Detlev von Liliencron
Kriegsnovellen
Detlev von Liliencron

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Der Richtungspunkt

In zwei Schlachten und einigen heftigen Scharmützeln hatte ich schon meine Kompagnie zu führen die Freude gehabt. Für morgen stand der dritte Strauß in Aussicht. Wir lagen, in Massen auf beiden Seiten, der Feind und wir, uns nah gegenüber.

Es war nachmittags vier Uhr. Ich hatte eben die Gewehre nachgesehen und saß nun mit meinen Offizieren unter Haselnußgesträuch. Unser Gespräch drehte sich um den letzten Zusammenstoß. Meine Kompagnie, die einen Verlust von zwei Leutnants und hundertundsieben Mann erlitten hatte, war notdürftig wieder zusammengeflickt. Ehe der Ersatz aus der Heimat uns einholte, mußte ich mit dem Rest, so gut es ging, weiter. Jeder Hauptmann kennt seine Leute, ihre Eigenschaften, Gemütsart, Begabungen, Veranlagungen, ihre häuslichen Verhältnisse. Er ist ganz mit ihnen verwachsen: was Wunder, wenn die Lücken schmerzlich empfunden werden, wenn er manchen vermißt, den er in schwerer Friedensarbeit erzogen hat. Im Kriege macht sich enge Kameradschaft geltender zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, als in ruhigen Zeiten. Das liegt in der Natur der Sache.

Und wir saßen, gebräunt wie die Zigeuner, unter dem Haselnußbusch. Um uns her flackte das webernde Leben des Biwaks. Aus den Feldkesseln zog der Dampf des kochenden, ganz frischen Kuhfleisches. Oft gegen den aufschlagenden Dunst sich mit der Linken die Augen schützend, schöpften die Soldaten emsig mit ihren an hölzernen Stielen befestigten Löffeln den brodelnden Schaum ab. Sie schnitten dabei, sich mit dem Kopfe abwendend, zuweilen recht wunderliche Gesichter, kam ihnen der Brodem zu stark in die Nase. In einer Stunde hegten wir die Erwartung, uns des Genusses dieser nichts weniger als zarten und wohlschmeckenden Speise hingeben zu können. Lagerbier, im wirklichen Sinne des Wortes, aus den Fässern der Marketender (diese Zählinge waren uns bis heute, höchst dankenswert, gefolgt) sollte zum Hinunterspülen helfen.

Während unserer lebhaften Unterhaltung erschien unerwartet, zu Fuß, mein Regimentskommandeur und teilte mir mit, daß ich zum Adjutanten des Oberbefehlshabers, dem in den letzten Tagen zwei Offiziere aus seinem Stabe angeschossen waren, ernannt sei. Wie gern wäre ich bei meiner Kompagnie geblieben.

Schon nach einigen Minuten hatte ich sie um mich versammelt, um ihr meinen Weggang bekannt zu machen und sie ihrem neuen Führer, einem Oberleutnant, zu übergeben. Dieser Oberleutnant und ich fühlten nicht die gleichgestimmtesten Herzschläge für einander. Es ging mir wie ein Stich durch die Brust, als seine feine, überlaute, hastige Stimme an mein Ohr schlug: »Die Kompagnie hört auf mein Kommando.« Am andern Tage, in veränderter Lage, vernahm ich die gleichen Worte bis auf die Silben »mando«, die der Tod einem andern Kameraden von den Lippen wegbiß.

Ich fand, schon nach einer halben Stunde, den Kommandierenden, um ihm meine Meldung abzustatten, in einem einzeln stehenden Bauernhause. Er bog sich über Karten, die mit langen buntköpfigen Stecknadeln bespickt schienen. Seine ganze Begleitung, in ehrerbietiger Zurückhaltung, stand hinter ihm. Ihm zunächst der Chef des Stabes, an den er ab und zu Fragen richtete, die dieser schnell und sicher, mit gleichbleibender, sich nie hebender oder senkender Stimme beantwortete. Gegen den Chef des Stabes, den ich schon von der Garnison her kannte, hatte ich, wie man zu sagen pflegt, eine Pike. Sein fürchterliches Mathematikherz, das auf der weiten Gotteswelt keine Freude, keine Lust kannte, als die Freude und die Lust des Rechnens und Berechnens, flößte mir von jeher ein Grauen ein. Sein fahlblasses, auch durch den stärksten, unaufhörlichsten Sonnenschein nicht um einen Ton gefärbtes Gesicht mit der ewig finstern Stirn, mit den blutlosen, schmalen Lippen, die niemals lachten oder lächelten, mit den kalten grauen Augen war mir schrecklich. Auch dem General, wie ich sehr wohl wußte, war er unheimlich. Nur die unglaubliche, nie ermüdende Arbeitskraft, das gänzliche Aufgehen in die Pflicht der Stunde, die Schweigsamkeit dieses Generalstabsoffiziers, zwang auch mich, wie uns alle, ihm Bewunderung und Hochachtung zu schenken.

Die übrigen Offiziere des Stabes waren mir ebenfalls aus der Garnison bekannt. Besonders in mein Herz geschlossen hatte ich den dicken, fröhlichen, lachenden Husarenmajor, der seine Munterkeit, Gutmütigkeit in allen Lagen des Lebens bewahrte.

Als der General mich bemerkte, trat ich auf ihn zu und machte ihm meine Meldung. Er sagte mir einige verbindliche Worte und schloß mit einer seiner trocknen, nie verletzenden, witzigen Bemerkungen, die ihm stets zu Gebote standen. Alles lachte – ich war die Zielscheibe gewesen –, nur der Chef des Stabes musterte mich mit strenger Miene, um dann mit seinen wie gestochen aussehenden Buchstaben irgend ein Merkzeichen in sein Notizbuch zu schreiben.

