Julius Lips
Zelte in der Wildnis
Julius Lips

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Erstes Kapitel

Die Minnegouches treffen ein

Das Kanu aus leichter Birkenrinde schoß wie ein Pfeil über die letzte Stromschnelle und glitt in die ruhigen Wasser des Sees. Der Indianerjunge, der es ganz allein steuerte, warf einen stolzen Blick auf die Insassen:, seine Schwester Vitaline, den jungen Bären, den Nerz im Käfig und den Schlittenhund Mustard, was »Senf« bedeutet. Fröhlich wandte er dann seine Augen unter dem glatten schwarzen Haar der vertrauten Landschaft des Ufers zu. 12

Es war während der letzten Juniwoche, und das hohe Gras zeigte schon die graugrüne Farbe des beginnenden Labradorsommers. Glück erfüllte sein Herz, denn sie waren nun wirklich zum Sommerlager zurückgekehrt, sie waren da, er, Pirre Minnegouche vom Naskapistamm und die Seinen. In den beiden Kanus, die dem seinen vorausfuhren, saßen die beiden anderen Hunde mit dem Rest der Familie. Als der Bär neben Vitaline zu brummen anfing, bellte es aus allen drei Kanus.

»Ruhig, Café! Ruhig, Pepramint!« rief der Vater aus dem ersten Boot, wo auch die Großmutter mit dem zahmen Habicht auf der Schulter saß. Aber die Hunde waren zu aufgeregt, um zu gehorchen. Rauh war ihr Pelz, aber ihre kräftigen Körper waren dazu abgerichtet, Schlitten mit schwerer Last über den Schnee zu ziehen. Als gleichberechtigte Familienmitglieder waren sie von ihrer eigenen Wichtigkeit überzeugt.

Mustard! Pepramint! Café! Schon ihre Namen erweckten in Pirre die Erinnerung an die Delikatessen des weißen Mannes, die er während der langen Wintermonate auf den Jagdgründen hatte entbehren müssen. Aber nun, wo sie zum alljährlichen Besuch wieder zu der Gegend zurückgekehrt waren, wo ihr Stamm sich im Sommer zu treffen pflegte, nun konnten auch die Minnegouches wieder an allem teilnehmen, was das Leben angenehm macht, sie würden wieder die Leckereien des weißen Mannes kosten und seine Luxuswaren, wie Kämme, Nadeln und Taschenmesser, erstehen können. Alle diese Dinge erwarteten sie im Laden der Hudson Bay Company in dem vertrauten weißen Holzhaus, das sich nun beim Näherkommen von einem fernen hellen Punkt am Ufer in ein immer größer werdendes verheißungsvolles Schloß des Reichtums verwandelte.

In dem zweiten Kanu saßen Mutter und Estelle mit Michael, dem älteren Bruder, der häufig krank war. Um die Hunde zu ärgern, fing Pirre wie ein Wolf zu heulen an: 13

»Wuuuuu . . .«

Das brachte sie ganz außer sich. Aber ein kurzer, scharfer Pfiff von Oma tat seine Wirkung, und plötzlich war es ganz still. Man hörte nichts als das Geräusch der Paddel. Vorsichtig bewegten sich die drei Kanus am Ufer entlang, wobei sie die tiefen Wasser der Mitte sorgfältig vermieden, denn die Indianer glauben, daß die bösen Geister, die die zauberhafte Welt der Tiefe bewachen, dort gefährliche Strudel verursachen.

Die alten Bäume zeigten ihre vertrauten Gestalten und gleich hinter dem schmalen Uferstreifen begannen wieder die dunklen Wälder, die mit ihren Birken, Tannen, Fichten und Tamarak-Lärchen die Hügel und Täler bedeckten und in ihrem weglosen Innern die Geheimnisse der Wildnis bargen. Frisch und kräftig war die Luft, die den Duft kurzblühender wilder Blumen zu ihnen hintrug. Wie schön würde der Sommer werden! Und wie gut war der vergangene Winter gewesen! Sie waren von Unfall, Krankheit und Hungersnot verschont geblieben. Und nun brachten sie die kostbaren Felle der Tiere zurück, die sie gejagt hatten, viele Bündel! Pirre sang:

