Julius Lips
Zelte in der Wildnis
Julius Lips

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreizehntes Kapitel

In Saikos Zelt

Langsam zogen sie heim und ließen Utisch in seiner von geheimnisvollem Leben erfüllten Einsamkeit zurück. Michael saß als einziger Passagier auf dem Schlitten, und die Hunde trotteten gemächlich hinter Pirre und dem Vater her, die auf der gestern durch den Schnee gezogenen Fährte voranstapften. Der Tag war klar, und der Weg zwischen den sanften Hügeln war unbeschwerlich, denn hier gab es kein tückisches dünnes Eis über versteckten Wasseradern. Der kalte trockene Wind war gesund und gut, und makelloses Weiß bedeckte die 183 Geheimnisse des Waldes, die nur den Eingeweihten kund sind.

Keine Grenzpfähle oder Zäune sperrten die Landstrecken ab, aber die Minnegouches wußten ganz genau die Stelle, wo Utischs Jagdgrund zu Ende war und wo der seines Nachbars vom Mistassinistamm begann. Unermeßlich weit waren die Gebiete, die die Winterheimat der kleinen Anzahl Jäger und ihrer Familien begrenzten. Ein in den Baumkronen errichteter verfallener Holzspeicher zeigte das Ende auch dieses Jagdgrundes an, und sie passierten nun zwischen den Hügeln die engen Endstrecken zweier anderer, die sich fächerartig ins Weite dehnten. Dies war das innerste Herz der Wildnis, wo kein weißer Abenteurer sich je hingewagt hatte. Selbst die Gier der »wilden« Pelzhändler reichte nicht bis hieher.

Die beiden zu grotesker Zwillingsgestalt zusammengewachsenen Tannen, an denen sie jetzt vorbeikamen, zeigten an, daß sie sich nun auf Saikos Jagdgrund befanden, wo das Wild am besten geschont wurde und dafür den klugen Jäger mit reichem Ertrag belohnte. Kein Tier wurde hier außerhalb der für seine Jagd freigegebenen Jahreszeit getötet, kein junger Biber wurde seiner Mutter zu früh entrissen und kein Bär zur unrechten Zeit geschossen. Hier war Saiko Herr und Meister, und für ihn allein reiften die Früchte der Wildnis. Er vereinte in sich die Tugenden der alten Zeiten, und es schien, daß Menschen und Tiere ihn unaufhörlich mit ihren Gaben dafür belohnten. Sein Gedächtnis versagte nie, und seine Weisheit war so groß, daß viele Indianer glaubten, er habe schon seit Generationen hier auf dieser selben Stelle gelebt. Vielleicht besaß er eine Zauberwurzel oder ein Kräutlein, die ihren Träger unsterblich machten. Selbst die ältesten Männer des Stammes hatten Saiko nie anders gesehen, als er heute war, und trotz seines verkrüppelten Körpers war er noch immer der beste Jäger. Seine schwarzen alten Finger waren geschickter in allen Kunstfertigkeiten als 184 die selbst der jüngsten Indianer. Er hatte das beste Zelt, und alles, was er sich zurechtschnitzte oder ‑band, war von der feinsten, dauerhaftesten Art. Seine Kleider, sein Schlitten, seine Nahrung und alles, was er besaß, waren die besten im Naskapiland.

Mustards plötzliches rauhes Bellen unterbrach die Winterstille, die beiden anderen Hunde fielen ein, und wie verrückt begannen sie im Gespann herumzuspringen. Der Vater hob die Peitsche, aber ohne Erfolg. Sie rasten mit Michael davon, der in gefährlicher Weise auf dem Schlitten hin und her schwankte. Den Pfad verlassend, verschwanden sie im Dickicht zur Linken, wo sie mit ihrem Gefährt hängen blieben, so daß Michael glücklich absteigen konnte.

»Ein Bär –«, flüsterte Pirre und griff nach Vaters Gewehr.

»Ein Luchs«, sagte Michael.

Aber der Vater lachte sie aus und zeigte mit seinem Fausthandschuh in das dichte Gebüsch. Er befreite die Hunde aus ihren Geschirren, und wie betrunkene Kobolde stürzten die drei Vierfüßler vorwärts. So eilig waren sie, daß einer über den anderen fiel, denn sie alle wollten zuerst die Stelle erreichen, wo etwas knorrig Verwachsenes sich mit unglaublicher Schnelligkeit durch den Schnee hinbewegte.

»Saiko!« rief Pirre, und alle drei Minnegouches hielten ein, erfreut von der überraschenden Begegnung.

Und schon erschien vor ihnen der große Jäger auf seinen Händen und Füßen, eine tiefe Furche hinter sich im Schnee. Er zog seinen mit Wild, Proviant und Munition beladenen Schlitten behende hinter sich her. Es schien unglaublich, daß er die gewaltige Bürde, die ihn an Höhe bei weitem überragte, mit solcher Leichtigkeit ziehen konnte.

Die Hunde waren nun bei ihm angekommen. Sie kannten und liebten ihn und nahmen sichtlich Rücksicht auf seine scheinbar so gebrechliche Gestalt, denn sie sprangen nicht an ihm hoch, sondern umtanzten ihn 185 in respektvoller Entfernung mit Freudengewinsel und wedelnden Schwänzen. Sie kratzten den Schnee vor seinen Füßen weg und beleckten zart und begeistert seine Knie, Arme und Fausthandschuhe. Auch ihnen war er der König der Wildnis.