Den General, ja, den liebte ich. Gleich ernst und schweigsam wie der Chef seines Stabes, von heiligster Pflichterfüllung beseelt, gab sein ganzes Leben den Menschen eine große Sonne der Güte. Wo er konnte, half er. Manchen leichtsinnigen jungen Offizier, dessen hüpfendes, warmdämpfiges Blut einmal aus dem rechten Weg ausgesprungen war, leitete er in die alte Bahn, wenn es irgend zu ermöglichen war. Ich bin nach meiner Kenntnis von ihm fest überzeugt, daß er im Grunde wenig von den Menschen hielt; daß er genau wußte, in welchen Kreisläufen sich alles bewegen muß bei ihnen. Dennoch ließ er nicht nach in seiner milden Liebe. Ein wenig spottsüchtig war er. Aber seine Spötteleien flossen ihm harmlos von den Lippen. Er war zu klug, um nicht dies Thürlein offen zu halten, daß ihm der Seele Schweres nicht zuweilen entschlüpfen konnte. Trat einmal in seiner Gegenwart eine Dummheit zu stark zu Tage, dann allerdings hatte sein Bogen Pfeile zu versenden, die tüchtige Wunden rissen.; doch selbst in diesen Fällen mußte ihm der Getroffene verzeihen für das liebenswürdige Lächeln, das alles wieder gut machte.

Der General, als er sich von den Karten erhoben und meine Meldung angenommen hatte, wandte sich zu uns und meinte, daß er sich über einen Punkt im Vorlande, aus dem er in den Plänen nicht klar werden könne, selbst unterrichten wolle. Er bäte uns, mit ihm nach einer halben Stunde zu Pferde zu steigen. Mir befahl er, einen Zug des 7. Garde-Ulanen-Regiments zum Mitritt zu beordern.

Bald langten die Lanzen an, geführt vom Leutnant Grafen Kjerkewanden. Auch für den folgenden Tag behielt der General diesen Zug zu seiner besonderen Verfügung.

Graf Kjerkewanden, mir bisher nicht bekannt, ein äußerst ruhig scheinender, bescheidener Offizier, hatte in seinem wachsbleichen Gesicht zwei fast asiatisch schiefliegende dunkelbraune Augen. »Der wird morgen zuerst fallen; der Tod sitzt schon in seinem Blick,« flüsterte ich dem dicken Husarenmajor zu. »Ach was, machen Sie keene Geschichten,« antwortete dieser lachend. Durch sein Lachen aber klang ein leiser Vorwurf gegen mich.

Schlag sechs Uhr setzten der General und wir uns in Bewegung. Wir trabten fast von der Stelle auf, in jenem gleichmäßigen, schlanken Vorwärts, in dem ein gutes Pferd ohne Störung Meilen zurücklegen kann. Der Ulanenzug folgte uns. Während des Durchtrabens des Biwaks, der Dörfer, Gehöfte kamen von allen Seiten die dort Befehlenden an den General heran, um zu melden. Die zur Zeit im Sattel Sitzenden setzten die Sporen ein, um heranzupreschen. Allen diesen Herren dankte der Oberbefehlshaber, nach rechts und links in unnachahmlicher Grazie mit der Hand flüchtig grüßend, mit dem Kopfe leicht, verbindlich nickend, sie hierdurch von der näheren Meldung entlastend. Alle Augenblicke wäre sonst ein Aufenthalt geboten gewesen.

Durch den glühenden Sommertag, dessen Hitze durch einen kräftigen Nordost gemildert wurde, trabten wir weiter und weiter. Im Staube blitzten unsre Uniformen. Wir trabten, ohne uns zu unterhalten, der General eine Pferdelänge voraus, durch den dichten Truppenmantel. Immer dünner, spärlicher ward er. Nun fegten wir in die Vorposten hinein. Allmählich waren wir, so zu sagen, aus dem heiteren Biwaksleben, aus der sorgloseren Haltung in den ganzen Ernst des Krieges gekommen, gewissermaßen in das Zusammengeschnalltere, Geschlossenere. Endlich hielten wir bei einem Doppelposten der Feldwache Nummer dreizehn. Die beiden Soldaten standen nach ihrer Vorschrift, mit Gewehr über, Gesicht nach dem Feinde, neben dem General. Der Feldwachkommandeur kam und meldete. Seine Antworten auf die Fragen des Höchstkommandierenden waren sicher und klar. Es war ein Vergnügen ihm zuzuhören.

Der Oberbefehlshaber, der in seine Karte gesehen, bat um Aufklärung, wo L'arbre, wie ein einzelner Punkt in der vorliegenden Ebene genannt war, zu finden sei. Der Leutnant führte uns zum nächsten, südlich stehenden Doppelposten. Von hier aus sahen wir mitten in der Sandfläche auf einem Hügelchen einen einzeln stehenden großen Baum. Er sprang, ohne daß wir die Krimstecher zu gebrauchen gezwungen waren, ganz deutlich uns in die Augen. Eine halbe Stunde nur mochte er von uns entfernt sein. Der General erklärte uns erst jetzt, daß er diesen Baum habe sich selbst ansehen wollen. Wir alle suchten eifrig auf der Karte und fanden bald den Punkt: L'arbre genannt. Berichte über ihn, sprach der General weiter, seien ihm bisher in keiner Meldung zugegangen. Er schloß, sich zu mir wendend: »Wollen Sie, in Begleitung des Zuges sich sofort dorthin begeben, eine kleine Zeichnung aufnehmen und mir mündliche Meldung namentlich darüber geben, wie sich von dem Punkt aus die Umgebung zeigt, was überhaupt von dort aus, und wie es gesehen wird. Ist der Erdhügel stark besetzt, so werden Sie sich in kein Gefecht einlassen.«

»Zu Befehl, Excellenz.«

Der General und die Offiziere seines Stabes empfahlen sich. Ich erkundigte mich beim Feldwachtkommandeur, ob Horchkommandos, größere und Schleich-Patrouillen zur Stunde im Vorlande wären, prägte mir und den Ulanen noch einmal Losung und Feldgeschrei ein und setzte mich dann mit Kjerkewanden in Anmarsch. Das ausgedehnte Land schien leer wie eine Sandwüste. Doch fanden wir nördlich eine geringe Mulde, in der wir, ungesehen vom Baume aus, vorrücken konnten. Das kostete uns ein Viertelstündchen mehr Zeit; aber wir hatten eben dadurch den Vorteil, bis hart ans Ziel, unbeobachtet von dort, vordringen zu können.

