für lange Zeit zu entsagen. So verließ er Paris und sein geräuschvolles Leben und gründete sich in Villeneuve-Saint-Georges einen seinen Bedürfnissen angemesseneren Aufenthalt. Dort, wo er sich einen eigenen Landsitz erwarb, gab er sich Monate hindurch tiefster Ruhe hin. Nichts vermochte ihn während derselben seiner Zurückgezogenheit zu entreißen, nicht einmal seine Berufung als Professor der Composition an das Conservatorium. Man hatte eine neue Classe gegründet, nur um sie ihm übertragen zu können. Er wies diese Ehre nicht zurück; aber er begehrte und empfing die Vergünstigung, seine Schüler in seinem Hause unterrichten zu dürfen.

Aus der Feder Adolph Adam's, des hervorragendsten unter seinen Schülern, besitzen wir interessante Mittheilungen über die Art seines Unterrichts. Er erzählt, wie Boieldieu es sich besonders angelegen sein ließ, einer souveränen Verachtung von Grétry und Rossini, die im Conservatorium Platz gegriffen, kräftig entgegen zu arbeiten. Berton hatte in einer eigenen Brochüre gegen den Erfolg des »Barbier von Sevilla« protestirt, und Habeneck war der Meinung, daß man ein so leichtes Product einem respectablen Publicum nicht darbieten dürfe. Auch Cherubini, wiewol er später sein Urtheil änderte, hatte erklärt, daß er »nichts von dieser Musik hören wolle.« Das hatte seine Wirkung nicht verfehlt, und selbst die, welche noch auf der Schulbank saßen, glaubten sich in Folge dessen berechtigt, in Rossini nichts weiter als einen Fabrikanten von Contretänzen, in Grétry nur eine Perrücke zu erblicken. Wie erstaunten sie nun, als der, welcher sie in der Kunst der Harmonie unterweisen sollte, vielmehr die größte Bewunderung für das Genie dieser beiden Meister an den Tag legte! (Auch Meyerbeer gegenüber unterließ er es später nicht, als er – obwol bereits schwer erkrankt und von Paris abwesend – seinen »Robert« kennen lernte, ihm brieflich seine Sympathie und Anerkennung zu bezeugen.) Sobald eine neue Partitur des italienischen Maestro erschien – berichtet Adam – versammelte Boieldieu seine ganze Classe um sich. Einer von uns setzte sich an das Piano, und von Anfang bis zu Ende ward das neue Werk durchgenommen, während unser Lehrer uns auf die kleinen Mängel und die zahlreichen Vorzüge desselben aufmerksam machte. »Hier, meine Kinder,« sagte er dann, »habt Ihr die beste Lection, die ich Euch zu geben vermag. Man muß vor allen Dingen die Autoren studiren, die Talent haben, und diesem hier wird man nicht vorwerfen können, daß es ihm daran mangele!«

Gesang, Melodie war ihm das wesentlichste Erfordernis aller Musik; aus ihre Pflege leitete er auch seine Zöglinge in erster Linie hin, während er allen entgegengesetzten Gelüsten derselben nachdrücklich in den Weg trat. Ein besonderer Harmoniker war er nicht, und mit Modulationen ging er von je äußerst haushälterisch um, was ihm des ironischen Berlioz Aeußerung zuzog: er habe in seinem Leben nur drei Accorde angewandt. Eine unleugbare Monotonie bezüglich der Tonalität macht sich in der That selbst in seinen besten Werken bemerkbar. Seine Bässe erscheinen oft schwach und farblos und die Verspätung seiner harmonischen Studien rächt sich in dieser Beziehung. Auch seine Instrumentation zeichnet sich viel weniger durch Kühnheit als durch durchsichtige Klarheit und schmeichelnden Wohlklang aus, wie er denn namentlich die Violinen reizvoll zu behandeln wußte. Seine Begabung hatte ohne Frage im Melodischen ihren Schwerpunkt, und erst mit Erkenntniß und Berücksichtigung dessen stieg er zur wahren Künstlerschaft empor. Wie begreiflich demnach, daß sich seine Neigung, wie einst Cimarosa, so noch mehr jetzt Rossini, dem König der Melodie, zuwandte! Wie ehemals von jenem, so beeilte er sich nun auch von diesem durch ernstes Studium Vortheil zu ziehen für sein eigenes Schaffen.

