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Kapitelvignette

Dorfpolitik

Die Zeiten des seelenvollen Pfarrers Michael Huser waren dahin. Der Goldrand um die Herzen und Häuser verblich nach und nach. Wohl waren in den Bauernherzen noch edle Nachwirkungen spürbar; aber sie verquickten sich mit Kirchenkämpfen. Und so zog durch einzelne Dörfer die Pest der Parteiwut.

Husers Orthodoxie hatte ihre Eigenart vom Herzen aus entfaltet. Um das Dörfchen Rothbach und sein Pfarrhaus blühte religiöse Poesie. Allmählich war die Bewegung gewachsen und kirchlich erstarkt; sie rief also den Widerstand der liberal gesinnten kirchlichen Behörde hervor. Mit inneren Gründen konnte man einer solchen Herzensüberzeugung nicht beikommen; als Sekte war sie nicht zu betrachten, denn sie stand strenger als die Landeskirche auf altlutherischem Verfassungsboden; auch gegen ihre sittlich-religiöse Wirkung war nichts einzuwenden. Statt in wahrhaft freiheitlicher Weise die Leute ihres Glaubens leben zu lassen, ging man der unbequemen und rückständigen Bewegung mit kirchlichen Verwaltungsmitteln zu Leibe, um ihren Einfluß zurückzudrängen.

Parteipolitik begann; die Poesie verflog.

Hatte ich jene erste Stimmung im schlanken, hellen Kirchlein zu Rothbach durch meine Eltern voll erlebt, so geriet ich jetzt in Schillersdorf wieder in den Mittelpunkt des neuen Zustandes: der Parteikämpfe. Und da lernte ich denn die Theologie von der andren Seite kennen; so gründlich kennen, daß ich in bezug auf Parteiworte, wie liberal und orthodox, für immer geheilt bin. Ich habe nicht bemerkt, daß der Partei-Liberalismus duldsamer sei als die Partei-Orthodoxie.

Diese Dorfgeschichten müssen im Zusammenhang erzählt werden; sie sind eine kirchengeschichtliche Merkwürdigkeit. Zugleich kennzeichnen sie meinen Vater; er hat in seinen Aufzeichnungen aktengemäß diese bitter in sein Leben eingreifenden Menschlichkeiten festgehalten.

 

Im Jahre 1882 starb der freundliche alte Pfarrer von Schillersdorf, ein harmloser Nationalist alten Schlages. Die Gemeinde hatte schon längst die Strahlenwirkung des benachbarten Rothbach empfunden und hatte so gut wie einstimmig das Bedürfnis nach einem Pfarrer der Huserschen Richtung. Da aber diese Richtung »orthodox«, die Kirchenbehörde jedoch »liberal« war: so standen sich zwei Grundsätze gegenüber. Es entspann sich also Kampf zwischen Bauern und grünem Tisch.

Der geistliche Inspektor zu Buchsweiler hatte den Vorkampf. Sein bester Helfer war der ihm gesinnungsverwandte Bürgermeister unserer Filialgemeinde Mühlhausen, eines munteren Musikantendorfes, das in seiner Mehrzahl von Huserschem Ernst nichts wissen mochte. Jener greise, hagere Inspektor, mit dem Aussehen eines volksfernen Diplomaten der alten Schule, galt in dem Empfinden unserer hanauischen Bauern als tückisch und gefährlich; ich weiß nicht, ob mit Recht oder Unrecht. Jedenfalls sah der Aufgeklärte mit Besorgnis der Ausbreitung des altlutherischen Sauerteiges in seinem geistlichen Bezirke zu. Ging das so weiter, so bekam die lutherische Richtung womöglich gar noch Stimmenmehrheit. Da mußte etwas geschehen. Es mußte unter allen Umständen ein liberaler Pfarrer nach Schillersdorf. Nicht Wunsch oder Bedürfnis der Gemeinde hatten hier zu entscheiden, sondern die Kirchenpolitik.

Und dann: war nicht das Dorf Mühlhausen mit den Schillersdörfern zusammen verpfarrt? Übermäßig gottselig konnte man diese Mühlhäuser Leutchen just nicht nennen; sie hatten übrigens auch eine Anzahl Israeliten mit einem braven Rabbi im Ort; das Wort »Mühlhäuser Musikanten« war eine landläufige Redensart und deutete schon von selber an, daß hier lebenslustige Freiheit den Ton bestimmte. Das schließt nicht aus, daß sich auch dort einige ernste Familien fanden. Jedenfalls war aber hier der Hebel anzusetzen; man mußte von der Filialgemeinde Mühlhausen aus die lutherisch gestimmte Hauptgemeinde Schillersdorf bezwingen.

Mit einer kirchlichen Diplomatie, die einem Talleyrand Ehre gemacht hätte, wurde dies ins Werk gesetzt.