»Mustard! Pepramint! Café!« Die Hunde hoben ihre Köpfe und witterten aufgeregt, mit zitternden nassen Zungen. Die anderen Familienmitglieder summten mit: »Mustard! Pepramint! Café!« Es war ihnen, als röchen sie schon den starken guten Duft des Kaffees, wie der weiße Mann ihn hat, des würzigen Senfs auf ihrem Braten nach der Wasser- und Salzkocherei der Winterszeit, und der süßen Pfefferminzplätzchen. Unwillkürlich ruderten sie schneller, und der Gedanke an die Herrlichkeiten des Sommers ließ ihnen das Wasser im Munde zusammenlaufen. Pirre wurde immer munterer. Er schrie und sang und fing an, in seinem Kanu hin und her zu schaukeln.

»Laß das!« warnte Vitaline, »du erschreckst das Bärchen!« und sie rückte näher an den zottigen Passagier heran. Weiße Jäger hatten seine Mutter am Rande des 14 Urwaldes erlegt und Pirre hatte ihn gerettet und ihm den englischen Namen Peter gegeben. Sein eigener Name war französisch. Vier Monate war er alt gewesen, als der weiße Missionar ihn taufte, als seine Mutter ihn zum ersten Male auf den Sommerplatz brachte. »Pierre« wurde der Name geschrieben, aber die Indianer ließen das »e« aus und nannten ihn Pirre.

»Laß meinen Bären«, sagte er ärgerlich, »er gehört mir!« Im Boot war Peter ein recht hilfloser kleiner Kerl. Er versuchte vergeblich, die Pelzlappen von seinen Pfoten abzustreifen, die Pirre ihm umgebunden hatte, damit seine Klauen die dünne Birkenrinde des Kanus nicht beschädigten.

»Gib dich lieber mit deinem alten Nerz ab!« sagte Pirre zur Schwester.

Der Nerz saß in seinem rohgezimmerten Käfig zu Vitalines Füßen, glatt, braun und seidig wie ein Dackel. Die Hunde taten, als sähen sie ihn nicht. Aber wenn einmal zufällig der Blick seiner funkelnden scharfen Augen sie traf, zogen sie die Schwänze ein und winselten. Niemals würde dieser pfeifende, verschlagene Bursche mit dem glitzernden Fell je zahm werden.

Vitaline selbst hatte den Nerz gefangen, er war ihr Eigentum, mit dem sie ihre eigenen Pläne hatte, denn der Mischling, dem die Nerzfarm der Indianer-Reservation gehörte, hatte bei der Abreise ein »schönes, unverletztes Männchen« bei ihr bestellt. Mit großer Mühe war es ihr gelungen, eines zu erwischen, und nun würde sie Geld dafür bekommen, um für sich einige prächtige »Sachen der Weißen« zu erstehen.

Pirre entsann sich plötzlich seines eigenen Reichtums und faßte schnell an seine Brust. Da waren sie noch, unter seinem Hemd, die drei feinen Nerzpelze, die er für sich erbeutet hatte – und auch er hatte damit seine eigenen, ganz persönlichen Pläne!

Größer und größer wurde vor seinen Augen das Hudson-Bay-Company-Haus. Da stand es nun, direkt am Ufer, ein herrlicher Anblick jedes Jahr. Wie viele seiner 15 Freunde würden wohl schon eingetroffen sein? Würden sie so gewachsen sein, wie er selber? Sicherlich hatten aber ihre Väter nicht so viele Pelzbündel mitbringen können wie Pirres Vater!

»Morgen kaufe ich Zuckerplätzchen«, hörte er sich plötzlich selber sagen, »ganze Fässer voll!«

»Bah –«, kicherte Vitaline, »ich kaufe –«

»Ich weiß schon, blödes Zeug, damit du dich für Johnny aufputzen kannst.«

»Halt den Mund, du!«

». . . und Pepramint . . .«, fuhr Pirre fort, wieder in seine eigenen Gedanken vertieft, denn das ist die Art, wie die Indianer das Wort »Pfefferminz« aussprechen.

