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Wir belagerten die große Festung.
Ich hatte den Befehl erhalten, um Mitternacht mit drei Unteroffizieren und dreißig Mann den vor unsrer Postenlinie liegenden Hof La Grenouille anzuzünden. Bald lag der Feind, bald steckten wir darin. Es war ein ewiges Gezänk. Nun sollte dem ein Ende gemacht werden.
Um zehn Uhr abends ließ ich antreten, und war nach einer Stunde, nachdem ich die nächstliegenden Feldwachen in Kenntnis des mir gewordenen Auftrages gesetzt hatte, vor den Doppelposten.
Ja, wie soll ich sagen: So etwas, als wäre ich jetzt außerhalb der Erde, in der Luft, abseits unsers Planeten im Weltraum. Wir waren ganz allein; keine Fühlung mehr. Die Schleichpatrouillen, hatte ich die Feldwachkommandeure gebeten, nicht ins Vorland gehen zu lassen, um nicht zu Verwechslungen Veranlassung zu geben, und nun war alles so stumm um uns.
Wir hatten wachsenden Mond. Der alte Herr hatte die Liebenswürdigkeit, sich gänzlich hinter Wolken zu verbergen. Ich sandte ihm für seine Artigkeit eine Kußhand: denn es war dunkel, doch nicht in dem Maße, daß alles unverkennbar verschwamm.
Los . . . Schst . . . Katzen auf dem Raubzug . . . Kein Geklirr . . . Vorsichtig, vorsichtig, langsam schleichend, zuerst lange Zeit in einem Graben, dann längs einer Garteneinfassung, Mann hinter Mann, zuweilen »auf allen Vieren«, zuweilen blitzschnell über die Landstraße, Pst, wieder gebückt wie ein Apotheker im Moor, Halt . . . vorwärts . . . Was war das? Langer Halt. War nichts . . . wieder weiter . . . »Nach rückwärts geben, leise: Meier soll nicht so prusten« . . . Weiter . . . Pst . . . »Halt« . . . und – Langer Halt . . . Ganz leise: »Sergeant Barral!« »Hier, Herr Leutnant!« »Schreien Sie doch nicht so . . . Hansen her.« Einer drängt sich an mich . . . »Vorwärts.« Ich immer voran. Den Revolver hielt ich bereit. (Meinen Säbel, als überflüssig, hatte ich zurückgelassen.) Unmittelbar hinter mir Sergeant Barral und Gefreiter Hansen.
Weiter . . . Lautlos . . . Katzen auf dem Raubzug . . . Kein Geklirr . . . »Halt« (leise nach rückwärts gebend; einer poltert auf den andern). »Ruhig, Kerls . . .«
Vor uns tauchten, dicht vor uns, auf: das Schlößchen La Grenouille und zwei Nebengebäude; alles in einem großen Garten . . .
Ist es besetzt? . . . Halt . . . Tiefe Stille. Man hätte den Kaiser von China und seine erhabene Mutter, die Kaiserin, von Peking her niesen hören können.
Ich krieche allein vor . . . Was ist das? Eine Barrikade. Verflucht. Zurück. Im Flüsterton. »Vorwärts.« Wieder an der Barrikade. Ich fange an zu klettern. Sachte, sachte.. – Jeden Augenblick kann mir ein feindlicher Schuß in den Rippen sitzen: der Feind kanns bemerkt haben; läßt uns erst alle in die Mausefalle. Es knackt etwas: ich bin mitten auf der Barrikade mit einem Stiefel zwischen die Speichen eines Rades geklemmt. Es gelingt mir, mich zu befreien . . . Mein Kommando krabbelt nach . . . Nun sind wir alle drüber weg; wir stehen im Hofe. Der Feind ist nicht da . . . Nun aber muß alles gedankenschnell gehen. Ich nehme Barral und zehn Mann, um mich gegen den Feind, vor den Gebäuden, als Sicherheit für das Brandkommando aufzustellen . . .
Ich lauschte atemlos in die Dunkelheit hinein. Neben mir links steht Barral, rechts Hansen. Einen Augenblick tritt der Mond vor. Ich sehe Barral an, ich sehe Hansen an: Ihre Gesichter sehen fahl aus, aber gespannt. Hansen sagt leise: »Herr Leutnant, Herr Leutnant.« Was ist? »Da sind Spahis vor uns.« Unsinn, Hansen . . .
Noch kein Brandschein . . . Da blitzt es in den Forts vor uns auf, und, wie auf ein gegebnes Zeichen, fliegen hoch über uns in das weit hinter uns liegende Lager ungeheure Granaten. Sie hinterlassen einen langen feurigen Streifen. Blaues Licht scheint, bald hier, bald dort in den Kasemattenluken . . .
Da steigt eine einzelne grasgrüne Rakete, dort, eine halbe Meile davon, eine purpurrote . . . Und ist doch alles so still, so still . . .
Nun bricht hinter uns die Flamme aus . . . Unterdrücktes Schreien . . . Ein Schwein grunzt kläglich. »Hansen, gehen Sie sofort zurück: das Schwein soll lautlos erwürgt werden..« Zu Befehl, Herr Leutnant.
Knister, Knister . . .