Ich hatte dasselbe Gefühl, das ich immer gehabt habe, wenn ich der letzten Postenlinie entrückt bin, bei Ausführung von größeren Patrouillen und Aufstellung von Horchkommandos. Ich möchte sagen: Es kam mir dann jedes Mal vor, als sei ich auf einem ganz fremden Stern, auf dem es so einsam war, daß selbst keine Tiere dort lebten. Ja, ich bildete mir ein, daß sogar Vögel und Insekten fehlten. Und in der That, die Öde dieser menschenverlassenen Strecken, die zwischen den beiderseitigen Vorposten liegen, hat etwas Geheimnisvolles. Wie beim Jagen, wie denn auch beim jedesmaligen Ausgang eines frischen Menschenkindes durch die Natur, so namentlich bei diesen Ausforschungen im Vorlande nach dem Verlassen der Doppelposten der Feldwachen heißt es: Augen auf! Jedes Gesträuch, jeder Stein, jede kleinste Erhebung oder Senkung ist uns unbekannt wie auf dem Uranus: wer, was kann dahinter stecken und sich verstecken? Ein Schuß, aus großer Entfernung selbst, kann uns in jeder Minute vom Sattel in den Sand Rad schlagen lassen. Alle Befehle werden flüsternd gegeben: Winke mit dem Säbel, mit dem Kopfe, mit den Händen statt lauter Worte. Minutenlanges, ja stundenlanges Kleben hinter einem Erdhaufen wie lauernde Panther. Ich kenne kaum im Leben etwas, das mehr die Seele in höchste Spannung setzt.

Graf Kjerkewanden und ich trabten dem Zuge, der wegen der Enge der Mulde oft zu Einem abbrechen mußte, voraus. Ich hatte den jungen Czapkaträger gebeten, er möge, wenn es uns gelänge, unbemerkt an den Hügel zu kommen, rasch dort aufmarschieren lassen und im Angriff auf Hügel und Baum lossprengen. Man könne nicht wissen . . .

Und wir kamen wirklich unbehelligt so nahe heran, daß, nachdem wie der Blitz der Zug aufmarschiert war, der Graf kommandieren konnte: »Zur Attacke Lanzen gefällt! Marsch, marsch! Hurra!« Und vor den langen, eingelegten Kitzelstöcken rasten Kjerkewanden und ich mit geschwungenen Säbeln auf den Baum los. Kein Mensch zeigte sich, keine Kugel zischte uns um die Ohren. Nur ein Fuchs sprang auf. Das erste lebende Geschöpf, das wir erblickten. Er verschwand im Hügel vor uns, wie das aufgescheuchte Reh, das einst der gute »Pfalzgraf am Rhein«, Herr Siegfried (aus Genoveva, dem Trauerspiele der Verleumdung. Hätte Shakespeare den Stoff gekannt!) aufgespürt und verfolgt hatte, und Genoveva mit ihrem Schmerzensreich stand vor uns. Zwar war sie es nicht, und auch der gehetzte Fuchs legte seine Glieder nicht an sie an; wohl aber streckte uns ein junges Mädchen die Arme flehend entgegen: ein todängstliches Kind schmiegte sich an sie; sie wollte es vor uns beschützen. Hinter diesen beiden humpelte ein wohl hundertjähriger Greis am Stocke. Er kicherte freundlich-blödsinnig vor sich hin, wackelte fortwährend mit dem Haupte und schien, wie eine kauende Kuh, Brot zwischen den zahnlosen Kiefern zu zerreiben.

Die Ulanen nahmen die Lanzen auf die Lende.

Die drei Menschen waren aus einem Häuschen getreten, das wir nun erst entdeckten. Es lag wie eine Höhle im Erdhügel. Und auf diesem Hügel stand in riesiger Größe: L'arbre, eine Esche mit prächtigem Gezweige. Unter ihrem Schatten nicht allein, auch unter ihren Wurzeln wohnten die drei. Wir erfuhren bald, nachdem wir uns überzeugt hatten von jeder Abwesenheit des Feindes hier, daß Monsieur Regnier mit Enkelkind und Urenkel diesen Platz sein Eigen nenne.

Trotzdem wir weitesten Blick hatten, wie vom Decke eines Schiffes auf offener See, ließ Graf Kjerkewanden die vorgeschriebenen Sicherungen nicht außer acht. Ich selbst machte mich sofort an die Zeichnung und richtete vor allem meine Aufmerksamkeit darauf, was es von diesem an und für sich durch seine Winzigkeit unwichtigen Punkte aus im Umlande zu sehen gäbe. Ich schrieb mir Schlagworte zu diesem Zweck in mein Notizbuch, verglich nach der Karte die Umgebung und fand alles übereinstimmend. Die Ebene, die an den Rändern mit Dörfern, Gütern, Höfen, Weilern, einzelnen Gebäuden übersäet schien, hatte um den Hügel die ungefähre Ausdehnung eines Geviertkilometers. Diese Wüste war flach wie ein Pfannkuchen. Vor dem eingegrabenen Häuschen lag ein bunter Wiesenfleck, eine Oase, die den Garten ersetzte. Taubnessel, hellgelbe Syrupsblumen, rote Futterwicken, Baldrian, Gundermann, Klappertopf, Kamillen, Männertreu wucherten durcheinander. Bin ich denn damals ein Pflanzen suchender und Pflanzen bestimmender Apotheker gewesen? Ich denke, nein. Und doch sind alle die Blumen und Kräuter in meinem Gedächtnisse haften geblieben. Es mag wie ein Traum gewesen sein, daß ich, und wärs eine Zehntelsekunde nur geschehen, das Friedensbild in mich aufgesogen.

Als ich mit meiner Zeichnung und mit der Eintragung meiner Festsetzungen fertig geworden war, sah ich wie zufällig in die Höhe der majestätischen Esche. Über ihr im wolkenlosen Blau zog ein Geierflug. Er mochte Witterung haben . . . Die acht Kirchtürme, die von unsrer Sandburg erschaubar, gleißten im Abendsonnenschein. Nahm ich mich in diesem Augenblicke als eine gemütliche dicke Kreuzspinne an, die mitten in ihrem Netze aufpaßt, so hätten meine Fäden den nächsten Anhalt gehabt im Süden an einer Wagenfabrik, im Norden an einem Schlößchen.