». . . und süße braune Stücke . . .« Er träumte von Kanuladungen voll Schokolade.

»Wenn ich erst meinen Nerz verkaufe!« brüstete sich Vitaline.

»Mein Bär ist viel mehr wert! Das Geld, das die Weißen dafür zahlen!«

»Dollars!«

»Ich kriege viel mehr als du! Ich bin ein Mann! Ich habe einen Bären! Und ein Gewehr –«

»Vaters. Du selbst hast ja gar keines. Johnny ist ein Mann. Du bist nur ein Junge.«

»Wer jagt und Fallen stellt, ist ein Mann!«

»Du meinst, wer einen Bären schießen kann! Du hast noch keinen geschossen!«

Das war wahr. Es war Pirres wunder Punkt. Er hatte noch keinen Bären geschossen. Aber sie sollten nur sehen, was er nächsten Winter fertigbringen würde, wenn sie wieder auf den Jagdgründen waren!

»Nächsten Winter –«, fing er an, aber Vitaline unterbrach ihn.

»Vergiß den Winter! Lange, lange werden wir nun nicht mehr frieren.«

Von Vaters Kanu her kam ein schriller Pfiff, das Signal, daß alle drei Minnegouche-Kanus sich eng beieinander halten sollten. Sorgfältig paddelnd, näherten 16 sie sich einander. Sie waren nun ganz nahe an der Stelle, wo die drei großen Fichten standen. Dort war voriges Jahr ihr Lagerplatz gewesen und auch während aller anderen Sommer, an die sie sich erinnern konnten. Die Stelle war leer, die meisten der alten Haltepflöcke für das Zelt waren verschwunden, aber nicht weit davon sahen sie die Zeichen der Anwesenheit anderer Indianer.

»Seht!« sagte die Mutter von ihrem Kanu, »viele sind schon da!« Sie zeigte auf die am rechten Ufer verstreuten Zelte. Sie kannten jede Stelle und jedes Zelt und nannten erfreut die Namen derer, die schon für das große Sommertreffen angekommen waren.

»Ist Johnnys Familie schon da?« fragte Vitaline, und die Farbe ihrer hübschen hellbraunen Wangen wurde plötzlich dunkel wie Kakao. Ihre Schwester kicherte. Die Mutter aber verstand sie und sagte freundlich:

»Nein, Kind. Noch nicht.«

Nun steuerten alle drei Kanus dem Ufer zu. Freunde und Verwandte, die ihr Kommen beobachtet hatten, verließen ihre Zelte, um ihnen beim Ausladen der Kanus behilflich zu sein und wohl auch, um einen verstohlenen Blick auf Vater Minnegouches Pelzbündel zu werfen, um abzuschätzen, ob sie größer oder kleiner waren als ihre eigenen. Niemand sprach lauter als gewöhnlich, irgendwelche Erregung wurde trotz der langen Trennung nicht gezeigt. Die Indianer behalten ihre Gefühle still für sich.

Die flachen Kiele der Kanus berührten knirschend den Kies. Sie landeten mit größter Sorgfalt, damit die dünnen Rindenboote nicht beschädigt würden. Sobald Pirre sein Paddel weggelegt hatte, packte er Peter, den Bär, und trug ihn an Land. Vitaline folgte mit dem Nerz. Die Hunde sprangen heraus und gebärdeten sich wie toll. Es war später Nachmittag, aber die Sonne schien noch. Wenn sie es zur Nacht behaglich haben wollten, mußten sie sich beeilen.

Pirre befestigte Peter an einer aus Karibuleder geflochtenen Leine. Der Bär brummte und wurde nun 17 endlich seine Fußlappen los. Froh, daß die Reise zu Wasser nun beendet war, sah er sich nach etwas Eßbarem um. Da nichts in Sicht war, begann er auf seinem Rücken hin und her zu schaukeln und saugte an seiner linken Hintertatze. Pirre band ihn an einem Baumstumpf fest, den Peter bald mit seiner Leine umwickelt hatte. Niemand beachtete ihn, denn für einen Indianer sind die Tiere, was ein Grashalm für den Bauern ist: einfach ein Teil der natürlichen Umgebung.