Pirre bewunderte den prächtigen Schlitten, der zu Ehren des Nordmannes mit zinnoberroten Ornamenten bemalt war. Die Jagdausbeute bestand aus einem Karibu, das bereits abgezogen, zerteilt und in die Tierhaut eingeschlagen war. Auf diesem Bündel lagen zwei Schneehasen, zwei Rebhühner und eine Anzahl steifgefrorener Fische. Daneben war der wohlgefüllte Speisesack zu sehen, und das Gewehr ruhte sicher geschützt in seiner Lederhülle.

»Ich bin im Schneesturm steckengeblieben, vor ein paar Tagen«, sagte Saiko, »aber ich habe es mir gemütlich gemacht. Ich bin sogar am See gewesen und habe ein bißchen unter dem Eise gefischt.«

Jeder andere Jäger mit gesunden Gliedern wäre im Freien in dem Wetter, das selbst die Minnegouches während der letzten Woche ins Zelt verbannte, verhungert und erfroren. Aber nicht Saiko. Im Gegenteil, er hatte verstanden, es sich dabei »gemütlich« zu machen!

»Du hast nicht einmal deine Hunde mitgenommen«, sagte der Vater, und Saiko erzählte, daß er sie einem Freund geliehen hätte, dem der Wolf das Gespann getötet hatte. Ganz allein hatte er seinen Ausflug unternommen und sich mit dem schweren Schlitten die tiefe Furche in den Schnee gepflügt.

»Ich ziehe dich heim!« sagte Pirre.

»Nimm meine Hunde!« fügte der Vater hinzu.

»Erst nehmt einmal eine Karibukeule für die Frau mit«, antwortete Saiko, öffnete das Paket und suchte ein prächtiges Stück Fleisch aus, das er in ein Stück Leder einwickelte und Michael für die Minnegouches gab.

»Gut, Pirre«, sagte der Vater, »wenn Saiko dich haben will, so kannst du bei ihm bleiben, bis er dich heimschickt.« 186

»Ich habe allerhand Leckereien, mit denen ich ihm den Bauch stopfen kann«, lachte der Alte.

Die Hunde hatten schnell begriffen, daß sie nun Saikos Schlitten zu ziehen hatten, und sie bellten vor Freude, als sie angeschirrt wurden. Ehe irgendeiner ihm helfen konnte, war Saiko schon auf das Gefährt gesprungen. Auf dem Bündel thronend, gab er Pirre noch ein paar letzte Anweisungen. Der Junge war glücklich. Er wußte, daß viele Freuden ihn erwarteten. Nichts war schöner, als Saiko durch den Schnee zu ziehen!

Als sie schieden, leckten die Hunde noch einmal ihrem Herrn die Hand. Der Vater streichelte ihre zottigen Köpfe.

»Fort mit euch!« sagte er.

»Atikwa!« rief Saiko, und so fuhren sie ab, mit Pirre an der Spitze. Bald waren sie außer Sicht.

Immer tiefer in den Wald hinein ging es, ins Innere von Saikos Jagdgrund. Als die Schatten länger wurden, hörte Pirre hinter sich einen langgezogenen, geheimnisvollen Gesang voller uralter Indianerworte, der ihn an Utischs Geisterhütte erinnerte. Vielleicht war auch Saiko ein mächtiger Zauberer, aber er hatte sich stets geweigert, mit dem Jungen über gewisse Geisteskräfte zu sprechen, die er vielleicht besaß. Saiko glaubte an die alten Zeiten und an die Sagen der Jagdgründe, aber für ihn gab es nichts Übernatürliches. Selbst seine seltsamsten Geschichten klangen immer so, als wäre alles erst eben passiert, alles war wahr und wirklich und gegenständlich. Die Helden der alten Mythen waren seine persönlichen Freunde gewesen, er wußte, wo und wie sie gelebt hatten, und fühlte sich in ihrer Welt daheim. Es war ja auch kein Wunder – wenn man sah, wie sicher Saiko sich in Eis und Schnee bewegte, so konnte man nicht für eine Minute daran zweifeln, daß er ebenso einfach die Sonne erklettern oder das Land des ewigen Eises bereisen konnte, die unterirdischen Höhlen der Zwerge aufsuchen oder das Nest, in dem der »Fliegende Mann« in den Wolken hauste. 187

Deshalb war es ja gerade so angenehm, ihn durch den Schnee zu ziehen. Für Saiko gab es keine Wunder, aber die einfache Tatsache, daß er lebte, der bunte Garten seiner Phantasie und die prächtigen Dinge, die er anzufertigen wußte, hatten ihn, seit Pirre denken konnte, zu seinem Ideal gemacht. Schon als kleiner Junge hatte er sich gelobt, einmal »wie Saiko« zu werden, wenn er erwachsen war.

Über Nacht schlugen sie ihr Lager unter einer Gruppe dichter Tannen auf und brieten Fische und Hasen im Feuer unter den Zweigen. Die Hunde verspeisten die Knochen und gruben sich dann zum Schlafen in den Schnee ein. Pirre und Saiko verschwanden unter ihren Decken. Und wieder überkam den Jungen das Gefühl tiefster Geborgenheit, als er so sicher und nahe bei dem größten Jäger seines Stammes ruhen durfte. Mit ihnen schliefen unter diesem Himmel auf den Bäumen und in den Schlupfwinkeln der Erde die vielen Kreaturen der Wildnis. Klar funkelten die Sterne. Auch sie hatten ihre Mistapéos, ihre Namen und ihre Geschichten.

