Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der weite Weg

Es war ein Maientag, so schön als einer. Vom frühen Morgen an wurden die Lerchen nicht müde, sich empor in den dunkelblauen Himmel zu werfen und unseres Herrgotts Sonnenschein zu loben mit Singen und Flügelschwingen. Ein leichter, lauer Wind lockerte den jungen Roggen auf, zitterte im lichten Birkenlaub und trieb den Duft von Obstbaumblüten, von frischem Wiesenkraut, von goldblütigem Raps hin und wider.

Mit scharfem Pflug riß der Bauer den Boden um: es war Neubruch, den er bestellte, ein stattlich Stück Ackerland zwischen dem Buchenwald und dem Bach, das seit Jahr und Tag brachlag. Der alte Haldenwang, der im vorigen Herbst mit etlichen achtzig die Augen zugetan, hatte es mit Roggen und Dinkel, mit Hafer und Gerste fehlschlagen sehen und drangegeben. Jetzt wollte es der Junge mit Welschkorn versuchen. Widerständig war ja der Grund, sandig und steinig. Aber der Junge war auch zäher als der Alte, dem das »Feuer unter dem Dach«, auch Jähzorn genannt, manch Rechenstück verdorben hatte. Er wollte des Bodens schon Herr werden. Unermüdlich stapften seine engen Stulpenstiefel hinter der Pflugschar drein. Mit festem Griff lag die Hand am Scheit. Der barhäuptige Kopf, der knapp auf den gedrungenen Schultern saß, war vorgebeugt, als gelte es mit zuzustoßen; und die Augen gingen, ohne seitwärts zu irren, nur zwischen den zwei fuchsbraunen Gäulen und dem Scharmesser ab und zu. Vom Bach stieg es in einer breiten Bodenwelle aufwärts. Mann und Pflug und Pferde schafften sich langsam hinauf. Ein kurzes, mürrisch klingendes »Hüoh« begleitete in Zwischenräumen das Stampfen der Pferde. Oben am Buchensaum wendete der Bauer.

Einen Augenblick stand er still und ließ die Tiere sich verschnaufen. Er wischte sich mit dem Rockärmel den Schweiß ab und schob das dicke, fahlblonde Haar aus der Stirn. Es war eine wulstige Stirn mit einer herben Falte zwischen den brauenlosen, vorstehenden Augenknochen; die Augen, die drunterlagen, dreieckig und hellblau, maßen mit sicherem Blick das gefurchte und ungefurchte Land gegeneinander; der auffallend kleine Mund mit den zugepreßten Lippen hatte einen selbstgerechten, fast verbissenen Ausdruck. Er ließ ein Räuspern hören. Die Pferde mochten es für ein »Hüoh« nehmen, denn sie setzten sich wieder in Bewegung.

Herr und Geschirr nahmen ihren Weg abwärts zum Bach, einförmig und sicher, wie sie heraufgekommen waren, unbekümmert um den hellen Vogelsang, den schmeichelnden Wind, der die Halme rührte und den vollen Maienduft daher- und davontrug …

Die Sonne stieg hoch und höher. Am Bach, die Birken entlang, hinter denen Haus und Scheune mit neuen Ziegeldächern vorlugten, kam ein Bub gelaufen, ein halbwüchsiger Bursch, barfuß, mit ausgefransten Hosen und einem Strohhut ohne Rand. Er hieß allgemein der »Vetterle«, weil er mit den Haldenwangs irgendwie weitläufig verwandt war und sich, so dumm wie er war, im Stall und auf der Weide zu schaffen machen durfte. Der »Vetterle« brachte dem Bauer das Essen. Eh' der Acker umgebrochen war, wollte der Haldenwang nicht heim. Er ließ den Buben neben sich hergehen, bis sie bei den Buchen waren. Dort nahm er ihm den Topf aus der Hand und gab ihm die Pferde zu halten. Er setzte sich unter eine Brombeerhecke und aß hastig, wie einer, der nicht viel Zeit hat. Der »Vetterle« sah ihm zu, mit aufgerissenen Augen und offenem Mund, als hätt' er auch gern mit zugelangt; denn Essen und Schlafen waren seine stärksten Gaben. Plötzlich schien ihm etwas einzufallen, und er griff sich unters Wams.

»Da ist auch 'n Brief für Euch! Der Briefträger hat 'n mir geben, unterwegs, vorm Hof,« berichtete er suchend. Ein zerknittertes Kuvert kam zum Vorschein.

Der Bauer nahm den Brief an sich, während er den Eßtopf zurückgab.

Der »Vetterle« blieb neugierig stehen; erst ein barsches »Mach, daß d' heimkommst!« ließ ihn sich bachwärts trollen.

Gleichgültig hielt der Haldenwang den Brief in der Hand und besah die Aufschrift. Sie war klein und zierlich und lautete auf ihn. Den Ort, den der Stempel wies, konnte er nicht lesen, weil der Druck undeutlich war. Ohne weitere Neugier steckte er den Brief in die Tasche, zog das Halfter der Gäule an und nahm das Pflügen wieder auf. Als vom Kirchturm, der mit dem Dorf hinter dem Buchenholz lag, die dünne, bimmelige Mittagsglocke übers Feld rief, war er schon wieder halbwegs durch den Acker. Und er furchte mit dem vorgesenkten Kopf und zeitweiligem »Hüoh« bergauf und bergunter, als wäre nichts in der Welt wie er, der Haldenwang, und sein widerspelliger Acker. Bei einer neuen Wendung warf er den Rock hinter sich unter die Buchen, denn er empfand die Hitze der hohen Sonne mehr als zuvor.

Es war schwül geworden über der mittägigen Landschaft. Der Wind ruhte. Dick und sengend lag die Luft auf der Flur. Die Birken am Bach ließen ihre lichten, schlanken Zweige wie erschöpft niederhängen. Ein oder der andere Schmetterling flatterte träg vorüber und blieb wie trunken an den Schafgarben und Butterblumen haften, die am Roggenrand oder längs des Baches im fetten Gras gediehen. Die Vögel im Busch und in der freien Luft waren verstummt. Kaum daß eine Lerche verschlafen und satt aus dem Gerstenacker zwitscherte. Mit breitem, silberglänzendem Rand schob sich eine Wolke hoch und höher über die starren Buchenkronen, hinauf nach der Sonne, die grell am Himmel hing – bis sie sie einfing, und ein unguter Halbschatten sich über die Felder senkte.

Der Bauer sah wie zufällig auf, als die Sonne ihr Licht verlor. Fast gleichzeitig grollte es dumpf aus der Wolke, die ihren grauen Leib über den Wald gehoben hatte.

Er ließ sich nicht stören. Nach einem Hochgewitter mit Sturm und Hagel sah's nicht aus. Höchstens nach einem leichten Maiwetter, das im Vorbeifahren ein paar Regenspritzer von sich ließ. Der Acker mußte fertig werden. Jetzt erst recht. Nur noch ein schmaler Streifen lag ungepflügt. Weithin zur Rechten lagen locker und braun die umgestoßenen Schollen.