Es wird erzählt, daß, als einst sein jüngerer Bruder, ein Musikalienverleger (vermutlich der Erbe einer Firma, die Boieldieu, Cherubini, Méhul, Kreutzer, Rode und Isouard ursprünglich zu Eigenthümern gezählt), in seinem Landhause zu Cormeilles ein Zimmer für Boieldieu einrichten wollte, der Letztere sich zwei Exemplare der Partitur des »Othello« statt Tapete erbat. Auf der Leiter stehend, klebte er eigenhändig die Blätter derselben genau nach der Seitenzahl auf die Wand. »Nun kann ich den großen Meister jeden Morgen schon im Bett studiren,« sagte er vergnügt, nachdem er die seltsame Arbeit beendet. In einem Briefe an Herold aber äußert er geradezu: »Alles was ich gemacht habe, gäbe ich für ein einziges Stück von ihm hin!«

Was Boieldieu von seinem Liebling Rossini erlernt: den lebendigeren Zug, den reicheren Glanz der Instrumentation, die breite Entwickelung der Ensemblestücke, das ist ihm in seiner » Dame blanche« zur schönen Frucht gereift. Noch bevor sich diese aber als die werthvollste der Gaben bezeugte, die wir ihrem Urheber danken, traten, außer den schon in Rußland componirten und zum Theil neu ergänzten » Voitures versées« (1820), – denen später (1824) noch Umarbeitungen von » Zoraïme et Zulnare« und » Beniowski« folgten – noch einige unbedeutendere Schöpfungen mit dem Namen des Künstlers in die Oeffentlichkeit. Die Festoper » Blanche de Provence«, mit der man 1821 die Taufe des Herzogs von Bordeaux feierte, hatte, neben Cherubini, Paer, Kreutzer und Berton, auch Boieldieu zum Mitverfasser, und als vier Jahre später bei Carls X. Krönung die Opéra dem neuen Herrscher ihre Huldigung darbrachte, hatten die drei Letztgenannten sich in der Oper » Pharamond« zu diesem Zweck vereinigt. Ebenso gehören ein Intermezzo » La France et l'Espagne«, das Boieldieu für ein im Hôtel de ville veranstaltetes officielles Fest des Herzogs von Angoulême schrieb (1823), und die Musik zu Scribe's Prolog » Les trois genres«, die er mit Auber für Einweihung des Odeon-Theaters componirte (1824), in diese Zeit.

Boieldieu selbst schätzte diese Gelegenheitsarbeiten gering, und als man ihn in Folge seiner Betheiligung an » Blanche de Provence« zum Ritter der Ehrenlegion ernannte, wies er diese Auszeichnung stolz zurück. »Hätte man mir dieselbe für eins meiner früheren Werke verliehen, die das Glück hatten zu gefallen,« sagte er, »so würde ich sie mit Dankbarkeit empfangen haben; doch was ich hier gemacht, verdient wahrlich nicht so viel Ehre!«

Die Ablehnung erregte Aufsehen bei Hofe; da übernahm es Ludwig XVIII. selbst, das Versäumte auszugleichen. Bald darauf ward Boieldieu in die Tuilerien beschieden. Er bekleidete seit 1815 den Titel eines accompagnateur adjoint de la chambre du roi, und in dieser Eigenschaft forderte man von Zeit zu Zeit seine Dienste. Sobald der König seiner ansichtig wurde, gab er ihm ein Zeichen, sich ihm zu nähern. Huldvoll lächelnd überreichte er ihm die Decoration mit den Worten: »Mein lieber Boieldieu, ich hoffe, daß Ihr sie aus meiner Hand nicht zurückweisen werdet. Ich verleihe Euch dieselbe für Eure gesammten Leistungen, nicht nur für Eure jüngste!« – Zu gleicher Zeit ward Boieldieu zum Compositeur der Herzogin von Berry berufen: eine Ehre, die seine Einkünfte vermehrte, ohne ihm besondere Verpflichtungen aufzuerlegen.