Pirre hatte jetzt keine Zeit mehr für Privatspäße. Er lief zu den Kanus zurück, um beim Ausladen mitzuhelfen. Die meisten Gegenstände, die zur Winterausrüstung gehörten, hatten sie in den Wäldern auf Plattformen in den Bäumen zurückgelassen, wo sie, sorgfältig mit Zweigen bedeckt, auf ihre Rückkehr warteten. Dort waren zwei zusammengefaltete Zelte, die Pelze und die Winterdecken versteckt, außerdem die Fallen, Gewehre und Sonnenbrillen aus geschlitzten Knochen, die Rahmen, in die die Felle zur Bearbeitung gespannt wurden, die Wannen zum Einweichen des frischgewonnenen Leders, die Schneeschuhe und Schlitten, die Körbe aus Birkenrinde und die großen Messer. Aber trotzdem sie so vieles zurückgelassen hatten, gab es dennoch genug auszuladen, vor allem das Zelt und den Herd, die Decken und den Wasserkessel, die Töpfe, Pfannen, Angelgeräte, Netze und Krummesser, die Holzhämmer und das Harz zum Verkaufen, Fleischreste von der Jagd während der Reise und etwas Biber- und Rehfleisch als Geschenk für Mr. Angus, den Geschäftsführer von der Hudson Bay Company. Und dann war da die kostbare Rolle Birkenrinde zum Kanubau, die niemand als der Vater selber anrühren durfte.

Alle diese Dinge mußten vom Kanu zum Lagerplatz getragen werden, bis endlich das Kostbarste folgte: die Ernte aus den Wäldern, die Pelze der Familie Minnegouche. Um Pelze wie diese erbeuten zu können, weigerten sich die Minnegouches und die meisten anderen Naskapi, das Luxusleben des weißen Mannes 18 für immer anzunehmen und zogen es vor, jeden Winter auf die weiten, einsamen Jagdgründe zurückzukehren.

Pirre half tüchtig mit. Er war ein kräftiger Junge, schlank und groß, mit kupferfarbiger Haut und den leicht geschlitzten Augen seiner Rasse. Nicht mit Unrecht hielt er sich für erwachsen, denn die meiste Arbeit, die er tat, war wirkliche Männerarbeit. Mit fünf Jahren schon hatte er einen Sack tragen können, der vierundzwanzig Pfund Mehl enthielt, und jetzt hob und handhabte er zentnerschwere Bündel fast mit genau derselben Leichtigkeit, wie sein Vater und seine Mutter.

Während der Vater und Estelle die Zeltleinwand entfalteten und alles zur Errichtung des Lagers vorbereiteten, erhob Michael sich langsam von seinem Platze, um das Feuerholz zu zerkleinern. Überall lag genügend trockenes Gestrüpp herum, er brauchte nur die Zweige aufzuheben und kleinzuhacken. Inzwischen setzte die Mutter den Herd zusammen. Es war nur eine viereckige Blechkiste mit einer kleinen Tür, zu der ein langes Ofenrohr gehörte, das durch die Öffnung der Zeltleinwand gesteckt wurde. Sobald das Feuerholz bereit war, kam auch schon die Großmutter mit ganzen Armladungen frischer Zedernzweige zurück, mit denen der Boden des Zeltes ausgelegt wurde, denn die Indianer lieben es, auf diesen sauberen, duftenden Zweigen zu schlafen, die täglich von dem Überfluß des Waldes erneuert werden.

Die Haltepflöcke für das Zelt steckten nun in der Erde, und der Vater und Estelle gingen einen jungen Baum suchen, der als Dachbalken verwendet werden konnte. Nach und nach kamen die Hunde von ihren Erkundigungsgängen zurück. Sie hatten die alten Pfade und ihre alten Freunde wiedergefunden und waren jetzt müde. Sobald sie sich keuchend niedergelegt hatten, erschienen auch die häßlichen schwarzen Fliegen wieder, diese unvermeidlichen Begleiter des Labradorsommers. Aber wie alle Indianer waren auch die Minnegouches immun gegen die Infektionen dieser Plagegeister, die 19 auf der Haut des weißen Mannes Blasen und Ausschlag verursachen.