Als ich meinen Handriß in die Satteltasche geschoben hatte, sah ich mich nach meinen Ulanen um, um den Befehl zum Rückritt zu geben. Ein malerischer Anblick überraschte mich: Unter einem Goldregenbusch, der trotz des Julitages, den wir heut durchlebten, noch in voller Blüte stand, unter diesem, dem einzigen Gesträuch bei dem Riesenbaume, hielt der Leutnant. Er bog sich lächelnd zu dem ihm seitwärts, etwas erhöht stehenden Mädchen hinunter und hielt ihre auf den Sattelknopf gelegten Hände mit den seinen gefangen. Auch sie lächelte zu ihm hinauf. Es war wie im tiefsten Frieden. Leider mußte ich die kleine Liebesscene unterbrechen: »Wenn es Ihnen recht ist, lieber Graf, so wollen wir aufbrechen.«

Als wir unterwegs waren, mußte ich von dem jungen Offizier eine kleine Bosheit, wohl aus leichtem Ärger über meine Störung, einheimsen: ob nicht unser rasender Anritt mit den gefällten Lanzen auf Baum und Hügel ein ganz klein wenig Ähnlichkeit gehabt habe mit jenem Ansturm auf die Mühlen, wie ihn ein berühmter spanischer Romau erzähle.

Noch vor Dunkelheit erreichten wir die Doppelposten. Bald sprang ich von meiner Stute Gemma, die von meinem Burschen selbstverständlich Emma genannt wurde, und brachte dem Oberbefehlshaber Meldung und Handriß. Als ich mich zurückziehen zu dürfen bat, unterließ ich nicht zu sagen: »Erlauben Euere Excellenz eine gehorsame Bemerkung, so wäre es die, daß ich den Baum morgen als den besten Standpunkt wählen würde, von wo aus die Schlacht zu leiten wäre.« »So wäre es die, daß auch alte Excellenzen schon diesen Gedanken gehabt haben,« antwortete der General, mich leise verspöttelnd. Aber sein gutmütiges, liebenswürdiges Lächeln brachte schnell eine starke Röte zurück, die meine Wangen wegen meiner ein wenig fürwitzigen Worte überströmen wollte.

Bald kam die Nacht, und mit ihr zog der Vollmond über den lichten Himmel. Aber es war keine Nacht. Abend und Morgen, nur durch kurze Sommerstunden von einem keuschen Dämmerungsschleier geschützt, küßten sich die rosigen Lippen.

Zu drei Uhr morgens hatte der Oberbefehlshaber den An- und Aufmarsch befohlen. Um einen kurzen Schlummer zu thun, hatte sich der hohe Offizier in den breit ausladenden Bauernsessel gelehnt. Indessen verlas der Chef des Stabes die Schlachtordnung für den folgenden Tag und ließ sie von etwa hundert herbeigeeilten Adjutanten durch ihre Bleistifte festhalten. Alle schrieben eifrig. Laternen, Windlichter und schnell hergerichtete Fackeln überhellten den dichtgedrängten Kreis der Scheunendiele. Der Oberst las langsam, jedes Wort messerscharf springen lassend, ohne Tonfall: und jedes Häkchen paßte in seinen Haken, und alles ging seinen Gang wie ein tadelloses Uhrwerk. Oft allerdings wurde der Vorsagende unterbrochen durch meldende Offiziere und Ordonnanzen, die den Eingang zur Scheune wie in einem Bienenkorbe, herein, hinaus, sich vorbeischiebend (ich möchte sagen, die Flügel schließend, die Flügel entfaltend), drängend, ausfüllten. Trat einer heran, dann hielt der Oberst inne, las den überreichten Zettel oder hörte die mündliche Meldung, um gleich wieder, ohne das nächstfolgende Wort in seinem Diktat verloren zu haben, in seinem Vortrag fortzufahren. Einmal befahl er mir, den General zu wecken, um eine Entscheidung einzuholen, die nicht in seinem Dienstkreis lag. Der Höchstkommandierende hatte angeordnet, ihn unter allen Umständen wach zu machen, wenn ein Ereignis von Belang eingetreten, ein Wichtiges vorgefallen sei. Ich trat sehr behutsam und sachte ein. Da ich ihn wecken mußte, hätte ich nur gleich besser mit Geräusch die Thür aufklinken sollen. Aber so sind wir Menschen oft. Und sogar auf Zehen schlich ich mich hin. Von der Lampe schwach beschienen, stützte er die Stirn in die Linke; der Ellenbogen ruhte auf der Stuhllehne. Er schlief. Ich wagte kaum, ihn zu rütteln. Aber Rücksichten galten jetzt nicht. So tickte ich vorsichtig mit dem Zeigefinger an seine Schulter: »Excellenz haben befohlen« . . . Er stand auf der Stelle vor mir, sagte mit seinem lieben Lächeln: »Nun was giebts?« und antwortete sofort und bestimmt und ohne zu zögern.

Um drei Uhr setzten wir uns zu Pferde. Ich ritt wieder meine kleine hannoversche Stute Gemma-Emma. Sie war eine tüchtige Springerin, hatte flotte Gänge und konnte, das wußte ich, viel Ausdauer zeigen.

Als der Chef des Stabes den Fuß in den Bügel stellte, riß dieser. Nie werde ich die kalten, höhnischen, wohlgesetzten, langsam gesprochnen Drohworte vergessen, die er seinem blaß gewordnen Reitknechte sagte. Tausend noch einmal: ein paar feste Scheltausdrücke, ein Ohrenzupfen, und der gutmütige Bauernjunge, der sonst so stramm stets auf seine »Sachen« paßt, wäre genug bestraft; und es wäre nicht wieder vorgekommen. Dem General, der die Szene hatte anhören müssen, war es augenscheinlich peinlich; er trieb seinen Braunen an.

Und wir bewegten uns in den Tanz hinein. Bis zur Unausstehlichkeit kamen mir in dieser Minute die Kommandos aus dem Kontre in den Sinn, und ich wiederholte fortwährend bei mir:

En avant deux,

Chaîne des cavaliers,

Balancez,

Demi-chaîne anglaise,

Traversez,

Chassez croisez,

Toutes les dames traversez le cavalier au milieu,

Retraversez,

Balancez, en ligne à quatre,

Demi-ronde à gauche . . .