Während er sich so mit allen erdenklichen Auszeichnungen geschmückt sah, – er ward 1825 auch in den Verwaltungsrath des Conservatoriums aufgenommen – wünschte er aber auch seine Kunstgenossen nicht hinter sich zurückgestellt zu sehen, und es bekümmerte sein gutes Herz, wenn sie nicht in gleichem Maße als er geehrt wurden. So machte er den Vicomte de La Rochefoucauld, den Chef des Departements der schönen Künste, darauf aufmerksam, daß Catel noch nicht den Orden der Ehrenlegion trage, und wenige Tage später empfing ihn dieser in der That. Adam erzählt, daß der Neudecorirte dem Freund diesen Dienst wenig gedankt und ihn darob gescholten habe, weil er ihn damit seines besonderen Kennzeichens im Institut beraube. Seine bisherige Auszeichnung sei es gewesen, kein Kreuz der Ehrenlegion zu tragen – nun werde er sich in der Menge der Uebrigen verlieren. »Wohlan« – entgegnete Boieldieu – »so trage es aus Freundschaft für mich. Ich wagte nicht mehr mit Dir auszugehen. Ich fühlte mich gedemüthigt, wenn man uns zusammen begegnete!«

Auch jüngeren Künstlern war er ein gütiger Berather und Helfer in der Noth; so oft er nur konnte hat er ihnen bereitwillig die Steine aus dem Weg geräumt und ihre Laufbahn ebnen helfen. Die kleinliche Furcht vor künftigen Rivalen kannte sein edler neidloser Charakter nicht: er unterstützte diese vielmehr. Herold z. B. war einer von denen, denen Boieldieu's Hand die Bahn bereitete. Als er, der Preisgekrönte des Instituts, von einem dreijährigen Aufenthalt in Italien nach Frankreich zurückgekehrt war, sah er sich lange vergebens nach einem brauchbaren Operngedicht um, da keiner der besseren Librettisten den Bund mit dem unbekannten jungen Mann wagen wollte. Da forderte ihn Boieldieu zur Mitbetheiligung an einer ihm selbst übertragenen Gelegenheitscomposition auf, die zur Feier der Vermählung des Herzogs von Berry bestimmt war. Er überließ ihm die Ausführung des zweiten Actes, stand ihm hülfreich bei und leitete, nachdem die Partitur vollendet war, allein die ersten Proben. Erst als er die Sänger bereits für das Werk gewonnen hatte, führte er ihnen eines Tages den jungen Componisten vor. »Von Arbeiten überhäuft« – sagte er – »habe ich mir einen Mitarbeiter zugesellt. Nun Sie seine Musik kennen, stelle ich Ihnen denselben vor, überzeugt, daß Sie ihn willkommen heißen werden.«

Das Werk: » Charles de France« gefiel, und Herold's Glück war gemacht. Er hat es ihm, dem er's dankte, nie vergessen.

Schwerer aber, als die Dankesschuld irgend eines anderen Meisters gegenüber Boieldieu wiegt die Auber's. Mit Leib und Seele ist er ihm verpflichtet, aus dessen Hand er die komische Oper empfing, als eine nahezu fertige Gestalt, der er nur den Stempel seiner Individualität aufzuprägen, seinen eigenen lebendigen Odem einzuhauchen brauchte. Bei Boieldieu's Lebzeiten schon trat er dessen Erbe an. Er begann mit ihm die Herrschaft im Reiche des musikalischen Lustspiels zu theilen, um nach des Ersteren Tode als unumschränkter Gebieter desselben das Scepter zu führen, bis es vor zehn Jahren erst seiner greisen Hand entfiel. Ihrer verschiedenartigen Individualität gemäß, haben sie allerdings Beide, ob auch nach einem Ziele, doch in verschiedenen Richtungen hin gestrebt und während der Eine sich um die formelle Ausbildung, den technischen Apparat, die Beweglichkeit des Ausdrucks besonderes Verdienst erworben, gab der Andere vielmehr durch die naive Innerlichkeit, die innig-gemüthvolle Weise seines Schaffens sein Bestes. Der liebenswürdigen Ursprünglichkeit und Harmlosigkeit Boieldieu's steht Auber wol geistreicher und witziger, aber auch raffinirter gegenüber, ja er erweist sich selbst dem Einfluß Meyerbeer'scher Speculationen nicht unzugänglich. Der Repräsentant eines reineren Typus des französischen Wesens in all seiner gewinnenden Grazie und chevaleresken Art bleibt ohne Frage der Aeltere der Beiden, zum mindesten in der Blüte seines Schaffens: seiner » weißen Dame«.