Als die notwendigsten Arbeiten getan waren, erhielten Pirre und Vitaline endlich die Erlaubnis, zum Laden der Company zu laufen, um wenigstens einige der Delikatessen zu erstehen, nach denen alle sich so lange gesehnt hatten. Lachend und plaudernd liefen sie über das Gras und das unebene Gelände. Als sie am Himbeergestrüpp vorüber waren, das baldige Ernte verhieß, erreichten sie das Ende der kurzen Landstraße, die zum Gebäude der Company führte. Es war ein Haus von der Sorte, wie der weiße Mann es baut, und wie gewaltig es da stand! Als Vorbau hatte es eine offene Holzveranda, auf der die Indianer sich liegend zu sonnen liebten. Als Gruß für die zurückkehrenden Rothäute flatterte die Fahne der Company hoch oben am Flaggenmast. Sie war groß und rot und trug in der linken Ecke das britische Hoheitsabzeichen, den Union Jack, während die andere Ecke mit den Buchstaben H. B. C. geschmückt war.

Aber Pirre konnte das nicht lesen. Seine Sprache war das nach seinem Stamm benannte »Montagnais-Naskapi«. Kaum ein weißer Mann, außer dem katholischen Priester, der während des Sommers auf der Reservation lebte, und Mr. Angus von der Company sprach es geläufig genug, um mit den Indianern längere Unterhaltungen führen zu können. Die Indianerkinder jedoch erhielten während der paar Sommerwochen Unterricht im Sprechen und Schreiben der Sprache des weißen Mannes, die sie aber dann im Winter auf den Jagdgründen meist gleich wieder vergaßen. So kam es, daß einige Indianer, deren Lehrer der Priester gewesen war, ein wenig Französisch sprachen. Andere, die bei dem protestantischen britischen Pfarrer in die Schule gegangen waren, konnten etwas Pidginenglisch. Pirre und Vitaline, die katholisch getauft waren, sprachen ein paar Worte in rauhem und seltsamem Französisch, aber sobald sie unter sich waren, unterhielten sie sich in der Indianersprache. Deshalb bedeutete ihnen das große 20 schwarze Schild mit den goldenen Buchstaben, das die Vorderseite des Gebäudes zierte, kaum etwas:

Hudson Bay Company
Gegründet am 2. Mai 1670

Sie erklommen die paar Stufen und stürzten so atemlos und eilig in den Laden, daß sie es ganz vergaßen, schüchtern und verlegen zu sein, wie die meisten wohlerzogenen Indianerkinder.

Das geräumige Innere enthielt gewaltige Regale, die mehr Schätze bargen, als ein Indianer je hoffen kann zu besitzen. Da lagen in großen Ballen die rot-, grün- und blaukarierten schottischen Wollstoffe, die Wolldecken, Messer und Konservenpyramiden. Daneben standen Butterfässer, Säcke voll weißen Mehls und hohe Gläser mit Bonbons in allen Farben. Lager von Werkzeugen, Schuhen, Gewehren, Munition, Töpfen, Schüsseln, Nähsachen, Seife, Halstüchern und hundert anderen Dingen sprachen von unfaßbarem Reichtum.

Aus dem Nebenzimmer ertönte Gemurmel. Pirre unterschied die Stimme eines Indianers und die wohlbekannte des Geschäftsführers Mr. Angus. Zweifellos verkaufte da schon einer seine Pelze.

Der Junge machte einen schnellen Sprung in der Richtung der Bonbongläser und Vitalines Finger spielten mit einem seidenen Halstuch. Aber da kam auch schon Mr. Angus.

»Quai!« rief er ihnen zu, das Indianerwort für »Guten Tag!«, und dann sagte er: »Da sind ja die Minnegouches! Du bist ja ein Riese geworden, Pirre! Ist die ganze Familie schon da?«

Er sagte auch das auf Montagnais-Naskapi, und die Geschwister nickten und lachten.

