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Aus meinen Knabenjahren tauchen mir Einzelheiten aus, die vielleicht weder wichtig noch besonders reizvoll scheinen. Aber doch erhielt meine erste Liebe durch die Besonderheit des Elsasses eine eigenartige Färbung.
Adelheid von Schorn spricht einmal in ihrem Erinnerungswert »Zwei Menschenalter« vom innigen Verhältnis zu ihrer Mutter und äußert dabei ein schönes Erfahrungswort. »Eine glückliche Jugend wirft ihren Schein über das ganze Leben. Ich glaube, daß jeder Mensch sein vollgemessen Teil an Liebe braucht, wenn er mit unzerknicktem Herzen die Kämpfe und Schmerzen des Lebens bestehen soll. Wer kann wissen, wie viel oder wie wenig ihm die späteren Jahre davon noch bringen werden? Alle Liebe, mit der ein Kind überschüttet wird, ist eine Stärkung, eine Aufspeicherung dessen, was wir bedürfen, um nicht zu unglücklich zu werden. Der Vorrat von Liebe, den unser Herz einheimst, kann gar nicht groß genug sein.«
An dieser Liebe hat es mir durch den frühen Tod meiner Mutter in wichtigen Jugendjahren gefehlt. Ein Teil meines Wesens war überhaupt lange auf heißer Suche nach gleichgestimmten Herzen, bis sich das im Laufe des Lebens nach und nach ausglich, indem ich selber fähig ward, Liebe und Güte zu geben, nicht nur zu verlangen. Liebe ist Lebenswärme, die man braucht wie das tägliche Brot. Und ich verstehe eine Äußerung des sterbenden Björnson, daß er noch gern ein Buch über die Liebe geschrieben hätte.
Ein vielbeschäftigter Vater kann die Herzenskräfte nicht leicht ersetzen, die durch eine gute Mutter in ein Kind einströmen. Auf ihm selber liegt ja nüchterne Last genug. Mein Vater hielt als Haushalter seine Finanzen, als Lehrer seine Schule, als Gemeindeschreiber seine »Mairie« gewissenhaft in Ordnung und saß am Sonntag vor der Orgel. Der Witwer war mit zwei Jungen und einem eben geborenen Mädchen allein. Da gab's viel zu bedenken; die Haushälterin, eine Lehrerswitwe, war eben nur eine bezahlte Angestellte.
Der Riß muß für meines Vaters Temperament nach Mutters Tod äußerst schmerzhaft gewesen sein. Oft hallte sein gleichmäßiger Schritt auf den Steinplatten im Garten des Schillersdörfer Schulhauses bis tief in die Sommernacht hinein; er schritt einsam rauchend zwischen den wohlgepflegten Beeten auf und ab und überdachte sein Tagewerk, während die Bauern schon lange in den Federn lagen. Ein Bauerndorf in der Sommernacht ist nach dem geräuschvollen Tagewerk von einer zauberhaften Stille; nur Frösche quarren in den Wiesen, und irgendwo bellt ein Hund. Spät klang das bekannte kurze Pochen durch die nächtliche Stille: Vater klopfte an der Ecke des Hauses sein Pfeifchen aus und blies rasch und kräftig durch das Rohr. Die abendliche Betrachtung war zu Ende; er verschloß Garten, Keller, Hintertor und Haus und ging nun selber zur Ruhe.
Sein Wesen erahne ich aus meiner eigenen Natur, da ich ihm in manchem gleiche. In seinem Blut war glutvolle Leidenschaftlichkeit; mächtiger jedoch war sein philosphisch-religiöses Bedürfnis; er vermochte Innen- und Umwelt in Harmonie zu bringen, indem er ordnende Gesichtspunkte fand. So war er in seiner begrenzten Welt ein innerlich rastlos tätiger Baumeister. Bewegliche Phantasie und leichtschwingendes Gemüt im Einklang mit festem Willen und schöpferischem Verstand waren jener Art von Plänemachen und Räsonieren nicht abgeneigt, die ja wohl überhaupt in der süddeutschen Natur liegt. Bei seiner kräftigen Geistesanlage wäre der Dorfschulmeister mit der klaren und hohen Stirn zu größeren Aufgaben berufen gewesen; aber er fühlte sich am Platze in seinem tatkräftig beherrschten Hausstaat und ländlichen Pflichtenbezirk. Er hatte zu viel Natursinn, zu viel Drang nach Geschlossenheit, als daß er nach der zerstreuenden Stadt gestrebt hätte. Die übliche Geselligkeit und gar Skatbrüderschaft jeder Art waren ihm ein Greuel, wenn er auch in Gesellschaft unbefangen heiter sein konnte und für jeden im Vorübergehen einen aufmunternden oder schalkhaften Zuruf bereit hatte. Und nicht vergessen sei die großherzige Gastfreundschaft des sonst sparsamen Mannes. Aber auch in ihm war ein Drang zur Einsamkeit. Nach der Schule nahm er seinen Stock, pfiff dem Hund und marschierte in seiner raschen Gangart durch die Wiesen nach dem Hopfenfeld oder dem Weinberg, band und ordnete dies und das oder lustwandelte sinnend kreuz und quer durch Wald und Flur.
Dieser philosophische Zug verdrängte freilich nicht ganz seine meist geistbeherrschte, oft aber auch jähzornig durchbrechende Heftigkeit eines reizbaren Nervensystems. Auch nicht die oft beißende Föppelei und Ironie, mit der sich der spannkräftige Geist des lebensbejahenden Mannes Unliebsames vom Halse schaffte. Sein Grundzug war überhaupt heitergelaunte Lebensbejahung, aber von Gewittern durchzogen. Und da ich selber nicht leicht zu behandeln war, so konnte es nicht ausbleiben, daß zorniggelaunter Vater und querköpfiger Sohn manchmal unschön aneinandergerieten. Was uns aber nicht abhielt, bei passender Gelegenheit wieder eifrig miteinander zu philosophieren über Gott, Welt und einige andere Dinge.
Es muß ja drollig genug ausgesehen haben: der lange Junge, um einen Kopf größer als der Vater, schritt zunächst auf dem straßenfernen Pfad des kleinen Gartens zwischen Haselbüschen und Stachelbeeren; Papa seinerseits, rauchend und das Samtkäppchen auf dem Haupt, am andern Ende; allmählich rückten sie einander näher und »diskutierten« schließlich – so lautete der Fachausdruck – einträchtig auf dem Mittelpfad. So geschah es später auch im Leben; wir gingen lange umeinander herum, bis wir uns zusammenfanden.
Ich war in den mittleren Klassen des Gymnasiums bedenklich seßhaft. Meine Leistungen ließen an Gleichmaß zu wünschen übrig. Im dumpfen Wogen meiner Gefühle und Phantasien wechselten glänzende Leistungen mit ungenügenden ab; die ungenügenden behielten die Oberhand. So blieb ich denn zwei Jahre in Quarta und abermals zwei Jahre in Obertertia sitzen.
Die Schuld lag nicht allein an mir. Meine damaligen Lehrer, von edlen Ausnahmen abgesehen, behandelten den mimosenhaft leicht sich zuschließenden Jungen weder mit Liebe noch mit Verständnis. Von einem Geschichtslehrer weiß ich, daß er mich kaum einmal einer Frage würdigte; er hatte seine Vorliebe für einzelne Schüler und stand als Westfale unserm elsässischen Charakter recht fremd gegenüber; übrigens wußte er oft packend zu erzählen. Mir, dessen Lieblingsfach früh schon Geschichte war, warf er kurzweg eine ungenügende Note aufs Zeugnis; er kannte mich so gut wie gar nicht. Ein andrer wandte sich mitunter mit einem eigentümlich mitleidig-verächtlichen Lächeln an mich: »Weißt du's vielleicht zufällig, Lienhard?« Auf solchen Ton gab der Gefragte meist gar keine Antwort, auch wenn er's wußte.