Das gleiche Jahr, das Auber's Meisterwerk, den »Maurer«, hervorgebracht, gab auch ihr das Leben. Am 10. December 1825 trat sie an's Licht, im Geist ihres Urhebers schon seit Langem vorbereitet, ob auch in ihrer Vollendung das Ergebniß weniger, aber fruchtbarer Wochen. Da der Componist am 5. November die Proben in seinem Hause begann, waren erst sieben Nummern geschrieben. Darunter die erste Tenorarie: »Ach welche Lust, Soldat zu sein!« die schon zwei Jahre früher auf einen andern Text und zwar als das vielbewunderte Resultat einiger kurzer Nachtstunden entstanden war. Der Director der Oper, Guilbert de Pixérecourt, drängte nun aber zu möglichster Beschleunigung; die Sänger, der berühmte Ponchard Allen voran, setzten ihre besten Kräfte ein; kurz, fünf Wochen genügten zur Vollendung des Uebrigen und Inscenirung des Ganzen, Ohnedies nahm Boieldieu in der Regel erst die Feder zur Hand, wenn die ganze Oper, oder doch der größte Theil derselben, in seinem Kopfe bereits vollendet war. Dann aber bedurfte er zur Förderung des Geschaffenen Stille und äußerste Ruhe. Strenge Sorgfalt der Arbeit und das gewissenhafte Streben, mit jedem neuen Werke den gewonnenen Ruhm nicht allein zu behaupten, sondern zu mehren und sich der Gunst des Publicums in immer höherem Maße werth zu machen, kennzeichnen die gereifte Künstlerschaft Boieldieu's. Er war selten im ersten Augenblick des Schaffens mit sich zufrieden, und unbarmherzig verwarf er häufig das kaum Entstandene. So componirte er das Spinnlied der Margarethe in der »Weißen Dame« nicht weniger als fünf Mal, die Romanze Roger's im »Rothkäppchen« sogar zwölf Mal und glaubte sie auch in ihrer letzten Gestalt, in der sie noch heutigen Tages in Frankreich populär ist, werthlos, bis ihn der Erfolg eines Bessern belehrte.

Das Entzücken der Zuhörer angesichts des neuen Werkes, zu dessen Interpretation sich die vortrefflichsten Künstler vereinigt hatten, kannte keine Grenzen, und man geizte nicht mit Beweisen dessen. Kaum war der Vorhang gefallen, so hallte der Name des Componisten tausendstimmig wieder; Alle verlangten ihn zu sehen und ihrer Begeisterung genug zu thun, Boieldieu zwar verspürte wenig Lust sich zu zeigen. Er hatte die vorhergehende Nacht dazu verwendet, den Schluß seiner Ouvertüre, bei der ihm, der gebotenen Eile halber, Adam Beistand leisten mußte, zu instrumentiren. Dies und die Aufregungen des Tages hatten ihn übermäßig ermüdet. Da, als die Forderung des Publicums immer ungestümer ward, ergriffen endlich zwei der Mitwirkenden, Henri und Feréol, den Widerstrebenden am Arm und zogen ihn gewaltsam auf die Bühne heraus. Dem Orchester genügte dies noch nicht. Es brachte ihm noch am selben Abend vor seiner Wohnung eine Serenade dar – eine Huldigung, die man vier Jahre später, nach der ersten Aufführung des »Tell«, auch Rossini angedeihen ließ.

Selbst der Hof bezeigte seine Theilnahme an diesem neuesten und größten Triumph des Künstlers. Zwar war der König in Folge eines Trauerfalls vom Besuch der ersten Vorstellung zurückgehalten, doch ehrte die Herzogin von Berry dieselbe durch ihre Anwesenheit. Sie ließ Boieldieu in ihre Loge bescheiden und gab ihm in so schmeichelhafter Weise ihr Wohlgefallen an der neuen Oper zu erkennen, daß er um die gern gewährte Erlaubnis nachsuchte, ihr die Partitur widmen zu dürfen.