»Ich möchte . . .«, fing Pirre an, denn er wußte, daß er am ersten Tage der Rückkehr kein Geld brauchte, um innerhalb gewisser Grenzen alles kaufen zu können, was sein Herz begehrte.

»Wie war der Winter?« fragte Mr. Angus, worauf 21 Pirre sich so hoch aufrichtete, wie er konnte, und mit lauter Stimme verkündete:

»Wir haben viele, viele Pelze! Mehr als alle anderen Familien!« Mr. Angus war daran gewöhnt, von allen Jungen jedes Jahr dasselbe zu hören. Er lächelte und tat so, als ob er es glaube.

Plötzlich rief Vitaline, hingerissen:

»Zucker!« und vergaß sogar das seidene Halstuch, so überwältigend war der Anblick der vollen Regale.

»Senf! Kaffee!« ergänzte Pirre, »saure Gurken! Tee!«

»Astém!« (Komm her!) sagte Mr. Angus und setzte hinzu: »Ntuapáta!« (Ihr sollt es haben!)

Es war wie im Märchen. Sobald sie nach irgend etwas fragten, stand es schon vor ihnen. Alles war fein und luxuriös, selbst die Papiertüten des weißen Mannes. Am Schlusse aber sagte Mr. Angus: »Nun habt ihr genug.« Er wußte, was jede Indianerfamilie am ersten Tage am notwendigsten braucht. Vielleicht schon morgen würde Vater Minnegouche sich mit den Pelzen einstellen und er würde alle Vorräte erhalten, die er verlangte. Die Waren, die die Geschwister jetzt mitnahmen, wurden aufgeschrieben zur Verrechnung mit dem Vater.

Mit Paketen beladen stießen die beiden die Tür mit ihren mokassinbekleideten Füßen auf. Wie schön war es, wieder einmal eine Tür zu öffnen! In der Wildnis gab es keine Türen.

Sobald sie die offene Terrasse draußen erreicht hatten, legte Pirre alle seine Pakete neben der Schwester nieder und bat sie, zu warten. Schnell lief er in den Laden zurück.

Mr. Angus sah ihn überrascht an, aber noch ehe Pirre seinen Mund auftun konnte, wußte er Bescheid. Die Indianer erhielten nur lebensnotwendige Waren ohne Geld, für Luxusartikel mußte man bezahlen.

Pirre sah sich erst vorsichtig um, denn er wollte nicht, daß jemand ihn beobachtete. Dann zog er mit siegreicher Gebärde aus seiner Jacke eines der drei Nerzfelle hervor, warf es auf den Ladentisch und rief: 22

»Pepramint!«

Mr. Angus nahm das Fell, blies leicht über die seidigen Haare und legte es an einen sicheren Ort. Dann schrieb er eine Zahl auf die »Haben«-Seite des »Kontos Minnegouche« in sein Buch und holte eine große Papiertüte, die er mit einer Silberschaufel mit glitzernden weißen, rosa und grünen Plätzchen aus dem großen Bonbonglase bis zum Rande füllte.

Pirre nahm die Tüte, preßte sie an seine Brust und fühlte gleichzeitig dabei die beiden anderen Nerzfelle, die er noch besaß. Eines Tages würde er auch die in »Pepramint« verwandeln.

Auf dem Rückweg sprach Vitaline von nichts als von seidenen Halstüchern, von einem steinbesetzten Kamm und von einer rosa Bluse, die sie erspäht hatte. Dann redete sie über ihren Nerz, als wäre er das kostbarste Tier, das je in den Wäldern gefangen wurde. Insgeheim dachte sie an Johnny, den sie einmal zu heiraten hoffte. Was er wohl sagen würde, wenn er sie erst in der neuen Pracht sah, die sie sich bald würde kaufen können!

Als sie zum Lagerplatz der Familie zurückkehrten, stand das Zelt schon fertig da. Jil, der zahme Habicht, saß wie gewöhnlich unbeweglich auf der höchsten Spitze. » Das Feuer brannte, und die Hunde schliefen. Als die Mutter die beiden erblickte, nahm sie ihnen so schnell sie nur konnte die Pakete ab.