Saiko hatte den Jungen beobachtet und war der Richtung seiner Blicke gefolgt.

»Siehst du den Fischerstern?« fragte er und zeigte auf das Sternbild, das die Weißen den »Großen Bären« nennen.

»Der steht noch gar nicht so lange da oben, erst seit einem ganz bestimmten Vorfall. Damals hielt man es nämlich für richtig, den Sommer bewachen zu lassen und hatte zwei Fische zu diesem Zweck angestellt: den Stör und den Sauger. Aber kaum war das bekanntgeworden, so waren auch schon die Feinde hinter ihnen her, die den Sommer von ihnen stehlen wollten, und so mußten sie sich nach Hilfstruppen umsehen. Ntschuck, die Otter, bot sich als Helfer an, wurde aber bald von den Verfolgern vertrieben. Da kam Nape Utschek, der kanadische Marder oder, wie wir ihn nennen, der Fischer. Die Feinde, die den Sommer stehlen wollten, verfolgten ihn sofort, aber er konnte sich auf einen 188 Baum retten. Da holten sie ihre Waffen und schossen zweimal auf ihn, aber sie trafen ihn nicht. Beim dritten Male jedoch traf ihr Pfeil, und zwar mit solcher Wucht, daß der Fischer mit samt dem Pfeil hoch in den Himmel hinaufflog. Die Himmlischen aber, die den Tapferen liebten, öffneten ihm ihre Pforten, und die Sterne boten ihm an, sich unter ihnen mit aufzustellen. Da er den Sommer für die Menschen hatte retten wollen, so sollte er da oben als Hoffnungszeichen für die Indianer stehen, damit wir uns selbst im kältesten Winter daran erinnern, daß der Sommer noch auf der Erde ist und wiederkommen wird, weil der Fischer ihn für uns verteidigte. Wenn du scharf hinsiehst, kannst du ihn ganz deutlich im Nachthimmel erkennen. Der zweite kleine Stern rechts ist die Stelle, wo der Pfeil noch aus seinem Pelz hervorragt. Siehst du es, Pirre? Es ist noch gar nicht so lange her.«

»Warst du dabei, Saiko, als der Fischer auf den Baum sprang, um die Diebe vom Stehlen des Sommers abzuhalten?«

»Es war kurz vor meiner Zeit. Aber ich habe noch die Enkel der Leute gekannt, die es mit ihren eigenen Augen gesehen haben.«

»Wieviel du weißt, Saiko!«

»Denk nicht, daß das so eine alte Geschichte ist, Pirre. Das sind Tatsachen. Die ganze Kunst ist, sie nicht zu vergessen.«

»Erzähle mir noch etwas aus den alten Zeiten!«

»Nein. Heute nacht nicht mehr. Es ist schon spät, und die Zwerge möchten sich gern an unserem Feuer wärmen. Aber die wollen nicht beobachtet werden. Mach lieber deine Augen zu. Andere Leute haben auch ihre Rechte.«

So schliefen sie denn ein, tief und traumlos. Am Morgen zogen sie weiter und verbrachten auch noch eine zweite Nacht unter dem freien Himmel. Und wieder machten sie Feuer für die Zwerge, und wieder hörte Pirre 189 eine Geschichte, diesmal von der »Geisterstraße«, die die Weißen die Milchstraße nennen.

Am Nachmittag des dritten Tages erblickten sie Saikos Zelt. Die Hunde rasten wie wild darauf zu, denn sie rochen den Vorrat von gefrorenem Fleisch, der in einer Baumkrone hinter dem »Haus« aufgespeichert war. Sie wußten: nun durften sie ausruhen bei gutem Futter.

Saiko sprang vom Schlitten und spannte die Hunde aus. Mustard kratzte schnüffelnd im Schnee herum, Café wälzte sich niesend im pulvrigen Weiß, aber Pepramint blieb bei den Jägern, um keine ihrer Bewegungen beim Abladen des Schlittens zu missen und sich die Stelle zu merken, wo die Rebhühner und das Karibufleisch aufbewahrt wurden.

Pirre zog seinen Fausthandschuh aus und berührte mit seiner Hand das wetterharte Lederzelt aus Karibu, das wie die alten Tipis kegelförmig aufgebaut war, mit schräg im Kreise errichteten Stangen und einer runden Öffnung oben in der Spitze. Saikos Zelt war das einzige noch im Gebrauch befindliche Lederzelt der Naskapi. Trotz seiner vielen Flicken war es fester und solider als die meisten bei der Company gekauften Leinwandzelte. Dies war sein Winterhaus. Sein Sommerzelt aus Birkenrinde lag in einem seiner Baumspeicher.

»Wirst du wohl deine Fausthandschuhe wieder anziehen!« schimpfte Saiko, und Pirre gehorchte auf der Stelle.