Es bestand seit dem Jahre 1877 ein vom Direktorium der elsässischen Landeskirche genehmigter Beschluß des Kirchenrates der Pfarrei Schillersdorf-Mühlhausen, daß jede der beiden Gemeinden ihre Kirchenräte aus ihrer eigenen Mitte für sich allein zu wählen hätte. Diese Bauern, meist ältere, kirchlich gesinnte Leute, hatten dann in erster Reihe über die Wahl des Pfarrers zu entscheiden. Nun war in Schillersdorf ein Mitglied gestorben; ein neues war zu ernennen. Blieb jener Beschluß in Kraft, so hatten die Schillersdörfer allein zu wählen; und die Wahl eines »orthodoxen« Mitgliedes war sicher. Damit wäre auch im Kirchenrat der ganzen Gemeinde eine orthodoxe Mehrheit entstanden. Um einen liberalen Pfarrer zu erzielen, mußte also schon jetzt ein liberales Kirchenratsmitglied durchgesetzt werden. Und um dies wieder zu ermöglichen – wurde jener Beschluß einfach umgestoßen! Die Gemeinde Mühlhausen wurde zur Wahl eines Kirchenratsmitgliedes der Gemeinde Schillersdorf mit herangezogen; es gelang, eine winzige Mehrheit für ein liberales Mitglied zu erringen – und damit war die Wahl eines entsprechenden Pfarrers gesichert. Der liberale Pfarrer wurde denn auch gewählt, von dem ganzen Instanzenweg bis hinauf zum Direktorium begutachtet und ernannt; und es fehlte nur noch die Bestätigung durch die Regierung.

Jetzt setzte sich Schillersdorf zur Wehre. In einer Eingabe wandten sie sich an den Statthalter Manteuffel; der grauhaarige Charakterkopf des Feldmarschalls tauchte in unsrem Bauerndorfe auf; die Sache wurde hochpolitisch und die Bestätigung hinausgezögert. Aber nach einem einjährigen Kampfe erlagen die orthodoxen Bauern. Der ernannte Pfarrer wurde von der Regierung bestätigt und zog unter eisigem Schweigen der Gemeinde Schillersdorf in sein hohes Pfarrhaus ein.

Damit war Zwiespalt in unser vordem friedliches Dorf eingekehrt. Und mit dem Zwiespalt Gehässigkeit die Fülle!

Die hartnäckig an ihrer religiösen Überzeugung festhaltenden Bauern von Schillersdorf brachten das unglaubliche Opfer, auf eigene Kosten ein kleines Gotteshaus zu bauen und aus eigenen Mitteln einen Pfarrer zu bezahlen! Man nannte dieses Kirchlein die »Protestkirche« oder auch »Freikirche«. Groß und etwas nüchtern ragte die Landeskirche des Liberalismus auf ihrem Hügel; klein und still stand unter den Birnbäumen das innen sehr trauliche, freilich glockenlose Kirchlein der Orthodoxie, von der größeren Hälfte der Gemeinde besucht. Nicht selten erlebte man nun das erbauliche Schauspiel, daß die Gläubigen auf dem Gang zu oder von ihren Tempeln einander begegneten – und meist mit schweigendem Ingrimm aneinander vorübergingen. Bis in die Familien hinein klaffte der Riß oder die »Feindschaft«, wie man auf dem Dorf zu sagen pflegt; und die verschiedenen Parteien »lebten einander zu Leid«, so trefflich sie eben konnten.

Der Lehrer aber stand mitten drin. Mitten zwischen todfeindlichen Parteien! Sein Herz war auf seiten der Huserschen Richtung, wenn er auch mit Bedauern der Spaltung zusah; aber als Lehrer und als Organist hatte er der gesamten Gemeinde zu dienen. Wiederum aber hatte diese gewaltsame und listige Durchsetzung eines nicht gewünschten Pfarrers auch sein Gerechtigkeitsgefühl erbittert. So beschloß er denn schließlich, sich fortan auf seine Tätigkeit als Lehrer und Gemeindeschreiber zurückzuziehen, auf das Einkommen als Organist und Sakristan aber zu verzichten und keiner der beiden Parteien Kirchendienste zu leisten. Gegen diesen Standpunkt war nichts einzuwenden; kein Gesetz konnte den Schulmeister zum Orgelspielen zwingen. Der gutmütige Lehrer des liberalen Mühlhausen übernahm den Dienst in der Landeskirche; und in der Protestkirche setzte sich irgend jemand andres an das freilich nicht majestätische Harmonium, das zum einfachen Kirchlein stimmte.

Nun aber kam ein Punkt, wo mein Vater dennoch Entscheidung treffen mußte: nämlich als Familienvater. Er schloß sich mit seiner Familie den Gottesdiensten der Protestgemeinde an und hatte damit Partei genommen; doch auch hier ließ er wieder die Vorsicht walten, gleichsam nur als Gast mit den Seinen zu kommen: denn in die Liste der Mitglieder ließ er sich nicht eintragen. So glaubte er seine innere und äußere Freiheit nach allen Seiten gerettet und gerecht gehandelt zu haben.

Das lebendigere religiöse Leben war ohne Zweifel übrigens in der Freikirche; schon allein die rege Einstudierung unsrer alten Choräle, die viel beflügelter gesungen wurden als in der matten Landeskirche, gab dort mehr Schwung. Dorthin hätte die Orgel gehört, nicht das kleine Harmonium.

Die Sachlage schien also geordnet zu sein.

Aber im geheimen begann sofort die Verfolgung des bis dahin einmütig geschätzten und geliebten Lehrers, der auch jetzt noch jedem ohne Unterschied der Partei gern zu Diensten war.