Mit Hagel und Sturm behielt der Haldenwang recht. Aber der Regen ließ sich nicht kommandieren und tat's nicht mit ein paar Spritzern. In schweren glitzrigen Strähnen schoß er aus der Höhe herab und klatschte dem Bauer auf Kopf und Leib. Mit einem unwirschen Lippenrümpfen zog er das Gespann unter die Bäume, ging nach seinem Rock und setzte sich, als er ihn übergezogen und der Regen noch nicht nachließ, wohl oder übel unter den Strauch, bei dem er Mittag gemacht hatte. Er legte die Hände auf die Knie und sah hinaus auf den scholligen Ackerboden, der gierig das springende Wasser einschluckte, und hinüber nach der Frucht, wo die Tropfen wie Geschmeide an den Halmen niederrannen. Alt sah er aus mit dem zugepreßten Mund und den unfroh zwinkernden Augen. Wie einer, der sein Teil denkt, wenn's anders geht als er sich in den Kopf gesetzt hat, aber es bei sich behält und in sich hinunterwürgt, weil die Welt doch keine Vernunft annimmt. Von ihm, der's besser weiß, schon gar nicht …

Der Regen rauschte noch immer aus der ergiebigen Wolke zur durstigen Erde. Der Brief fiel ihm ein, den der »Vetterle« gebracht hatte. Aus Langerweile kramte er in den Taschen. Ein Stück Kautabak fiel ihm in die Finger. Er steckte es in den Münd, um zu »schicken«. Dann brachte er den Brief zutage. Noch einmal musterte er die Aufschrift. Er hielt sie weit vom Auge, denn er war übersichtig. Zu Hause hatte er eine Brille, vom Vater und weiterher überkommen. Die vermißte er. Auch war's die Zeit nicht zum Lesen. Dazu war das Zwielicht gut, wenn der Tag sowieso zu nichts mehr nutz war. Er war draus und dran, den Brief wieder im Sack zu vergraben. Schließlich riß er ihn doch mechanisch auf. Wieder hielt er das Geschrift weit ab und begann mit einer buchstabierenden Bewegung der dünnen Lippen zu lesen.

 

Kirndorf, den .. Mai 19..

Geehrter Herr Haldenwang!

Im Auftrag eines kranken Pfarrkindes muß ich mich an Sie wenden. Seit einigen Wochen liegt die Witwe des Taglöhners Baptist Hahn, eine geborene Ortlieb, die aus Ihrem Dorf gebürtig ist, schwer darnieder. Bei meinem gestrigen Besuch vertraute mir die Kranke den dringenden Wunsch, vor ihrem Sterben ein Wort mit Ihnen unter vier Augen zu sprechen. Ich halte es für meine Pflicht, Sie von diesem Wunsch in Kenntnis zu setzen, und zwar um so schneller, als nach der Meinung des Arztes die Frau Hahn nicht mehr lange zu leben hat. Wenn Sie irgend können, kommen Sie, bitte, und erleichtern Sie das Herz einer Sterbenden.

Hochachtungsvoll

Sieberer, Pfarrer in Kirndorf.

 

Der Haldenwang nahm sich eine gute Zeit, bis er das Schreiben, so fein säuberlich es geschrieben war, zu End' buchstabiert hatte, und dann überlas er, so eilig er's mit dem Ackern hatte, das Ganze noch einmal, als könnte er sich verlesen haben. Dabei setzten sich seine Kiefern, die fürs erste des »Schickens« vergessen hatten, in eine malmende Bewegung, die heftiger schien als dem Genuß förderlich war. Dort, wo die Brauen fehlten, zuckte es auf seinen vorspringenden Augenknochen, und die Falte über der Nasenwurzel vertiefte sich. Als er mit dem Lesen fertig war, schlossen sich die Augen für einen Moment, öffneten sich wieder schnell, wie erschreckt, und schlossen sich von neuem.

Dann gab er sich einen Ruck.

Seine Gäule waren unversehens ans Gesträuch herangerückt, unter dem er saß, und knabberten an den Blättern. Mit einem schroffen Griff riß er das Halfter an sich, daß sie zurückbäumten. Draußen sprühte der Regen nur noch in spärlichen Tropfen, und die Sonne zerteilte, was übrig war von der Wetterwolke, und fiel mit neuer Kraft aufs nasse Land. Der Brief, den er wieder ins Kuvert gesteckt hatte, lag noch einen Augenblick auf seiner Handfläche, als wollte er ihn wägen. Dann plötzlich drückte diese Hand ihre kurzen, starken Finger über ihm zusammen, daß er knisterte und sich rollte.

»Den Teufel werd' ich kommen!« murmelte der Haldenwang, und der knitterige Fetzen flog seitab in den grasigen Rain, der Wald und Acker abgrenzte.

Die Pferde zogen aus seinen Zuruf an. Schon schürfte der Pflug talab wieder den Boden. Und der Bauer schritt hinterdrein, die Hand am Scheit. Alles war wie zuvor, bloß daß er den Kopf nicht mehr vorgebeugt hielt, sondern ihn zurückstemmte in den gedrungenen Nacken und grimmig kaute, mit einem Mund, der wieder und wieder zu murmeln schien: Den Teufel auch werd' ich kommen!

Es dauerte nicht lange mehr, so war der Boden zwischen dem Bach und dem Waldsaum umgebrochen. Von unten her, von den Birken, überschaute der Bauer das mächtige Stück aufgeworfener Erde. Die Luft, vom Wetter gereinigt, trug ihm den Brodem der feuchten Schollen an die Nase. Er lenkte Gespann und Pflug am Bach hin. Über den Holzsteg weg, der das Wasser überbrückte, bog er dem Hof zu. Im Kartoffelacker, zwischen Hof und Bach, schaffte der Knecht. Der Bauer wechselte ein Wort mit ihm, ohne zu halten, fuhr durchs Tor, spannte den Pflug ab und ließ vom »Vetterle«, der unter der Stalltür stand und den Himmel anglotzte, die Pferde abführen.

»Laß se saufen und schütt 'ne Futter auf! Aber heut, net morgen!« schrie er den Buben an, lauter, als seine Art war, so daß der in den ausgefransten Hosen schlotterte.

Hernach ging er, ohne die Stube zu betreten, quer durchs Haus in den Obstgarten.

Die Birnbäume hatten schon ihre weißen Blütenflocken ins Gras geschüttelt. Die Apfelbäume standen in vollem rosigem Schmuck und lachten ihn zutunlich an. Er lachte nicht zurück. Heute schon gar nicht. Kein Geschäft war ihm recht. Erst war er dabei, die jungen Pfirsichbäumchen bei der Mauer an neue Stützen zu binden, weil die alten zu schwach wurden wider den Westwind. Dann legte er Leimringe um die älteren Bäume, sie gegen den Kaiwurm und den Wickler zu schützen. Schließlich hantierte er hinter den Fliederhecken im Bienenschauer. Immer eins war wichtiger als das andere. Keins aber war so wichtig, daß er nicht nebenher hätte den Kopf zurückwerfen und murmeln müssen: »Den Teufel werd' ich kommen!«

Es wurde Abend. Die Betglocke läutete leise und klar vom Dorf herüber. Er hielt ein und schob, wie er's von Kind auf gewohnt war, eine Hand über die andere. Das Beten war seine starke Seite nicht. Er stand mit dem Herrgott wie mit der Welt: auf Besserwissen. Und wenn er heut etwas zu sagen hatte, war's bloß: »Mit dem Malefizbrief hätt'st mich ungeschoren lassen können! Und ich werd' den Teufel hinüber nach Kirndorf kommen! Amen!«

Dann ging er ins Haus zum Essen.