»Na«, fügte der alte Mann lachend hinzu, »da siehst du zur Abwechslung einmal wieder ein richtiges solides Tipi. In dem hier hat schon mein Vater gehaust und sein Vater vor ihm.«

In diesem Zelt gab es keinen Ofen und auch kein Ofenrohr. In der Mitte sah Pirre einen sauberen Kreis verbrannten Bodens, wo frische Holzscheite, mit trockenen Ästen überdeckt, schon fertig auf die Wiederkehr des Jägers gewartet hatten. Das Feuer brannte sofort, und der Rauch zog senkrecht durch die Zeltspitze ab und wurde nicht durch die krumme Eisenröhre des 190 weißen Mannes zur Seite abgelenkt. Bärenpelze bedeckten den Boden in drei dicken Schichten in angenehmer Nähe des Lagerfeuers. Überall lagen warme Decken aus Schneehasenpelz und andere aus prächtig mit gefärbten Stachelschweinborsten besticktem Leder. Alles das war das Werk von Saikos Händen. Sein verfeinerter Geschmack verlangte das Beste, das er zu seiner eigenen Freude anfertigte.

Pirre zog seine nassen Schuhe aus und durfte sich ein Paar Mokassins von dem Vorrat neben dem Zelteingang aussuchen. Er legte die Pelzkappe ab und fuhr sich mit einem der geschnitzten Knochenkämme, die auf dem an Lederschnüren aufgehängten Wandbrett aus Birkenrinde lagen, durch sein glattes schwarzes Haar.

Niemals werde ich den weißen Mann nachäffen, dachte er und streckte seine jungen, gesunden Glieder auf dem Bärenfell aus, mit seinen lächerlichen Töpfen und Säcken und Glasbüchsen. Stolz betrachtete er seine kräftigen Hände, die die Farbe holzgeräucherten Leders hatten. Seine Zähne konnten jeden Knochen und jedes Holzstück durchbeißen, sein Haar war wie eine Pelzkappe, und seine Augen glichen denen des Adlers.

Verehrung und Liebe erfüllten sein Herz, als er so dem alten Manne zusah, der um das Feuer herumhantierte.

»Verzeih mir, Saiko«, sagte er mit dem neuen tieferen Klang in seiner Stimme, »ich sollte dir eigentlich beim Kochen helfen, aber ich liebe es so sehr, dir zuzusehen. Alles bei dir ist so alt, so friedlich wie der Wald. Alles ist am rechten Platz, und es ist so viel besser, als die Sachen, die man im Sommer zu sehen bekommt.«

»Sieh, sieh, Pirre«, antwortete der große Jäger, während er den mit Schnee gefüllten altertümlichen Kessel über das Feuer hing, »nicht viele junge Indianer reden wie du. Noch im vorigen Sommer bist du ganz anders gewesen. Es ist schon seltsam mit diesem Zelt hier: es zeigt mir den wahren Charakter meiner 191 Besucher. Manche Indianer, die hier übernachtet haben, denken, daß ich ein altmodischer Dummkopf bin, der nicht in die moderne Zeit hineinpaßt. Andere glauben, daß meine Art zu leben die rechte für einen Indianer ist, und sie beginnen die Erfahrungen der Vergangenheit erst so richtig einzuschätzen und die Schönheit, die in den alten Sitten liegt.«

Pirre wunderte sich über die Geräumigkeit des Zeltes.

»Zwölf können hier bequem schlafen«, sagte Saiko und befestigte ein Stück Karibulende am Bratspieß, »aber wenn man ganz allein darin wohnt, ist es noch viel gemütlicher. Jeden Abend lade ich mir ein paar Männer, die ich einstmals kannte, zu Gast, außerdem ein paar freundliche Mistapéos, die die Treue eines alten Jägers mit reicher Wildbeute belohnen.«

Pirre trat zum Zelteingang, wo geduldig wartend die Hunde im Schnee lagen. Der Nachthimmel war violett und unermeßlich. War die Nacht wirklich von Myriaden unsichtbarer Geister erfüllt, die seit Jahrtausenden in der Wildnis wohnten und die Indianer, die an den alten Sitten festhielten, mit ihrem Segen überhäuften? Er fürchtete sich nicht vor ihnen. Er war ein Indianer, und bald würde er wirklich erwachsen sein. Immer, immer aber würde er Saikos Lebensweise bewundern, seinen Stolz und die Kraft, die in der Einsamkeit lag.

In drei Schüsseln aus Birkenrinde machte Saiko jetzt das Hundefutter zurecht und stellte ihnen Fleisch und Knochen in den Schnee hinaus. Pirre schloß für einen Augenblick die Augen, um das Geräusch des Feuers und der fressenden Hunde zu genießen und das laute Krachen des Eises draußen, das einen bevorstehenden Wetterwechsel anzukündigen schien.

Aus einem rechteckigen Rindenkörbchen mit reich ornamentiertem Deckel nahm Saiko nun zwei reichliche Portionen des im Sommer bereiteten »Minisch Pemmikan« aus Heidelbeeren und Bärenfett. Geschärfte Knochen 192 und Biberzähne waren seine Messer, mit denen er dicke Scheiben Fleisch vom Karibubraten abschnitt und sie auf die Teller aus Birkenrinde legte. Gabeln und Löffel waren aus Knochen geschnitzt.