Unerträglich. Endlich befreite mich der dicke Husarenmajor. Fröhlich, lustig wie immer, kalauerte, witzelte er, kitzelte seinen Gaul hinter die Ohren, erzählte mir, daß er diese Nacht eine Stunde »brillant« geschlafen habe auf zwei Koffern des Herrn Corpsauditeurs. Dann bot er mir eine dunkle Flasche an, die er seiner Satteltasche entnommen hatte. »Ich setzt ihn an,« aber ich kriegte keinen Tropfen zu fassen. Sie war leer. Der Major, der solche Scherze liebte, lachte und schlug sich vor Vergnügen den Schenkel. Was half da böse Miene machen. Und gleich darauf, das kannten wir alle, entwickelte der frohsinnige Husar ein andres Fläschchen, das den besten Nordhäuser enthielt. Strafe muß sein, und ich nahm einen langen, tüchtigen, gewaltigen Schluck, »daß Euch die Thränen aus den Fingerspitzen sickern,« wie mein alter, prächtiger Sergeant Cziczan zu wettern pflegte, wenn er uns »Griffe« üben ließ.

Der Oberbefehlshaber hatte am Schlusse seiner Schlachtordnung bestimmt: Meldungen treffen mich, wenn Umstände nicht andern Standort erheischen, bis 7 Uhr früh auf Feldwache Nummer 13.

Dorthin trabten wir los.

Wir hielten da, wo wir von dem Doppelposten aus L'arbre zuerst gesehen hatten.

Und alles war im Anmarsch.

Selbst als sich die Feldwachen hatten aufnehmen lassen, blieben wir, wie der General befohlen, noch an der genannten Stelle. Der Tanz begann: En avant deux.

Einzelne Schüsse fallen Tag und Nacht, wenn sich zwei große Armeen dicht gegenüber stehen und sich Guten Morgen sagen wollen, von Patrouillen, einsamen Posten. Bald ballerts hier, bald ballerts dort: oft aus weiter Entfernung.

Die Zeit zeigte 5 Uhr 37 Minuten früh, als das erste scharfe Geknatter hörbar wurde. Im Umsehen war es heftiger. Geschützschläge prasselten schon dazwischen. Wir saßen alle, mit vorgehaltnen Krimstechern, mit Halblinks in den Sätteln und schauten nach Südwesten, wo die Fabrik sich in weißen Dampf hüllte. Wir sahen auch jene dicken, graugelben, langsam aufsteigenden, langsam sich verziehenden Wölkchen, die von den einschlagenden Granaten, wenn sie den Sand aufgewühlt hatten, herrührten. Ich setzte mein Glas ab und prüfte noch einmal mit Augen und Hand Bügel, Gurten und Riemenzeug: wußte ich doch, daß ich mich bald zum Reiten fertig halten mußte. Auch flüsterte ich meiner Stute zu: »Alte, aufgepaßt jetzt! Nimm Dich zusammen!«

In des Generals Gesicht ging eine leise Veränderung vor, der freundliche Zug um den Mund verlor sich; die Lippen schlossen sich mehr und mehr. Seine Hand glitt dreimal, viermal, gegen seine Gewohnheit, schnell über die Mähne. Er riß seinen Braunen ziemlich unsanft empor, als dieser sich an dem vorgestreckten, rechten Vorderbein mit den Zähnen rieb. Der Oberst hielt regungslos: er rechnete. »Passen sie auf, jetzt zieht er gleich seinen Taschenzirkel heraus. Die Logarithmentafeln werden folgen,« zischelte mir der Major ins Ohr. Hinter uns wartete Graf Kjerkewanden mit seinen Ulanen.

Das Gefecht schien an der Nagelfabrik zum Stehen gekommen. Augenscheinlich war sie stark besetzt. Immer bissiger und lauter kämpften dort zwei Doggen.

Der Oberbefehlshaber rief mich: »Reiten Sie zur Fabrik und bringen mir, ich bitte volle Gangart, Bericht.«

»Sehr wohl, Excellenz.«

Während ich wegritt, hörte ich plötzlich auch lebhaftes Gewehrfeuer im Nordwesten, am Schlößchen.

Ich that einen langgezogenen, grellen Pfiff. Meine Stute kannte ihn: und während ich mich ein wenig vorbog, griff sie aus, daß in immer kürzeren Pausen der Huf die Erde berührte. O Reiterluft. O Männertag.

Grad war von uns die Fabrik genommen, als ich eintraf. Ich fragte nach dem Kommandierenden. Ein hagerer General wurde mir gewiesen. Ich auf ihn zu. Er trug im linken Auge das Einglas. Die Wange, hierdurch etwas verschoben, gab dem Gesicht etwas Lächelndes. Aber, o Wetter! wie sollte ich mich irren. Er »fuhrwerkte« umher wie nichts Gutes: gab mir aber doch, als ich den Befehl des Oberbefehlshabers vorbrachte, eine ruhige Antwort. Noch während seiner Auseinandersetzung griff der Feind mit verstärkten Massen wieder an. Der General und ich sahen uns mitten im Getümmel. Und wies kam; ja, Gott weiß, wie so etwas sich ereignet im Gewühle einer großen Schlacht: der General und ich befanden uns mit den verteidigenden Bataillonen im großen, hohen Hauptgebäude. Ich hatte mein Pferd mit hereinziehen können. Wir waren gänzlich umzingelt. Niemals werde ich den Höllenlärm, das furchtbare Getöse vergessen. Die feindlichen Granaten schlugen, über die Köpfe der Stürmenden weg, unaufhörlich, unabgebrochen in die Fabrik. Zuweilen platzen sie auf den viele Zentner schweren Ambossen: welch ein Rumor! Das Geschützfeuer verstummte plötzlich. Die Franzosen setzten zur letzten Anstrengung an. Aus den verrammelten Thüren, aus den Fenstern, aus den rasch gebrochnen Schießscharten, aus dem durchlöcherten Dache sandte unsre Infanterie das rasendste Schnellfeuer. Da, im letzten, verhängnisvollsten Augenblick kam uns Hilfe. Wir konnten wieder aus der Fabrik hinaus. Der Feind wurde abermals geworfen. Meine Stute und ich waren nicht vom kleinsten Granatsplitter belästigt worden. Nun konnte ich wieder zum Oberbefehlshaber zurück mit meiner frohen Botschaft. Aber noch saß ich im Knäuel. Es kostete mir Mühe, mein Pferd durch die Vorwärtsdringenden zu zwingen. Ich sah, wie der General, dem der Gaul gefallen war, nach seiner Brust griff und sank. Er ließ auch in dieser schmerzlichen Minute den Kneifer nicht abschnellen. Ein junger, blonder Adjutant kam mit wehendem Backenbart von irgend woher herangeflogen; er suchte, suchte . . . will sein Pferd anhalten . . . da läßt er den Zügel fahren, wirft beide Arme hoch in die Luft, schwankt zweimal hin und her wie ein allmählich frei werdender Ballon und stürzt dann jählings zur Erde. Aber ich habe jetzt wahrlich keine Zeit, Beobachtungen zu machen. Über tausend Hindernisse muß ich weg, über Rohre und Räder, Eisen und Axen, Helme und Hufe, Tornister und Nüstern. Einmal bin ich wie verfitzt in einem Schießbedarfswagenzug. Ich fluche und schelte wie ein Bürstenbinder, um wieder Luft zu kriegen. »Welcher Hundsfott schreit denn da so,« hör ich eine grobe, tiefe Stimme. Aber schon hab ich mich gelöst aus dem Tohuwabohu und jage auf den Höchstkommandierenden zu, auf der letzten Strecke die Zügel in jene mahlende, kochtopfrührende Bewegung setzend wie beim Wettrennen.