Boieldieu selbst schreibt in einem der Briefe, deren Veröffentlichung wir Héquet danken, daß er einen ähnlichen Succeß weder bei sich, noch bei einem Andern jemals erlebt habe. »Ich weiß nicht, woher dies kommt,« setzt er bescheiden hinzu, »aber es übertrifft alle meine Hoffnungen.« »Mein Erfolg,« sagt er weiter, »scheint ein nationaler Erfolg zu sein, der, wie alle Welt mir sagt, in der Geschichte der Musik Epoche machen wird. Thatsache ist, daß die fremde Musik sich Aller bemächtigt hatte und das Publicum überredet worden war, man könne nur noch im Gefolge Rossini's einherziehen. Die Aufgabe war nicht leicht, es von diesem Vorurtheil, welches die Musik der letzten Jahre nur bestärkt hatte, zurückzubringen. Ich darf mich rühmen, es besiegt zu haben, und die französischen Künstler, Maler, Schriftsteller und Musiker, bringen mir fortwährend ihren Dank dafür dar; doch fürchte ich, daß der Eifer, falsch oder mit Leidenschaft geäußert, die Harmonie stören werde. Die Rossinisten scheinen wüthend; sie warten nur auf den Moment, für ihren Abgott Partei zu ergreifen. Aber das Drolligste bei alledem ist, daß, während man sich für uns streitet, wir Beide, Rossini und ich, uns ganz vortrefflich zusammen stehen. Er bezeigt mir den Wunsch eines guten Einvernehmens, und ich meinerseits theile denselben auf das Aufrichtigste.«

Ebenso nannte sich Rossini den »Freund, Collegen und aufrichtigsten Bewunderer des Autoren der weißen Dame, für den seine Empfindungen erst mit seinem Leben erlöschen würden,« und als Boieldieu in einem Concert bei dem Minister La Rochefoucauld einen Theil seiner neuen Oper aufführte, übernahm er aus Gefälligkeit für den Componisten die Partie des Dickson, die er, laut des Letzteren Zeugniß, »wie ein Engel und mit vieler Komik sang.«

Boieldieu's Schüler freilich legten minder friedliche Gesinnungen als ihr Meister an den Tag. »Wie man uns nur von Rossini sprechen mag!« rief einer derselben zu ihm gewandt aus. »Sie stehen wahrlich hoch über ihm!« – »In der That,« entgegnete er, »das merke ich alle Tage, wenn ich meine Treppe hinaufsteige.« – Er bewohnte nämlich die vierte Etage des Hauses, dessen ersten Stock Rossini inne hatte.

Der alte, ein halbes Jahrhundert bereits währende Zwist zwischen den Vertretern französischer und italienischer Musik war eben noch immer nicht geschlichtet; er fand frische Nahrung in einem Erfolg, dem die Annalen der französischen Theater kein zweites Beispiel zur Seite zu stellen haben. »Man ist nun einmal kampflustig in unserm guten Frankreich,« sagt Gustave Héquet, »und pflegt sich lieber mit Erbitterung um die Verdienste der verschiedenen Schulen zu streiten, als sich ruhig an den Meisterwerken zu erfreuen, die sie hervorbringen.« Erst allmälig zog Stille ein in die aufgeregten Gemüther, ob auch der Enthusiasmus für das Werk, das diese Aufregung herbeigeführt, noch längst nicht verglühte. Dreihundert Vorstellungen vermochten ihn nicht abzukühlen, und noch jetzt, nachdem die weiße Dame im Jahre 1862 bereits ihre tausendste Aufführung auf derselben Bühne erlebte, ist sie nicht nur die Jugendliebe aller ersten Tenöre, sie bleibt eine freudig begrüßte Erscheinung für Alle, so oft und wo man sie auch kommen sieht. Sie ist das einzige unter allen Erzeugnissen des Autors, an dem die Zeit machtlos vorübergegangen und dem ein halbes Jahrhundert nichts geraubt von all seinem reizvollen Jugendschmuck. Wenn, was er uns sonst gegeben, bedeutungslos geworden für das künstlerische Genießen der Gegenwart, wenn es sich zu diesem seinem edelsten Gebilde wie die Knospe zur Blüte, wie Verheißung zur Erfüllung verhält, so weht uns hier ein warmer Lenzeshauch und frischer Blütenduft entgegen. Anmuthvolleres, Liebenswürdigeres als in der »weißen Dame« hat er uns auch in seiner letzten Gabe nicht reichen, hat uns die gesummte heitere Tonpoesie seines Vaterlandes weder durch Auber, den ihm am nächsten Stehenden, noch durch Herold, Adam oder Halévy und wie seine Nachfolger alle heißen, darbringen können.