Ich habe als älterer Gymnasiast diese Dorfgeschichten miterlebt; ich habe gesehen, wie sie die Gesundheit meines Vaters untergruben. Oft in der Nacht, wenn wir noch an der Arbeit saßen, zogen unten auf der Straße »liberale« Burschen aus dem Wirtshause heim und sangen Spottverse auf den »orthodoxen« Pfarrer, gedichtet von jenem Mühlhauser Bürgermeister, der zugleich Musikant war! Auch Ungezogenheiten, lässiges oder halbes Grüßen, versuchten sich anfangs gegen meinen wackren Vater einzunisten. Der war nun freilich der Mann nicht, sich dergleichen von unreifen Burschen gefallen zu lassen und stellte gelegentlich den oder jenen derart zur Rede, daß ihm sofort Manieren anflogen. Da sie zudem den Gemeindeschreiber häufig brauchten; da ferner sein Ruf als eines guten Lehrers und braven Mannes nicht zu erschüttern war, so nahmen sich denn auch alle zusammen. Nur in der Bezechtheit, wenn sie unter dem Schutze der Nacht vorbeilärmten, legten sie unter unsren Fenstern durch Singen, Brüllen oder gellende Juchzer ihren liberalen Standpunkt dar. Es war glücklicherweise nicht so häufig; und durch ein gelassenes oder humoristisches »Jetzt horch!« fanden wir uns oben, die wir um die Lampe saßen, damit ab.

Mein Vater blieb seiner religiös-philosophischen Natur getreu. Er hatte das Bedürfnis, sich mit mir und andren über diese Dinge auszusprechen, sich auf diese Weise über das Erlebte emporzuheben und die dumpfen Mißklänge in Wohlklang umzuarbeiten. Oft gingen wir unter solchen vertiefenden und klärenden Gesprächen miteinander im Garten auf und ab. Dann schob sich, in der Dämmerung, auch der Nachbar in schweren Holzschuhen langsam ans Gartengitter herüber, das Pfeifchen im Mund, und philosophierte in seiner Art mit. Er ließ es nicht an volkstümlichen, freilich harmlosen Ausfällen wider den liberalen Pfarrer fehlen – »der da oben«, sagte er nur und deutete mit dem Daumen über die Schulter; und es ist nicht zu zweifeln, daß er den geistlichen Herrn, dem Heiland zu Ehren, von Herzen gern durchgeprügelt hätte.

Dieser Pfarrer war inzwischen nicht müßig. Er reichte unmittelbar hintereinander zwei Beschwerdeschriften gegen den Lehrer ein und bat um dessen Versetzung. Der Schulinspektor kam, prüfte die Schule und erstattete günstigen Bericht an den Kreisdirektor; dieser an den Bezirkspräsidenten; der letztere hinwiederum teilte dem Kreisdirektor, der Kreisdirektor dem beschwerdeführenden Ortspfarrer »ergebenst mit, daß der Herr Bezirkspräsident sich nicht veranlaßt sehe, die Versetzung des Lehrers Lienhard in Aussicht zu nehmen, da derselbe seinen Verpflichtungen als Lehrer nachgekommen ist«.

Der erste Angriff war abgeschlagen.

Der Herr Pfarrer, eine stattliche Erscheinung mit wallendem Bart, stets im Zylinderhut, wahrte im übrigen die äußere Form und war überhaupt keine unvornehme Natur. Er vertrat eben das liberale Prinzip, wie sein Gegenpfarrer das orthodoxe, und glaubte demgemäß handeln zu müssen. Sein menschliches Verhältnis zu meinem Vater und dessen Familie klang später in Harmonie aus.

In demselben Herbst hatte der Dorfschulmeister von Schillersdorf mit dem Kreisdirektor von Zabern einen Zusammenstoß. Das anmutig gestaffelte Städtchen am Fuß der Berge, einst durch den Bauernkrieg berühmt, hat ja in neuester Zeit durch einen andren Handel europäischen Ruf erlangt. Es ist die Hauptstadt unsres Kreises; dort wohnen sowohl Landrat – im Elsaß Kreisdirektor genannt – als auch Schulinspektor. Landschaftlich ist jenes Tal der Zorn eine ungemein reizvolle Ecke, zumal von den Ruinen der Burg Hohbarr aus betrachtet, die einen wundervollen Blick über Kochersberg und Hanauerland bis hinaus zur Feste Lichtenberg gestattet.

Mein Vater erzählt diesen kleinen Strauß in seinen Aufzeichnungen. Der Vorfall ist bezeichnend für elsässische Art und preußischen Ton.