Ich machte meine Meldung und bestieg dann mein zweites Pferd. Die Gemma-Emma dampfte wie in einem Schwitzbade . . .

Und abermals richtete sich unsre ganze Aufmerksamkeit auf die Nagelfabrik, die wieder umstritten wurde. Fort und fort warf der Feind frische Truppen dorthin. Der Oberbefehlshaber sandte einen Adjutanten an die in Reserve stehende 192. Infanterie-Division, daß sie unverzüglich dahin abrücke, um endlich Luft zu schaffen.

Auch am Schlößchen schien kein Fuß breit gewonnen zu sein. Der Feind hielt es zähe in seinen Fingern. Der General sandte mich zur Berichterstattung hin, mir die Weisung gebend, nach dem »Baume« den Rückweg zu nehmen, wohin er sich jetzt begeben wolle. Mehr und mehr hatte es den Anschein, als wenn Freund und Feind, wie durch eine übernatürliche Kraft gezwungen, diesen Baum als Richtungspunkt betrachteten. Namentlich zogen, wenn auch noch in meilenweiter Entfernung, große Reitermassen, hüben und drüben, drauf zu.

Am Schlößchen ging es bunt her. Wie zwei aufeinandergegangne wütende Messerhelden rangen die beiden Gegner. Ein kleiner General mit goldner Brille und ganz kurz geschornen schneeweißen Haaren führte hier und suchte den Feind auf alle mögliche Weise zu verdrängen. Als ich ihn traf, riß sein Pferd mit hochgestrecktem Hals an einem Buchenzweig. In stark ausgeprägtem thüringischen Dialekt zog er den Zügel nervös zurück mit den Worten: »Ei, tu Luther.« Mich sprudelte er heftig an, als ich ihm meinen Auftrag kundgab: Er sende alle halbe Stunde über den Weitergang des Gefechtes Bericht an Seine Excellenz. Und als wenn er plötzlich höchst ärgerlich geworden sei, rief er: »Ei, da wolln mer doch ämal de Luthersch an'n Kopp nähm'.« Damit sprengte er auf einen Fahnenträger zu, entriß ihm das heilige Zeichen und schwenkte es hoch hin und her. Alle Trommeln und Hörner ließ er zum Angriff schlagen und blasen und ging so zum letzten Sturm über. Ich blieb an seiner Seite, um Gewißheit über den Ausgang zu erlangen. Kein Blei traf uns oder unsre Pferde. Und umflattert von der Fahne, die der tollkühne kleine General noch immer im steten Vorwärts über seinem Haupte hin und her schwang, ritt ich in den Höllenrachen hinein.

Da machte es sich, daß ich mit meiner alten Kompagnie zusammenstieß. Sie empfing mich mit einem donnernden Hurra. Ein Sergeant sprang an mich heran und gab mir Kunde (während ich mich zu ihm hinunter bog, und er atemlos die Stirn zu mir hob), daß der Oberleutnant, der Führer, eben gefallen sei. Ich zog meinen Säbel. Und da ich doch erst den Ausgang abwarten mußte über unsre Lage, so war es gleichgiltig, ob ich im allgemeinen Treiben mitschwamm oder meine mir bekannten Leute zum Siege führte. Der Oberbefehlshaber würde mir Recht geben, wenn ich ihm später die Sachlage aufklärte.

Bei solchem »letzten« Sturm, bei solcher »letzten« Zusammenraffung aller seelischen und körperlichen Kräfte, scheint jeder taktische Verband gelöst. In allen deutschen Soldaten, ob sie Vorgesetzte sind, ob nicht, ist nur der eine Wille, der eine Gedanke: der Feind muß unter die Füße.

Und alles ist durcheinander. Mit meiner Kompagnie haben sich Mannschaften fremder Truppenteile gemengt. Wie sie dahingekommen, sie wissens nicht. Neben mir rechts stürmt ein junger Offizier mit einem Knabengesicht, den ich nie vorher gesehen habe; er ist von einem andern Regiment. Seine Augen glühen, sind aufgerissen. Er stößt, weit vorgebeugt, fortwährend mit dem Säbel nach vorn; seine Linke zeigt gleichfalls, der Zeigefinger, mit unaufhörlichen Stößen vorwärts. So zieht er wie ein Racheengel in den Schlund. Links, mit gleichem Taktschlag, nicht schneller, nicht langsamer werdend, hat sich mir mein Tambour Franke zugesellt. Zuweilen sieht er mir ins Gesicht. Sonst kümmert er sich um nichts, er trommelt, trommelt, trommelt ohne Ende, ohne stärker, schwächer, langsamer, schneller zu werden . . . Vorwärts! Nur vorwärts! . . . Ein einziges, brüllendes, wie die ganze Erde umfassendes Hurrageschrei ist der Schluß. Wir sind am Ziel. Wo? Ich ahn es nicht. An einer Gartenmauer, im Park, auf Rosenbeeten, in Gebüschen, an einem Lusthäuschen . . . Mann gegen Mann . . . Degen und Flinte und Kolben und Revolver, Fäuste und Zähne, Fleisch in Fleisch . . .