Was Boieldieu dahin geführt, nahe dem Ziele seiner Laufbahn noch einmal und kräftiger denn je zuvor sein ganzes tondichterisches Vermögen zusammen zu fassen, um ein Product zu erzeugen, welches wir dreist als den Gipfelpunkt aller französischen Leistungen in der gesungenen Komödie bezeichnen, das dürfte durch die Vereinigung verschiedener Bedingungen seine Erklärung finden. Denn nicht allein Rossini's Einfluß, wie Manche behaupten, auch das immer eifrigere Studium unsrer deutschen Classiker und vor allem Mozart's, wurde ihm fruchtbar und befähigte ihn, den Schatz von Erfahrungen, den er in langer Arbeit und Beobachtung gesammelt, um so erfolgreicher zu verwerthen, als auch sein dramatisches Bedürfnis? sich zum ersten Male durch eine angemessene dichterische Grundlage befriedigt fühlte. In Scribe, dem unerschöpflichen Lustspieldichter, dem langjährigen Bundesgenossen Auber's und Meyerbeer's, hatte Boieldieu endlich einen würdigeren Verbündeten gefunden. Wären sie einander früher begegnet, dann schlösse sich wol eine Reihe lebensfroher Gestalten an die weiße Dame an, statt der verblaßten Bilder, aus deren Mitte sie nun frisch und strahlend herausschaut. Die Mesalliancen sind eben dem sonst so glücklichen Künstler im Leben wie im Schaffen zum Verhängniß geworden.

Mögen sich immerhin gegenüber dem Textbuch der Oper, deren Sujet Scribe zwei Romanen Walter Scott's: Monastery und Guy Mannerig, entlehnte, die ästhetischen Bedenken regen, die sich an Vermischung zweier verschiedener Kunstgattungen, wie Roman und Drama, knüpfen: die Speculation des Dichters auf das Interesse des Publicums erwies sich als eine kluge, glückliche. Die damalige außerordentliche Beliebtheit des schottischen Barden und der mit Lord Byron in die Mode gekommenen englischen Poesie kam den Bemühungen des Librettisten und Tonkünstlers um so mehr zu Hülfe, als Letzterer die sich darbietende Gelegenheit zu localer Färbung des Ganzen, mit Einführung schottischer Originalmotive – eines späterhin vielfach nachgeahmten Effectes – feinsinnig auszunutzen verstand. Mehr als Alles das aber hat der musikalische Werth, die Gediegenheit der Arbeit, der frische einheitliche Zug, der warme Empfindungsstrom dem Werke zu seiner Bedeutung verholfen, das, als der Ausdruck liebenswerther Individualität und reinster Volkseigenthümlichkeit, sich selbst unverwelkliche Jugend und seinem Schöpfer einen bleibenden Platz neben den hervorragendsten dramatischen Tondichtern aller Zeiten gewann.

Von nicht zu verkennender Wichtigkeit für den Erfolg der in Rede stehenden Oper war es allerdings, daß sie im rechten Moment den Parisern bescheert ward. Früher oder später, vor dem »Barbier« oder nach den »Hugenotten« hervortretend, wäre man sich ihres Werthes wol kaum in gleichem Maße bewußt geworden. So aber fand sie den Boden auf das Günstigste vorbereitet. Man war durch die Opera buffa Rossini's hinlänglich zu ihrer Würdigung herangebildet, ohne durch Meyerbeer'sches Raffinement bereits verwöhnt und überreizt zu sein. Der Stern Boieldieu's, der fast jeglicher, seiner Unternehmungen freundlich geleuchtet, erwies sich eben zu keiner Stunde wirksamer, als bei Geburt der »weißen Dame«. Dann freilich war seine Macht dahin, sein Licht erbleichte, nachdem es seinen hellsten, goldensten Strahl ausgesandt.