Man saß in der sauberen Stube mit dem tannenen weißen Boden, den Blumenstöcken auf dem Fenstersims, den Vorhängen aus buntem Zeug, den Öldrucken und Sprüchen biblischen Stoffes an den Wänden. Langsam löffelte der Haldenwang seine dicke Milch und schnitt sich schwarze Brotrinde darein. Die zwei Mägde, der Knecht und der »Vetterle« taten dasselbe in schnellerem Tempo. Meistens wurde nicht viel geredet. Der Haldenwang war selber ein schweigsamer Mann. Er war über seine Jahre »gesetzt« und wahrte allerwege den Stand, das heißt den Abstand. Auch drückte er die Lustigkeit, wenn sie einmal aufflackerte, gern mit einem höhnischen oder groben, bitteren oder verächtlichen Wort tot, so daß sie den Leuten in seiner Gegenwart verging, und sie ihn, obschon er sie anständig hielt, mehr fürchteten als gern hatten. Heute schien er dem Gesinde weniger zugeknöpft als sonst. Er fragte nach dem und jenem, wie einer, der von sich selber loskommen möchte. Und als die Unterhaltung etwas lebhafter wurde, ließ er sogar dem Knecht einen Schnack durch. Der, ein vierschrötiger Rotkopf mit verschmitzten Schelmenaugen, erzählte vom Eckartshof, wo er lange im Dienst gewesen war. Der Eckartshofbauer, der gern eins über den Durst lupfte, hatte eines Nachts den Mond mit der Sonne verwechselt, den Pflug angespannt und gepflügt, gepflügt – bis an den Morgen und bis er vor Müdigkeit in eine Hecke gefallen war. Als er aufwachte, stand der Landjäger bei ihm, hielt mit der einen Hand die weggelaufenen Gäule und wies mit der andern auf die Landstraße hinter sich. Die hatte der Eckartshofbauer in der Nacht statt seines Feldes gepflügt, daß der Steinbewurf aufgerissen und meterweit die Erde in Furchen lag!

Die Mägde, die dem Knecht mit offenem Mund zuhörten, prusteten über den Tisch vor Vergnügen. Der »Vetterle«, der den Spaß ein wenig später begriff, verschluckte sich so, daß man für sein Leben fürchten konnte.

Der Bauer hatte die Arme auf den Tisch gelegt und zugehorcht, ohne die Miene zu verziehen. Mit einem Male kriegte auch er's mit dem Lachen. Aber es war ein ganz eigenes Lachen: so stoßweise und gemacht und bittersüß, daß es mehr nach Spott als nach Freude klang und die andern unwillkürlich ihr Kichern und Prusten dämpften. Bloß der »Vetterle« ließ noch einen unterdrückten »Griller« hören, der ihm einen Rippenstoß vom Knecht eintrug …

Draußen war's dämmerig geworden. Das Gesinde ging vom Tisch. Während die jüngere Magd das Geschirr abtrug, nahm sich der Haldenwang die Pfeife hinter dem Ofen vor, stopfte sie und zündete sie an. Qualmend ging er eine Weile in der Stube auf und ab. Nachher setzte er sich auf die Bank am Ofen, dann auf einen Stuhl beim Fenster. Aber das Ausruhen und Stillehalten war heut seine Sache nicht. Er trat unter die Haustür: im Hof auf dem Mist gackerten noch die Hennen, und die Tauben gurrten vor dem Schlag, als wären sie noch nicht schlüssig, ob sie noch einmal ausfliegen oder aufsitzen sollten. Vom Feldrain, wo der Knecht mit dem »Vetterle« Feierabend machte, greinte die ausgeleierte Harmonika herüber. Der Bauer drehte sich unzufrieden um und ging nach der hinteren Tür. Er sah in den Obstgarten. Die Abendröte schwamm blutrot hinter den Zweigen. Aber die Mägde plärrten aus der Küche ein rührselig Lied. Das paßte ihm auch nicht. Er stieß am Absatz die Asche aus der Pfeife, ging wieder zurück in die Stube, hängte sie hinter den Ofen und suchte die Kammer auf, die nebenan lag. Er wollte seine Unlust wegschlafen und morgen früh auf sein. Also war's am besten, sich zeitig niederzulegen …

Er schlief auch bald ein.

Nach zwei Stunden wachte er auf, ganz gegen seinen Brauch. Der Mond war am Himmel aufgegangen und schien ihm mit blankem, kühlem Licht auf die gewürfelte Decke.

Gähnend drehte er sich zur Wand. Aber der Schlaf blieb aus. Und als er lange genug den rechten Fleck zum Liegen gesucht hatte, setzte er sich halb auf. Mit den überwachten Augen sah er erbost mitten in den Mond, der dreiviertelvoll durch den mattgestirnten Himmel schlich. Es war ihm, als zeigten seine kecken, bleichen Lichtstrahlen geradezu auf ein zerknittertes und gerolltes Papier am Buchenwald. Als leuchte er extra bloß dafür, um ihn auf den lumpigen Knörkelfetzen aus Kirndorf aufmerksam zu machen! Mit solchen Faxen sollte ihm keiner kommen!

Der Haldenwang warf sich wieder an die Wand und schloß die Augen, daß er stockblind war. Doch er mochte es halten, wie er wollte: an die morgige Feldarbeit denken, an die trächtige Kuh im Stall oder an seinen Vetter in Amerika, dem er selten genug die Ehr' schenkte, sein zu gedenken – er sah doch immer wieder das runzelige Papier im Mondlicht und nichts so zudringlich und deutlich wie das! Gut war's in keinem Fall, daß der Kirndorfer Brief dort unter den Buchen lag. Wenn auch zehnmal keiner dort vorbeikam, weil keiner dort was zu suchen hatte: zufällig konnte ihn doch einer finden! Vielleicht hatt' ihn gar einer schon aufgelesen, der Nachbar, der hinter dem Buchenholz sein Feld hatte, oder ein anderer, den's dorthin verschlug. Warum hatte er das Geschrift nicht wenigstens zerrissen? Oder an sich genommen und daheim da oder dort beiseite gebracht – auf Nimmerwiederfinden?!

Es half nichts: er mußte hin. Der Brief mußte aus der Welt! Der ging keinen an wie ihn und war nicht für fremde Augen!

Noch eine Viertelstunde hielt sich der Haldenwang im Bett fest, mit Vernunft und Ingrimm, mit innerem Schimpfen auf sich und auf Gott und die Welt. Dann stand er ernsthaft auf, zog sich an und ging leise in die Stube. Als er dort durchschlich wie der Dieb im eigenen Haus, rieb er sich die Stirn und schalt sich allerhand, was so ein »gesetzter« Mann sich nicht gern sagen läßt. Und ging doch in den Gang und an die Haustür! Und schob doch den Riegel zurück und trat hinaus in die Mondnacht …