»Früher kannten wir kein Salz«, sagte er, »auch die Tiere haben kein Salz, und doch sind sie stark und gesund.« Mit einem Blick auf die fressenden Hunde fügte er hinzu: »Auch Kaffee, Senf und Pfefferminz kannten wir nicht, aber wir hatten auch keine Erkältungen, keine schwachen Lungen und keine Gicht.«

Pirre goß Tee in die Rindenbecher, süßte ihn mit Ahornzucker und würzte sein Fleisch mit dem Pulver aus getrockneten Wurzeln. Sie aßen langsam und würdevoll. Jeder Indianer weiß, daß hastiges Essen nach ein paar Nächten im Freien der Gesundheit schadet.

Als das Mahl beendet, die Teller und Gabeln mit Schnee gewaschen und die Hunde schlafen gegangen waren, legten sie neue Scheite aufs Feuer. Pirre spielte mit einem geschnitzten Knochen, an dem an einer Lederschnur ein mit Schnee-Eulenfedern gezierter Pfeil hing, den man mit einer geschickten Handbewegung in die passende Kerbe werfen mußte – ein gutes Gelenkigkeitsspiel für Jäger.

Saiko füllte seine prächtig aus rotem Stein geschnitzte Pfeife und reichte Pirre eine zweite hin, die der Junge ohne Zögern annahm. Noch im Sommer hatte er sich fast als Kind gefühlt, wie P'tithomme hatte er an Abenteuern teilgenommen, die ihm jetzt lächerlich vorkamen. Nun plötzlich behandelten die Männer ihn als ihresgleichen. Als er die ersten Züge aus Saikos Pfeife tat, entsann er sich des kostbaren Augenblickes, als der Vater ihm vom Gelde des weißen Mannes gab, dem sie ihre Pelze verkauft hatten, und der Wartezeit im Schnee, als er, des Vaters Hand in seiner, den Geräuschen gelauscht hatte, die aus Utischs Geisterhaus kamen. Er fühlte, daß er ruhiger geworden war, und daß er sich besser ausdrücken konnte als früher, wenn er sich nur Mühe gab. Sein Ehrgeiz ging plötzlich in 193 andere Richtungen, und er begeisterte sich für Dinge, über die er noch im Sommer hatte lachen müssen. Selbst der Gedanke an die Mädchen, die ihm zuweilen schüchterne Blicke zugeworfen hatten, kam ihm nun nicht mehr lächerlich vor. Er sah alles in verändertem Licht.

Auch Saiko hatte seine eigenen Gedanken. »Wenn du diese alten Sachen ansiehst«, sagte er, »da denkst du unwillkürlich an die Menschen, die sie vor uns benutzt haben. An die lange Reihe von Indianern, die ihren Kindern die Erlebnisse ihrer Jugend erzählten und die Abenteuer, die ihre Vorfahren erlebt hatten. Die Kinder wieder haben, was sie hörten, ihren eigenen Kindern weitererzählt, so daß nun, Jahrhunderte später, soviel zu berichten wäre, daß keine Nacht lang genug ist, um alles wieder zu erzählen. Kein Wildpfad ist einsam genug für einen Jäger, der die alten Erinnerungen lebendig erhalten will in seinem Geiste.«

Er tat einen langen Zug aus der Pfeife und folgte den Rauchringen mit seinen Blicken. Halb liegend, halb kauernd wie ein Türke mit Händen und Füßen, die an den unerwartetsten Stellen seines Körpers zum Vorschein kamen, glich er einem Zauberwesen, halb Baumstumpf, halb Gnom. Sein hartes Leben und sein hohes Alter hatten seine Haut fast schwarz gegerbt. Schrecklich anzusehen wie der Wittegu, der die Kinder schreckt, strahlte er dennoch von Sanftheit und Güte, und die rosa Reflexe, die das Feuer auf seine Stirne malte, schienen von einem inneren Lichte herzustammen, das die Ruhe der Weisheit und des Friedens um ihn verbreitete.

Trotzdem die Zahlen und Zeitbegriffe des weißen Mannes ihm kaum etwas bedeuteten, fühlte Pirre plötzlich den Drang, das wahre Alter des großen Jägers zu erfahren.

»Wie alt bist du eigentlich, Saiko? Kannst du es mir sagen?«

»Was meinst du mit dieser Frage? Auf jeden Fall bin ich alt genug, um mich noch auf den großen Krieg 194 der Indianer und der Eskimos zu besinnen, dieser widerwärtigen »Rohesser«! Die Weißen sagen, das ist hundert Jahre her.«

»Essen die Eskimos wirklich rohes Fleisch?«

»Ha! Die verschlingen die Fische genau so, wie sie aus dem Salzwasser kommen. Es sind keine Menschen wie wir Indianer. Sie sind nicht besser als die meisten Weißen, weit, weit unter den Tieren.«

»Aber die Weißen von der Company sind nicht so minderwertig, nicht, Saiko?«

»Nein, die nicht. Und auch nicht die weißen Zauberer Christi.«

»Ein richtiger Krieg war das gegen die Eskimos?«

»Als Verräter kamen sie in ihren schwarzen Kanus. Zu jener Zeit hatten wir viele Kriege, sogar Kriege unter den Indianern. Denk, selbst die Montagnais und die Irokesen haben sich damals bekämpft. Aber das ist lange her. Jetzt leben wir in Frieden. Allerdings sind mit den großen Kriegen auch die großen Häuptlinge verschwunden. Wo sind sie heute, unsere großen Führer?«