Endlich aber löste sich der Bann der Verkennung. Wir hatten im deutschen Unterricht als Klassenarbeit ein Märchen frei zu erfinden und auszuarbeiten. Der Lehrer, übrigens ein besonnener und gerechter Mann, trug uns den allgemeinen Grundriß vor: drei Söhne werden vom alten Vater auf Taten ausgeschickt, für die edelste Tat wird ein Lohn ausgesetzt. Die Taten und den Lohn aus uns heraus zu ersinnen, war uns überlassen. Ich wählte einen Goldring mit der Inschrift »Des Edlen Lohn«, erfand drei Taten und gab am Schluß etwas Eignes hinzu: indem ich den Jüngsten, der belohnt werden sollte, die Gabe ausschlagen ließ; denn aus Freude an der Tat, nicht um Lohn, habe er so gehandelt, wie er es eben für recht gehalten. Dieser Schluß verblüffte; mein Klassenaufsatz wurde nicht nur den Schülern, sondern auch der Lehrerkonferenz als ungewöhnliche Leistung vorgelesen. Und plötzlich betrachtete man mich mit andern Augen. Ich war nun Jahre hindurch dauernd der Erste. Ein Lehrer, der mir früher deutlich zu Gemüt geführt hatte: »Na, von dir weiß man ja: du bist dumm, faul und –« – das dritte hab' ich vergessen –, versicherte mich jetzt in Sekunda, als ich immer an erster Stelle saß: »Ich hab's noch immer gesagt, Sie sind ein begabter Schüler.«
Diese Erlebnisse waren nicht geeignet, meine Achtung vor Menschenurteil zu fördern. Doch von jetzt an bis zur leicht bewältigten Abiturientenprüfung blieb meine Schülerlaufbahn unangefochten und mühelos.
Schwer aber, wie gesagt, wurden mir die mittleren Klassen. Man bedenke, daß der Knabe jeden Werktagmorgen gegen sechs Uhr aufstehen und bei Wind und Wetter, Schnee und Hitze mit dem Bücherranzen auf dem Rücken volle anderthalb Stunden von Schillersdorf nach Buchsweiler wandern und abends wieder zurücktraben mußte, oft noch mit irgendeinem Paket oder Säckchen beschwert! Fahrräder gab's noch nicht; Abkürzungen durch den Wiesenweg des Reiherwaldes waren nur bei gutem Wetter ratsam; man marschierte sehr oft über Uttweiler. Da war denn der immerhin zartgebaute, wenn auch gesunde Knabe abends oft unbeschreiblich müde. Und sollte sich dann noch bis in die Nacht hinein seinen Schulaufgaben widmen!
Bei heiterem Wetter bot dieser Marsch viel Kurzweil. Da wurde gesungen, solange die Kameraden von Uttweiler und Menchhofen mitmarschierten, im Wald oder an der Mother Indianer gespielt, Geschichten erzählt, Vogelnester und Erdbeeren gesucht, verspätete Äpfel von den Bäumen geholt – und dann im Galopp das Versäumte eingebracht, damit man nicht zu auffallend spät ins Haustor einrückte. Aber bei starkem Schneegestöber oder peitschendem Regen oder Glatteis war es denn doch manchmal ein mühsames Stampfen oder Patschen. Oft schritt uns der besorgte Vater entgegen und holte seine Jungens ab.
Ich sage bereits »uns«, denn mein jüngerer Bruder Albert und ein begabter Bauernsohn, Freund Heinrich Peter, hatten sich inzwischen meinen Märschen nach der Bildungsstätte angeschlossen.
Ach, es ermüdete wahrlich ungemein, dieses kümmerliche Hin und Her, diese reizlose Unterrichtsweise, die mehr Drill und Dressur als Lebenswärme war! Das ernst-schöne Lebensspiel, das man mit allen Poren um und in sich spürte, schien uns in ein unfruchtbares Schema eingeengt. Und mein Vater war in seinem goldnen Überfluß an Energie und Sorge oft zu falscher Stunde heftig. Er hatte meine Klassenlehrer um schriftliche Mitteilung gebeten, sobald sein Sohn schlapp sei oder Strafe verdiene – und ich Unseliger mußte dann diesen verklagenden Brief meiner Lehrer selber nach Hause tragen und in Vaters Hände legen!
Ich entsinne mich eines solchen martervollen Abends. Der Knabe war damals Quartaner, also ein etwa zwölfjähriger Junge. Ich hatte mit der Ablieferung des peinlichen Zettels gewartet, bis alle andern außer Papa und mir zu Bett waren. Was ich verbrochen hatte, weiß ich nicht mehr; vielleicht verbotenerweise in der Klasse ein Buch geöffnet (»gespickt« nannten wir dies heimliche Ablesen) oder ein schlechtes Extemporale geschrieben oder irgendeine Unart begangen, wie sie bei andern reichlicher und geschickter im Schwange waren als bei mir. Mein Vater las, hielt mir eine trauervoll-zornige Rede und zündete dann die Kerze an: er ging in die Schule hinunter und holte die Knute, einen derben Riemen von einem halben Meter Länge, das abgerissene Ende eines Glockenstranges. Einst zauberte dieses Leder melodisches Geläut hervor, jetzt pflegte es im Schulbetrieb unmelodisches Geheul zutage zu locken. Man kann sich die Gefühle des wartenden Knaben ausmalen! Dann kam er herauf, prügelte den Sünder nach Kräften durch, so daß mein Wehgeschrei durch die Nacht scholl – und nun konnten auch wir zwei zu Bett gehen. Unser Tagewerk war vollbracht.
Nun, man hatte vortreffliche Nerven und überstand auch diese Äußerungen altspartanischer Zucht, die uns beiden freilich seelisch weh genug tat. Der Knabe wimmerte und schluchzte noch eine Weile unter der Bettdecke, wo der jüngere Bruder bereits lag und den Vorgang bebend mit angehört hatte. Dann schlief er fest – um frühmorgens um sechs Uhr von neuem wohlgemut in die Bildungsanstalt zu trotten mit dem unterschriebenen Briefchen im Schulranzen.
Ein andres Mal, als ich in abendlicher Müdigkeit vor meiner Grammatik saß und mit dem Schlaf rang, wandelte meinen Vater die Laune an, mir noch eine Musikstunde zu erteilen. Ich setzte mich ans Klavier, er neben mich) aber ich konnte und konnte nicht in Schwung und Takt kommen. Väter sind ihren Kindern selten geduldige Lehrer. Es regnete Püffe, die mein müdes und zerstreutes Gehirn vollends verwirrten. Schließlich hagelten auf den ungeschickten Klavierspieler solche Nüsse herunter, daß sein Kopf unmusikalisch genug auf den Tasten herumtanzte. Dabei schwor mein Vater Stein und Bein, er werde an einen so dummen Tropf im Leben keinen Unterricht mehr wenden. Ich weinte mich in meiner Stube aus, freute mich aber innerlich über den väterlichen Schwur. Denn von jetzt an hatte ich tatsächlich vor ihm Ruhe; jetzt hatte ich Spielraum. Ich wartete nun einfach immer ab, bis er ausgegangen war; dann setzt' ich mich allein an das mir sehr liebe Instrument und ließ meinem Lerndrang freien Lauf. Lange Zeit später, als Papa einmal unvermutet nach Hause kam und oben ganz geläufig Klavier spielen hörte, fragte er verwundert: »Haben wir Besuch? Wer spielt denn?« Es war kein Besuch, es war nur sein talentloser Sohn, der allein und freiwillig besser in Musik und Bildung eindrang als unter Vaters Fuchtel und unter dem Zwang der Schule.
Noch erstaunter war der gute Gestrenge über einen Vorfall am Nachmittag seines Geburtstages. Es mag in meinem vierzehnten oder fünfzehnten Lebensjahr gewesen sein; der kleine Zug ist bezeichnend für die nüchterne Scheu, die ich in allen gemüthaften Regungen meinem geliebten und gefürchteten Vater gegenüber empfand. Es war mir zu seinem Geburtstag ein längeres Gedicht in regelrechten Strophen gelungen, ich wagte jedoch nicht, ihm die Huldigung zu überreichen. Endlich schob ich ihm das Papier, da er bald ausgehen wollte, heimlich unter den Strohhut; dann blieb ich beobachtend in der Nähe. Er nahm den Hut, sah das Blatt, schob die goldene Brille hoch und las. Dann rief er mich heran.
»Wo hast du denn das Gedicht da abgeschrieben?«
Ich, trotzig-verlegen: »Das hab' ich nicht abgeschrieben, das hab' ich selber gemacht.«
»Du?! Red' mir doch kein so dumm Dings daher! Du so ein Gedicht machen?!«
»Aber 's ist wahr! Ich hab's selber gemacht!«
»Wirklich?«
»Ganz gewiß!«
Und mein sonst so zurückhaltender Vater war so erstaunt und gerührt, daß er mich umarmte und küßte: »Komm her! Dafür kriegst du einen Kuß!«
Ich erinnere mich keines zweiten Kusses dieser Art.
Damals begann durch meine eigne Schuld eine Unterernährung meines Körpers, die mir lange Jahre zu schaffen machte.
Das kam so.