Auf einem Teiche, den wir umlaufen, durchwaten, durchschwimmen, rudert, dessen entsinne ich mich genau, ein geängsteter Schwan mit geblähten Flügeln. Ein Musketier greift nach ihm im Sinken als Stütze. Er schlägt mit den eisernen Fittichen; das weiße Gefieder ist schon rot gefleckt . . . Durch! Vorwärts! . . . Wir sind auf der andern Seite des Gartens . . . Neben mir, auf einer Anhöhe, arbeitet sich eine Batterie hinauf. Einzelne Pferde fallen, verschlingen sich im Sturz mit andern. Die Mannschaften helfen den Rädern nach, greifen in die Speichen, reißen das Geschütz von den Protzen, wenden, schieben, drängen . . . Es gelingt! In diesem Augenblick schießt der Hauptmann Purzelbaum vom Pferde. Sofort schreit der älteste Leutnant: »Die Batterie hört auf mein Kom . . .« – »mando« mußte er verschlucken, denn ihn verschluckte der Tod . . . Die Blutarbeit ist geschehen. Die Franzosen ziehen sich zurück. Ich muß zu meiner Excellenz. Neben dem brennenden Schlosse treff ich den kleinen General mit der goldnen Brille und den kurzgeschornen schneeweißen Haaren. Er schreit mir zu: »De Luthersch haben mer . . .«

Ich ritt auf den Baum zu, um dem Oberbefehlshaber zu melden. Dort auch fand ich ihn.

Das ganze Gefolge hielt im Schatten unter dem riesengroßen Eschenbaum. Das Höhlenhäuschen, das Wiesenstückchen mit den mancherlei Kräutern und Blumen, der ganze kleine Fleck Erde lag so frisch, so unberührt, so friedlich. Kein Huf, keine Sohle hatte ihn heute noch betreten. Der General, als ich ankam, sprach gütig und freundlich mit dem Mädchen, das wieder wie gestern das Kindchen an der Hand führte. Sie schielte aber, während sie den Worten des Oberbefehlshabers scheinbar Gehör schenkte, nach dem Grafen mit seinem goldblitzenden Kragen hin. Auch der Hundertjährige humpelte, wie gestern, seelenvergnügt mit fröhlich-blödsinnigem Lächeln, die zahnlosen Kiefer reibend, als kaue er Brot, zwischen uns umher.

Seit Beginn des Gefechtes hatten sich aller Augen auf den Baum gerichtet. Dahin schien alles zuströmen zu wollen. In Einzelraufereien aufgelöst, fochten die Truppenkörper in größeren oder kleineren Verbänden ihren Schlachttag für sich durch.

Nur die feindliche Reiterei, die sich schon seit Stunden drohend gezeigt hatte, drängte jetzt näher heran. Jedenfalls wollte sie ihrem an allen Punkten geworfnen Fußvolk beizustehen sich anschicken. Der scharfe Blick des Höchstkommandierenden hatte längst erkannt, daß ein Durchbruchsversuch gemacht werden sollte. Er hatte deshalb vier Kavallerie-Brigaden zusammenziehen lassen. Diese mächtige Masse rückte nun heran, und nach aller Wahrscheinlichkeit mußte am »Baum,« auf der weiten Ebene um diesen der Entscheidungsschlag des Tages geschehen.

Von allen Seiten flogen Adjutanten und Ordonnanzen zu uns, auf deren freudestrahlenden Gesichtern schon von weitem zu lesen war, daß der Feind überall den Rücken zeige.

Nur einmal noch versuchte er es, mit seinen Reiterwolken den Sieg an seine Fahnen zu fesseln.

Es war fünf Uhr nachmittags, als mir der Husarenmajor zuflüsterte: »Wollen Sie gefälligst in den Himmel schauen. Da haben sich Vater Abraham, Moses und die Propheten, der heilige Antonius, Petrus und die Apostel, Sem, Ham, und Japhet und die Erzengel auf den vordersten Plätzen postiert, um einem der größten Reitersträuße, die jemals ausgefochten wurden, zuzusehen.«

»Aber, Herr Major,« erwiderte ich, »Ihre Phantasie . . .«

Er fiel mir lachend in die Rede: »Übrigens, daß wir hier so sorglos halten. In nicht zehn Minuten sind wir mitten drin. Und ich glaube fast, die Franzosen sind uns näher. Nun, der General muß es wissen.«

Wir sahen, wie sich von den feindlichen Mähnen rechts und links, gleich kleinen Zügen aus einem unermeßlich zahlreichen Vogelschwarm, der sich grad auf uns zu bewegte, Abteilungen lösten, um sich auf unsre Infanterie zu werfen, die sich aus der Fabrik und aus dem Schlößchen endlich vorwärts entwickelte.

Immer näher rückten sich die beiden sich beständig schwach verschiebenden Linien. Ein grandiosererIch muß das Fremdwort hier zu meinem Bedauern behalten; »großartig« deckt den Begriff nicht ganz. Anblick ist mir nie geworden. Jedes Künstlerherz hätte aufschreien müssen vor Entzücken:

Hinter den beiden gewaltigen Geschwadern hob sich und zog mit eine große graugelbe Staubwolke. Ein wenig bog sie sich, wie ein nach vorn stehender Helmbusch, muschelartig, über die Centauren. Sie diente all dem blitzenden, glitzernden, funkelnden, flüssigen, fließenden Gold und Silber, Eisen und Stahl, den roten, weißen, blauen, gelben, allen möglichen Farben, die sie vor sich herschob im blendenden Sonnenlicht, als Hintergrund, als eintönige Wand.

Während von den französischen Schwadronen her die lustigsten Märsche unser Ohr deutlicher und deutlicher trafen, klangen von unsrer Kavallerie nur Signale zu uns, jene Signale, die eine Welt von Poesie in sich bergen.

Zu verstecken war auf beiden Seiten nichts mehr; heranziehen, ohne erkannt zu werden, ließ die große, ebene Fläche für solche Massen nicht zu. Deshalb tönten überall Musik, Signale, laute Kommandos.

Und immer näher rückten die Geschwader auf einander los. Während in der Entfernung Halbrechts- und Halblinks-Wendungen und die Schwenkungen wie Blitze uns ins Auge schossen, konnten wir jetzt schon die Wendungen und Schwenkungen, als Roß und Reiter, deutlich erkennen.

Und immer näher rückten sich die Geschwader. Verworrenes Wiehern, Schnauben, Klirren, Prusten ging über in Einzeltöne. Mann und Tiere traten geformter heraus aus dem Ganzen. Just, während ich erstarrt saß vor Freude über die Pracht, die sich mir bot, fielen mir, wie war denn das denkbar in dieser Minute, Hiobs wundervolle Verse ein.