»Du, Saiko, bist nun der Größte unter den Naskapi. Du, der große Jäger, der große . . .«

»Laß diese Reden, ich kann sie nicht leiden. Heutzutage braucht niemand mehr groß zu sein. Niemand kann sich mit den Helden der alten Zeiten vergleichen, sie sind dahingegangen wie der Schnee vom vorigen Jahr. Wer kennt noch Namen wie Nosipatan und Kawosaweset?«

»Nosipatan und Kawosaweset?«

»Ja, Pirre, deine Ahnen und meine sind ihre leibhaftigen Vettern gewesen. Und wenn ich dich so ansehe, kommt es mir vor, als hättest du die Augen und die Nase von Nosipatan. Und dennoch hast du nicht einmal seinen Namen gehört!«

»Hast du ihn noch gekannt, Saiko?«

»Gekannt? Wenn du die Lebensgeschichte eines Mannes kennst, so kennst du ihn selber. Er war ein Mistassini-Indianer aus der Gegend, die sie Naosquiskaw 195 nennen. Was für ein Jäger er war! Die Händler von der Hudson Bay Company haben vor ihm auf den Knien gelegen, um seine Pelze zu bekommen. Auf dem Boden sind sie vor ihm herumgekrochen, so wie ich herumkrieche, nur daß ich nicht so diensteifrig bin, wie sie waren in ihrer Gier, ihn vom Handel mit der Konkurrenz abzuhalten. Die Weißen von den »Königsposten« waren nämlich auch Pelzhändler, ehe unsere gute alte Company sie auffraß mit Haut und Haar.«

»Und er, Nosipatan, war ein Häuptling?«

»Er konnte schießen und fangen, was er nur wollte. Er verheiratete seine Töchter mit den besten Jägern und behielt seine Schwiegersöhne bei sich, damit auch ihre Kinder stolze Indianer würden. Keiner konnte es ihnen gleichtun, wenn sie mit ihren Ladungen feinster Pelze eintrafen. Bald nannten sie Nosipatan den »Größten Jäger«, und später erkannten ihn alle als ihren Häuptling an. Keinen Streit gab es, den er nicht in seinem Wapanon entscheiden konnte, niemand heiratete ohne seine Zustimmung. Wenn er ein Fallenmodell für schlecht erklärte, bestellten die Company-Leute neue von London, so wie er sie haben wollte. Hundertzwanzig Made Beaver in Pelzen war für ihn eine Kleinigkeit. Heutzutage sind wir zufrieden, wenn wir nur fünfzig erbeuten. Und die Geschenke, mit denen sie ihn überhäuften! Wie sie sich fürchteten, wenn er einen Umweg nach dem Swabmuswan-See machte, um dort mit den Leuten von dem Königsposten zu verhandeln! Während andere Indianer im strengen Winter verhungerten, brachte er fünf Kanus voll Pelze zum Sommerlager. Manche sagten, er hätte einen Pakt mit dem Nordmann gemacht, dem er seinen Mistapéo für die Gabe unermeßlichen Jagdglücks verkaufte, aber nur für die Zeit seines Erdenlebens.«

»Und dann, als er starb?«

»Da machten sie einen Stern aus ihm, einen von den kleinen, blanken, kalten, die ihr Geheimnis selbst in der kältesten Nacht nicht preisgeben.« 196

»Wie alt ist er geworden?«

»Kannst du dir noch immer nicht diese dummen Fragen der Weißen abgewöhnen? Alter – was bedeutet das? Nichts! Wenn so ein Mann allzu lange gelebt hat, dann merkt er es schon. Einmal, im Winter, brachte auch sein Pakt mit dem Nordmann ihm nichts mehr ein. Er und seine ganze Familie waren so hungrig, daß sie die Häute ihrer gejagten Pelze essen mußten. Damals starb eine seiner Frauen einfach vor Hunger.«

»Hatte er mehr Frauen als nur eine?«

»Das war in den alten Zeiten etwas ganz Natürliches. Damals liebten die Indianer noch große Familien. Aber in dem Winter starben seine Söhne, Töchter und Schwiegersöhne. Sie verhungerten. Da starb er selbst, vor Kummer. Du bist einer seiner Ururururur . . .«

»Ur . . . was?«

»Der Ausdruck fällt mir gerade nicht ein. Aber es besteht da eine Verwandtschaft in gerader Linie. Deine Ohren sehen genau so aus wie die von Nosipatan.«

»Meine Ohren?«

»Auf jeden Fall erinnerst du mich an ihn.«

»Und wer war der nächste Häuptling nach ihm?«

»Das war Kawosaweset, der zweitbeste Jäger, der Bruder von Nosipatan. Er war der letzte der großen Häuptlinge, die noch den richtigen Häuptlingsmantel trugen, mit buntem Zeug verziert, das sie schottische Borten nannten. Es kam von jenseits des Meeres.«

»Waren sie wirklich so unwiederbringlich groß, Saiko? Kann ein junger Indianer unserer Tage nicht werden wie sie?«

»Nein, Pirre, das kann er nicht. Heute sind die Indianer hinter den Piastern des weißen Mannes her. Wenn sie in den Laden der Company kommen, so berauschen sie sich an dem fremden Zeug und schnappen danach wie der Fisch nach dem Köder. Sie wollen sein wie die Weißen. Zu Nosipatans Zeiten wollten sie Indianer sein und bleiben. Deshalb buhlte damals der weiße Mann um die Freundschaft. Heute ist es 197 umgekehrt. Und darin liegt der ganze Unterschied. Die Indianer unserer Tage haben ihre Würde weggeworfen.«

Erregt sprang Pirre von seinem Lager auf.