Wir bekamen gewöhnlich beim Ausmarsch morgens ein Stück trocken Brot mit, das uns in der Zehn-Uhr-Pause kräftigen sollte. Allein dieser eckige Gegenstand in der Hosentasche oder zwischen den Büchern war lästig; ich aß das Labsal meist schon unterwegs auf und hungerte dann eben bis zum Mittagessen. Später gab Vater jedem von uns einen Sou (vier Pfennige); wir sollten dafür einen Weck taufen. Das taten denn auch die andern; kauend standen sie in der Pause beisammen; es war vorn in der Hauptstraße von Buchsweiler beim Bäcker Kaufmann, wo das Seitengäßchen zum alten Gymnasium einsetzt. Ich aber sparte meist mein Geld, bis ich dafür ein Buch kaufen konnte. Denn ich war ein leidenschaftlicher Leser, erst von Indianergeschichten, dann von Reisebeschreibungen und Heldentaten, endlich von Poesie. In meines Vaters kleiner, fast nur französischer Bibliothek fanden sich nur etwa zwei deutsche Bücher, die für mich in Betracht kamen: Schillers Sämtliche Werte in einem Lexikonband und Goethes Werke in drei entsprechenden Bänden und kleinem Druck. Ich verschlang die »Räuber« und den »Götz«. Auch eine Auswahl aus Matthias Claudius war vorhanden. Aber mit jenem ersten erhungerten Geld erstand ich mir ein gebundenes Reclambändchen: Matthissons Gedichte. Freund Heinrich hatte an jenem Nachmittag Arrest; ich erwartete ihn am Waldrand unter einem Birnbaum und schwang ihm mit einem Jauchzen, das er ebenso geheulartig erwiderte, schon von fern mein erstes selbstgekauftes Buch entgegen. Es war ein berauschendes Ereignis. Das feine schmale Bändchen war mir so kostbar, daß ich es gar nicht unmittelbar anzufassen wagte: ich riß zwei weiße Blätter aus einem Schulheft und bettete das Kleinod dazwischen.
Was mich an diesem Lyriker entzückte, war der sprachliche Wohllaut und der Silberduft einer feinen Schwermut über den etwas allgemein gehaltenen Naturbildern. Zu meinen frühgekauften Lieblingen gehörte übrigens neben Klopstock auch der herbe Dramatiker Heinrich von Kleist.
Solche Schätze und mein eignes Dichten, das damals bereits zu quellen begann, ich weiß nicht wie, wurden vor Papas pädagogischer Strenge sorglich verborgen.
So baute sich der Knabe, wie schon das Kind, weiterhin seine innere Burg, von Freund Heinrich mit schwungvoller Teilnahme, vom jüngeren Bruder Albert mit ratloser Verwunderung betrachtet. Was aber auch letzteren nicht abhielt, bei meinen selbsterfundenen, oft auf viele Fortsetzungen ausgesponnenen Erzählungen auf dem Heimweg vom Gymnasium emsig zuzuhören, wobei ich manchmal an spannendsten Stellen abbrach: »So! Morgen wird weiter erzählt!«
Inzwischen hat mein Bruder, Pfarrer auf einem elsässischen Dorfe, einige schlichte Erinnerungen an unsere Kindheit in Straßburger Blättern veröffentlicht, die obiges ergänzen mögen. »Unsre gemeinsame Jugendzeit war reich und schön. Der Vater verstand es, im Unterricht äußerst anregend und begeisternd zu wirken, so namentlich in Religion und Geschichte. Sein meisterhaftes Erzählungstalent in Schule und Haus bleibt uns unvergeßlich. Von ihm mag der Dichter diese Kunst ererbt und durch Übung ausgebildet zu haben. Ich entsinne mich, wie mir der an Jahren und Reife Überlegene die spannendsten Geschichten erzählte und ich ganz im Bann der Entwicklung gefangen blieb. Dann liebte er es wohl, mich etwas zappeln zu lassen; und hatte ich das brüderliche Mißfallen erregt, so brach die Geschichte auch einmal jäh ab und wurde, wenn etwa der Erzähler spät nachts zu müde geworden, auf den andern Abend verschoben. Schon als kleiner Knabe war mein Bruder ein Bücherwurm. Er vergaß Raum und Zeit und – Schulaufgaben, wenn er eine schöne Geschichte erhascht hatte, etwa Horn, Nieritz, Caspari und ähnliche Volksschriften. Dann setzte er sich in irgendeinen Winkel. Aber nicht selten wurde er vom Vater aufgesucht und vom Buche weg hinaus zu den Kameraden getrieben, wo er freilich dann auch keine schlechte Figur abgab. Kam Besuch, etwa von Kollegen des Vaters, so ergab sich folgendes Bild: dort der ältere, aber scheuere Bruder, hinter dem Tafelklavier verschwindend, verhüllt durch die schützende Decke, hier der jüngere, keckere, dem Besucher auf den Schoß steigend, um »Ritte, Ritte, Roß« zu spielen. Es wäre jedoch ein Irrtum, anzunehmen, der ältere, stillere und scheuere Sohn sei mit der ungebrannten Asche viel weniger in Berührung gekommen als der herzhaftere jüngere. Im Gegenteil: wo es sich um gemeinsame Vergehen handelte, wurde zwar die Strafportion verteilt, jedoch so, daß der ältere den Löwenanteil wegbekam. Die stramme Erziehung hat uns aber nicht etwa weichlich gestimmt ... Lebhaft steht mir das nächtliche Bild vor Augen, das sich häufig wiederholte. Wir pflegten allabendlich bei einbrechender Dunkelheit gemeinsam die Dorfkirchenuhr aufzuziehen. Schon um gegen Gespenster gewappnet zu sein, schien vereinter Gang ratsam. Traten wir dann aus dem Turm wieder heraus und umfing uns bleicher, milder Mondglanz, so sog wohl die Dichternatur mit allen Poren Mondscheinstimmung ein. Jetzt war für ihn der Augenblick gekommen, mit Klopstockschem Pathos und erhobenem Arm die Ode »Die frühen Gräber« zu deklamieren:
»Willkommen, silberner Mond,
Schöner, stiller Gefährt' der Nacht!«
Derweilen stand ich dahinter oder daneben, erst staunend, dann murrend und mit Ungeduld zur Heimkehr mahnend. »Wie kann man nur! Was hast du denn wieder?!« So kam mitunter ein arger Riß in des jungen Schwärmers Mondscheinstimmung. Doch empfing der langsam Nachgereifte in der Folgezeit vom deklamierenden Bruder dankenswerte Anregung. Noch entsinne ich mich des packenden Gedichts von Platen »Wie rafft' ich mich auf in der Nacht, in der Nacht, und fühlte mich fürder gezogen« und des Geibelschen »Tod des Tiberius«. Ersteres lernte der Poesiekundige zu seinem Privatvergnügen, letzteres diente als freigewählter Klassenvortrag. Von sonstigen Dichtern und Denkern übten schon in früher Jugend Apologeten wie Blaise Pascal und Matthias Claudius, Dichter wie Matthisson, Hölty, Klopstock und Geibel Anziehungskraft und entscheidende Gemüts- und Willensbestimmung aus.«
Die Sonntage von damals hatten zwar noch die Glocken der Kindheit; aber doch veränderten sie ihre Klangfarbe und schienen reizlos zu werden.
Ich hatte bereits, wenn auch ohne Pedal, einige Vorspiele und Choräle auf der Orgel gewagt, zunächst unter dem Schutz des nahen Vaters; sehr zaghaft freilich: denn die Orgel in der großen Kirche dröhnte gewaltig, und jede Unachtsamkeit konnte schauerliche Mißtöne ins Gotteshaus hinausschmettern. Nun, es ging. Und so wurde ich denn kurzweg zum Organisten gepreßt, sobald Vater einmal unwohl war und sich der zugigen, ungeheizten Kirche nicht anvertrauen wollte. Das war mir anfangs, der ich einsam vor meiner Orgel saß, nur benachbart dem stramm danebenstehenden Blasebalgtreter – dem einäugigen, nach Schnaps duftenden Nachtwächter des Dorfes –, ein höchst unbehagliches Gefühl. Wie der knabenhafte Organist bei den ersten Malen mit seinem Orgelschlüsselbund – bang und wichtig zugleich durch das Dorf schreitend – in die Kirche und auf die abgenutzte Bank gekommen, die Register gezogen, sein Vorspiel begonnen und dann den unheimlich gedehnten Bauerngesang begleitet haben mag, weiß ich nicht mehr; weiß aber, daß es jedesmal ein herzaufregendes Ereignis war.
Einmal geschah mir dabei eine bittere Beschämung.