Langsam, mit Widerstreben ging er durch den Kartoffelschlag an dem Bach hin und über den Steg. Der Mond spiegelte sich in dem stillen, verschlafen hinfließenden Wasser. Die Birken leuchteten mit ihren weißrindigen Stämmen und ließen sich von ihren feinen Zweigen umrieseln wie von silbernem Haar. Jetzt stand er vor dem Acker, den er unter Tags umgepflügt hatte. Er ging einer Furche nach, über das lockere Erdreich. Die Buchen warfen einen dunkeln Schatten über das Feld. Als er in den Schatten trat und das Düster hinter dem Mondlicht ihn umfing, blieb er stehen und dachte: Wie dumm einer sein kann! Als hätt' ich nicht eh' schon wissen können, daß der Waldrand im Schatten liegen muß! Und laß mir einbilden, der Malefizbrief läg' im grellen Mond! – Aber er war nun einmal da. Und dort, beim Brombeerbusch, wo er am Mittag und nachher während des Wetters gesessen hatte, mußte der Brief liegen. Er trat unter die Bäume. Seltsam! Der Brief lag doch nicht, wo er ihn vermutete. Auch nicht in der Nähe. Ungut überlief's ihn. Sollt' ihn doch einer fortgenommen haben? Irgendein Unberufener, für den er nicht geschrieben war? Er suchte umsonst und blickte, beklommen und verärgert zugleich, hinaus auf den Acker. Da, in einer Furche, außerhalb des Schattens der Buchen, glänzte es zudringlich weiß, akkurat wie er's in der Kammer drunten immer vor sich gehabt, wie ein verkrümpelter Papierfetzen. Und er ging danach. Es war sein Brief, den er aufhob. Der Abendwind mochte ihn ins Feld geführt haben, daß er ins Mondlicht zu liegen kam …

Der Haldenwang hätte jetzt getrost den Weg zurückgehen können, den er gekommen war, ohne Aufenthalt. Aber er trat doch noch einmal in den Waldschatten. Und wie um sich von der Aufregung, die ihm zuwider war und sich nicht für ihn paßte und ihn zum Narren gemacht hatte, auszuschnaufen, setzte er sich für einen Augenblick an den Brombeerstrauch. Den Brief hielt er fest und zornig in der Hand. Der konnte ihm nicht wieder entwischen!

Es war wundersam still ringsum. Der Himmel wölbte sich weit und klar bis an die Waldhöhen, die den Horizont begrenzten. Zwischen Himmel und Erde wob der Mondschein, weich, blaß, wesenlos, und in seinem Schimmerlicht verflossen das braune Ackerland, die Kornfelder, die Birken am Bach und des Haldenwang Haus- und Scheunendach zu dunstiger Unwirklichkeit. Und das Gegenwärtige und das Vergangene verschwommen auch eins ins andere, als wäre das Gestern ein Heut und das Heut ein Gestern.

Ganz deutlich sah er sie vor sich. Vom Bach kam sie geschritten, über den Acker, nah und näher zu ihm heran. Ein paar kirschbraune Augen blitzten ihn lachend an. Dunkel und dicht lagen die Zöpfe um ihren Kopf. Da waren die Grübchen um ihren lockeren roten Mund und die Härchen, die sich am schlanken Nacken kräuselten. Und die vollen Arme hatte sie hinter dem Kopf verschlungen, daß ihr stattlicher Leib lockend vortrat, als wollte sie sagen: »Da hast mich! Da bin ich ja! Warum nimmst mich net?«

Das war die Regine Ortlieb, wie er sie kannte, noch vor fünf, sechs Jahren, und wie er sie gern hatte, seit er sich's denken konnte, daß ihm der Sinn nach einem Mädel stand. Sie »gingen miteinander« jahraus und jahrein. Sie und keine andere sollte seine Bäuerin werden – das sagte er ihr des Abends, wenn er sich im Feld mit ihr traf, und des Morgens, wenn er vor dem Tagwerk im Vorbeigehen ihr ans Fenster klopfte. Und am Sonntag im »Hirschen« drüben im Dorf, wenn sie mit keinem tanzen durfte außer mit ihm – da sagte er ihr's wohl hundertmal. Aber der alte Ortlieb war bloß ein armseliger und schnapsseliger Steinhauer, und der alte Haldenwang war ein Bauer auf eigenem Grund und Boden, nicht reich, aber wohlhäbig genug, um stolz zu sein und eigensinnig wie einer. Wie er mit dem Alten sprach – er, der Junge, ein einzig Mal –, daß er die Regine heiraten wolle, fuhr dem das Zornfeuer unters Dach, als sollt' er schlagflüssig werden. »Wenn d' mir die Bettelsippe daherbringst,« schrie er außer sich vor Wut, daß er nicht mehr zu kennen war, »so kannst auf'm Mist hausen! So wahr ich der Haldenwang bin und will selig werden!« Seither sprach er mit seinem Vater nicht wieder von seiner Neigung für die Regine. Aber er ließ auch nicht von dem Mädel. Aufs Biegen oder Brechen, wie sein Vater, verstand er sich nicht oder wollt' es auch nicht wagen. Ertrutzen wollt' er sie sich, in seiner Art, zäh und still und mit der Zeit. Er konnte warten, und daß er warten konnte, war ja die Hauptsache.

Ein Jahr verging so und noch ein zweites. Und er vertröstete die Regine. Um des lieben Friedens mit dem Alten willen ging er das dritte Jahr über Land zu einem Mutterbruder, der kränkelte und ihn in der Wirtschaft brauchen konnte. Sie wollte nichts davon hören, aber er vertröstete sie wieder, und sie hatte ja sein Wort. Als die Frist um war und er heimkam, fragte ihn der Alte mit lauerndem Schmunzeln, nach dem Willkomm, ob er noch immer des gleichen Sinnes wär' mit der Regine vom Ortlieb. Und wie er's bejahte, lachte ihm der alte Haldenwang ins Gesicht, so laut und giftig, daß er's noch im Ohr hatte: »Dank dein'm Schöpfer, daß ich dich bewahrt hab' – vor dem Lumpenvolk! Frag' den Hahn-Baptist, den Krämerbuben, ob er se dir läßt! Mit dem ist se ein Leib und eine Seel'!« Und er, der Junge, sah stier drein, und die Hand zuckte ihm, daß er sie festhalten mußte. Er stürzte weg ins Dorf und ins Ortliebs Haus. Auf der Schwelle begegnete ihm die Regine. Sie wurde rot und blaß und hielt sich am Türpfosten. Aug' in Aug' standen sie, und ohne daß sie den Mund auftat, wußte er, daß wahr war, was der Vater ihm gesagt hatte. Sie gehörte dem andern. Dem Krämer-Baptist, dem Windhund, hatte sie sich an den Hals geworfen. Betrogen war er. Vorbei war's. Aus und vorbei für immer!

Während ihn so die Erinnerung überkam, Zug um Zug, hatte der Bauer den Brief in seiner Hand zerrissen, Stück für Stück, und nur noch die kleinen rissigen Schnitzel hielt er zwischen den Fingern. Das Bild, das vom Bach herauf, von den Birken gekommen war und sich mit lachenden Augen und dicken Zöpfen und lockendem Leib vor ihn gestellt hatte, blies er weg mit seinem keuchenden Atem. Der ganze Trotz, der von dazumal an in ihm großgewachsen und übermächtig geworden war, reckte sich in ihm. Dazumal hatte er sein Gemüt – und es war dies Haldenwangsche Gemüt ein spärlich und karg Pflänzlein auf dürrem Grund – er hatte es in sich niedergedrückt und erstickt und abgetan. Seither war er, wer er war, und hatte recht, daß er so war, und wollte so bleiben. Bitter wie je und verächtlich und selbstgerecht schlossen sich seine Lippen übereinander. Kühl und sicher blickten seine dreieckigen kleinen Augen in die mondhelle Nacht. Was ging ihn der Pfarrer von Kirndorf an mit seinem Geschreibsel? Die Regine Ortlieb war für ihn lang schon verstorben. Die Witwe des Baptist Hahn – die konnte leben oder sterben, wie sie's ankam l Wenn sie ihm was zu sagen hatte – er ihr nichts! Nicht ein Wort, nicht ein Gefühl, nicht einen Gedanken gab's zwischen ihm und ihr!