»Nicht du, Saiko«, rief er, »nicht du! Deshalb lieben und bewundern wir dich ja so sehr! Deshalb will ich einmal werden wie du, und ich will es versuchen, mit aller meiner Kraft!«

»Willst du auch einen Körper haben wie meinen?« sagte der alte Mann mit einem schelmischen Lächeln.

»Ach, Saiko, verspotte mich nicht! Daß du so lebst, wie du lebst, trotzdem du so aussiehst, das ist es ja gerade. Daß du es überwunden hast! Daß du dein fröhliches Herz behalten hast! Daß du deine Gedanken in solche Worte fassen kannst! Daß du am Leben geblieben bist! Für mich bist du größer als Nosipatan und Kawosaweset zusammen!«

»Du hast in den letzten Wochen allerlei gelernt, Pirre Minnegouche. Hat Utisch dir Verschiedenes beigebracht?«

»Es gibt so viele gewaltige Dinge, die das Auge nicht sehen kann. Dinge, von denen ich nichts gewußt hatte . . .«

»Ja«, sagte Saiko, »manche Indianer wissen ihre Kräfte auszunutzen. Wenn ich an Zegabek denke, zum Beispiel –«

»Zegabek?«

Saiko bewegte sich zum Zelteingang hin. Er hob den Ledervorhang. Der Vollmond stand hoch oben über den Bäumen. Ein gelber Mond war es, auf dem ein Netz orangener Linien sich deutlich abzeichnete.

»Siehst du die Linien auf dem Mond?« fragte der alte Jäger. Pirre nickte. Ihn fröstelte von der plötzlichen Kälte. Sie kehrten zum Feuer zurück.

»Es ist spät«, murmelte Saiko, »wir wollen schlafen gehen.« Aber als sie unter den weichen Pelzen lagen, konnte der Junge noch keine Ruhe finden.

»Was meintest du mit den Linien, die im Monde sind? Sag es mir, Saiko, sonst kann ich nicht einschlafen.« 198

»Du schläfst schon«, sagte der Alte, »in deinem Alter schläft man gleich beim Feuer ein. Aber wenn du darauf bestehst, so sollst du es wissen. Das sind gar keine Linien, da im Mond. Ein Mann ist es, der mitten drin steht, ein Indianer. Mein alter Freund Zegabek. Ich kannte ihn, als er noch auf der Erde herumlief. Kurz nachdem ich das Unglück hatte, hat er oft meinen Schlitten gezogen. Er war ein strammer Junge, genau wie du. Aber ein bißchen zu übermütig. Zu neugierig für einen guten Jäger. Sein Vorwitz hat ihn dahin gebracht, wo er heute ist.«

»Du hast ihn gekannt, Saiko, wirklich?« fragte Pirre und fühlte sich plötzlich überwach. Er legte sich näher zu Saiko hin, damit er sein Gesicht im Schein des Feuers deutlicher erkennen konnte.

»Sieh, Pirre, du weißt vielleicht gar nicht, daß es in den alten Zeiten keine Nacht gab. Sonne und Mond standen zusammen am Himmel, und es war immer Tag.«

»Du hast das noch gesehen, Saiko? Wie lange ist das her?«

»Wenn du mich weiter unterbrichst, vergesse ich meine Gedanken. Wie der Zweifel doch an diesen jungen Indianern nagt, heutzutage! Und dann glauben sie auch noch, sie könnten werden wie die Alten, die ich noch gekannt habe.«

»Bitte, erzähle weiter, Saiko! Ich will nichts mehr fragen!«

»Damals, als mein Freund Zegabek noch lebte, fand er, daß es für seinen Geschmack zu hell war auf der Erde. Immer sagte er zu mir: ›Wenn wir es nur ein bißchen dunkler machen könnten! Wenn das gelänge, so hätten wir die Nacht. Die Indianer und die Tiere könnten sich ausruhen, wenn es für ein paar Stunden draußen schwarz wäre.‹ Wenn er davon zu reden anfing, fragte ich ihn immer: ›Mach's, wenn du kannst! Aber wie willst du es fertigkriegen?‹ Aber ich habe es dir ja gesagt, er war ein fixer Junge. Er war ganz versessen in 199 seine Idee und wollte versuchen, den Mond in einer Schlinge zu fangen, so daß es auf der Welt ein wenig dunkler würde. Seine Schwester gab ihm ein Zauberhaar von der Sorte, mit der man alles fangen kann, wenn man es nur zur Schlinge knüpft. Endlich gelang es ihm wirklich, und er legte mit größter Vorsicht die Schlinge in den Pfad, auf dem der Mond zu jener Zeit zu wandeln pflegte. Er hatte die Geduld, ihm immer wieder aufzulauern, und eines Tages gelang es ihm wirklich, den Mond in seiner Schlinge zu fangen!

Und damit schuf er sich die Nacht. Aber als es nun plötzlich so dunkel geworden war, da fürchtete er sich und weinte und kam zu mir, damit ich ihn trösten sollte.