»Am 16. November 1883 erhielt ich folgenden Brief von der Kreisdirektion in Zabern: ›Sie wollen sich gefälligst am nächsten Montag, den 19. November, nachmittags 4 Uhr, zu Buchsweiler im Gemeindehause zu einer Rücksprache mit mir einfinden. Der Kreisdirektor.‹ Ich hatte an dem Tage, als der Brief eintraf, des Kirchweihfestes wegen frei; und da ich doch in Zabern zu tun hatte, so beschloß ich, bei der Kreisdirektion vorzusprechen und so den Weg nach Buchsweiler zu sparen. Ich wurde vom Herrn Kreisdirektor unfreundlich empfangen, mit dem Vorhalten, daß er mich nach Buchsweiler bestellt habe, ich also in Zabern nichts zu suchen hätte. Auf meine Begründung hin ließ er mich zunächst einmal Platz nehmen, dann ordnete er die eingelaufenen Schriftstücke, ohne sich um mich zu kümmern. Endlich nahm er die Papiere unter den Arm und ersuchte mich, mit auf sein Zimmer zu kommen. Hier hielt er mir eine Standrede über meine Pflichten als Lehrer in meiner Gemeinde (in der ich angeblich agitatorisch wirkte) und schloß mit den Worten: ›Wollen Sie, ja oder nein, Kirchendienste tun?!‹ Ich versuchte, meine Gründe vorzubringen, aber er unterbrach mich: ›Wollen Sie Kirchendienste tun, ja oder nein?!‹ – ›Nein!‹ – ›So sind wir miteinander fertig!‹ Ich erhob mich und verließ das Zimmer. Aber sofort eilte ich nach dem Bahnhof, und schon vor Mittag stand ich im Amtszimmer des Bezirkspräsidenten in Straßburg, erzählte ihm das Gespräch mit Herrn Kreisdirektor und fragte zugleich, ob das die Antwort sei auf meine Eingabe vom 29. Juni (worin meine Stellungnahme in den Kirchenstreitigkeiten begründet war). ›Nein, nein,‹ erwiderte der Herr Bezirkspräsident, ›der Herr Kreisdirektor hat seine Befugnisse überschritten, ich werde ihn zur Rede stellen. Gehen Sie ruhig nach Schillersdorf, erfüllen Sie Ihre Pflicht wie bisher, und es wird Ihnen niemand was anhaben!‹ So verbrachte ich meinen freien Tag auf der Anklage- und Verteidigungsbank und kam nicht wenig aufgeregt abends nach Hause.«

In dieser Erregung schrieb mein Vater folgenden Brief an die Kreisdirektion:

›Hochgeehrter Herr Kreisdirektor!

Ich fühle mich gedrungen, Protest zu erheben gegen die mir gestern zuteil gewordenen Anschuldigungen, laut welchen ich agitatorisch in der Gemeinde handeln soll. Ich stehe gut mit Herrn Pfarrer I., mit welchem ich Lutherfeier gehalten habe, und der mir seinen Dank ausgesprochen hat für den herrlichen Gesang, die schönen Vorträge der Gedichte und für meinen eigenen Vortrag. Ich stehe gut mit Herrn Pfarrer L., dessen Gottesdienste ich besuche. Ich stehe gut mit dem Herrn Bürgermeister, dessen Schreibereien für das Bürgermeisteramt ich besorge, wobei ich aber keinen Buchstaben für die Protestgemeinde sowie in der ganzen Pfarrgeschichte geschrieben habe. Ich stehe gut mit den Gemeindegliedern, mit welchen auch nicht mit einem einzigen ich je ein bös Wort verloren habe. Mit tiefem Schmerz habe ich gestern zum erstenmal in meiner dreiundzwanzigjährigen Amtstätigkeit, in welcher ich nur Lob und nie Tadel geerntet habe, einen scharfen, aber meiner innersten Überzeugung nach, ich kann es vor Gott und Menschen offen sagen, unverdienten Verweis hinnehmen müssen.

Hochachtungsvoll

Ihr gehorsamster Diener

Lienhard.‹

»Dieses Schreiben ging am 20. November ab; am 23. erhielt ich von der Kreisdirektion folgende Zuschrift:

›Sie wollen sich nächsten Donnerstag, den 29., vormittags 11 Uhr, gefälligst in meinem Bureau einfinden, um wegen der Ihnen zur Last gelegten ungeziemenden Schreibweise in Ihrer Eingabe an mich vom 20. verantwortlich vernommen zu werden.‹

»Ich stellte mich am besagten Tage pünktlich in Zabern ein. Hier wurde mir vom Assessor ein Schriftstück vorgelegt, das ich unterschreiben sollte. Ich las es aufmerksam und bemerkte, dieses Papier nicht unterschreiben zu können, falls nicht der Zusatz beigefügt werde: nicht gegen meine Behörde, sondern gegen die Verleumder, die mich hier verklagen, richtet sich mein Protest. ›So haben Sie doch nicht geschrieben‹, meinte der Assessor. Ich erwiderte, daß ich allein wissen könne, wie ich es gemeint habe, und bedauerte, mich nicht besser und deutlicher ausgedrückt zu haben. Der Zusatz wurde beigefügt, ich unterschrieb und wurde entlassen.

»Kurz darauf kam der Kommissar von Buchsweiler, unterzog mein Bureau im Gemeindehause einer Prüfung, fand aber alles in schönster Ordnung. Er erstattete hierüber Bericht an die Kreisdirektion. Erst nach Monaten, am 6. Februar 1884, ging mir folgendes Schreiben vom Bezirkspräsidenten zu: ›Mit Bezugnahme auf Ihre an den Herrn Kreisdirektor in Zabern gerichtete Eingabe vom 20. November v. J., welche mir mit Ihrer Rechtfertigung vorgelegt worden ist, sehe ich mich veranlaßt, Ihnen meine Mißbilligung über die darin Ihrerseits angewendete Ausdrucksweise und zugleich die Erwartung auszusprechen, daß Sie in Zukunft einer angemessenen Schreibweise gegen Ihre vorgesetzte Behörde sich befleißigen werden. Der Bezirkspräsident.‹ ... Ich klagte gesprächsweise dem Herrn Schulinspektor mein Leid; er tröstete mich, meinte, daß es nicht schlimm stehe, und fügte hinzu: ›Aber um Gottes willen nur nicht mehr schreiben!‹ So lernte ich schweigen.« ...