Deshalb stand er jetzt auf. Er suchte einen Stein und fand einen, der am Rain lag, ins Moos und in die Wurzeln einer gewaltigen Buche geklemmt. Den machte er locker, schob die Papierschnitzel darunter, daß sie nicht mehr fliegen und der Mond sie nicht mehr anblinken konnte.

Noch einen Tritt, daß der Stein wieder fest saß wie vorher, und der Haldenwang schritt heim über den Acker, am Bach hin, über den Steg und zurück ins schlafende Haus. Schneller, als er gekommen war, und mit festen Füßen, den Kopf schroff im gedrungenen Nacken. Er schämte sich, daß er nachtgewandelt war. Grad wie der Eckartshofbauer, konnten sie denken, von dem der Knecht erzählt hatte, daß er im Rausch die Landstraße gepflügt hätte!

Leis zog er die Haustür hinter sich zu und schob den Riegel vor.

Leis ging er durch den Gang und durch die Stube in die Kammer. Der Mond ärgerte ihn nicht mehr, weder draußen noch drinnen, so groß und weiß er über den Himmel zog. Er legte sich und schlief bis zum ersten Hahnenschrei.


Ein Tag kam und ging wieder wie der andere. Es gab viel Frühjahrsarbeit. Der umgebrochene Acker zwischen dem Bach und den Buchen war längst gesät und geeggt. Die Kartoffeln mußten gehäufelt werden, und die Wiesen waren hoch und bunt ins Kraut geschossen, so daß sie die Sense brauchten. Ein bräunlicher Schimmer kam übers grüne Korn. Der Brief aus Kirndorf schlief unter seinem Stein, an die drei Wochen schon. Und die Regine Hahn, geborene Ortlieb – die schlief wohl auch unter der Erde so gut wie der letzte Ruf, den sie zum Haldenwang hatte herübergesandt. Ja, ob sie das wirklich tat? Ob sie gestorben war inzwischen, oder ob sie noch lebte? Ob sie noch auf den Bauer wartete oder das Warten aufgegeben hatte oder kein Warten mehr nötig hatte? Wer konnte das wissen? Wer brauchte es zu wissen? Der Haldenwang sicher nicht! Der zuletzt! Merkwürdig, daß er neuerdings das »Amtsblatt« so regelmäßig studierte – mit der Großvaterbrille auf der Nase. Er hatte nie viel aufs Lesen gegeben, auch aufs Zeitungslesen nicht. Er hielt das »Amtsblatt« bloß so aus Herkommen und weil mitunter drinstand, was einer im Amt versteigerte oder verkaufte. Neuerdings hatte er eine wunderliche Neugier auf die Sterbenachrichten. Ob irgendwer gestorben war in Bögingen oder in Helferdingen oder in – Kirndorf, das auch zum Amt gehörte, wollte er wissen. Gestehen mochte er sich's nicht: aber einen Namen, den dachte er dort bei Gelegenheit zu finden. Warum starb die Regine Hahn, Baptist Hahn-Witwe, nicht? Es war rein, als täte sie ihm den Gefallen nicht. Als hätte sie's drauf angelegt, daß sie ihn hinhielt! Erst war's wie eine unheimliche Lust, die er drauf hatte, sie unter den Toten zu finden. Als es nicht kam und nicht kam, wurde aus der Lust eine Ungeduld, aus der Ungeduld eine Angst. Vielleicht war sie doch schon gestorben? Ohne daß es im »Amtsblatt« gestanden hatte? Bloß die Ungewißheit war's, die ihn umtrieb. Und wie ein Besessener stemmte er sich gegen das irrsinnige Fragen. Er wollte sich's nicht durchlassen, das aufsässige Nebenrausdenken! Vom frühesten Morgen bis in die sinkende Nacht schaffte er im Feld, beim Vieh, im Haus, im Garten. Er nahm dem Knecht die Arbeit aus der Hand und pfuschte den Mägden ins Gewerk. Schwer wie ein Sack fiel er des Nachts aufs Bett. Doch es verschlug ihm auch den Schlaf, wie's ihm den Appetit verschlug – ob's ihm genehm war oder nicht. Immer das Fragen, hin und her und her und hin: Ist sie tot oder lebt sie noch? Lebt sie noch oder ist sie tot? Bloß das Fragen – das Fragen …

Nach Kirndorf war's weit. Er war nie dort gewesen. Drei Stunden Wegs mochte es wohl sein. Das wußte er vom Hörensagen. Drei Stunden sind für einen Bauern ein weiter Weg, sind schon eine »Reis'«. Und für den Haldenwang ist der Weg viel weiter, viel weiter noch. Ob er hinschreibt an den Pfarrer? Ob er einen für sich hinschickt? Ob er – Nein! Eine Blöße will er sich nicht geben. Eine Dummheit will er nicht machen. Einen andern wie ihn geht's nichts an. Und ihn darf's nichts angehen – und wenn er über dem Fragen verrückt wird! Und wenn er drüber Hunger und Schlaf und 's eigene Leben einbüßt! Nein und noch einmal nein und zum drittenmal nein!

Und doch, eines Morgens – es war schon Anfang Juni und früh am Tag –, da war das Fragen stärker als der Haldenwang. Ganz unerwartet. Nachdem er in der Nacht noch Stein und Bein geschworen hätte, daß er fertig sei mit der »Lumpeng'schicht«. Er ließ die Arbeit stehen und liegen, wie sie stand und lag, wechselte im Haus den Rock, rief der Magd in die Küche: »Ich muß über Land« und schob sich davon. Die Füße nahmen wie von selber den Weg. Erst durchs Feld, dann ein Stück durchs Dorf.

Er ließ sich selten im Dorf blicken. Höchstens dann und wann am Sonntag, wenn er aus Reputation in die Kirche ging und dem Herrgott eine ausnehmende Ehr' antat.

Der und jener grüßte ihn heut verwundert.

»Wo hinaus am hellen Tag?« rief ihn einer lustig an.

Er gab keine Antwort. Als ob's nicht jeder wissen könnte? Ihm an der Stirn ablesen, hinter der's mit großen, wie feurigen Buchstaben stand?! Nach Kirndorfl Expreß nach Kirndorf! Wohin auch sonst?!

Beim Spritzenhaus, am Ententeich ging's von der Landstraße ab, links hin und feldeinwärts. Erst nach Wöhlingen. Von dort mußte er fragen.

Es war ein hübscher Weg. An wogenden Kornfeldern hin und zwischen rotblütigen Kleeäckern durch. Dann in einem Tannenwald bergan. Und wieder niederwärts zu saftigen Wiesen und neuen Feldern.

Doch von alledem sah der Haldenwang nichts und wollte nichts sehen.

Es war ein guter Tag zum Wandern. Die Sonne war in weißem Gewölk verborgen und machte nicht heiß. Auch strich ein kühler Wind übers Land.

Trotzdem mußte der Bauer bisweilen hastig den schwarzen Rundhut lüften und sich den Schweiß von Stirn und Backen wischen mit dem buntgesprenkelten Sacktuch, das er aus den Rockschößen zog. Das machte, weil er mit sich im Zwiespalt war.