›Du hast es gewollt, Zegabek‹, sagte ich zu ihm, ›nun hast du es. Mir gefällt es ganz gut. Ich lege mich schlafen in deiner Nacht in meinem feinen Zelt.‹ Es war dasselbe Zelt, in dem wir hier liegen, Pirre, denke daran! Aber er war ganz außer sich, und um ihn zu beruhigen, gab ich ihm ein paar Tiere mit, die ihm vielleicht helfen konnten, den Mond wieder aus seiner Schlinge frei zu machen, denn es war ja eine Zauberschlinge, und mit der muß man sich vorsehen. Der Maulwurf versuchte es, aber er hatte kein Glück. Der Biber weigerte sich, an der Sache mitzuwirken, er wollte nichts damit zu tun haben. Aber schließlich gelang es einer kleinen Maus. Sie biß die Schlinge durch, und der Mond sprang an den Himmel zurück und versuchte hinter der Sonne herzurennen. Aber sie war zu weit fort, und er konnte sie nicht einholen. Seit dem Tage scheinen sie getrennt, so wie wir sie heute kennen. Es gibt keine völlige Dunkelheit, so wie Zegabek sie einführen wollte, aber es gibt nun Tag und Nacht, wie du sie seit deiner Geburt gesehen hast.

Aber statt sich nun zufriedenzugeben, konnte Zegabek sein Abenteuer mit dem Mond durchaus nicht vergessen. Eines Tages traf ich ihn, wie er gerade mit einem anderen Zauberhaar in der Hand sein Zelt verließ. Er 200 wurde verlegen, als er mich sah, fing an zu pfeifen und hatte ganz offensichtlich ein schlechtes Gewissen.

›Wohin gehst du?‹ fragte ich ihn.

›Ein paar Schneehasen fangen‹, behauptete Zegabek, aber dazu braucht man nun wirklich kein Zauberhaar! Um zu sehen, was er vorhatte, ging ich ihm heimlich nach. Und tatsächlich, er ging geradeswegs wieder zur Kante der Welt, wo der Mond aufgeht. Ehe ich ihn noch warnen konnte, hatte er schon wieder eine Schlinge gelegt. Der Mond stieg auch zum Himmel auf wie gewöhnlich und da, mitten auf seinem Wege, fing er sich wieder in der verhexten Schlinge! Und wie dieser freche Bursche Zegabek sich freute! Ganz genau betrachtete er sich den Mond aus der Nähe und fürchtete sich nicht mehr vor ihm. Er war gelb und riesengroß. Mir gefiel er nicht besonders. Aber Zegabek war von seinem Anblick wie berauscht, er tat ein paar Schritte und lief mitten hinein. Ehe ich ihn noch zurückrufen konnte, hatte er schon selbst die Schlinge mit seiner Biberzahnaxt durchgeschnitten und fuhr mitsamt dem Mond in den Himmel hinauf. Er scheint sich da noch immer sehr wohl zu fühlen. Jede Nacht, wenn es dunkel wird, sieht er auf uns Indianer herunter und denkt wahrscheinlich, wie schlau er doch ist. Alle Leute können ihn sehen, sogar die Weißen, und sie nennen diesen frechen Burschen Zegabek den ›Mann im Mond‹.«

Saiko drehte sein Gesicht zur Wand und tat, als ob er schliefe. Aber das war einfach zuviel für Pirre. Er packte den Arm des alten Mannes.

»Sag mir nur noch das eine!« bat er, »wo ist die Kante der Welt? Kann man dort noch heute den Mond in einer Schlinge fangen? Könnte ich nicht einmal mit Zegabek reden? Kann ich –«

»Jetzt paß aber einmal auf, du!« sagte Saiko plötzlich mit strenger Stimme, »mach nur so weiter, wenn du nie wieder eine wahre Geschichte hören willst! Nun frage mich nur noch, wo auch du ein Zauberhaar bekommen kannst! Noch nicht einmal Zegabek war so unverschämt. 201 So, jetzt willst du also wissen, wo die Kante der Welt ist? Nun, als ich jung war, war die Erde noch flach und hatte Ecken. Heutzutage ist sie rund. Die Dummheit der Menschen hat sie aufgebläht. In diesem Jahrhundert hat die Welt keine Kanten mehr. Deshalb kann man auch Zegabek nicht auflauern und sich mit ihm unterhalten. Und damit Schluß!«

Er begann laut zu schnarchen. Jetzt gab es unwiderruflich keine Fragen mehr. Unaufhörlich grübelte Pirre über das Gehörte nach. Plötzlich mußte er kichern, ganz heimlich in das Bärenfell hinein.

Er verstand mit einem Mal die ganze Geschichte. Und dennoch wollte er »wie Saiko« sein! Ja, nun gerade! Dieser alte Mann sollte es nie mehr nötig haben, sich mit seinem verkrüppelten Körper den Weg durch den Schnee zu bahnen. Wenn es irgend ging, sollte immer ein junger starker Indianer zur Hand sein, seinen Schlitten zu ziehen, einer wie Pirre oder wie – Zegabek.

Nichts Herrlicheres gab es, als Saikos Schlitten durch den Winterwald voranzugehen, mit ihm zu reisen und sich dafür von ihm durch das Zauberland seiner Geschichten führen zu lassen, in die wunderbaren Reiche seiner Weisheit und Phantasie. 202

 


 << zurück weiter >>