Es war am Reformationsfest; Papa lag erkältet zu Bett und ließ sich durch keine Beschwörungen aus seiner Zipfelmütze herausflehen. »Du gehst und spielst! Abgemacht! En route!« Ich mußte Orgel spielen. Unglücklicherweise beherrschte der Anfänger aber noch nicht das Reformationslied »Ein' feste Burg ist unser Gott«, das doch einzig auf diesen Tag paßte. Ich gestand es dem Pfarrer, einem jungen Vikar, den man ohne Beleidigung gleichfalls noch Anfänger nennen durfte, denn er war als Redner oft noch übler von seinem Papier abhängig als ich von meinem Notenblatt. Wir einigten uns endlich auf das erbauliche Lied »Sei Lob und Ehr' dem höchsten Gut«, das ich geübt hatte; aber er war ärgerlich, denn seine Predigt war mit Recht auf die »Feste Burg« abgestimmt und eingelernt. So sprach er denn auch zum Eingang seiner Festrede mit starker Stimme den ersten Vers des wuchtigen Lutherliedes und fuhr dann boshafterweise fort: »So schallt es heute in allen protestantischen Kirchen!« Ich schrumpfte natürlich auf meiner Orgelbank vor Scham zu einem Nichts zusammen; denn in unserer protestantischen Kirche war nur das kümmerliche »Sei Lob und Ehr'« über die Tasten gekrochen, womit der andächtigen Gemeinde klar bewiesen war, daß an der Orgel ein Stümper saß, der nicht einmal das Lutherlied spielen konnte!
Mit dieser bemerkenswerten künstlerischen und schöngeistigen Entfaltung des jungen Gymnasiasten ging gelegentlich auch noch Landwirtschaft freundlich Hand in Hand. Wir besaßen ein Hopfenstück von einigen hundert Stangen, und ich half beim Umlegen der Stangen sowie beim »Hopfenzupfen« wacker mit: zehn Pfennig errang man für den gefüllten Korb! Auch Wiesen hatten wir bei Schillersdorf und Obersulzbach. Eigenartige Heustimmung über dem heißen Lande! Die Sonne über der elsässischen Ebene kann im Sommer kräftig brennen und kocht an den Hügeln einen starken Wein. Wie willkommen waren Trank und Atzung nachher im Schatten! Da konnte man ganze Wasserfäßchen leeren. Auch die Weinlese zu Rothbach wurde mitgemacht, in hohen Stiefeln, an denen manchmal die lehmige Erde so wuchtig klebte, daß man kaum noch von Stock zu Stock stampfen und Trauben schneiden konnte. Wir hatten dort auch ein unvergeßliches Pfirsichbäumchen, das rosige Früchte gab. Oft hatte sich schon die kühle Oktobernacht über das Land gelegt, wenn man mit den vollen Fässern langsam nach Hause fuhr. Himmel, wie schmeckte nach solchem Freilufttag der Imbiß!
So wuchs man sehr allmählich aus der Scholle ins Geistige empor: aus der Fron in die Freiheit.
Über all diesem Heranwachsen lag etwas Gehaltenes, ein Druck, der die Kräfte mehr nach innen zwang und einer überschäumenden Lebenslust keinen Vorschub leistete. Wild tobten sich Gluten und Frohsinn zwar in Spielen aus; da hatte man an Sonntagabenden oft Heimweh und Herzklopfen, so berauscht war man noch vom vertobten Tag. Aber im ganzen lag uns eine feste Faust im Nacken.
So waren denn auch die ersten Regungen und Reizungen der Liebe kein keckes, offenes Tändeln mit Tanz und Geselligkeit, sondern auch hier etwas Geducktes: mehr Innenwelt als Äußerung. Um diese Zeit erwachen ja die feinsten Lebensorgane. Jeder von uns geht da an Abgründen vorüber, in deren brodelnden Dunst wir mit süßem Grauen hinunterstarren oder hinüberblinzeln. Mit Hamlet mag man da wohl sagen: Ich selbst bin leidlich tugendhaft – muß aber auch sofort hinzufügen, daß man sich jedes Verbrechens für fähig halten könnte, gerade in der Dämonie der Geschlechtsbeziehungen.
Wie weit das Dämmergebiet der Geschlechtsgeheimnisse dem werdenden Jüngling mitzuteilen sei, darüber haben sich die Erzieher oft den Kopf zerbrochen. Gesundes Empfinden läßt diese Dinge im Untergrunde, erwähnt sie gelegentlich mit Ernst und Ehrfurcht, hütet sich aber vor Lüsternheit und Witzelei. So wenigstens scheint es mir der deutschen Natur zu entsprechen. Und wo der deutsche Witz dennoch einmal anfaßt, packt er derb zu, nicht lüstern, nicht geistreichelnde oder verbuhlte Werke auf den Geschlechtsreiz berechnend wie der romanische Geist. Eine Summe von Leid, Schmach und Nervenzerrüttung ist heute an dieser Stätte abgelagert, wo doch eigentlich ein Tempel und heiliger Hain sein müßte. Hier bekämpfen sich Gottheiten und Dämonen: seelische Liebe und tierische Triebe. Es kommt darauf an, daß das Göttliche den Sieg behält. Aber eine beschmutzte Vorstellungswelt ist so leicht nicht mehr zu heilen; die Phantasie arbeitet bei jedem Anblick eines Weibes. So geht manch edle Natur mit heimlichen Wunden durch die Welt, bis sie durch eine reinere Gegenkraft geheilt wird.
Da ist denn für den gesund empfindenden jungen Menschen das Erlebnis erster Liebe die mächtigste, ja entscheidende Gegenkraft. Keine größere Wohltat kann zu irgendeiner Zeit des Lebens dem Erdenwandrer widerfahren als wahre Freundschaft und echte Liebe.
Es lohnt nicht, von dieser oder jener frühen Verliebtheit oder lüsternen Neugierde gegenüber einzelnen Gespielinnen zu sprechen. Als Knabe ist man im allgemeinen stolz und von der Minderwertigkeit des weiblichen Menschen überzeugt. Wer sich zuviel mit Mädchen herumtrieb, wurde verächtlich als »Maideschmecker« gebrandmarkt. Aber nach und nach fing man doch an, sich mit diesem Zauber und Rätsel zu beschäftigen. Und schon in den ersten Gymnasialjahren war ich bis über die Ohren in eine anmutige Töchterschülerin verliebt, eine Juliette, die später irgendeinen französischen Kapitän in Algier geheiratet hat. Diese Liebe war ganz Erröten, Schüchternheit, allerstrengstes Geheimnis, höchstens meinem Busenfreund Heinrich unter schwersten Siegeln anvertraut. Ich wagte kaum mit der Angebeteten zu sprechen, wenn sie einmal in Onkels Haus kam, wo wir zu Mittag aßen. Alles an und in mir war staunende Verehrung dieser graziös, leicht und lieb mit ihren zwei langen Zöpfen dahintänzelnden, französisch gestimmten und fast nur Französisch redenden Städterin.
Übrigens witterte um den Onkel von Buchsweiler, den Krämer, einen Bruder meines Vaters, amerikanische Romantik. Er war in Kalifornien Goldgräber gewesen, ein herber, schnurrbärtiger Mann von wenig Worten und wenig Geistigkeit, aber von gutartigem, trockenem Humor. Auch zwei meiner Vettern trieb es nach Amerika, wo sie starben. Es muß ein Stück Ferndrang in unserer Familie liegen. Ein andrer Vetter verkam in Locarno, nach zahllosen Semestern in Träumereien verbummelt.
Aber die eben genannte Juliette war nur erst die Rosalinde des schüchternen jungen Romeo. Julia war noch nicht erschienen. Doch schon bereitete sich die neue Lebensbeziehung vor, die dieses Mädchen aus der Fremde in meine Nähe bringen sollte.
Mein Vater war im besten Mannessalter, als ihm die geliebte Gattin durch den Tod entrissen ward. Die Zeit milderte den Schmerz des spannkräftigen Witwers; die kostspielige Haushälterin wirtschaftete, so gut es eben ging, und ersetzte eine Mutter nicht. Und so kam es, wie es eben immer in solchen Fällen geht, wenn drei Kinder versorgt und erzogen werden sollen. Er sah sich nach einer neuen Gefährtin um. Eine Gefühlsepoche war zu Ende; eine neue Aufgabe stand vor dem Tor und wollte kühn und fest erledigt werden.
Seine Wahl fiel auf die hochgewachsene, rotblonde, als sehr tüchtig und sehr gutartig mit Recht gerühmte Tochter eines nicht unvermögenden Landwirts am vorderen Rande Lothringens, hart hinter den Vogesen, im sogenannten »Krummen Elsaß«.