Das Roß stampfet auf den Boden, und ist freudig mit Kraft, und zieht aus den Geharnischten entgegen.
Es spottet der Furcht, und erschrickt nicht, und fliehet vor dem Schwert nicht.
Wenn gleich wieder dasselbe klinget der Köcher, und glänzen beide Spieß und Lanze.
Es zittert und tobet, und scharret in die Erde, und achtet nicht der Trompete Hall.
Wenn die Trompete hell klinget, spricht es: Hui! und riecht den Streit von ferne, das Schreien der Fürsten und Jauchzen.

Nun sind sie sich ganz nahe. Und zwanzig Tausend frische, blühende, kraftvolle Männer setzen sich zum wütenden Anprall noch einmal wurzelzäh in den Sattel.

Trr–a–a–b.

Galopp!

Und dann die Fanfare!

Der General und wir hatten während dieser kurzen Zeit völlig ruhig unter der Esche gehalten. Da ruft der Oberbefehlshaber: »Ziehen, meine Herren!« Und die Pallasche, die Degen, die Säbel flogen, wie befreite, mord- und luftlustige Falken, aus den Scheiden.

Die Franzosen näherten sich eher dem Hügel, dem Baume als die Unsrigen.

Unverzüglich stürzte sich mit seinen paar Ulanen Graf Kjerkewanden in die tausendfache Überzahl . . .

Aus dem Teifun, im Mittelpunkt des Teifuns, des Erde und Luft vermischenden Wirbels, worin ich mich befand, wo jeder für sich kämpft, weiß ich mich kaum einer Einzelheit zu entsinnen. Ich war im letzten Augenblick an den General herangesprengt, um ihm nahe zu sein, ihn zu schützen nach Kräften . . .

Die wilde, fliegende, zerzauste, nach beiden Halsseiten übervolle, hellgelbe Mähne eines dunkelfuchsigen Berberhengstes, der mit den Vorderhufen den Kopf des Pferdes meines Generals schlägt . . . Das Gewoge der Schwerter . . . Silberne Blinkeräxte aus einem schwarzen, unruhigen, kurzwelligen Blutsee tauchend . . . Kreise . . . Einmal seh ich den Chef des Stabes. Mit meisterhafter Geschicklichkeit weiß er sein Pferd auf der Stelle zu wenden, sich zu drehen. Er verteidigt sich mit dem Revolver, jedesmal erst ruhig zielend . . . Einer reißt mich nach hinten, mein Kopf, helmlos geworden, liegt auf der Kruppe meines Pferdes, dicht über meiner Stirn ein schwarzes Gesicht, große weiße Augen, heißer Atem, Schellen, kleine gelbe Flitterhalbmonde, purpurne Troddeln . . . Ein hochgehobner Arm mit dem Flammenschwerte des heiligen Michael will auf mich niedersausen; nein, er sinkt lahm. Die leere Nordhäuserflasche des im Tumult in einiger Entfernung sich hauenden Majors, der den Todeshieb auf mich hatte ausholen sehen, schoß dem wüsten Afrikaner aufs Nasenbein . . . hurra, hurra . . . Der Feind zeigt die Schwänze seiner Gäule . . .

Der General und wir, sein Stab, während die Verfolgung bis zum letzten Pust weitergeht, sammeln uns. Keiner ist ernstlich verwundet. Nur den Grafen vermissen wir. Doch fand ich nicht Zeit, nach ihm zu suchen. »Einstecken, meine Herren!« befahl der Oberbefehlshaber, und die grimmigen Falken fliegen wieder zurück in ihre Käfige.

Wir setzten uns zum Vorritt in kurzen Backäppelgalopp. Einen Blick werfe ich zurück auf Baum und Hügel. Zertreten ist alles . . .

Der Tag ist unser!

Es lebe der König!

Als ich um Mitternacht den Befehl erhielt, einen weit zurückgehenden Truppenteil heranzuholen, ritt ich quer über das große Sandfeld, wo die Reiterschlacht getobt hatte. Ich nahm meinen Weg nach dem Richtungspunkt, denn so wurde von nun an der Punkt genannt, obgleich er als solcher nur der Reiterei gedient hatte. Der Baum war in der hellen Nacht schon von fern zu erkennen. Wie stumm und tot lag das Plätzchen. Weit ins Feld hinein fiel der Schatten der großen Esche, die regungslos in der schönen Sommernacht schlief. Alles Leben hatte hier geendet. Mit den Füßen unter einem gefallnen Dragonerpferd, das die Beine in den Himmel streckte, lag das kleine vier-, fünfjährige Kind erdrückt, erschlagen, zerstampft. Die blonden Härchen umzirkelte wie ein Heiligenschein, im milden Sternenlichte glänzend, eine Blutlache. Unter dem blühenden Goldregenbusch, dessen Trauben der volle Mond durchschimmerte, streckte sich Graf Kjerkewanden. Ein Stich ins Herz hatte ihn den glücklichen, beneidenswerten Tod finden lassen, den Tod für seinen König und für sein Vaterland. Sein Haupt lag im Schoß des jungen Mädchens, das ein Schuß getötet hatte. Ehe sie die tödliche Brustwunde empfangen, oder vielleicht schon mit dem Tod im Herzen, mußte sie die Leiche des Ulanenoffiziers hierhergetragen oder -gezogen haben. Wahrscheinlich war er in unmittelbarer Nähe des Baumes, als er sich für uns ins Getümmel warf, gesunken. Und hatte er gestern auf dem Sattelknopf ihre Hände gefangen gehalten, so hielt, wenn auch im Tode, heute sie die seinen umspannt. Die braunen, asiatischen Augen des Grafen schauten, gebrochen, zu ihr auf. Ihr Hinterkopf lehnte, ein wenig nach rechts verschoben, an den Stamm . . .

Von fern herüber tönte Siegessang . . .

Und all das frische, gesunde junge Blut, das hier langsam, langsam in die Erde sickerte. Und zwischen den Erschlagnen humpelte als einzig atmender der Hundertjährige umher mit seinem freundlich-blödsinnigen Lächeln, mit den zahnlosen Kiefern die reibende, mahlende Bewegung machend.


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