Pirre ging zu Peter, dem Bärchen. Über Nacht wollte er ihn noch einmal am Baumstumpf anbinden, aber morgen sollte er eine bessere Behausung haben. Der Junge warf sich neben seinen Spielkameraden auf den Boden hin, und beide gerieten in eine freundschaftliche Balgerei, wobei sie Pfefferminzplätzchen aus Pirres Tüte schleckten. Peters Zunge war lang und stets lüstern nach Süßigkeiten. Er quietschte vor Freude und Pirre dachte, daß es doch keinen besseren Kameraden auf der Welt gibt als einen Bären. Mitten im Brummen und 23 Lecken fiel Peter plötzlich auf die Seite und schlief fest ein. Pirre ging zum Zelt zurück.

Schnell kam die Dämmerung und plötzlich war es dunkel und kühl. Drinnen aber schien warmes Licht aus dem glühenden Ofen auf ein Bild gemütlicher Zufriedenheit. Die Mädchen reichten eine duftende Schüssel herum. Selbst Michael lächelte in seiner stillen Art. Pirre holte sich ein großes Stück gebratenes Schweinefleisch und eine Tasse übersüßen Tee. Sie saßen auf den dicken Pelzbündeln. Pirre aß und aß und dazu schilderte er die Köstlichkeiten, die er im Laden gesehen hatte. Der Vater stopfte seine Pfeife aus dem Päckchen feinen Tabaks, das er in Mr. Angus' Tüten gefunden hatte, und als alle Speisenreste endlich weggeräumt waren, gaben sie sich ganz dem Glück des Abends hin, den die Indianer so sehr lieben.

Die Reise hatte sie nicht ermüdet. Das halbe Leben eines Indianers besteht im Umherziehen. Aber köstliche Ruhe lag in dem Bewußtsein, morgen einmal nicht weiterreisen zu müssen, ohne Sorge um Biber oder Fisch für die nächste Mahlzeit. Die Familie war in Sicherheit, und gesichert vor Nässe oder Verlust waren auch die Pelze, die einem Indianer mehr bedeuten als aller Besitz der Welt.

Still traten zwei Freunde ein, um den Vater zu besuchen, und er plauderte mit ihnen mit leiser Stimme. Aber morgen war noch genug Zeit für Gespräche und sobald die Besucher gegangen waren, machte sich die Familie zum Schlafen fertig. Die Hunde waren an den Zeltpflöcken angebunden. Draußen schnarchte Peter, der Bär, lauter als ein Mann.

Die Großmutter ging auf ihren gewohnten Stammplatz schlafen, ganz hinten in der Mitte des Zeltes. Dann kamen die Mädels mit dem Nerz, nach ihnen die Mutter, der Vater und Michael. Pirre lag am nächsten beim Zelteingang, dessen Leinwandklappe nun geschlossen wurde.

Noch war er zu aufgeregt zum Schlafen. Er lugte durch den Schlitz des Zeltes und sah die Sterne über 24 dem Johannissee stehen. Wie gut es war, einmal ganz satt zu sein! Ach, wenn der Vater ihn nur mitnehmen würde, wenn er vor Mr. Angus seine Pelze ausbreitete!

Das schwarze Ding da draußen in der Nacht war Peter. Morgen sollte er eins der leeren Fässer aus Mr. Angus' Schuppen bekommen, das Pirre hoffentlich von ihm erhalten würde. Dann konnte er in einem eigenen Hause wohnen. Wie er schnarchte! Pirre ließ die Zeltleinwand los und legte sich zurecht auf seinem weichen Bündel.

Oh, er hatte viel vor! Wie herrlich war es doch, zu leben, nach dem langen arktischen Winter, den ganzen Sommer vor sich!

Sie erzählten ihm immer, er wäre vierzehn Jahre alt. Aber das bedeutete ihm gar nichts. Einmal würde auch er ein großer Jäger sein. Vorläufig aber zog er es noch vor, von Pfefferminzplätzchen zu träumen und von einem Bären, der Peter hieß. 25

 


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