Soweit mein Vater.

Sein sachlicher Bericht ist wertvoll. Er ist in mancher Hinsicht ein typisches Beispiel für den Gegensatz zwischen elsässischer Volksseele und preußischem Beamtenton. Dieser Landrat war ein tüchtiger Beamter; aber er rechnete nicht mit der menschlichen Würde eines schlichten, freien, unbescholtenen Mannes: er beschuldigt ihn in persönlichem Gespräch ohne sachliche Unterlage des agitatorischen Wirkens, beleidigt ihn also regelrecht, hört seine Gründe einfach nicht an, sondern will ohne weiteres – Gehorsam! »Ja oder Nein?!« Wir alle aber im Elsaß sind mit einem Tropfen demokratischen Öls gesalbt, das man in diesem Falle besser schlichtmenschlichen Stolz nennen sollte. Ich hätte nicht ein Jota anders gehandelt als mein Vater.

Die Sache hinterließ weiter keine Bitterkeit. Derselbe Landrat v. H. hat nebenbei später, drollig genug, im Deutschen Reichstag meine Gedichte als Zeugnisse für das deutschgesinnte Elsaß herangeholt und ausgespielt!

Im kleinen Schillersdorf setzten sich inzwischen die Kleinkämpfe zwischen den Parteien fort. Es gab einen juristischen Briefwechsel zwischen Pfarrer und Lehrer über die Verteilung der »Schulfrucht«; man einigte sich endlich über diese freiwilligen Gaben, die dem Lehrer gebracht zu werden pflegten; und schließlich ging man einen versöhnlichen Schritt weiter: beide Parteien baten meinen Vater, auf beiden Seiten Kirchendienste zu tun. Er ließ sich um des Friedens willen bewegen. Und damit nahm der Sonntag auch für mich eine neue Form an; ich wurde als Vizeorganist herangezogen und auf diese Weise nicht wenig in der Weitherzigkeit geübt. Denn während Papa »liberal« die Orgel in der Landeskirche behandelte, begleitete ich in der Protestkirche »orthodox« den Gemeindegesang unsrer Mitbürger. Oder auch umgekehrt.

Man sieht aus der leisen Ironie, die mir da in die Feder fließt: das war nicht mehr die Stimmung der Kindheit. Die festlichen Glocken jener hatzlosen Zeit der ersten warmen Liebe zum Ewigen waren in den Menschen unsrer Ecke verklungen. Der Glaube selbst wurde zwar zäh festgehalten; aber bei diesen täglichen Reibungen wurden die Seelen vernüchtert oder verbittert.

Ich selbst war von einem Manne konfirmiert worden, der außerhalb der Parteien stand. Dankbar gedenke ich dieses vornehm-stillen Geistlichen. Es war Pfarrer Hermann in Ingweiler, eine würdige Erscheinung, dessen Gestalt und Aussehen an Goethe erinnern konnte, ein ernster und edler Kanzelredner. Wir wanderten oft zu seinen abendlichen Silvester- und Passionsgottesdiensten – die Kirche, die auch von den Katholiken benutzt wurde, duftete so wonnig nach Weihrauch, und es war für uns Kinder äußerst reizvoll, durch den Schnee der Winternacht mitpilgern zu dürfen. Seine Lebensweise war so ruhig und zurückgezogen wie die versteckte Lage seines Pfarrhauses an der alten Stadtmauer. Auf den Missionsfesten der lutherischen Richtung war er nicht zu sehen; ebensowenig auf den Tagungen der liberalen Partei.

Er gab mir als Konfirmationsspruch folgende Worte mit: »Wende meine Augen ab, daß sie nicht sehen nach unnützer Lehre, sondern erquicke mich auf deinem Wege! Laß deinen Knecht dein Gebot festiglich für dein Wort halten, daß ich dich fürchte!« (Psalm 119, 37 f.) Dazu den Gesangbuchvers:

»Gib meinem Glauben Stärk' und Kraft,
Die alles kann vollbringen,
Damit durch dessen Eigenschaft
Ich ritterlich kann ringen.
Und Kreuz und Not, ja gar den Tod
Viel lieber woll' erleiden,
Als daß ich hier vom Wort und dir
Mich ließ' aus Kleinmut scheiden.«

Das Neue Testament, das er mir damals schenkte, und in dem seine klar, fest und schön geschriebene Widmung steht, hat mich bis heutigen Tages begleitet. Ich bin diesem ruhig über den Parteien stehenden Manne dankbar.

Doch wurde auch dieser würdige Präsident des Ingweiler Konsistoriums – das auch die Gemeinde Schillersdorf umfaßte – in die Niedrigkeiten des Parteigezänks hineingezogen. Trotz seiner Zurückgezogenheit war er doch der Rechtgläubigkeit verdächtig. Die Ernennung des liberalen Pfarrers nach Schillersdorf hatte daher den Nebenzweck, auch im Konsistorium Ingweiler eine liberale Mehrheit zu erhalten und den bisherigen, immerhin der Orthodoxie nahestehenden Präsidenten zu stürzen. Es gelang. An Stelle des bewährten Pfarrers Hermann wurde unser liberaler Pfarrer von Schillersdorf Präsident des Konsistoriums. Das Prinzip war wieder einmal gerettet.