Unser Eckchen zwischen Bastberg und Vogesen ist ja nun zwar ein Paradies, gesegnet mit Fruchtbarkeit und landschaftlicher Anmut; hier aber öffnete sich uns die Welt jenseits der blauen Berge. Meine Mutter war tot; aber erste Liebe besuchte mich nun vom Gebirge her. Denn das unbefangene Kind, das ich durch die neue Lebensbeziehung kennenlernte, war eine Verwandte meiner zweiten Mutter.
Die »Waldfrau«, wie ich sie später nannte, war in jener Zeit ein schlankes, gut gebautes Mädchen, einige Jahre jünger als ich, mit einem bewundernswert langen Zopf von der Farbe der jungen Kastanie. Sie war ganz und gar keine Zwitschernatur mit leicht erklingendem Mädchenlachen, sondern eher etwas herb, aber ein gutartiges, wahrhaftiges Kind, oft verschlossen und schweigsam. Ein Hauptreiz an ihrer Erscheinung mochte wohl der Umstand sein, daß sie sich ihrer Weibheit ganz und gar unbewußt war, ohne Ziererei, Koketterie oder dergleichen Getue – und dabei doch Weib von einer anmutig hindämmernden Jungfräulichkeit.
Sie schloß sich, ebenso wie ihre Brüder, uns Knaben in herzlicher Unbefangenheit als Spielgenossin an, wenn wir zu den Eltern unsrer zweiten Mutter in die Ferien ausflogen.
Um unser Hochlandsdorf Büst bei Pfalzburg war eine Landschaft ausgebreitet, die besonders zur Zeit der Kirschenblüte von überwältigendem Zauber ist. Man sah das Dorf nicht mehr vor Blüten. Hier war eine andre Stimmung als in den schweren elsässischen Bauerndörfern; hier wohnte ein andrer Volksstamm, nach Sprache und Brauch von unsrer Ebene abweichend, von leichterem fränkischem Geblüt. Pfalzburg war nahe; man sah Dagsburg und die Doppelhügel des Donon; der Grenzhof zwischen Elsaß und Lothringen schimmerte abends mit seinem vereinzelten Licht herüber in unser Haus unter dem alten Nußbaum. Oft fuhren wir mit Großvaters Pferd und Kalesche in die Umgegend oder auf den Kleeacker; wir sammelten, rechts und links am Henkel den Korb tragend, herabgefallenes Obst; wir suchten im nahen Bergwald, nach Schönburg zu, Erdbeeren und Himbeeren. Unsre Gespielin besorgte beim Dorfkrämer in der ihr eigentümlichen läßlichen Gangart Grohmutters Einkäufe; und am Sonntag saßen und sangen wir in der kleinen Dorfkirche, deren feine Glockenschläge durch Blütenwald oder Herbstwind herüberklangen in unser letztes Haus.
Es war um unsre neue Freundin etwas eigenartig Gelassenes, Gleichmütiges, als ob sie gar nicht gespannt wäre auf die Wunder des Lebens, als ob sie ahnte, daß ihre Lebensaufgabe viel Entsagung und Einsamkeit mit sich bringen würde. Ihre Eltern waren Elsässer; aber der sehr französisch gestimmte Vater, in der Dietrichschen Fabrik zu Reichshofen Beamter, ertrug nur unwillig die deutsche Herrschaft: so wanderten sie, wie so viele andre, nach Frankreich aus. Und mir war es nun beschieden, im eignen Herzen die Spaltung der elsässischen Seele zu erleben.
Frankreich! Ein neues Land trat damit in unsre Vorstellung, ein Land, das seinen mächtigen Schatten noch immer über das Elsaß wirft.
Aus Frankreich kam die Gespielin mit ihren Brüdern in das Hochlandsdorf zu unsern gemeinsamen Großeltern; wir unserseits, mein Bruder und ich, stiegen aus dem deutschen Elsaß herauf. Wir verlebten miteinander köstliche Tage und kamen uns trotz natürlicher Zuneigung doch nur langsam näher. Sie war mir ein unerlöstes Aschenbrödel. Nach dem Abschied, wenn sie dort nach Rieding und Saarburg in die französischen Sonnenuntergänge davongefahren war, blieb mir lange, lange ein schmerzhaftes Heimweh zurück nach diesem unauffälligen, gleichsam auf Entzauberung wartenden Mädchen aus der Fremde, das aus den etwas scheuen rötlichbraunen Augen eines Waldrehes oder einer Waldfrau in die Welt der Menschen schaute.
Es gibt zauberhafte Jugenderlebnisse, die ein ganzes Leben hindurch bereichernd in unserm Organismus bleiben; zu den Glocken der Rothbacher Ecke und den Knabenspielen von Schillersdorf gesellte sich hier die erste Liebe.
Das zurückgebliebene kränkelnde Kind unsrer verstorbenen Mutter trug deren Namen Elisabeth und wurde nur zwei Jahre alt. Ich hab's oft auf den Armen getragen oder im Kinderwagen gefahren; das Seelchen hatte nicht Lebenskraft genug, sich auf diesem Planeten zu behaupten. Dafür kam Ersatz: gleich das erste Kind der zweiten Mutter war ein Mädchen, das den Namen Emilie Elisabeth erhielt. Diese Schwester ging den noch nachfolgenden fünf Brüdern voraus, in der weisen und gütigen Ahnung, daß sie uns allen von unersetzlicher Wichtigkeit werden würde, wie etwa die Schwester im Märchen den sieben Brüdern ein Segen ist: arbeitsam wie ihre Mutter, von klarem Verstand und von fürsorglicher Güte; dabei sachlich, einfach und unweichlich, wie es in unsrer Familie Brauch war.
Für mich freilich, den Ältesten, brachten jene Jahre eine Hauptlast: die Mitverantwortung für die kleinen Stiefgeschwister. Die neue Mutter war gegen Unarten zu nachgiebig; da sprang ich oft mit Zornmut dazwischen und ergänzte ihre Erziehung. Der Haushalt lag ganz auf ihren kräftigen Schultern; sie hatte keine Magd. Da mußte man denn in der Wartung der vielen Kinder mithelfen. Schwere Jahre!
In mir aber waren, durch die Berührung mit dem Mädchen aus Frankreich und die gleichzeitig erweiterte Welt, Kräfte des Gemüts und der Phantasie gesteigert worden, die nun wirksam dem Druck in Haus und Schule entgegenarbeiten konnten. Liebe sucht Einsamkeit und Träumerei. Ich trieb mich, so oft ich entwischen konnte, im Sommerwald herum, in einer unsagbar holden Verzauberung dem leisen Waldwind lauschend, der aus gleichsam überirdischen Fernen kam. Ich verfolgte, abseits vom Pfade, den Lauf eines Wiesen- und Waldwassers und malte mir aus, daß ich an einem Präriefluß im wilden Texas entlangschritt. Wir belegten manche Landstriche mit phantastisch wohlklingenden Namen. Ich erzählte meinen Kameraden erfundene Geschichten mit endlosen Fortsetzungen; ich verfaßte Dramen und hatte noch kein Theater gesehen: wobei der Verfasser bekennt, daß ein Trauerspiel »Konradin« auf etwa fünf Seiten rasch und knapp erledigt war. Wir führten meine bemerkenswert kurzen Dramen selber auf: die Tür zum Hauptzimmer, worin ein paar Zuschauer saßen – Eltern und Bekannte –, bildete den Vorhang; mit Zweigen war leicht ein Wald hergestellt. Und mordsmäßig ärgerte ich mich einst, als bei einem tödlichen Schuß, den ich im Spiel abzugeben hatte, ein Pulverkanönchen im Hintergrund nicht loskrachte. Mein Gewehr bestand nämlich nur aus einem abgebrochenen Harkenstiel; aber Vetter Michel aus Menchhofen, der auch mit ins Gymnasium ging, sollte »hinter der Bühne«, sobald mein Wort erscholl: »Stirb, Verruchter!« besagtes Böllerchen losbrennen. Wir versprachen uns einen Knalleffekt. Allein – die Streichhölzer versagten! Michel strich und strich an seinem Hosenboden, aber es war seiner Sitzfläche kein Feuer zu entlocken. Und ich stand und stand, mein unschuldiges Gewehr an der Backe, und wiederholte vergeblich: »Ha, Schurke, stirb!« Was tun? »Bum« rufen? Zu lächerlich! Ich schmetterte also wütend die Tür zu und fiel über den ingrimmig, aber erfolglos streichenden Michel her.
Ich habe mit dem Theater nie viel Glück gehabt.