* * *
Mein Auftrag war erfüllt. Ich hatte meine Meldungen gemacht. »Wissen Sie schon, daß Helmsdorff diese Nacht schwer verwundet ist durch einen Granatsplitter,« sagte mir der Oberst. »Nein, Herr Oberst, ich hörte nichts. Ist die Wunde tödlich?« »Wir erfuhren es nicht. Ich habe ihn außer Granatbereich nach Grand Doubs bringen lassen.« »Ich bin eng mit Helmsdorff befreundet. Erlauben mir Herr Oberst, auf einige Stunden hinüberzureiten?« »Ich bitte darum. Wollen Sie mir nach Ihrer Rückkehr Bericht über seinen Zustand geben.« »Zu Befehl, Herr Oberst.«
* * *
Um den Herd des Hauses in Grand Doubs finde ich eine alte Großmutter, die einen Schnurrbart hat und Gebete murmelt, zwei Kinder und einen finster stierenden Mann. Alle stieren in die Flamme. Es sind die Bewohner. Der Vater zeigt wortlos, den Daumen seiner rechten Hand als Richtung nach rückwärts in Bewegung setzend, auf eine Thür. Ich trete hinein. Auf einem breiten französischen Bett liegt Helmsdorff. Er schläft. Sein Gesicht ist gelbgrau. Er rührt sich nicht. Drei Ärzte stehen an seinem Bett und zwei graue Schwestern aus Deutschland. Ein Lazarettgehilfe, in beiden Händen eine große Schüssel tragend, die mit Blut (oder Weinsuppe vielleicht) bis an den Rand gefüllt ist, will grade heraustreten. Über den Arm trägt er in Purpur getauchte Handtücher. Die rote Masse (vielleicht Weinsuppe) schwappt gallertartig und nimmt immer dunklere Farben an bis zum tiefsten Schwarzblau.
Die Ärzte ziehen sich zu einer letzten Beratung zurück. Der eine von ihnen, der bisher Rock und Hemdsärmel über die Knöchel zurückgebogen hatte, glättet sie wieder nach vorn und schließt die Knöpfe. Ich bitte die Schwestern – Deutschland, küsse ihnen den Saum ihrer Gewänder; sie sind in den Kriegen deine Engel – auf einige Zeit der Ruhe zu pflegen: ich würde wachen.
Dem jungen Offizier hat der Granatsplitter das Fleisch vom rechten Oberschenkel völlig weggerissen.
Ich bin allein mit ihm.
Ich kniee an seinem Lager nieder, nehme des Schlafenden Hand in die meine, und lege meine Stirn auf sie. Meine Gedanken sind ein Gebet, eine flehentliche Bitte zu Gott: Nimm ihn noch nicht zu dir; er ist ja mein bester Freund.
Nun richt ich mich auf, lasse aber seine Hand nicht frei. Über sein Gesicht spielt es oft wie matte Irrlichter. Es huscht etwas darüber hin. Wie die Schatten eines fliegenden Vogels. Er schläft ruhig; seine Atemzüge gehen regelmäßig.
Auf dem Nachttischchen an seinem Kopfende brennt die Lampe. Sie ist mit einem Schirm bedeckt. Auf diesem, mir zugekehrt, tanzt ein Narr in der Schellenkappe; mit seiner Pritsche schlägt er auf eine kleine Handtrommel. Er hat ein widerwärtiges Gesicht.
Ich starre und starre, bewegungslos; um den Verwundeten nicht durch die leiseste Regung zu wecken, auf die Lampe. Seine Hand liegt immer noch in der meinen. Eine nicht mehr zu bewältigende Müdigkeit überkommt mich: die vielen Feldwachen, mein nächtliches Kommando, die furchtbaren Anstrengungen, das tagelange Liegen in den nassen Gräben zu steter Abwehr, die Eindrücke auf das junge Herz . . . aus den Schlachten . . . Ich kann . . . den . . . Kopf . . . . . . nicht . . . mehr . . . hoch . . . Er sinkt.
* * *
Und vor mir tanzt und springt der Narr ho und heidi. Wie ausgelassen dieser dumme Kerl ist. Wie er sein breites Maul grinsend verzerrt. Und ich tanze ihm nach; ich muß alle seine Bewegungen mitmachen.
Aber ich will nicht, und ich muß . . .
Das Scheusal hält an, steht still. Auch ich bin wie gebannt. Der Narr beugt seinen Kopf. Was will er? Einen Erde aufwerfenden Maulwurf beobachten? Eine Blume wachsen sehn? Den Eilweg eines Käfers verfolgen? . . . Er winkt mich heran. Ich folge; ich schaue mit ihm in ein tiefes, großes Grab. Und viele tausend nackte Arme, in hechtgrauer Farbe, mit ineinander gekrampften Fingern streckten sich mir entgegen. Solche Arme sah ich oft auf den Schlachtfeldern.
Und der Narr lacht und lacht und schlägt Purzelbaum wie ein Clown, und lacht, und zeigt hinunter.
Ich will ihn schlagen . . . Ich . . . kann . . . nicht . . . von . . . der . . . Stell . . . e . . . Hund, verfluchter . . . deck zu, deck zu . . .
* * *
Ich wache jählings auf; ich kann keine fünf Minuten geschlafen haben. Ich reiße den Kopf in die Höh. Die Hand meines Kameraden liegt noch in der meinen. Herr Gott, was ist das? Sie ist feucht, schleimig, nicht kalt, nicht warm . . . ein bischen letzte Wärme noch, wie der erkaltende Ofen . . . Sein Gesicht ist auf der linken Seite etwas nach oben verschoben . . . Die Augen . . . »Helmsdorff, Helmsdorff,« schrei ich, und werfe mich über ihn . . .
Die Thür öffnet sich. Die barmherzigen Schwestern erscheinen, sanft, liebevoll . . . Die eine, die ältere, beugt sich über mich . . . Ich liege wie ein Sohn in Mutterarmen: sie sagt mir so gütige, beruhigende, tröstende Worte; immer im gleichen Tonfall spricht sie. Und an ihrer Brust schluchz ich wie ein zehnjähriger Knabe . . .