Einmal schritt er gemächlich und armschlenkernd fürbaß und sagte zu sich: »Was bist du für ein Narr, Haldenwang! Jetzt hast dich doch rumkriegen lassen! Jetzt hast ja deinen dümmeren Willen und sollst deine Ungewißheit los werden! Für was willst auch noch rennen, Tropf, schwachmütiger!«

Ein andermal aber kam die Angst. Wie der Wind, der die Espen am Wege zittern und rauschen machte. All die Zeit her hatte er sich noch eingeredet, es wär' ihm gleichgültig, ob die Regine tot wär' oder noch lebte. Jetzt packte es ihn: Tot durfte sie nicht sein! Wenn sie schon unter der Erde lag, mußte er sich immerzu fragen: was hat sie von dir gewollt? Wie er sich bisher gefragt und gequält, ob sie lebe oder gestorben sei. Warum hast ihr die letzte Stund' nicht erleichtert? Und weswegen bist nicht gegangen, solang es noch Zeit war? Darüber kam er ins Laufen und Rennen. Und repetierte sich dazu den Brief des Kirndorfer Pfarrers, den er auswendig konnte – auswendig, so zerrissen und wohlverwahrt er unter dem Feldstein lag. Drei Wochen waren drüber vergangen. Und sie mußte tot sein! Und er kam zu spät. Zu spät! …

So erreichte er Wöhlingen und ließ sich im »Rappen« ein Viertel Wein geben. Auch erkundigte er sich nach dem Weg. Man zeigte ihm Kirndorf auf der Höhe. Mit dem spitzen Kirchturm und den hellen Dächern sprang er aus Wiesen und Obstwald hervor. Er versuchte es wieder mit der Vernunft und schritt langsam aus. Aber er kriegte es doch und doch mit dem Laufen und Rennen. Mehr als je. Bis er ans erste Haus kam und bald darauf an die Kirche. Schneller als er wollte und doch nicht schnell genug.

Um die Kirche her lag der Friedhof mit seinen Holzkreuzen auf blumen- und efeubewachsenen Gräbern. Einen Augenblick dachte er, er wollte durch die angelehnte Tür eintreten: sie lag ja doch dort! Unter dem frischen Hügel, über dem Kränze hingen. Was brauchte er noch nach ihr zu fragen?

Dann schritt er doch vor bis an ein Haus, das mit seinem stattlicheren Dach und den grünen Fensterläden und dem freundlichen weißen Putz etwas zur Seite hinter einem kleinen Garten lag. Das mußte das Pfarrhaus sein. Die Leute schienen alle im Feld zu schaffen, so daß er keinen sah, den er hätte drum ansprechen können. Unschlüssig blickte er über den Zaun.

Eine sanfte, muntere Stimme kam hinter einem Spalier von Birnen vor, jenseits des Zauns, und fragte ihn, wen er suche.

Der Haldenwang zögerte mit der Antwort.

Derweil trat ein jugendlicher, blondbärtiger Herr mit einem Strohhut und goldener Brille hervor und näherte sich ihm. »Wenn Sie zum Pfarrer wollen – der bin ich,« erläuterte er mit einem gutmütig aufmunternden Blick.

Jetzt gab's kein Ausweichen mehr. Der Bauer nahm den Hut ab, ließ ihn durch die Finger laufen und fuhr sich zur Stärkung ins fahlblonde, dicke Haar.

»Ich bin der Haldenwang,« begann er so trocken und gesetzt wie möglich, »dem Sie geschrieben haben.« Er machte eine Pause, als müßte der Pfarrer schon alles wissen. Als dem nicht so schien, setzte er etwas unsicher und mit Räuspern hinzu: »Ich weiß schon, 's ist zu spät, daß ich komm'. Aber früher hab' ich's net richten können!« Und als könnte wer an der Begründung dieser Wahrheit zweifeln wollen, wiederholte er fast schroff: »Net richten können!«

Der Pfarrer sah seinen Mann noch immer in gutmütiger Verständnislosigkeit an. Er hatte offenbar nicht im Kopf, um was es sich handeln sollte.

Der Haldenwang nahm sein Schweigen anders. Als einen Vorwurf.

»Sie wundern sich, daß ich trotzdem komm',« fuhr er fort, während er am Hut weiterdrehte und mit den dreieckigen Augen starr nebenrausblickte: »Ich dacht' mir, die Frau – die Frau Hahn – hätt' Ihnen vielleicht vor Ihrem Sterben – aufgetragen – was se mir – hat sagen wollen.« Er stotterte mehr als ihm lieb war und setzte barsch dazu: »Ich für meine Person hab' ihr nix zu sagen g'habt! Ich nix.«

Jetzt dämmerte dem Pfarrer der Zusammenhang, und er erriet, wen er vor sich habe.

»Ach, Sie sind's!« rief er lebhaft und mit verstehendem Nicken. »Der Herr Haldenwang, den die Frau Hahn-Witwe hat sprechen wollen, wie's so schlecht mit ihr gestanden hat?! Zu spät kommen Sie da Gott sei Dank nicht! Es geht besser mit ihr!«

Der Haldenwang machte ein verdutztes, beinahe erschrockenes Gesicht und hielt im Hutdrehen jäh ein. Also – sie war gar nicht tot, die Regine! Doch nicht tot! Er atmete auf, unwillkürlich, als fiele ihm eine Beklemmung, schwer wie ein Feldstein, vom Herzen.

»Also – se lebt noch – se lebt noch – die – die Regine Hahn?« stammelte er verwirrt.

»Freilich lebt sie,« beteuerte lächelnd der junge Pfarrer, »der Doktor und ich hätten's nicht geglaubt, daß sie wieder aufkäme. So elend, wie sie war! Und so verbraucht!« Er erzählte mit sichtlicher Teilnahme, was für ein jämmerliches Leben sie gehabt hätte mit ihrem leichtsinnigen, trunksüchtigen Mann, und wie sie nach seinem Tod vollends zusammengebrochen sei, ohne daß der Arzt recht gewußt hätte, was es sei. »Sie hat's doch noch einmal überwunden,« schloß er herzlich. »Sie ist eine tapfere, brave Frau, die Frau Hahn, und hat in ihrer Armut kein leichtes Leben vor sich. Aber wenn's ihre Gesundheit aushält, wird sie sich mit Gottes Hilfe schon durchschlagen.«

Der Bauer hörte ihm nur mit halbem Ohr zu. Er hatte sich jetzt wieder gefaßt. Sein nüchterner Verstand setzte sich gegenüber der Aufregung der letzten Wochen, Tage und Stunden langsam, aber sicher wieder ins Gleichgewicht, ins Übergewicht. Was wollte er denn überhaupt noch in Kirndorf? Wenn die Regine Hahn wieder am Gesundwerden war – was brauchte er sich noch groß anzustrengen? Da hatte er nichts mit ihr auszumachen. Während der Pfarrer noch sprach, schwankte er schon, ob er nicht einfach mit einem »B'hüt Gott und schönen Dank!« wieder davongehen sollte – dorthin, wo er hergekommen war. Aber als der Pfarrer ausgeredet hatte und ihn mit ein paar fragenden Augen ansah, als verstünde er jetzt doppelt so viel, als er eingangs nicht verstanden hatte, und wollte ihm behilflich sein, seinen guten Vorsatz auszuführen – da traute er sich's doch nicht recht, so mir nichts, dir nichts umzukehren. Aus Anstand nicht. Und aus Vorsicht nicht.