Ich wundere mich, daß meine Geschwister und ich damals nicht überhaupt alle Religiosität samt allem Kirchen- und Christenglauben über Bord geworfen haben. Aber wir hatten in uns eine heilige Insel, die für diese Erschütterungen unzugänglich blieb. Wobei ich bemerken muß, daß mir das Wesen reiner Frommheit erst viel später aufgegangen ist, als ich aus dumpfer Unreife und kirchlichem Rechthaberei-Gezänk längst heraus war. Da fingen die Glocken der Kindheit, in vergeistigter Tonart, wieder im Herzen zu läuten an.

Auf meinem Vater lastete dies alles recht schwer. Eine Anzahl Stiefbrüder hatte sich nach und nach dem Mädchen zugesellt, das ihnen auf die Erde vorausgegangen war. Wir waren schließlich unsrer acht Geschwister. Welche Bürde für die Eltern! Und auf mir, als dem Ältesten, lag frühe schon die Mitverantwortung für das kleine Gewimmel. Die wackren, lieben Jungens! Sie respektierten den Ältesten gewaltig; er tat ihnen wohl auch manchmal unrecht; aber dann sah doch wieder das getreue Häuflein in der Dämmerung um ihn herum, mit großen Augen und offenen Sinnen, und ließ sich unermüdlich Geschichten erzählen.

Als nun der liberale Pfarrer nach Straßburg aufrückte, hielt Papa den Zeitpunkt für gekommen, auch dem orthodoxen Prediger den Rücktritt zu empfehlen. Er fand kein Gehör. »J'y suis, j'y reste«, hieß es dort nach Bazaines bekanntem Wort. So glomm denn die Zwietracht weiter – schlimmer noch als zuvor.

Der neue Vertreter des liberalen Prinzips, der in unser Dorf einzog, war ein andrer Typus. Dieser Geistliche grüßte grundsätzlich nur diejenigen, die seinen Gottesdienst besuchten; alle andren waren für ihn Luft. Er besaß nicht die maßvolle Zurückhaltung seines Vorgängers, der zu allen gleich höflich war, besuchte gelegentlich das Wirtshaus; und die Bauern erzählten sich, daß er »nicht viel vertrug«. Zunächst stürzte er den bisherigen Bürgermeister, hatte sich aber in der Person des neuen getäuscht: denn der war und blieb Mitglied der Protestgemeinde. Dann setzte aufs neue der Kampf gegen den unbequemen Lehrer ein, dessen Familie wie bisher in der Protestkirche verblieb. Dieser Kampf gehört so ziemlich zum Niedrigsten und Schmerzvollsten, was meinem Vater auf diesem Gebiete beschieden war.

An einem Wintertage starb der bei uns wohnende Vater unsrer zweiten Mutter, jener Großpapa, bei dem wir mit den Verwandten aus Frankreich ehedem die wundervollen Ferien verlebt hatten, dort jenseits der Berge im Lothringer Hochland. Großmutter war schon früher gestorben. Die ganze Poesie der Jugend zerbröckelte, wie die Religion um uns her zu zerbröckeln drohte. Die Mutter, selber noch krank, setzte sich nun an jenem Wintertage vor ihres Vaters Sterbebett, blieb zu lange, bekam einen Rückfall – und folgte dem Toten noch in derselben Woche!

Das war für Papa ein furchtbarer Schlag. Da war ihm nun auch die zweite Frau genommen; und mit einem Rudel von unerzogenen Kindern stand er abermals allein. Wie er alle seine Kleinen vom »Protestpfarrer« hatte taufen lassen, so ließ er nun auch Schwiegervater und Gattin von demselben Geistlichen zur letzten Ruhestätte geleiten. Und nun erlebte die Gemeinde Schillersdorf das beschämende Schauspiel, daß die Anhänger des liberalen Pfarrers in Werktagskleidern hinter Tor und Fenstern standen und zuschauten, wie ihr gebeugter, früh ergrauter Lehrer mit seinen Kindern hinter dem Sarge herschritt: – sie selbst aber erwiesen ihm nicht die Ehre, sich am Leichenbegängnis der braven Lehrersfrau zu beteiligen. Denn ihr Pfarrer hatte es ihnen verboten!

»Als sie mich sahen,« – schreibt mein Vater mild genug in seinen Erinnerungen – »gebeugten Hauptes mit meinen Kindern dem Sarge der lieben Mutter folgen, wurde manches Auge naß und manches Herz tief bewegt, und die Taschentücher wurden hervorgeholt. Der Herr verzeihe ihnen allen, sie meinten es ja nicht böse. Sie durften eben nicht anders handeln, um der Sache willen, zu der sie sich bekannt hatten. Fritz schrieb mir aus Berlin (ich war damals schon Hauslehrer): ›Ich habe eine zweite Mutter verloren.‹ Ja, zur Ehre der Verstorbenen sei es gesagt, sie hat meine zwei ältesten Söhne geliebt und gepflegt wie die eignen Kinder. Gott lohn's ihr in alle Ewigkeit!«

Es war eine durch und durch gute, selbstlose, von früh bis spät fleißige Mutter und Hausfrau, die sie da begruben. Und ich sage heute noch: Schande über jeden im Dorfe, der dieser Frau die letzte Ehre versagt hat!