Noch einmal, ein letztes Mal beschenkte Boieldieu die Bühne, der sein Talent fast ausschließlich gedient: er gab ihr am 29. Mai 1829 seine » Deux nuits«. Leider ward gerade diese letzte Spende, schon in Folge unzulänglicher Interpretation, für ihn und das Publicum eine Quelle von Enttäuschungen. Man hatte eine gleicherweise zündende Wirkung wie von der vorhergehenden Oper erwartet und fühlte sich unbefriedigt, nun dieselbe ausblieb. Des Componisten Kunst scheiterte an dem Textbuch Bouilly's, dessen abgelebter Fabel gegenüber sich selbst Scribe's Verbesserungsversuche ohnmächtig erwiesen. Die Welt war fortgeschritten, seit Boieldieu seine Laufbahn angetreten. War es ihm einst gelungen, durch den Zauber seiner Weisen die Schwächen manchen Libretto's minder fühlbar zu machen, so hatte Scribe's Wirksamkeit inzwischen die Pariser an eine piquantere Kost gewöhnt. Man begehrte neue Formen, mehr Witz und wechselnde Situationen vor allem, wie sie, durch ihn zuerst cultivirt, dem französischen Geschmack vorzugsweise entsprechen.

Tief und schmerzlich empfand Boieldieu die fehlgeschlagene Hoffnung. Die Kränkung über die kühle Aufnahme des Werkes, das er, in Folge seiner erschütterten Gesundheit, nur in häufigen Unterbrechungen und mit Anspannung aller Kräfte zu vollenden fähig gewesen war und das er selbst als eins seiner besten schätzte, zehrte an seinem Leben und untergrub den letzten Rest natürlicher Widerstandsfähigkeit in ihm. Er, der vom Glück und Erfolg Verwöhnte, vermochte den jähen Wechsel nicht zu ertragen. Wol versuchte er noch ferner zu arbeiten, trug sich auch noch mit neuen Opernplänen, war aber nicht im Stande, von der Komposition eines von Scribe und Castil-Blaze verfaßten Textes: » La, marquise de Brinvilliers«, in die er sich mit acht andern Meistern getheilt hatte, mehr als eine einzige Nummer zu vollenden. Sein Uebel, ein Luftröhrenleiden, machte reißende Fortschritte; seine Schwäche mehrte sich von Tag zu Tag, und das Sprechen ward ihm zur schmerzhaften Qual, bis endlich seine Stimme fast gänzlich erlosch, sodaß er alle Konversation schriftlich zu führen gezwungen war. Schon im Winter 1827 hatte er seine Entlassung vom Conservatorium fordern müssen. Sie war ihm mit Zusicherung einer Pension gewährt worden, die König Carl X. durch eine jährliche Beisteuer aus seiner Privatchatulle vermehrte. Dagegen ward ein Uebereinkommen mit der Opéra comique, welches dem Tondichter, in Anerkennung seiner Verdienste um die Bühne, eine Jahreseinnahme von 1200 Francs garantirte, durch den neuen Unternehmer des Theaters für null und nichtig erklärt.

Die Julirevolution 1830, die die Bourbonen aus Frankreich vertrieb, beraubte auch Boieldieu seiner einträglichen Hofämter und der königlichen Pension; sie gab ihn auf seine alten Tage neben der Krankheit noch dem Mangel oder doch der Sorge Preis. Nachdem er auf Anrathen seines Arztes das Jahr 1830 fast ununterbrochen im südlichen Frankreich, den Winter 1831 bis 32 in Hyères (wo er viel mit dem jungen Thalberg verkehrte) und die nächstfolgende Zeit in Eaux-bonnes in den Pyrenäen und in Pisa zugebracht, fanden sich seine Hülfsquellen gänzlich erschöpft. Er sah sich genöthigt, bei seiner Rückkehr nach Paris (im Spätsommer 1833) um eine Audienz bei Thiers, dem Minister des Innern, nachzusuchen. Dieser begriff, daß es Frankreichs Ehre erheische, einen Künstler, der für dieselbe geschaffen, einer so peinlichen Lage zu entreißen. Er gab ihm, nachdem der Plan, ihm als Konservator der königlichen Bibliothek eine Sinecure zu verschaffen, sich als unausführbar herausstellte, sein früheres Amt als Professor des Conservatoire zurück, dessen Einkommen er wenigstens genießen sollte, obschon er außer Stande war, seine Functionen wieder aufzunehmen. Hierzu fügte Thiers noch eine Pension von 3000 Francs aus den Fonds der beaux-arts.