»So – se lebt also noch,« rekapitulierte er noch einmal verlegen, bedachtsam und rauh.

»Ja, und gehen Sie nur hinüber, Herr Haldenwang! Sie wird sich freuen über Ihren Besuch. Sie kann eine Freude brauchen. Wenn Sie um die Kirche gehen und die Gasse rechts hin, das vorletzte Häuschen, da wohnt die Frau Hahn.« Der Pfarrer machte ihm durch Gebärden über den Zaun weg den Gang deutlich und nickte ihm ermutigend zu.

»Da – will ich halt 'nüber und ›Grüß Gott‹ sagen,« kam es zögernd und nach einem Lippenbeißen aus des Haldenwang Mund. Er schlenkerte ungeschickt den Hut, räusperte sich und ging. »B'hüt Gott und schönen Dank!«

Der Pfarrer erwiderte den Gruß und sah ihm einen Augenblick nach, wie er unter den Kastanienbäumen hin ohne Eile über den Kirchplatz schritt. Dann trat er zurück in seinen Garten …

Hinter der Kirche drückte der Haldenwang den Hut fest auf den Kopf. Er machte seinen verkniffensten Mund und sah aus, als müßte er einen verflixt sauren Trank zu sich nehmen – in drei Deihenkers Namen. Kurz machen wollt' er's in jedem Fall. Höllisch kurz. Und bloß, weil's nicht anders ging. Um des Pfarrers willen. Aus sakrischer Gutmütigkeit. Er nahm seinen zähesten Schritt an und eine hochmütig-gleichgültige Miene. Den Kopf im Nacken – ganz er selber – ging er die Gasse hinunter. Mit verdrossenem Zwinkern suchte er das beschriebene Haus.

Jetzt hatte er's. Das war's. Mit dem verfallenen Dach und den schiefhängenden Läden und –

Er stutzte und hielt unwillkürlich an.

Auf der Bank vor dem ärmlichen Haus saß eine Frau. Sie war in ein Wollentuch gehüllt bis über den Kopf, trotz der sommerlichen Mittagswärme. Sie sah einem kleinen Kind zu, das vor ihr am Boden mit kleinen Holzstücken spielte, und blinzelte dann nach der Sonne, als möchte sie der zum Dank für ihre Wärme mitten ins Licht schauen. Wie sie so das Gesicht hob und das Tuch ein wenig verrutschte, sah er die dunklen Zöpfe über dem Kopf und den Mund und einen Schimmer der Augen. Und so blaß und verzehrt und eingefallen sie war, erkannte er sie. Es war die Regine …

Zögernd, etwas weniger stramm und trotzig, als er herangerückt war, trat er näher.

Sie achtete erst auf ihn, als er fast vor ihr stand.

Einen Moment starrte sie ihn an. Die kirschbraunen großen Augen irrten verständnislos über ihn hin.

Plötzlich zuckte sie zusammen. Mit einem halben Schrei hob sie sich von der Bank und machte eine Bewegung, als wollte sie flüchten. Dann fiel sie kraftlos zurück, am ganzen Leibe zitternd.

»Du bist's,« stammelte sie, »barmherziger Gott, du!« Ihr Kopf lehnte sich gegen die Hauswand, und ihre Augen schlossen sich.

Nun hatte sich der Bauer vorgenommen, es kurz und kantig zu machen. Aber fürs erste nahm auch ihm das Wiedersehen die Stimme. Doch er ermannte sich, und ohne sie anzusehen, begann er in hastigem, patzig-abweisendem Ton zu sprechen.

»Ich bin's. Der Haldenwang. Euer Pfarrer hat mir geschrieben, Ihr lägt auf den Tod. Eher könnt' ich net weg von daheim. Jetzt seh ich, daß Ihr wieder beieinander seid. Da will ich net aushalten. Bloß Grüß' Gott und Adje!«

Er bot ihr keine Hand. Den Blick hielt er beharrlich nieder und kaute die Lippen. Er nickte nur. Den Hut aus dem Kopf. Und stand, als wollte er gleich wieder gehen.

Sie schlug die Augen auf. Unsäglich müde und traurig schauten sie zu ihm hinüber und standen in Tränen, während ihre Stimme sich beherrschte.

»Ich dank« – sie konnte ihn nicht »ihrzen« –. »Ich dank dir, daß d' gekommen bist. Ich weiß, was es dich gekostet hat. Ich dank halt!«

»'s ist schon gut. Ich wär' auch net gekommen, wenn ich gewußt hält', daß dir's besser geht. Bloß weil er geschrieben hat, du lägst zum Sterben. Und hätt'st mir was zu sagen. Jetzt braucht's des net. Also adje beisammen!« Entschlossen trat er von ihr weg.

Sie hing mit brennenden Augen an ihm.

»Willst mich net auch so hören?« rang es sich tonlos und doch mit leidenschaftlicher Bitte von ihren verfärbten Lippen. »Wer weiß, wie lang ich's noch treib'? Und sehen tun wir uns doch net wieder, du und ich!«

»Des stimmt!« sagte er widerwillig. Und widerwillig, von der Seite schielte er nach ihr hin. So sehr Krankheit und Elend an ihr gezehrt hatten, ihre Züge waren die alten, wie er sie vor Jahren gekannt hatte. Ihre dunkeln Augen hatten nichts von ihrer Kraft verloren, wenn sie auch weinten statt lachten. Es stach ihn ins Herz und zog ihn fort und hielt ihn in einem.

»Wenn d' mir was zu sagen hast« – er blickte um sich, um sich zu überzeugen, daß in der ausgestorbenen Gasse, die gleich dahinter ins Feld lief, keiner mit Horchen um den Weg war –, »mach's kurz. Ich wüßt' net, was zwischen uns zu reden wär'!«

»Du net,« gab sie leise zurück, »des weiß ich. Du net! Du denkst bloß: Die Regine hat mir die Treu' gebrochen, falsch und hinterhältig und gottvergessen und –«

»Ich mein', 's hat seine Richtigkeit, wenn ich so denk'. Seine millionische Richtigkeit!« erwiderte er trotzig.