Ein andres Drama, »Walladin«, schritt in Blankversen einher, nur ein Einakter, aber von würdiger Länge; es sollte mit Hilfe einiger Schulkameraden im großen Hause unsers Klassengenossen Petri zu Buchsweiler die Ehre der Aufführung erleben. Alle waren Feuer und Flamme, beklebten auch bereits emsig mit Silberpapier Harnische und Helme aus Pappdeckel. Aber die Lehrer kamen dahinter und verscheuchten Freund Mimus, indem sie das Spiel einfach verboten. Wir waren um eine Freude geprellt und bekamen keinen Ersatz für unsern Spieltrieb. Einmal machten wir sogar eine dichterische Zeitschrift, wobei ich Bilder und Inhalt meist selber malte und schrieb. Auch dies wurde von unsern Lehrern entdeckt und zerstört.
Hier muß ich meines idealen Freundes Heinrich Peter mit einigen dankbaren Worten gedenken.
Auf Heinrichs großem Kopf wuchsen hellblonde Ringellocken; er war ein lichtes Gemüt, ein hochbegabter Schüler, leider durch eine ererbte Herzkrankheit belastet. Als Knabe war er ein Wildfang, aber nie roh, mein Vertrauter und Mitschwärmer. Und sicherlich nicht ganz unschuldig bin ich durch meine Erzählungen von Piraten und Indianern an einem ungewöhnlichen Streich, den er seinen Angehörigen und uns allen spielte. Er wollte die Poesie, die für uns andre eben schönes Spiel war, in Tat umsetzen: brannte also eines Tags kurzweg nach Paris und Havre durch, um Schiffsjunge zu werden. Nach seiner Heimholung steckte man ihn eine Zeitlang ins Gymnasium zu Hagenau, wo er ein wenig zu verwildern drohte. Bald aber, wie man das ja oft bemerken kann, verinnerlichte sich dieser unruhige Ferndrang in eine überaus ernste Religiosität. Er kam wieder in unser Buchsweiler und reifte rasch. Als ich später in die Berliner Literaturunruhen geriet, war er mir aus der Ferne etwas wie ein ruhiger Pylades, an dem ich mich im Briefwechsel zurechtfinden oder doch zu entlasten suchte. Sein weißes, vergeistigtes Gesicht, als ich von dem schon kranken Studenten Abschied fürs Leben nahm, war wunderbar abgeklärt. In einem Asyl unsrer Ingweiler Ecke, in der Gegend unsrer Knabenspiele und Schwärmereien, liegt der Gute begraben.
Um die Zeit von Heinrichs Flucht überkam auch mich ein weltschmerzlicher Reisedrang. Ich war, wie gesagt, in Obertertia sitzengeblieben und beschloß ingrimmig, Missionar in Indien zu werden und dieses schnöde Europa für immer zu verlassen. Papa ging anfangs darauf ein, redete es mir jedoch schließlich wieder aus. Wieviel Sorgen hab' ich auf meinen Vater gebürdet! Aber die Enge war oft kaum zu ertragen. Eines Tags schickte ich meinen stets dienstbereiten Heinrich zu einem unsrer Lehrer: der möge ihm doch gefälligst mitteilen, in welcher Stadt sich eine »Dichterschule« befinde, einer seiner Freunde möchte gern Dichter werden. Die Antwort war natürlich eine schallende Lache; und ziemlich kleinlaut schlich der Getreue zum harrenden Dichterling zurück.
So war ich denn auch hier wieder auf meine eigene Kraft zurückgewiesen worden.
Und doch lebte in mir die unabweisbare Ahnung, daß ich zu einem der landläufig bürgerlichen Berufe nicht bestimmt sei. Einmal verdichtete sich dem Knaben dieses ungewisse Ahnen und Drängen zu einer seltsamen Vision. Ich ging über die Hagholzhügel nach Rothbach. Da schoß mir das Bibelwort ins Bewußtsein: »Und du, Bethlehem Ephrata, die du klein bist unter den Tausenden in Juda« – mit dem deutlichen Empfinden, daß der Name dieses unscheinbaren Dörfchens noch einmal durch mich bekannt werden könnte. Ich erschrak; es kam mir wie Gotteslästerung vor. Auch verband ich damit keinerlei Eitelkeit, die mir überhaupt nie sonderlich zu schaffen gemacht hat. Es war wie ein tröstend aufblitzender Durchblick durch das Dämmergewölk meiner ungeklärten Wünsche in eine reifere und ruhigere Zukunft.
Den wilden, freien Wald konnten sie mir nicht nehmen, meine Bedränger! Wie oft und ruhelos hab' ich den Schnaizwald kreuz und quer durchmessen und bin am Selberg umhergestreift! Man sah dort, und schon am »Kreuzel«, wo die kleine Straße nach Bischholz abzweigt, die westlichen Berge um Hüneburg und Herrenstein. Dort ging's durch das Dossenheimer Tal nach dem Hochland und weiterhin nach Frankreich. Dort hinter den Abendröten wohnte sie, die meine Muse war! Farbenspiel des Himmels, Glockenspiel der Dörfer und Tonspiel der eigenen Seele klangen zusammen. Ich habe die elsässischen Abendröten wie etwas Lebendiges liebbehalten; noch in einem meiner späteren Werke, im »Oberlin«, bilden sie den Einleitungsakkord. Manchmal auch, wenn es zu einem weiteren Spaziergang schon zu dämmerig war, schritt ich die Straße nach dem Nachbardorf Mühlhausen hinauf an die steinerne Ruhebank, die dort oben zwischen beiden Dörfern Ausschau hält über ein weites Gefilde, und träumte in die erlöschenden Himmelsfeuer.
Ich hatte immer Musik in mir. Laut deklamierte ich oft Gedichte, etwa Klopstocks Ode an die künftige Geliebte: »Dir nur, liebendes Herz, euch, meine vertraulichsten Tränen, sing' ich traurig allein dies wehmütige Lied« – mit dem stürmisch suchenden: Wo, wo werd' ich endlich dich finden!? Was für eine Welt war dies in mir und um mich her! Die Winde in den Gräsern am Rain hatten raschelnde Füßchen oder flüsternde Stimmen, die Farben des Himmels wirkten auf mich wie Melodien. Ich war der geheimnisvoll den Erdball umtönenden Welt der Geister viel näher als den Menschen des Alltags. Die einsame welke Rose am entlegenen Waldrand, von herben Dornen umschlossen, war eine meiner Lieblingsblumen. Ein einfaches Verschen, das ich damals in Kleinpauls Poetik fand, summt mir heute noch im Ohr:
Wie magst du, Rose, blühen Allein in Waldesnacht? Umsonst ist ja dein Glühen, All deiner Schönheit Pracht!
»Und siehst du nicht die Tränen Im tiefsten Kelche mein? Und färbt nicht feurig Sehnen Rot meiner Blätter Schein?«
So war meine eigne Gemütslage: weltferne Einsamkeit und unermeßlicher Hunger nach Schönheit und Liebe.
Auch in unsrer Ecke gab es irgendwo, wie vielfach im Wasgenwald, eine Sage von einer weißen Frau, die dort verzaubert sein soll; ich lief durch den Wald und suchte sie zu finden. Mitunter sprach ich laut mit den Büschen und Quellen oder streichelte Baumstämme wie etwas Befreundetes. Dem Tag entsprach die Verzauberung der Nacht, der Sternenhimmel, die mondhelle Schneelandschaft. Ein andrer Reim, der meiner Stimmung entsprach, stand in derselben eifrig studierten Poetik:
Das Licht auf meiner Ampel, das löscht' ich mit Bedacht:
Das Licht in meinem Herzen brennt durch die ganze Nacht.
So brannte in mir ein Licht, eine Glut, angezündet von erster Liebe. Und das Mädchen dort hinter den Abendröten hatte zunächst keine Ahnung, wie sie auf mich wirkte.
Nun brach auch mein Dichten aus allgemeiner Stimmung mehr in persönliches Erleben durch. Hatte ich einige Jahre zuvor als überhaupt ersten Vers einen Biberjäger in Kanada besungen:
In dem goldnen Abendlichte,
An einem See von Kanada,
Unter einer grauen Fichte
Sitzt der Biberjäger da usw.
– was man nach dem Walzer von der »Schönen blauen Donau« zur Drehorgel singen konnte! –, so brachte jetzt ein einziger Tag ein halbes Dutzend glühender Liebeslieder: »Der Knabe aus Spanien.« Schade, daß mir diese Sachen verlorengegangen sind!