Der liberale Pfarrer selber war am Begräbnistage über Land gegangen. Ein Wort der Anteilnahme hat er nicht gefunden.

Und nun kommt es immer noch schöner. Mit Müh und Not hatte man, wie oben berichtet, in der Gemeinde eine Verständigung erzielt, mit der sich alle zufriedengegeben hatten: derart nämlich, daß mein Vater beiden Parteien Kirchendienste tat. Jetzt benutzte der liberale Pfarrer die Notlage des erschütterten Witwers, um ihn plötzlich, ohne jeden Grund, vom Organistendienst in der Landeskirche abzusetzen! Wenige Wochen oder Monde nach Mutters Tod! Er dulde, sagte er, den Lehrer, von dem er Rücktritt aus der Protestgemeinde erwartet hatte, nicht mehr in seiner Kirche. Später begründete er den Schritt damit, daß ihm der neue geistliche Inspektor in Buchsweiler diese Maßregel empfohlen habe. Ein junger Lehrer der Nachbargemeinde war charakterlos genug, den Organistendienst zu übernehmen. Und die Bauern des Kirchenrates nickten zu dem unerhörten Beschluß Ja und Amen.

So war denn durch diesen Diener Gottes neue Aufregung und Erbitterung in die Gemeinde getragen. Auch äußerlich bekundete sich dies, gleichsam sinnbildlich. Eine Weile läutete die Dorfglocke damals nicht mehr die Gezeiten, wie das sonst morgens, mittags und abends auf dem Dorfe Brauch ist; denn man konnte sich über die Bezahlung des neuen Glöckners nicht einigen. Lange Zeit hörte dann die Gemeinde überhaupt keine Kirchuhr mehr schlagen: denn derselbe Bauer, der sie an meines Vaters Stelle besorgen sollte, wußte nicht damit umzugehen und verdarb das Werk. Ein Fachmann aus Straßburg mußte kommen und sie um teures Geld wieder in Ordnung bringen – die verhudelte Kirchuhr, nicht die rettungslos verhudelte Kirchengemeinde. Über die Verteilung der Schulfrucht gab es scharfen Briefwechsel zwischen dem Pfarrer und dem Lehrer, der übervorteilt werden sollte. Aber die Freunde meines Vaters, der nun bloß noch in der Protestkirche spielte, brachten ihm doppelt so viel als sonst. Selbstverständlich war es ja auch, daß der Ortsgeistliche den Ortslehrer nicht mehr grüßte, wenn er ihm auf der Straße begegnete, was er übrigens auch dem Bürgermeister gegenüber durchführte.

Der Gipfel dieses Zustandes wurde dann erreicht, als der Geistliche an einem Sterbebette den Lehrer zum Lügner zu stempeln versuchte. »Ich hatte nämlich« – heißt es in meines Vaters Aufzeichnungen – »dem Sohn des Sterbenden gesagt, daß ich von der Erkrankung seines Vaters nichts gewußt; das erzählte der Sohn im Krankenzimmer; worauf ihn der anwesende Pfarrer mit der lauten Bemerkung unterbrach: ›Wer's glaubt!‹ Der Bürgermeister, des Sterbenden Schwager, überbrachte mir diese Verdächtigung und fügte bei, daß die Anwesenden aufs höchste überrascht und aufgebracht waren. Ich schrieb nun folgenden Brief an Herrn Pfarrer: ›Herr Pfarrer! Wer's glaubt! So haben Sie sich gestern abend geäußert, als erzählt wurde, daß ich von der Erkrankung des Herrn M. keine Kenntnis gehabt habe. Das läßt tief blicken in das Herz eines von Gott verordneten Predigers und Seelsorgers, im Angesicht des Todes, in einem ernsten Trauerhause, vor Eltern und Kindern, einen im Dienst ergrauten Lehrer als Lügner zu verdächtigen! Mit tiefem Bedauern Ihr Lienhard.‹«

Ein Wort der Entschuldigung von seiten des Herrn Pfarrers ist dem verleumdeten Lehrer nicht zugegangen.

Wenige Wochen danach verklagte vielmehr der Geistliche meinen Vater aufs neue: er habe den Schulunterricht nicht nachgeholt, den er während der Hochzeit meines jüngeren Bruders in Niederbronn versäumt hatte. Jetzt war des übergeduldigen Schulmeisters Geduld zu Ende. Er bat seine Behörde um die Erlaubnis, gegen den Seelenhirten gerichtlich vorgehen zu dürfen: »Erstens weil er mich an einem Krankenbett als Lügner verleumdet, zweitens weil er mich fälschlich der Pflichtvergessenheit angeklagt hat.«

Der Schulinspektor kam, prüfte in Gegenwart des Pfarrers die Schule, fand sie in gutem Stand und sprach dies auch aus. Hernach begab er sich in unsre Wohnung hinauf und ersuchte die beiden Gegner, ihm zu folgen. Hier hielt er nun eine Ansprache des Inhalts, er wolle heute zwischen Pfarrer und Lehrer Frieden stiften, beide möchten sich in seiner Gegenwart aussprechen. Mein Vater packte stürmisch aus; kleinlauter brachte der Pfarrer das Seinige vor, betonend, daß ihm jenes »Wer's glaubt!« auf der Seele gebrannt habe. Nachdem er feierlich versprochen, daß er künftig den Lehrer ein für allemal in Ruhe lassen wolle, gaben sich beide die Hand.