»Aber hast auch gedacht, wie's hat über mich kommen können? Hast dran gedacht, ein einziges Mal, Martin?« Und jetzt stürzten ihr die Worte hervor, jäh, drängend, ohne Wahl, als wären sie seit Jahr und Tag aufbehalten, und sie klammerte sich an der Bank fest, als zwänge sie sich so, daß sie nicht schrie vor Schmerz: »Ich hab' doch immer bloß dich gern g'habt, keinen sonst! Und damals – ich war jung und war heiß – und der Hahnbaptist ist hinter mir her gewesen wie der Jäger hinterm Wild mit seiner Katzenfreundlichkeit und seiner gewichsten Larv' und sein'm Schönreden, und du, du hast mich vertröstet von einem Jahr ins andere und bist fort! Warum bist fort? Warum hast bloß an dein' Stärke gedacht und net an mein' Schwäche? Warum hast mich net g'nommen, wo dir keine in der Welt lieber war als ich? Wie d' fort warst, war's aus. Da hab' ich zweifelt an dir, weil du dein' Vater hast stärker sein lassen mit sein'm Hochmut gegen die ›Bettelsipp'‹, stärker als deine Lieb'. Und ›er nimmt dich in Ewigkeit net‹, hat der Hahnbaptist gehöhnt. Und ›er läßt dich doch sitzen‹ hat mein' Mutter geschimpft. Und ich war z' stolz, dir zu schreiben: Komm! Ich hab' kein' Kraft mehr, z' warten, z' stolz und z' dumm, bis ich – bis ich mich in'r schwachen Stund' dem Hahnbaptist hing'schmissen hab'! Und hab' dir die Treu' gebrochen, obwohl ich kein' sonst gern g'habt hab' wie bloß dich! Warum bist fort? Warum hast mich allein gelassen? Warum? Warum?« Sie war aufgesprungen und stand bei ihm. Der Atem war ihr vergangen vor der leidenschaftlichen Rede, und sie rang die Hände. Das Warum konnte sie nur noch flüstern, nur ihre Augen sprachen noch zu ihm, ihr verkämpftes, trauriges, wehes Gesicht, und sagten wieder und wieder »Warum und warum?«

Der Haldenwang stand ihr gegenüber, wie festgewurzelt. Noch eben, wie sie angefangen hatte, war er so sicher gewesen, so trotzig im Gefühl seines Rechthabens, seiner Herablassung, seiner Verachtung. In dem felsenfesten Wissen um ihre unverzeihliche Schuld gegen ihn. Und jetzt, wie er sie so vor sich sah in all ihrer Verzweiflung, wie sie so sprach, nur mit dem Herzen, nicht mit dem Verstand, und nur wie in einem einzigen Aufschrei aus niedergedrückter, seit Jahren verquälter Wehmut und verlorenem Glück, da wollten ihm die Worte nicht kommen, sie zurückzuweisen und abzutrumpfen. Da überfiel ihn der Gedanke und das Gefühl seiner Mitschuld als ein so Neues, Unglaubliches, übermächtiges, daß er sich nicht wehren konnte. Der sonst so festgepreßte Mund stand ihm offen, und seine Augen waren aufgerissen in starrem Staunen wie nie …

Das Kind, ein Mädchen von etwa vier Jahren, hatte mit dem Spiel am Boden aufgehört und drückte sich an die Mutter, erschreckt über deren Erregung und den fremden, steifen Mann. Ihre Mutter strich ihr über den zerzausten Kopf und zupfte unwillkürlich an ihrem dürftigen Kleidchen. Dann schickte sie sie weg mit einem Auftrag in die Küche.

»Denk' net, ich wollt' und dürft' dir was vorwerfen,« begann sie wieder, jetzt ruhiger und mit erschöpfter Traurigkeit, während sie sich wieder aus die Bank gleiten ließ. »Bloß ich bin schuld. Aber ich hab's gebüßt. Der Hahnbaptist hat mich ins Elend geschleppt, knietief, und geschunden, als wär' ich kein Mensch, 's wär' net viel hingewesen, wenn ich 'm nachgestorben wär!!« Sie schauerte zusammen, als dürfe sie an das Vergangene nicht denken und noch weniger davon reden, »'s hat mich bloß plagt, wie ich auf den Tod gelegen bin, daß du mich zeitlebens für'n schlecht's Mensch halten sollst, das dich belogen und betrogen hat und sonst weiter nix. Deshalb hab' ich dir schreiben lassen. Jetzt weißt alles. Und ich dank' dir! Und wenn dir's recht ist, sollst mir verzeihen, wenn du kannst, und im Frieden an mich denken, net in Feindschaft! Wie ich an dich!« Sie streckte zaudernd, flehend ihre Hand von sich zu ihm hinüber.

Der Haldenwang wußte nicht, wie's geschah, aber es nahm ihn langsam herum, und er legte seine Hand in die ihrige, ausgestreckte.

»Ich trag' dir nix nach!« murmelte er dazu. Und dann noch leiser: »B'hüt dich Gott, Regine.«

Sie trafen sich in einem scheuen Blick, wie zwei, die sich kennen und doch nicht kennen. Er lüftete den Hut und ging die Gasse zurück, die er gekommen war, ohne sich umzusehen …

Vom Kirchturm läutete es Mittag. Die Leute kamen ihm entgegen ins Dorf. Er lief vorbei, ohne auf einen Gruß zu achten. Und lief heim. Trotz der heißen Mittagsstunde. Sogar des Essens vergaß er über dem Gehen. Und als er nach drei Stunden seinen Hof wiedersah, war's ihm, als wäre er eben erst fortgegangen von Kirndorf, die Gasse hinunter, über den Kirchplatz mit den Kastanien, am Pfarrhaus vorbei, durch Feld und Wald, über Berg und Tal, durch Ortschaft und Einsamkeit. Und als wäre der Weg nicht halb so weit gewesen, als da er ihn zuerst unternommen …


Wochen vergingen und Monate. Das Korn fiel unter der Sense, und der Hafer und die Gerste. Die Ernte kam reich und gut unter Dach. Der Herbst war da, fast unversehens. Auf dem Acker zwischen Bach und Buchen war das Welschkorn wohl gediehen. Längst hingen die goldgelben Kolben in der Scheuer. Der Bauer pflügte für die Wintersaat seinen Grund. Auch den neugewonnenen Boden vor dem Buchenwald stieß er jetzt schon um. Er wollte ihn kräftig düngen und fürs nächste Jahr noch fruchtbarer machen. Der Oktoberwind jagte graue Wolken über ihn hin und wirbelte braunes Laub um ihn her, aus dem Wald herunter und herüber von den Birken und vom Obstgarten. Wie im Mai hielt er die Hand fest am Scheit und lenkte das Gespann mit zähem Schritt bergauf und bergunter.

Bloß manchmal, wenn ihn keiner sah, hielt er mitten im Pflügen inne, als müßte er sich verschnaufen, und als wär' er älter geworden und könnte nicht mehr so auf sich »loshausen« wie noch im Frühjahr. Aber es war nicht das Altwerden, was ihn plagte und atemlos machte. Er mußte verstohlen hinauslugen über sein Feld und über die Dorfmark und weiter, als ihn die Augen trugen. Der verkniffene, selbstgerechte Zug wich aus seinem Gesicht. Und es war ihm, als hörte er neben sich eine Stimme, die er kannte und die rief: »Warum bist fort? Warum hast mich net genommen? Wo dir doch keine in der Welt lieber war als ich? Warum hast dein' Vater stärker sein lassen, bis – bis –« Und der Haldenwang schrak auf, legte die Hand wieder an das Pflugscheit und rief »Hüoh!« und pflügte weiter. Und jedesmal nachher war's ihm, als wäre der Weg kürzer geworden nach Kirndorf. Kürzer als im Mai, kürzer als der Heimweg und als sogar der Herweg. Als läg' eine Schuld nicht bloß drüben, sondern auch hüben, und müßte es möglich sein, daß eine verrechnet würde in die andere …

Und einmal, vielleicht im Mai, wenn die Lerchen sich in den dunkelblauen Himmel werfen und der laue Wind den Roggen lockert, im Birkenlaub spielt und den Duft von den Obstbäumen und dem Wiesenkraut und dem goldblütigen Raps zusammenträgt, wird der Weg, der weite Weg so nah sein, daß ihn der Haldenwang noch einmal geht.

Geb's Gott, nicht zu spät …


 << zurück