Meine ferne, nur in den Ferien erreichbare Gespielin wußte in ihrer langsamen und etwas nüchternen Entwicklung wohl kaum, was Liebe sei. Sie mochte mich gut leiden, das war alles. Im übrigen war ihr mein ungeduldiges inneres Feuer ein Rätsel. Und eigentlich war sie ja gar nicht das Ziel meiner Lebensglut; sie war die Erweckerin, die Muse. Mein Ziel war höher, war weltweit. Es ist ja der Irrtum so vieler Aufgestörten, daß sie das Weib als solches suchen. Nein, nein, das Weib kann lebenswarmer Kamerad, köstliche Wandergenossin sein auf unsrer gemeinsamen Fahrt ins Land der Liebe und Schönheit. Nicht Kondwiramur ist Parzivals Ziel, sondern Hand in Hand mit ihr sucht er den Gral. So hat die Liebe Sinn und Tiefe, als Entflammerin; und so erhält Liebesglück große Horizonte. Daß es dazwischen Tändelei, Verliebtheit, Laune, Leidenschaft und dergleichen Wechselspiel zwischen den Geschlechtern noch genug gibt, das ist ja selbstverständlich und zeugt von der unerschöpflichen Vielgestaltigkeit des Lebens.
Es ist mir aus jenen Zeiten ein einziges größeres Gedicht übriggeblieben, ein Bruchstück nur, aber sehr bezeichnender Art. Dieser Versuch des fünfzehn- bis sechzehnjährigen Knaben sollte eine episch-lyrische Dichtung werden; in reimlosen Jamben wird ein Schiffbruch in der Südsee geschildert – also eine elegische Robinsonade.
In jener weiten See des schönen Südens
Steigt aus dem blauen Meer ein einsam Riff.
Die Wolken ziehn um seinen Felsenscheitel,
Schroff senkt sich in das Meer die starre Wand.
Doch sie umschließet nur ein Paradies,
Ein nie betretenes; die Vögel schwanken.
Die tausendfältigen, auf den grünen Ästen
Und singen ihren Sang dem Schöpfer nur
Als Dank für ihre schöne Heimat. Palmen
Neigen im Abendwinde leicht ihr Haupt,
Und leise rauschen ihre Blätterkronen.
Die Bäche fließen und die frischen Quellen
Murmelnd zum Meer hinab, und niemand noch
Erquickte sich an ihren reinen Wellen ...
So begann des Knaben Dichtung. Sie schildert dann ein Unwetter:
Der Blitze rote Flammenscheine zuckten.
Der Donner rollte schrecklich übers Meer.
Gejagt vom wütenden Orkane flogen
Die unheilschweren Wolken um das Riff,
Gepeitscht vom Sturme schäumten hoch die Wellen
Und brachen wild sich an der Felsenwand.
Weh, weh dem Schifflein, das dort auf den Wogen usw.
Und so denn weiter, in den Schiffbruch hinein, aus dem nur einer ans Land geschleudert wird und betäubt am Strande liegen bleibt.
Man könnte in diesem Eröffnungsakkord Symbolik sehen. Schiffbruch des Lebens und fester Strand! Es ist, wie man sieht, Odyssee-Stimmung in dieser ersten größeren Dichtung des Knaben, verwandt den Eingangstönen, die der reife Mann einige dreißig Jahre später in einem seiner Dramen, im »Odysseus auf Ithaka«, geformt hat. Der Schiffbrüchige erwacht wieder zum Leben und dankt dem Schöpfer für seine Rettung; dann schläft er bis zum Morgen. Und er beseufzt erwachend sein Los eines lebendig Begrabenen, bedauert die Unseligen vom Schiff, dessen Trümmer er liegen sieht, will aber doch dieses Felseneiland genauer ins Auge fassen, ehe er es vielleicht ungerecht verdamme.
Er stieg den Pfad, den schlängelnden, hinan,
Ein trocken Bett des Baches, der sich einst
Von droben donnernd in das Meer ergoß.
Bald hatt' er sich durch enge Felsenspalten
Emporgeschwungen zu der freien Höhe.
Da streckte sich im Tale drunten prächtig
Im Morgenstrahl das Land vergoldet aus ...
Die Landschaft wird nun in diesem Stil eine ganze Seite lang weiter geschildert. »Ha,« rief er, »bin ich in Eden, wo die ersten Menschen in Unschuld, rein und fleckenlos verweilten?! Hier die Felsen ragen wie die Mauer des heil'gen Gartens starr empor! Wie will ich in dieser Pracht hier leben!« Doch bald schlägt Neu- Robinsons Entzücken in Trauer um. Der Einsame gedenkt seiner Gattin, seines greisen Vaters. »O du mit deinem grauen Haar, vergebens ist all dein Hoffen! Ferne lebt dein Sohn, auf diesem Riffe lebt und stirbt er einsam!« Hunger treibt ihn empor; er durchsucht die Insel und labt sich mit Früchten. Plötzlich entdeckt er ein totes Mädchen, von der See angeschwemmt. Mitleidsvoll betrachtet er die schöne Tote, kniet zum Gebet nieder und bestattet dann den Leib unter Steinen. Sehnsucht nach Menschen ist in ihm lebendig geworden. Und so sitzt er mit seinem Kleinod, seiner glücklich geretteten Flöte, auf der hohen Felsenplatte, und seine Sehnsucht klagt hinaus:
Wohl blick' ich vom hohen Felsen
Hinaus auf das weite Meer:
Mir bringt kein einzig Segel
Die goldne Freiheit her.
Von dieser Felsenhöhe
Schau' weinend ich hinab;
Bald wird der Gram mich töten,
Du, Insel, wirst mein Grab.
Du, Felsen, du wirst ragen,
Mein hoher Leichenstein;
Ihr Vögel, zum ewigen Schlafe
Wiegt mich mit Liedern ein!
Spät begab er sich gefaßt zur Höhle und entschlief. Die Sterne »erblaßten schon, und in der Ferne verging der Mond im grauen Nebeldunst« ...
So verklang dieses Erstlingswerk des fünfzehnjährigen Knaben. Die beiden andern Gesänge – die glückliche Heimkehr – sind nur mit ein paar Worten skizziert, nicht ausgeführt.
Wilhelm von Humboldt hat recht (Briefe an eine Freundin, 29. November 1822): »Es ist immer meine Meinung gewesen, daß sich der Mensch, wenn man das Wesentliche seines Charakters nimmt, nicht eigentlich ändert. Er legt Fehler ab, vertauscht auch wohl Tugenden und gute Gewohnheiten gegen schlechte, allein seine Art zu sein ... bleibt gewiß von der Kindheit bis in den Tod die nämliche.« So ist auch die obige Stimmung des Knaben, anfängerhaft geformt, ein Grundton meines Lebens geblieben. Die burghafte Insel der Einsamkeit; und doch Sehnsucht nach verstehenden Herzen, zum Ausdruck gebracht durch Dichtung (Flöte): hier haben wir bereits dieses Eiland Sala y Gomez im Großen oder Stillen Ozean des Lebens.
Nach und nach ging auch in dem geliebten Mädchen mit den wundervoll langen Zöpfen eine leise Veränderung vor. Etwas Befangenheit verdrängte die früher harmlos gutmütige Kameradschaft. Aber wie verschieden waren wir doch im Temperament! Bei mir war alles durchsetzt mit Phantasie und Freiheitsdurst; bei ihr eine gewisse Schwere, eine gewisse Eingeschränktheit. Sie kam mir oft wie ein unerlöstes Wesen vor, das ich ungestüm wachküssen, wachrütteln und mitreißen müßte. Der Gegensatz hat sich später einmal dramatisch geformt: sie ist die Gertrude in »Eulenspiegels Ausfahrt« und die Maria im »Gottfried von Straßburg«. Doch witterte auch um sie etwas wie Einsamkeit; sie war eine dienende Natur, hat wohl etwas Klavier gelernt, aber weder Versemachen und noch viel weniger Salonphrasen. Im äußeren Umgang war sie von unauffälligem Gleichmut, von stillfreundlichem Frohsinn; aber in ihrem Wesen blieb etwas Verschlossenes, das sich nicht einmal einer Freundin offenbarte. Sie war durch und durch wahrhaftig, schlicht und treu. Und der etwas lässige, langsame Gang der ziemlich großen germanischen Gestalt, die Art ihres leisen Räusperns, der Klang ihrer etwas verschleierten Stimme – es war für mich ein unerklärlicher Zauber.