»Herr Schulinspektor schied, sichtlich befriedigt von dem Erfolg seines Besuches, aber meine Nerven waren kaput«, schließt mein Vater. »Ich konnte keinen Schlaf mehr finden und mußte mich mit dem Gedanken tragen, um meine Pensionierung einzukommen.«

Noch ein Jahr hielt er aus. Dann zog er sich, noch nicht sechzigjährig, nach Straßburg zurück.

Zornige Wehmut könnte den Zuschauer überkommen, wenn er die Laufbahn eines begabten und treuen Mannes, dessen Fehler ich nicht verschwiegen habe, derart durch Parteifanatismus vergiftet und vorzeitig beendet sieht. Andrerseits war es wohlgetan, daß der Patriarch seine Zelte abbrach und diese friedlose Lage verließ. Zur Entschuldigung jenes unruhigen Geistlichen kann man noch anführen, daß er zuletzt in peinvolle Nervenkrankheit, ja an den Rand des Irrenhauses geraten und dann gestorben ist. Vielleicht wirft dies ein Licht zurück auf sein Verhalten; vielleicht war auch er ein Opfer der Kirchen- und Dorfpolitik mit all ihren zerreibenden Kleinkämpfen. Im übrigen war er kein schlechter Redner, was mein Vater immer unbefangen anerkannte.

In alledem hatte Lehrer Lienhard, in Kämpfen erprobt, den Mut gefunden, zum dritten Male zu heiraten. Es stellte sich dabei heraus, daß die neue Gattin, eine kleine Straßburger Rentnerswitwe, über einiges Vermögen verfügte. So konnte er es wagen, mit seiner sehr bescheidenen Pension in eine einfache Wohnung nahe beim Thomasstift zu Straßburg einzuziehen und sich der Erziehung seiner Söhne aus zweiter Ehe zu widmen.

»Die Schule ging mir über alles«, sagt er in seinem Rückblick. »Sie war der Ort, wo ich unbehelligt die Herzen der mir anvertrauten Kinder erwärmen konnte für alles Gute, Schöne und Ideale, und wo ich wahrhaft glücklich war. Mit allen meinen Vorgesetzten stand ich allezeit auf bestem Fuße.«

Man bot ihm das Allgemeine Ehrenzeichen bei seinem Rücktritt an; er hat es natürlich abgelehnt. Auch ein Kronenorden wurde erwogen; aber den hätten Bürgermeister und Pfarrer einstimmig befürworten müssen, und das hätte bei den Unstimmigkeiten in der Gemeinde auf Widerstand stoßen oder nach allem Vorgefallenen einen komischen Beigeschmack annehmen können. Mein Vater bat sogleich den Schulinspektor, der mit ihm über die Möglichkeit dieser Ehrung sprach, auch hiervon abzusehen und blieb seiner Auffassung getreu. »Es freut mich von ganzem Herzen«, sprach er, »am Schlusse meiner Lehrtätigkeit zu erfahren, daß meine Behörde mit meiner Dienstführung zufrieden ist. Aber Ehre gebührt nicht mir, sondern dem lieben Gott, der mir Kraft und Freudigkeit gegeben hat. Es genügt mir völlig, wenn in meine Entlassungsurkunde der Vermerk eingefügt wird: ›Mit Anerkennung der geleisteten Dienste.‹«

So geschah es.

Und nun siedelte also der alte Schulmann, gesegnet mit sieben Söhnen und einer Tochter, nach Straßburg über. Merkwürdigerweise lag die gewählte Wohnung in derselben Gasse, in der er vierzig Jahre zuvor als schüchterner Schüler mit kleinem Koffer in die Lehrerbildungsschule, die Ècole normale, eingetreten war.

Und noch eins war merkwürdig. Die Verkettungen der Lebensschicksale sind manchmal geradezu neckisch. Meine junge Verwandte in Frankreich, die Waldfrau, hatte zeitweilig ein wenig die Fühlung mit mir verloren. Im herben Talent des Alleingehens waren wir einander ebenbürtig. Sie wußte – was für eine Frau schwerer ist – die Einsamkeit ebenso zu schätzen wie ich, der ich unendlich viel Einsamkeit vertragen kann: jene verarbeitende Einsamkeit, aus der man verjüngt und liebend zu den Menschen zurückkehrt. So machte sie denn eine wichtige Entscheidung ihres Lebens allein durch; sie beschloß, aus innerstem Antrieb, Krankenschwester zu werden. Erst ihrer Mutter, dann mir teilte sie den fertigen Entschluß mit. Der Zufall fügte es, daß ihr Wanderleben in derselben Straßburger Ecke zum vorläufigen Abschluß kam, wo mein kampfmüder Vater soeben mit seiner Familie eingezogen war. Denn in unmittelbarer Nachbarschaft unsrer dortigen Wohnung erheben sich die weitläufigen Gebäude des Diakonissenhauses.

Nun besuchte Schwester Marie in schwarzem Gewand und weißer Haube allsonntäglich des Oheims nahe Familie, in der einst die Waldfrau ihre poesievollsten Ferien verlebt hatte.

Endvignette

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