Leider durfte sich Boieldieu nur kurze Zeit der Vortheile dieser veränderten Lage erfreuen. Sein Zustand gebot einen wiederholten Aufenthalt im Süden, und zu Beginn des Sommers 1834 begab er sich noch einmal auf die Reise, um die Heilkraft der Quellen von Eaux-bonnes zu erproben. Sie konnten ihm keine Hülfe mehr bringen. Dennoch gab er sich den Tröstungen der Hoffnung hin und meinte Linderung seiner Leiden zu spüren, während die Hand des Todes ihn schon gezeichnet hatte. Er glaubte sein Uebel nervöser Natur und »verachtete doch die Nerven schon seit Langem,« wie er seinem Sohn Adrien Derselbe lebt noch jetzt als geschätzter Musiker und Operncomponist. in die Heimat schrieb, in einem Brief, der die ganze Zärtlichkeit seines Vaterherzens enthüllt.

Auf der Durchreise durch Bordeaux erkrankte er so schwer, daß man an seinem Aufkommen zweifelte; indessen erholte er sich wieder so weit, daß er in der zweiten Hälfte des August die Rückkehr nach Paris und von da die Uebersiedlung nach seinem Landhaus in Jarcy bei Brunoy, mit dem er seit einigen Jahren sein früheres Besitzthum vertauscht hatte, wagen konnte. Hier durchkämpfte er, von der liebenden Sorgfalt seiner Familie und Freunde umgeben, seine letzten schmerzensreichen Tage. Noch in seiner Scheidestunde nannten seine Lippen den Namen Herold's, des Gefährten, der ihm in's Jenseits vorangegangen. Ob er ahnte, wie bald er ihm folgen werde? Den ersterbenden Blick auf seinen geliebten Sohn Adrien gerichtet, dessen Rechte mit seiner erkaltenden Hand umfassend, ging auch er am Nachmittag des 8. October 1834 den Weg, von dem Keiner wiederkehrt.

Die Kunde von seinem Hinscheiden erfüllte Frankreich mit Trauer. Man wußte, was man ihm dankte, und was man mit ihm begrub. Das bezeugte die unabsehbare Schaar der Theilnehmenden, als man sechs Tage spater, am 14. October, seine sterbliche Hülle zur Ruhe brachte. Die ruhmreichsten Vertreter der Künste und Wissenschaften gaben ihm das letzte Geleite, und unter Beteiligung der besten Künstler begleitete Cherubini's Requiem die religiöse Feier in der Invalidenkirche, da der Erzbischof von Paris die Mitwirkung weiblicher Stimmen als unkirchlich in seiner Diöcese nicht dulden wollte. Dann nahm der Père-Lachaise den Todten in seine Hut.

Vergebens erhob seine Vaterstadt Rouen, die nach dem Erfolg der weißen Dame eine Gedächtnismünze auf ihn geprägt und ihn mit einem glänzenden Feste gefeiert hatte, Anspruch auf seinen Besitz im Tode. Paris gönnte ihr nur sein Herz, das sie, in silberner Kapsel verwahrt, der geweihten Erde des monumentalen Friedhofs übergab, in dem sie, gesondert von den Uebrigen, nur die Auserwählten, Ruhmgekrönten unter ihren Söhnen bestattet. Auch sein Standbild hat die alte Hauptstadt der Normandie auf einem ihrer Quais, der seitdem Boieldieu's Namen trägt, aufgestellt und – wie sie alljährlich sein Gedächtnis feiert – vor allem seinen hundertsten Geburtstag in festlicher Weise begangen. In edlem Wetteifer mit ihr schmückte Paris die Académie des beaux-arts mit seiner Büste, sein Grab mit einem Monument und benannte auch den Platz vor der Opéra comique, der bevorzugten Stätte seines Wirkens, nach ihm. Sie waren wol dessen eingedenk, daß ein Volk in seinen großen Todten sich selbst am höchsten ehrt.


 << zurück weiter >>