Eines Tags kam ich dahinter, daß sie ein – französisch geschriebenes – Tagebuch führte. Das gab zu allerlei halb scherzhaften, halb verlegenen Geständnissen Anlaß. Der Abschied wurde uns diesmal recht schwer. Wir besuchten vor der Trennung noch den Pfalzburger Kirchhof. Dort liegt ein Mädchen begraben, das an gebrochenem Herzen gestorben ist; ich habe den Namen Marie Liebeskind noch im Ohr, deren traurige Liebe uns Großmutter unterwegs im Wagen erzählt hatte. Es handelte sich um einen unversöhnlichen Gegensatz zwischen Deutschland und Frankreich, in den die Elsässerin geraten war. Uns war sehr weh zumute, als die Geliebte über Lützelburg nach Westen fuhr, während mein Bruder und ich ostwärts in die Wälder um Oberhof eintauchten.
Erst später einmal, im Weinberg zu Rothbach, fanden sich die Liebenden zu einem scheuen Geständnis – merkwürdigerweise an fast genau derselben Stätte, wo sich einst mein Vater und meine Mutter den Verlobungskuß gegeben hatten. Aber wie anders bei uns! Es war kein Ausbruch all meiner verhaltenen Spannungen und ins Grenzenlose hinausstrebenden Phantasiekräfte; wieder halb verlegen und halb in scherzender Verhüllung berührten sich zwischen reifenden Trauben schüchterne, kühle Lippen. Denn wir trugen schon damals die Ahnung mit uns herum: wir sind nicht zu bürgerlichem Glück bestimmt. Und es zeigte sich bald genug, daß wir andre Lebensaufgaben zu lösen hatten und lange, lange allein wandern mußten.
Zudem schattete über uns beiden die elsässische Tragik. Ich war mit ganzer Seele deutsch; ihr Vater aber ein leidenschaftlich französisch gestimmter Elsässer, der unsren Bismarck glühend haßte. Mein Onkel machte denn auch zur Zeit des Theaterhelden Boulanger alle Krisen der französischen Revanchekrankheit gründlich durch, politisch unrettbar dem Deutschtum verloren, persönlich ein gutmütiger Mann. So wuchsen seine Kinder in Lunéville und Nancy in französischer Schule und Denkweise empor. Und wenn ich einmal in Frankreich die Ferien verbrachte, mit elsässischer Gastfreundschaft gern aufgenommen, so konnte ich nicht genug staunen über den Unterschied zwischen meiner deutschen Phantasiewelt und dieser friedlosen Welt der Politik.
Anderseits wurden wir ländlichen Elsässer durch dieses Grüßewechseln mit dem französischen Kulturgebiet sehr bereichert. Vettern und Base brachten Bücher mit in unser gemeinsames Feriendorf. Da lasen wir dann Racine, Lamartine, Victor Hugo und andre französische Poeten. Aus Hugos Gedichten »Contemplations« sind mir heute noch Verse lebendig, die mit jener Hochlandsstimmung verwachsen sind:
Quand nous habitons tous ensemble
Sur nos collines d'autrefois
Où l'eau court,où le buison tremble
Dans la maison qui touche au bois ...
Und so weiß ich heute noch von jenen Zeiten her die ersten Strophen von Lamartines Elegie »Le lac« auswendig. Das erweiterte unsern Blick. Wir sahen von der Höhe des Wasgenwaldes nach zwei verschiedenen Kulturgebieten hinunter. Freilich wäre es uns nicht eingefallen, nun weder Fisch noch Fleisch zu sein, weder deutsch noch französisch, und etwa einen Mischmasch wie die »Doppelkultur« in unser Empfinden einzulassen. Dazu waren wir zu gesund. Wir zwei Jungens vom Hause Lienhard waren gut deutsch, unsre Vettern aber lobten und liebten Frankreich; und wir gerieten manchmal hitzig aneinander. Aber wir verstanden uns auf rein menschlichem Gebiet; unsre gemeinsame Umgangssprache war die elsässische Mundart. Das geliebte Mädchen war weder eine politische noch eine streitsüchtige Natur; doch war ein leises Weh nie ganz zu verwinden, daß sie von deutscher Kultur ausgeschlossen blieb. Sie kam mir wie das unerlöste Elsaß vor: es war mir oft, als müßt' ich sie, dieses französisch gewordene Elsaß, auf deutschen Schwingen liebend mit emportragen. Und so haben wir uns bis heutigentags innerlich nicht getrennt, wenn wir auch in zwei verschiedenen Nationen getrennt gingen. Oft trafen sich die Liebenden, heimlich oder mit andren, im waldigen Grenzgebirge mit den vielen Burgen und Sagen, sie aus Frankreich kommend, ich aus Deutschland. Dann, gab es tagelang jenes romantische, von Wehmut durchflutete Zusammensein mit der Waldfrau, wovon manches Gedicht Andeutung gibt.
Da will ich denn auch einen Traum nicht unerwähnt lassen, der in mein Empfinden seltsam tief hereinschattete. Ich sah mich als Grafen Jakob von Lichtenberg und sie als die böse Bärbel, jene ruchlose Geliebte des halb mystischen, halb lüsternen Mittelalterlichen Schloßherrn. Es war mir, als hätten wir vor Jahrhunderten ein Leben vergeudet und hätten es nun gutzumachen. Und wie ich schon in ganz frühen Ahnungen den ernsten Ton meines künftigen Lebensliedes erhorchte, so auch sie: denn schon als Kind träumte sie bedeutsam, es würde ihr eine lange Reihe von Krankensälen gezeigt, durch die sie helfend hindurchgehen müßte.
Sie machte dann drüben ein Examen und war zunächst eine Reihe von Jahren Erzieherin auf einem provenzalischen Schloß, wo sie, ebenso wie nachher in Paris und vorübergehend in Wien, bei ihrem reinen, selbstlosen und grundguten Charakter wie Kind im Hause war.
Ich aber bekannte mit doppelter Wucht und Schärfe, eben Student geworden, mein Deutschtum. Ein Gedicht, das im Mai 1886 in der »Straßburger Post« erschien und sehr beachtet wurde, mag meinen französisch gestimmten Verwandten übel in die Ohren geklungen haben. Dieses dithyrambische Bekenntnis zu Deutschland begann also:
O seht, wie freudig aufwirbelnd
In seinem deutschen Gerände
Der grünwogende Rhein dahinbraust!
O seht, wie heiter der junge Mai
Von allen Bergen und Hügeln grüßt
Weithin über das blühende Land!
Vom Stromrand, hier um die alte Stadt
Und ihr ewiges Münster,
Bis fernhin zum grünenden Wasgenwald –
Überall, überall lächelt der Lenz
Auf dein sonnenfrohes Gefilde,
Das sich ausdehnt, ein schimmerndes Blütenmeer,
Du mein herrliches Heimatland,
Liebliches Elsaß!
Rückschauend wird dann der Kampf geschildert, der 1870 wie ein Ostwind die französische Macht über das Gebirge zurückgetrieben »bis fern über die welsche Riesenstadt an den ohnmächtig grollenden Ozean«. Nun aber ist neue Zeit:
Und du willst säumen, mein trotziger Landsmann?!
Du willst dich verschließen dein drängenden Frühling?!
O sieh, all deine Dichter und Denker aus grauer Vorzeit,
Der Sänger des berauschenden Minneliedes
Und der sinnende Mönch von Weißenburg,
Wie sie trauernd herüberblicken!
Und dies uralte deutsche Münster,
Das deine deutschen Ahnen sich türmen sahen,
Grollt's nicht herab wie ein steinerner Vorwurf,
Wenn du finster, in dein Welschtum verpuppt,
An seinem Fuße vorbeischleichst?! ...
Das Gedicht klingt in eine Ermunterung aus:
Ja, auch unsre Herzen werden sich vollatmend auftun.
Dann wird in herrlichem Schaffen
Die Mark am Wasgau emporblühn!
Dann singen wir, flammenden Feuers voll,
In deutschen Weisen und deutschen Lauten
Liebe und Vaterland und unsre schöne Heimat;
Dann greift ihr mit kundiger Hand zur Kelle,
Mitzubauen am Riesentempel
Germanischen Geistes!
Dann, o dann ...!
Ja, komm, Bruder vom seerauhen Ostseegestade,
Komm du aus dem herzigen Schwabenland,
Kommt alle! Sprühende Begeist'rung drängt mich.
Mit diesem germanischen Trank euch Bescheid zu tun!
Stoßt an! Stoßt an!
Ein Hoch dem germanischen Elsaß!
Ein brausendes Hoch Alldeutschland
Und dem germanischen Heldenkaiser!
Hier war schon im zwanzigjährigen Studenten einer der Lebenstöne gefunden, dem der Erwachsene als Mensch und Dichter treu geblieben ist.
Kaum fünf Jahre lagen zwischen diesem herzhaften vaterländischen Gesang und jener Träumerei vom flöteblasenden Einsiedler.